Annäherungen an die vergehende, kommende Welt: Die Reise nach Lyon von Claudia von Alemann

Ich will die vergehende Welt retten. Die Aufgabe ist undurchführbar.
(Flora Tristan)

In vielen Texten zu Claudia von Alemanns Spielfilmdebüt Die Reise nach Lyon liest man davon, dass die mit dem Zug nach Lyon gereiste Protagonistin, die Historikerin, die keine mehr sein möchte, die mehr sein möchte, womöglich anders leben muss, Elisabeth, ihren Mann und ihr Kind zurückgelassen hat, um sich auf die Spuren der Frühsozialistin Flora Tristan zu begeben, die dort 1844, kurz vor ihrem Tod, wirkte. Das ist an sich nicht falsch. Im Film aber taucht ihre Familie nur so auf, wie alles andere auch, sie ist nicht mehr und nicht weniger vergangen und gegenwärtig als jedes Ereignis, jede Gegebenheit, die ist und war. Dass sie dennoch oft erwähnt wird in den Texten, sagt mehr über die aus, die darüber schreiben, als über Elisabeth.

(Das Begehren, alles zugleich wahrzunehmen: Die Unendlichkeit der Geschichte, die Flüchtigkeit des Gegenwärtigen, die Endlichkeit der Zukunft. Die Liebe, die Arbeit, die Obsession, das Ich und wie sich alles auflöst.)

Elisabeth (und mit ihr die Kamera Hille Sagels, klar und unwirklich zugleich) betrachtet die Stadt wie durch Schichten, die sich nicht mehr entfalten, entzerren lassen. Man denkt an die tausenden historischen Stätten, die man in einem Leben besucht, die Erinnerungstafeln an Wänden, die Symbole des Gewesenen, die gepflegt werden, während das, was sie wirklich erzählen, vergessen wird. Passives Wissen, nennt Elisabeth das, was sie nicht sucht. Sie spaziert durch die Stadt, liest, spricht mit Menschen. Wie kann Wissen aktiv werden? Elisabeth selbst ist eine Suchende. Begleitet von langsamen Schwenks betritt sie die Stadt auf ihren Füßen tastend, berichtet davon, dass sie eigentlich abreisen wollte, sobald sie ankam.

(Der Film lädt dazu ein, jeden Satz über ihn mehrfach zu formulieren, verschiedene Sprachformen anzubieten. Kein Bild ist einfach das, was es zeigt, gerade weil jedes Bild genau das ist, was es zeigt.)

Gleichzeitig mit Elisabeth läuft Geschichte auf verschiedenen Wegen. Es gibt die Geschichte, die Elisabeth sucht und es gibt die Geschichte, die trotz der Suche nach Tristan und deren Spuren weiterläuft. Letzterer begegnet von Alemann in den aus den Fenster schauenden, eingefallen-trotzigen Gesichtern der Lebenden, der noch Lebenden, der auch gestern bereits im Leben Stehenden, ihren Erzählungen und dem Gemäuer der Stadt. Die nationalsozialistische, von der französischen Milice unterstützte Judenverfolgung in Lyon etwa, sie zeigt, wie alles in diesem Film, dass es um Zusammenhänge, um Brücken geht. Auch diese Geschichte ist da. Sie ist nicht nicht da, nur weil man nicht nach ihr sucht. Vielleicht geht Elisabeth auch deshalb gleich zu Beginn über die Masaryk-Fußgängerbrücke, ein Bauwerk, dass ein Jahrzehnt bevor Flora Tristan die Stadt betrat, entstand. Eine Brücke, die auch Tristan betreten hat oder zumindest gesehen haben könnte. Vielleicht erzählt ihr eine flüchtige Bekanntschaft deshalb von der Ermüdung der Brücken, ihrem Einsturz, dem, was die Zeit anrichtet.

(Tritte auf Asphalt sind lauter als der eigene Atem, die Gegenwart lässt sich nie verdrängen;
aber, so Elisabeth, die Schritte können auch das Echo des Vorbeigehens von Vergangenem sein.)

Etwas sehen und darin mehr sehen. Das ist eine Definition des Kinos und eine Beschreibung der treibenden Bewegungen Elisabeths, die versucht eine Verbindung zu Tristan und mit ihr einem vergangenen, sich fortsetzenden, sich weiter durch die Straßen erzählenden, feministischen, klarsichtigen Arbeiterinnenkampf zu knüpfen. Dabei geht es von Alemann nicht unbedingt oder zumindest nicht ausschließlich um die Bewahrung, die Errettung der historischen Wirklichkeiten bezüglich der Arbeit Tristans allein, es geht ihr und ihrer Protagonistin auch darum, nach Formen zu suchen, wie diese Errettung aussehen könnte, aussehen müsste. Ihr Interesse gilt dabei gleichermaßen dem was ist (was sich vor der Kamera zeigt) und dem was war. Ein wenig wähnt man sich, wie sonst vielleicht nur bei Marguerite Duras oder in Annik Leroys In der Dämmerstunde – Berlin, in einer Zwischenwelt, in der die Kamera gelernt hat, die Vergangenheitsform zu nutzen.

(Ohnehin ein Problem möglicherweise, die Echos der alleinumhergehenden Frauen in der Filmgeschichte, wie sich lösen aus dieser wahrhaftigen und doch generisch gewordenen Einsamkeit?)

Eigentlich findet sich der komplette Film just auf dem zur Collage formierten Zeitungspapier mit den Todesmeldungen eines Tages, das eine Frau im heimelig düsteren Bistro, in dem Elisabeth liest und isst, zusammenstellt. Geschichte als endloses faits divers, alles nur eine Meldung, jede Meldung ein kleiner Roman wie in den Blitztexten Félix Féneons. Wie dem gerecht werden, wie ein Bild machen, wenn es tausende andere gibt, die auch gemacht werden könnten? Wer entscheidet, was eine Meldung wert ist? Wie wichtig wird ein Tod genommen und ein anderer? „Ich erfahre von mehreren Toten gleichzeitig“, sagt die Frau, die eine Unbekannte, Unerkannte bleibt, so wie alles, was sich hier unentwegt entzieht, sobald es aufscheint.

Warum, fragt der Film, muss alles, was wir sagen und tun, verstanden werden? Gibt es nicht womöglich eine andere Seinsform, andere Weisen der Erinnerung, in denen sich das Verlorene, das sich Verlierende, das Unausgesprochene zum Eigentlichen erhebt? In dem das Dazwischenliegende, sich gerade im Unsteten, im Unerfüllten (was wäre denn das Erfüllte?) zu erkennen gibt und neue Potenziale öffnet? Diese Potenziale, die freiwerden, wenn Voice-Over nur mehr undeutlich gehaucht oder wenn Räume gefilmt werden bevor sie betreten, nachdem sie verlassen werden. Potenziale, die erspürt, aber nicht erkannt werden. Potenziale des Kinos, die Geschichte und Gegenwart nicht auf Wissen basierend festhalten, sondern auf sinnhaften, sinnlichen, uneindeutigen, sich Worten entziehenden Wegen.

(Wie sonst einen bewegten Körper kennen, der sich in die Geschichte einschreibt?)

Es geht um das, was sich als Abdruck einer Wirklichkeit festhält an der Welt, das was sich nicht leugnen lässt durch schlaue Worte und sich über Jahrhunderte verzähflüssigte Systeme. Es geht darum, näher zu kommen, an das, was war; ein Archiv zum Leben zu erwecken sozusagen. Es geht aber auch darum, die altbekannten Formen hinter sich zu lassen, ein schmerzvoller, schwieriger, von äußeren und inneren Hindernissen gesäumter Pfad.

Wie kann das, was bereits gelebt und gedacht wurde, Teil meines Lebens werden? Sodass man darauf aufbauen kann, statt immer wieder von Neuem zu beginnen? Sodass nicht jede Generation ihre Kämpfe von einem Nullpunkt austragen muss? Solche Fragen mögen in jener Gesellschaft, aus der dieser Text entsteht, einer Gesellschaft, die sich mehr und mehr fragen muss, wie sie den nächsten Tag überlebt, überholt wirken. Sie sind es aber nicht. Die Dringlichkeit jeder Zeit droht zu vergessen, dass es nichts bringt, wenn man sich auf die lautesten, etabliertesten, weitreichendsten Kanäle stürzt, um die Umwälzungen zu verkünden. Nein, denn die Kanäle sind bereits besetzt. Das gilt auch für die Methoden der Geschichtsforschung, Geschichtsschreibung. Wer auch immer die gleichen Kanäle und Methoden nutzt, wird keinen Umschwung bewirken können, wird immer nur die gleichen Erkenntnisse gewinnen.
(man weiß das von Gil Scott-Heron unter anderem)
Wer nur nach Vorne schaut, wird von hinten überholt werden.
Das gilt auch fürs Kino, das ohnehin nur im Scheitern aufzublühen weiß. Es scheitert daran, alles zu sehen, sieht immer nur einen gefilterten Teil des ungreifbaren Ganzen. Die Reise nach Lyon ist auch ein Film über die Unmöglichkeit der Erinnerung. Anderswo nennt man sie das Vergessen. Es ist ein Film, der sich gemeinsam mit seiner Protagonistin gegen das Vergessen sträubt.

Und dann gibt es da diese dem Kino eigene, sanfte Wohnlichkeit im Fremden, Entfremdeten (eine Verlorenheit mit der man sich identifizieren kann und will zwischen leeren Straßen und schönen Buchhandlungen, kurzem Begehrensflackern und dem matten Licht eines ständigen Fliehens), durch sie behält sich die Kunst einen ästhetischen Rest (wie als unumstößlichen Triumph über die Unterdrückung!), in dem niemand so schön ist wie die Einsamsten, nichts so einladend wirkt wie die Verlorenheit in einer fremden Stadt. Aber von Alemann entdeckt darin womöglich das, was Elisabeth sucht: eine andere Art der Vergegenwärtigung, der Re-Präsentation, des Seins zwischen Jetzt und Damals. Seit jeher hat das Kino Geister beschworen, selten so unbedingt wie hier. Die Reise nach Lyon ist ein Film, in dem der Geist von Beginn an da ist, die Protagonistin erlernt mit ihm zu sprechen, seine Spuren zu lesen, seinen Schritten zu folgen.

(Als würde man das Fenster öffnen und das aus allen Zeitschichten verwobene Dickicht der Welt strömte herein zwischen die zu Tode getrampelten Gedanken und die versickerten Gefühle und für eine Sekunde würde alles licht und leicht, nur um sogleich wieder in den flirrenden Schatten zurückzutreten, der immer fällt, weil die Zeit sich stapelt und stapelt bis sie irgendwann zusammenbricht.)

Österreichische Männer auf Supermarktparkplätzen

Denjenigen, die sich lauthals über die Unermesslichkeit vor allem ländlicher Supermarktparkplätze und der damit einhergehenden Bodenversiegelung und Verunstaltung der Landschaft echauffieren, sei hier ein für alle Mal entgegengehalten, dass diese asphaltglänzenden, sauber mit Linien überzogenen, wöchentlich zwischen den Ritzen gemähten und maximal zu einem Drittel ausgelasteten Flächen des Alltags auch ihre Vorteile haben. Meinen jüngsten, zugegeben eher unwissenschaftlich durchgeführten soziologischen Beobachtungen nach, dienen diese Parkplätze nämlich ganz besonderen, an den Rand der Gesellschaft gedrängten, um nicht zu sagen vom Aussterben bedrohten Lebewesen als Lebensraum.

Die Rede ist nicht von den schlauen Krähen, die wissen, dass hier täglich Lebensmittel abfallen, sondern von in ihren Fahrzeugen kauernden, mampfenden, auf ihr Handy starrenden österreichischen Männern. Erkennbar sind sie freilich an ihrer ausgestellten, sich um nichts und niemand scherenden Männlichkeit (was auch immer das sein soll) und den penetrant ratternden Motoren, die dafür sorgen, dass sie im geschützten Innenraum auf dem öffentlichen Parkplatz Musik hören, die Heizung in ihren Hintern blasen lassen oder schlicht dem wohligen Rumoren der Maschine nachsinnen können. Nähert man sich einem solchen menschlichen Wesen an, um es beispielsweise zu bitten, den Motor abzudrehen, erntet man für gewöhnlich ein Grunzgeräusch oder ein Zischen, das diejenigen, die sich annähern, verjagen soll.

Bislang habe ich keinen solchen Mann in den Supermarkt gehen sehen, was mich zur Annahme verleitet, sie halten sich dort nur aufgrund des Parkplatzes, genauer, aufgrund der großen Parkfläche auf. Dafür spricht, dass sie sich meist (aber nicht ausschließlich) an den Rand dieser Flächen bewegen mit ihren Vehikeln, um dort, so vermute ich, ungestört ihrer Nicht-Tätigkeit nachhängen zu können. Manche von diesen Männern konnte ich bis zu drei Stunden in ihrem Refugium observieren, andere verbringen derart wohl vor allem ihre Mittagspausen, also im Mittel zwanzig Minuten. Ihre Kleidung ist unterschiedlich, aber meist leger, um es euphemistisch auszudrücken. Sie verharren erstaunlich lang in den gleichen, irgendwie erschlafften, starren Posen, verrichten meist eine Tätigkeit und schauen dabei mit hängenden Gesichtsmuskeln drein, als hätten sie vergessen, dass man sie durch die Scheibe sehen kann.

Viele bohren in der Nase, manche telefonieren, alle lümmeln sich in ihre Sitze. Leider wollte keiner der Männer meine Fragen zu dieser Tätigkeit beantworten, daher muss ich lediglich spekulieren, dass es sich entweder um eine in Zeiten der Inflation kostensparende Variante zum ziellosen Umherfahren mit demselben Fahrzeug handelt oder aber, was ich ehrlichgesagt für wahrscheinlicher halte, dass ihnen die doppelte Anonymität aus riesigem Parkplatz und Türen, die man um sich verschlossen hält, ein ekstatische Gefühl des Friedens verleiht, da sie sich endlich unerkannt wähnen, ihrer Arbeit, ihrer familiären oder sonstwo gelagerten Verantwortung entwichen, also wieder zu den infantilen, sich im Sandkasten verbuddelnden Wesen werden können, die sie eigentlich gerne wären. Ein wenig erinnert das durchaus an die Krabbelgruppe im Möbelhaus, wo Eltern ihre Kinder ablegen, damit sie in Ruhe Geld ausgeben können.

Die Männer legen sich aber selbst ab, so viel Würde haben sie dann doch, auch wenn es ihnen vermutlich nichts ausmachen würde, wenn ihre Partnerin, wie bei einer verwandten aber nicht zu verwechselnden Gattung Männer, gleichzeitig den Einkauf erledigte. Den höchstens noch in ihrem Auto nach einem Stück Schinken, dass ihnen aus der Semmel gefallen ist, krabbelnden Männern, ist derlei Wurst. Sie verhalten sich so, als würde die Welt nicht existieren und genau deshalb passen sie so gut auf diese alles plattmachenden, überall gleichaussehenden Parkplätze.

Auf 98 Männer fallen 2 Frauen, die einer ähnlichen Tätigkeit nachgehen, was, wie so oft, Fragen aufwirft. Ohne mich zu einem abschließenden Ausblick hinreißen zu lassen, würde ich gern in den Raum stellen, ob diese Flächen, im Angesicht der traurigen Tatsache, dass bestimmte, problematische Formen des männlichen Daseins langsamer verschwinden als uns lieb sein kann, ausgebaut werden sollten, damit sie als eine Art Reservat dienen können, in denen diese Männer ihren Weltbildern ungestört nachhängen können. Zu diesem Zweck, sagen die brutalen Zyniker, könnte man ihr ausgestoßenes CO2 zurück in die jeweiligen Fahrzeuge lenken, aber vielleicht würde es auch genügen, dafür bin ich dann doch mehr, ihnen die Motorhaube einzuschlagen. Den Parkplatz dürften sie so oder so behalten.

Notiz zu The Four Seasons von Alan Alda

The Four Seasons von Alan Alda ist ein Film aus einer vormaligen Zeit, in dem ambivalente Gefühlsregungen von Figuren (beispielsweise das gleichzeitige Aufleuchten einer Zuneigung und Panik, Zärtlichkeit und Angst oder Traurigkeit und Albernheit) nicht nacheinander, in voneinander getrennten Szenen, sondern zur gleichen Zeit greifbar werden. Es ist schwer zu sagen, wann dem fiktionalen Kino diese Fähigkeit zur Komplexität abhandenkam, aber man trifft sie heute nur mehr selten an, so viel ist sicher.

Dabei verrät schon der beiläufigste Blick ins Gesicht eines anderen Menschen, dass dort mehr vor sich geht, als nur diese eine, auf alles zulaufende Eindeutigkeit, mit der sich vielleicht angestrengte Plots, nicht aber das Leben erzählen lassen. Alda, dessen Regiedebüt der Film markierte, orientiert sich dabei irgendwo zwischen John Cassavetes, Éric Rohmer und Woody Allen, um beispielsweise im Gesicht von Nick, einem zu Beginn des Films unglücklich verheirateten Mann, zugleich ein verletztes, einsames Kind, einen albernen Gockel in der Midlife Crisis, einen schuldbewussten Existenzialisten, einen Egoisten, einen körperorientierten Männlichkeitsjunkie, einen treuherzigen Freund und eine verlorene Seele zu entdecken. Niemand würde auf die Idee kommen, dass man Nick (genausowenig wie die vier Frauen und zwei anderen Männer im Film) be- oder verurteilen könnte. Man kann mit oder gegen ihn empfinden, mit oder über ihn lachen, das ist alles, das ist schon viel.

Es mag sein, dass Vereinfachungen wichtig sind für die verdichteten Erzählweisen des Kinos, aber heute werden sie oft als faule, ideologisch gefärbte Ausreden benutzt, um dieses oder jenes theoretische Problem zu erläutern. Ein den Menschen zugewandtes Kino scheint nicht nötig zu sein, wenn es um Parolen geht, die Auswege aus der Unerklärlichkeit des Seins versprechen. Ich kann mir nur vorstellen wie erschrocken manche Apologeten der zeitgenössischen, politischen Propaganda dreinschauen, wenn sie mit den widersprüchlichen Gefühlen konfrontiert werden, die in einer Welt stecken, in der die süßest winselnden Tiere sadistische Neigungen offenbaren.

Ansonsten zelebriert der komödiantisch angehauchte, aber jederzeit tragische Film in vier Bewegungen, die bereits vom Titel festgelegt werden, die menschliche Mittelmäßigkeit, wobei er den mittelmäßigen zum wahren Menschen erhebt. Ein Film also von jener Sorte, wie er Menschen gefällt, die behaupten würden, das Leben verstanden zu haben, die schulterzuckend und von Enttäuschungen abgehärtet registrieren, dass sie dieses oder jenes nie erleben werden, dass das Leben eben so sei, dass man nicht nach zu viel Ausschau halten solle, weil man ohnehin nichts tun könne gegen den ungerechten, sich in Sackgassen verfahrenden Lauf des Daseins. Ein Film für Menschen, die nichts mehr erwarten vom Leben und darüber lachen können. Das macht ihn traurig in den Blicken jener, die noch leben und grandios in den Augen der Ernüchterten.

Beobachtet werden sechs bis sieben Freunde, eigentlich drei Paare, wobei sich eines auflöst, die durchs Leben schlittern, sich um Kopf und Kragen reden und dabei altern, machtlos sicherlich, aber doch ausgestattet mit dieser menschlichen Fähigkeit zur Selbsteinordnung, als wäre man immer zugleich mittendrin und am Rand der Dinge. Im Frühling treffen sie sich auf einer ländlichen Hütte, im Sommer auf einem Segelboot, im Herbst irgendwo in einem Hotel nahe der Universität ihrer Töchter, im Winter beim Skifahren.

Die vier Jahreszeiten, denen sich der Film unterwirft, von denen er sich zumindest rahmen lässt, dienen dabei nicht als bloße pastoral angehauchte Untermalung der mäandernden Dramaturgie (ein wenig gemahnt der Film an die großen Hanging-Out-Filme à la Le déjeuner sur l’herbe von Jean Renoir), nein, sie verkörpern geradezu natürlich diese Ordnung in der Unordnung, den ludus in der paidia wie Roger Caillois schreiben würde, also das, was wir beim Blick in unsere Kalender erwarten, mit dem, was uns tatsächlich widerfährt.

Aber es stimmt schon, der Frühling kehrt wieder, egal ob es nun der gleiche ist oder ein anderer. Nur diese variantenreiche Wiederkehr ist es, die ihn komplex macht, denn in ihr offenbaren sich die feinen Unterschiede zwischen den Jahren und es zeigt sich das, was man plötzlich zum ersten Mal erkennt, obwohl es jeden April erblüht. Dann liegt es an uns zu handeln, zumindest zu sehen oder uns zu winden, uns dem Strom der Zeit hinzugeben oder ihm zu widerstehen, wahrscheinlich beides zugleich. The Four Seasons fängt diese Sekunden zwischen der Flucht und dem Verharren, der Hingabe und der Aufgabe. Er zeigt die Wut, die nichts zählt und die sich in Kichern auflösende Panik. Das ist wahrscheinlich viel wert und doch hoffe ich, niemals in diesem Film zu leben, obwohl ich es wahrscheinlich längst tue.

herzförmig

Das Wort herzförmig, was löst es in dir aus? Wenn ich es sage, siehst du dann einen blutigen, verkrampften Muskel oder einen gleichmäßigen Pulsschlag oder eine Liebe?

Als Kind habe ich von einer herzförmigen Wanduhr gelesen und ich konnte mir nicht recht vorstellen, was das sein sollte. Dann habe ich Herzen auf die Tischdecke gemalt und alle dachten, dass ich verliebt sei. Mich interessierte aber nur die Form, nicht was sie bedeuten mochte. Ich habe überall herzförmige Linien gezogen, mit den Fingern im Staub auf der Heizung im Bad, auf beschlagenen Fenstern, im Schnee. Im Wörterbuch las ich, dass als herzförmig bezeichnet wird, was der Form eines Herzens entspricht. Die Form eines Herzens.

Ich habe diese Form zunächst als Leistungsfähigkeit verstanden. Die Form, so wie ein Sportler in Form sein möchte, so soll es auch das Herz sein. Lebendig bestenfalls. Ich habe mir gedacht, dass die Herzförmigen gesund sein müssen.

Das Herz ist ja immer zugleich herumspringendes, leicht aufzuschreckendes, motorisches Ungetüm und ruhender Anker von Wahrheit und deren Fragilität. Zur Zeit schreiben alle am Ende ihrer Emails herzlich und wieder bin ich mir nicht sicher, was damit gemeint ist. In den Briefen Franz Kafkas taucht dieses Herzliche unentwegt auf, egal an wen, es liegt ihm stets am Herzen. Am Herzen liegen, wie stoisch muss man sein, um bei dem Lärm, den so ein Herz verursacht, liegen zu können?

Damals habe ich ein kleines Büchlein vollgekritzelt mit meinen Herzen, aber auch mit einer Liste von Dingen und Lebewesen, die mir herzförmig vorkamen: Laub, das Gesicht von meiner Mathelehrerin Frau Offergeld, der Baggersee, die blaue Parfümflasche meiner Mutter, am Strand vergessene Muscheln, der Aschenbecher meines Opas, wie ich mir die Vulva vorstellte, eine Wolke, die am 6. November 1996 über mein Dorf zog, Fährten von Rehen, Marienkäfer, das Gestell von Sonnenbrillen, die silbernen Manschettenknöpfe an den Hemdsärmeln meines mir Bibeln schenkenden Onkels, eine Vertiefung im Holzrahmen, der mich daran hinderte, aus dem Bett zu fallen, die kleinen Guckfenster in manchen Haustüren. Ich habe das Buch verloren, mehr kann ich nicht erinnern.

Unser Pfarrer, der auch unser Lehrer war, sagte, dass es einen Unterschied gibt zwischen einer Vergebung, die nur über die Lippen und einer Vergebung, die von Herzen kommt. Ich übte fortan zu vergeben, indem ich meine Lippen zu einer Herzform verformte beim Sprechen, ich sprach durch das Herz meiner Lippen. Niemand konnte mich verstehen, meine Mutter ermahnte mich, ich solle vernünftig sprechen.

Irgendwann fand ich dann alles Herzförmige unangenehm. Ich glaubte an eine Verschwörung der Herzförmigen, die mich heimsuchten. Diese doppelt geschwungene und dann spitz zulaufende Form umrahmte alles, was ich denken konnte. Mich widerte diese Gleichzeitigkeit aus geschwungener Sanftheit und kantiger Schärfe an, die dieser Form innewohnt. Je nachdem, ob ich das Herz von oben oder unten betrachtete, war es mir zu weich oder zu hart.

Komm endlich, du, vor dem die Herzen sinken!, habe ich später bei Francisco de Quevedo gelesen und mir vorgestellt, wie die Herzen sinken. Das hat mich ein bisschen mit den Herzen und ihrer Form versöhnt. Wohin sie sinken, habe ich mich gefragt und keine Antwort gefunden. Aber es beruhigte mich, dass sie sinken. Ich denke, dass das, was sinkt, auch fliegen kann.

Selbstverständlich haben die Spitzfindigen unter den Linguisten längst bemerkt, dass das Herz auch im Scherz verborgen liegt. Ich frage mich, ob es mir besser ergangen wäre, wenn ich als Kind die Scherzförmigen gesucht hätte. Sie nehmen die Dinge weniger Ernst, das gereicht ihnen sicherlich zum Vorteil. Die Liste scherzförmiger Dinge ist unerschöpflich. Aber das Herz liegt auch im Herzustellenden, Vorherzusehenden, in den Herzogen, es trägt alles eher zur Verwirrung bei. Und ich habe noch gar nicht angefangen von Wörtern wie dem Herzhaften zu schreiben. Man stelle sich vor, jemand würde in einen Käse beißen und dieser würde schmecken wie ein Herz. Nicht, dass viele nicht eine gewisse Freude, um nicht zu sagen Lust empfinden, wenn sie Innereien verspeisen, aber dann sprechen sie selten vom Herzhaften, auch wenn es angebracht wäre.

Aber was löst nun dieses Wort in dir aus? Herzförmig. Das Herz als umfassendes, verwirrendes, sich ständig wandelndes Symbol, die Form als das, was einfängt, ordnet, erkennbar macht. Ein Paradox zweifellos. Ein Herz wird in Form gegossen, die Form kann aber nicht zum Herzen werden. Zumal das, was wir als herzförmig beschreiben, nicht wirklich aussieht wie ein Herz. Diese Form vereinfacht das Unförmige der eigentlichen Herzen.

Also habe ich mir die Mühe gemacht, zu einem Arzt zu gehen, ich muss so 15 Jahre alt gewesen sein, um ihn darum zu bitten, mein Herz zu röntgen. Er entdecke dabei eine Unregelmäßigkeit, nichts Schlimmes, wie er mir versicherte. Dass ich aber ein unregelmäßiges Herz hatte, gefiel mir und den Scan, den ich nach Hause nehmen durfte, studierte ich aufmerksam. Er hatte nichts Herzförmiges an sich. Was ich als mein Herz bezeichnen muss, ist eine unscheinbare, blasse Tasche, die irgendwie zwischen meinen Rippen hängt, kaum zu verstehen, dass es nicht von ihnen aufgespießt wird. Ohne die Bewegung, das Pumpen, die Kontraktion, würde man fast glauben können, es handle sich um einen Fremdkörper, der sich da auf einer Seite des Brustkorbs ausbreitet.

Ich gebe zu, dass es ein bisschen zu einfach ist, irgendwelche biologischen Halbwahrheiten mit symbolischen Bildern aufzuwiegen. Dazu ist das mit den Herzen und wie sie gesehen werden einfach zu unverfänglich. Es schadet den Herzen ja nicht, dass sie gar nicht so aussehen, wie sie dargestellt werden. Trotzdem ist es so, dass mich das Thema nicht losgelassen hat, vermutlich weil ich den Fehler beging, die Anatomie mit dem Bild zu verwechseln und vice versa. Wann immer mir also wer von Herzen erzählt und wie sehr alles zu Herzen ginge und wie das Herz einen Sprung machte und dass man mich herzlich grüße und wie man sein Herz verloren hätte, sehe ich ein Stück Fleisch mit Adern und allem, was dazugehört. Wenn aber wer sagt, dass ein Herzinfarkt erlitten wurde oder das Herz nicht im besten Zustand wäre oder man die Aorta perforieren müsse, dann sehe ich diese wohlgeschwungenen Formen des Herzförmigen und ich verstehe nichts. Ich denke, dass ich mich glücklich schätzen kann, denn so lässt sich das Unerträgliche besser stemmen und das Emotionale bekommt eine Grundierung im Endlichen. Man kann nicht ohne Körper lieben sozusagen.

Altern und Spielberg widersprechen

It is only that youth is still able to believe
It will get away with anything, while age
Knows only too well that it has got away with nothing

(aus The Sea and the Mirror von W.H. Auden)

Ich möchte Steven Spielberg widersprechen. Das heißt, ich möchte ihm begegnen, entgegnen. Ich möchte etwas zu seinen mich nachhaltig störenden Filmen sagen, was nicht gesagt wurde oder etwas verneinen, widerlegen, anzweifeln, auflösen. Ich kann und möchte nicht, seine Bedeutung für das Kino hinterfragen. Ebensowenig soll sich das hier wie eine Kritik an seinem Schaffen lesen, dafür fehlen mir die Instrumente und die Laune. Vielmehr möchte ich über ihn verstehen, was mich am Kino stört. Sein neuer Film The Fabelmans bietet sich als perfektes Beispiel für diese Unternehmung an, schließlich liefert er eine selbstmythologisierende, irgendwie alles zusammenfassende Genese seiner durch die Filme schimmernden Persona, seiner überlappenden Vision eines Kinos und der durch das Kino verformten Welt. Wann immer hier also von The Fabelmans geschrieben wird, ist eigentlich und unbedingt das Werk Spielbergs an sich gemeint.

Ich kann mich noch genau erinnern, ich muss fünf Jahre alt gewesen sein, als ich den Namen Spielberg zum ersten Mal bewusst hörte. Bei einem Abendessen im Nachbarhaus erzählten sich die allesamt älteren Kinder von weißen Haien und Dinosauriern und in meinem Kopf entstand neben manch furchterregender Phantasie ziemlich schnell eine Verbindung zwischen Namen und Beruf. Spielberg und Regisseur. Ein bisschen so wie Becker und Tennisspieler, Matthäus und Fußballspieler, Clinton und Präsident. Meine erste Begegnung mit einem Film Spielbergs habe ich vergessen, da muss ich ihm also gleich widersprechen, da er in The Fabelmans doch allzu dick aufgetragen von bestimmten Filmen erzählt, die ihn geprägt hätten. So ganz stimmt das natürlich nicht, denn auch ich hatte solche Erlebnisse im Kino. Die aber kann ich kaum mit weit aufgerissenen Augen und Lichtstrahlen verknüpfen. Vielmehr erlebte ich sie, zum Beispiel bei meiner ersten Begegnung mit Antoine Doinel ganz bei mir selbst, gar nicht so stark auf die Leinwand fixiert, sondern mehr von ihr durchdrungen, das, was sie zeigte, durch mich fließend erspürend. Ich entdeckte das Kino weniger im Kino als in dem, was von ihm in mir fortlebte. Für mich hängt das Altern an den geheimsten Momenten, dann, wenn ich alleine bei mir erahnte, dass es etwas gab, was ich nicht kannte.    

Spielberg aber zeigt Erkenntnisgewinn in penetrant lichtdurchfluteten Nahaufnahmen, er behauptet, dass man (ich, du, die Kamera und vor allem ein ominöses Wir) sieht und deshalb empfindet. Das war immer anders für mich. Gerade weil ich dem Sehen so viel Bedeutung beimesse und stets beigemessen habe, empfinde ich stärker in der Erblindung, dann also, wenn sich etwas über das Sehen stülpt, sei es eine Berührung, ein Geräusch oder ein körperliches Erinnern (die leichten Zuckungen, mit denen ich einschlafe, der Phantomschmerz, der sich gegen das innere Vergessen sträubt, ein plötzlicher, verlorengeglaubter Geruch, der mich am Leben hält). Wenn je etwas in mir gereift ist, dann geschah dies in der Dunkelheit, eben dort, wo mich niemand sehen konnte, am wenigstens ich selbst, in einem Zustand entblößter Intimität, geborgener Vertrautheit, mich umgebender Sicherheit. In diese Dunkelheit, die es bei Spielberg schlicht nicht gibt, weil er alles ausschließt, was sich nicht erzählen lässt, zerre ich bis heute meine Ängste und Begehren. Diese Dunkelheit ist paradoxerweise das Kino für mich. Ich weiß aber nicht, ob das so widersprüchlich ist. Es spielt auch keine Rolle, es führt nur letztlich dazu, dass mir die Formen des Erinnerns, des Konstruierens eines Lebens in The Fabelmans unerträglich falsch vorkommen, ein bisschen so, als hätte Proust geschrieben: Ich sah den Sandteig und alles war klar. Spielberg filmt immer nur die Blüten und behauptet, dass sie Samen wären. Warum? Wahrscheinlich weil die Blüten den größeren gemeinsamen Nenner erzeugen, sie lösen die Emotion aus, die er einfangen will, während die Samen viel zu unberechenbar und ehrlich wären für dieses Kino der Gefühlskontrolle. 

Nun mag man mir entgegnen (ich kann mir keinen Dialog mit Spielberg vorstellen, weil ich tief in mir überzeugt bin, dass ihm das alles egal ist), dass dieser Mann nun mal filmt und wenn man filmt, dann geht es ums Sichtbare und dann kann ich nicht erwarten, dass er das filmt, was man nicht sieht. Das ist wiederum mir egal. Mal abgesehen davon, dass ich glaube, dass es Filme über das Heranwachsen gab, die diese Dunkelheit erahnt haben (zum Beispiel von Maurice Pialat), behaupte ich im Gegensatz zu diesem Regisseur keineswegs, dass meine Form des Älterwerdens kollektive Gültigkeit hat; ich bin nicht dazu in der Lage und ich bin nicht dazu bereit, mich selbst so sehr zu entleeren, dass andere sich auf mich, in mich projizieren sollen. Diese Form der Projektion (in diesem Wort werden jene, die Spielberg zusprechen, die gewünschte Doppeldeutigkeit finden) beseelt beziehungsweise pervertiert jede Sekunde in The Fabelmans, einem Film, der angeblich aus Kindheit und Jugend seines Machers berichtet, während man dazu eingeladen wird, in jedem Bild sich selbst zu entdecken. Man blickt in den großen, alles überblendenden Spiegel der westlichen Mittelklasse. Die daraus folgende Rührung ist lediglich narzisstische Flucht in überladene und schlichtweg falsche Bedeutungen von Familie, Mutter, Vater, erste Liebe, die auch deshalb so anwidernd effektiv arbeiten, weil diese limitierte, auf eine bestimmte Bildungsschicht zielende Art des Fühlens längst den Ereignissen vorausgeht. Wie ich bereits erwähnte, kannte ich Spielberg bevor ich mich in eine Klassenkameradin verliebte und bevor ich mich ins Meer wagte. Sein larger than life Kino erzeugt Erwartungen an das eigene Leben. Bis zur Verwechslung. Spielberg würde mir, so denke ich, ohne mit der Wimper zu zucken, sagen, was es bedeutet, meinen Vater zu lieben. Aber er kennt meinen Vater nicht und das macht mich stutzig.

Das Älterwerden in The Fabelmans ist ein sentimentales Unterfangen. Dagegen habe ich nichts einzuwenden, auch wenn die im Film vorherrschende Sentimentalität eher der überhöhten Erinnerung an die Jugend, als dem tatsächlichen Durchleben selbiger geschuldet scheint. Das Sentimentale, Glorreiche, Überwältigende der Jugend äußert sich auch nicht stilistisch, wie das zum Beispiel in den Kindheitserinnerungen von Danilo Kiš geschieht, dafür ist Spielberg viel zu industriell, brav. Er behauptet (und viele folgen ihm), dass man in diesem industriellen, von bekannten Grammatiken beherrschten System persönlich erzählen kann. Das muss man sich erstmal trauen. Aber seis drum. Spielberg behauptet auch, dass man entlang einer nachträglich nachvollziehbaren Linie altert, dass sich das, was zählt, aufeinander schichtet und ergänzt, dass es einen Ariadnefaden gibt, entlang dessen man sich irgendwann zurück durch das eigene Leben bewegen kann. Eine Begegnung hier, ein Scheitern dort, ein Trauma, eine Erfahrung, ein Erfolg und schon ist man wer und kann davon erzählen. Mein Älterwerden dagegen bestach stets dadurch, dass das, was mir eben noch wichtig schien, kurz darauf bereits wieder vergessen war. Das ist auch heute noch so, schließlich werde ich noch immer älter und möchte mich auch weigern, je so alt zu werden, dass ich zurückblicke auf etwas, das ich als abgeschlossen erzählen möchte. Wenn ich unter Einfluss von unerwünschten Gefühlsregungen doch einen Blick zurückwerfe, dann empfinde ich meist Entfremdung. Meine Ich-Erzählungen lassen keine Fäden erkennen, sie verirren sich ununterbrochen, enden in Sackgassen und ja, es sind diese Sackgassen, in denen ich vielleicht etwas von mir erkenne. Eine Begegnung mit meinem jüngeren Ich würde nicht diese von Hollywood propagierte Lebensweisheit auslösen, sondern schlicht Irritation. Jedes Jahr ist letztlich eine Aneinanderreihung genuiner Fehler, die mich ein bisschen mehr verstehen lassen, dass ich nicht bin, wer ich glaubte zu sein. Es mag ein Bild geben, das dadurch entsteht, aber ich könnte dieses Bild nie selbst erzeugen, empfinde mich vielmehr im ständigen Widerspruch zu diesem Bild. Ich muss ständig Rollen aus meiner Vergangenheit spielen, die mir keineswegs entsprechen. Spielberg dagegen bedient sein eigenes Bild, er erschafft es gleich mit, weil er weiß, dass die Mythenbildung Teil der Filmwelt ist. Es lässt sich bestimmt auch besser leben, wenn man sich selbst narrativeren kann. Wer nun sagt, dass es nun mal zum Kino gehört, ein Leben in Plot-Points und derlei Stumpfsinn einzuteilen, hat nie Filme gesehen. Und irgendwann muss auch ernsthaft darüber diskutiert werden, dass Filme enden, das Älterwerden aber nicht. Es fällt auf, dass kaum ein Film je über die dust to dust Religiosität hinweggegangen ist, um wirklich zu zeigen, was passiert, wenn man immer weiter altert, selbst wenn man schon tot ist. Körper scheinen ohnehin nicht so wichtig für das Kino-Altern, zumindest bei Spielberg, bei dem nie wer müde wird oder lasch, bei dem es nie das Gefühl gibt, dass vor drei Jahren noch schmerzfrei war, was heute höllisch wehtut. Auch das ist vergeistigt, spirituelle Blicke in den hell strahlenden Himmel. Das wahre geistige Symptom des Alterns jedoch, das sich an sich selbst berauschende Selbstmitleid, spart er aus. Es ist zu wenig tröstlich für seine Art des Kinos. Er überlässt es den Zuschauern, die unterstützt von penetranter Musik weinen sollen. Diese Musik entspricht selten dem Raum des Geschehens, sie kommt aus dem Raum des Betrachtens. Spielberg zeigt wiederholt sein Alter Ego beim Setzen von Musik auf bereits existierende Bilder, man könnte es musikalische Untermalung nennen, nur dass die Bilder hier eher die Musik untermalen; hier verrät er sich, denn sein Erinnern ist nicht subjektiv, es sucht nach einem allgemeingültigen Effekt. Und was ist daran schlimm? Gar nichts, nur dass eben nichts gezeigt und gesagt wird. The Fabelmans ist reines Suggestivkino, eine leere Samthülle, in die sich jene (vor allem Männer) einkuscheln können, die ihren eigenen Bezug zur Kindheit verloren haben. Kind sind ohnehin alle geblieben, nur die Jugend verliert man zu schnell (auch dieser Satz lässt mich schneller altern). Es ist nicht wirklich traurig, dass sich die Eltern des jungen Fabelmans oder Spielbergs trennen, traurig ist, dass ein Gefühl der Geborgenheit nicht haltbar ist, und das haben letztlich alle schon, aber alle anders erlebt. Würde einer schreiben: Wir alle verlieren das Gefühl der Geborgenheit, würde man ihn als Schriftsteller kaum ernst nehmen. Im Kino dagegen scheint dieser Allgemeinplatz auszureichen, weil das Kino nur allzu gern die Wahrheit betrügt, für ein egal wie billiges Gefühl kollektiver Erinnerung.

Zum Spielberg-Mythos gehört beispielsweise, dass er als kleiner Junge gerne Züge kollidieren ließ und weil er das immer wiederholen wollte, zum Kino gekommen ist. Ist es nicht spannend, dass ein destruktiver, auf die reine Freude an der unvorhersehbaren, zerstörerischen Bewegung gerichteter Impuls zu einem Kino führte, das für sich beansprucht, alles fügen, in runde Formen gießen zu können? Was ist aus diesem Jungen geworden, der angeblich einen Zug in die Luft sprengen wollte für das Kino? Jemand, der glaubt rückwirkend alles zusammenfügen zu können, einer, der schwelgerisch lügt über das, was angeblich irgendwann alles Sinn ergibt, statt einfach weiter zu erkennen, dass das mit dem so innig geliebten Licht am schönsten ist, wenn es durch die Risse und Narben dringt. Einer, der klebt, statt sprengt. Spielbergs angeblich jüngeres Ich hat viel mehr über mein Älterwerden verstanden als dieser alte Mann, der darüber Filme macht. Am Ende steht dann auch in The Fabelmans eine Art offene Erkenntnis, etwas Erbauliches, mit dem man weiter altern kann. Ich muss nicht betonen, dass mir Derartiges noch nie widerfahren ist. Je älter ich werde, desto unabgeschlossener jede Erkenntnis. Jeder Abschluss führt nur zu weiteren Verästelungen. Kann man darüber nicht erzählen? Ist es so viel wichtiger, das Gegenteil zu behaupten? Für jede letzte Einstellung, in der wer auf einen wie auch immer kadrierten Horizont zusteuert, stirbt jemand, weil von rechts oder links zufällig genau dann ein Auto kommt. Es war John Ford, der in seinem Young Mr Lincoln verstanden hat, wie man eine solche, dem Horizont zugeneigte Schlusserkenntnis zeigen könnte: in einem Gewitter, in dem klar wird, dass das, was kommt, alles was war, wegwischen wird.

Spielen, als wäre nichts passiert: Rewind & Play von Alain Gomis

Es kommt vor, dass man sich im Angesicht der herrschenden Würdelosigkeit fragt, wie sich ein kleines bisschen Erhabenheit bewahren ließe. Schließlich bilden sich die meisten von uns ein, dass es sowas gibt, sonst hätten wir schon längst verzagt. Die Kunst, seit jeher Refugium in derlei Fragen, schwimmt allgemeingesprochen als halbwegs sichtbare Boje zwischen dem erdrückenden, alles bedeckenden Unsinn, wird aber, wir kennen das, von diesem nur allzu leicht eingenommen. Das hindert uns nicht daran, in ihr nach eben jener Würde zu suchen, denn wenn wir nur einen kleinen Funken von ihr spüren, können wir wieder einige Tage weiterleben. Da sind wir nicht anders, als das vergiftete Mädchen aus dem irischen Märchen, das ihr Leben lang auf Heidekraut kauen muss, damit das Gift sich nicht in ihrem Körper ausbreiten kann.

Derzeit kann man ein wenig Würde in Rewind & Play von Alain Gomis entdecken. Das liegt eigentlich weder am Film und dessen recht braver Manier, die musikalischen Regungen seines Protagonisten, Thelonious Monk, filmisch zu übersetzen, noch am französischen Fernsehprogramm aus dem Dezember 1969, dessen Dreh die Bilder dieser Found-Footage-Arbeit liefert. Es liegt nur an Monk selbst, der hier vom TV-Apparat aufs Übelste vorgeführt, genötigt und stereotyp in Schubladen gedrängt wird, bis er anfängt zu spielen, einfach zu spielen, um damit allem zu entkommen. Er spielt auf seinem Flügel, so formuliert es der Moderator in Bezug zu einem anderen Konzert, dem er beiwohnen durfte, als wäre nichts passiert.

Er erhebt sich zur Einfachheit, wie Péter Nádas unlängst bei einer Lesung formulierte (es ging ihm um die prinzipielle Aufgabe des Künstlers und Menschen), die unendlich komplexe Einfachheit seiner Musik, die dem Lärm dieser und aller Zeiten widersteht. Er erhebt sich all dieser grellen Lichter und stumpfsinnigen Fragen, der ermüdenden Erwartungen und des uninspirierten Zynismuses und wir erheben uns mit ihm.

Der Film ist in der Mediathek von arte zu sichten:
https://www.arte.tv/en/videos/103053-000-A/rewind-and-play/