Altern und Spielberg widersprechen

It is only that youth is still able to believe
It will get away with anything, while age
Knows only too well that it has got away with nothing

(aus The Sea and the Mirror von W.H. Auden)

Ich möchte Steven Spielberg widersprechen. Das heißt, ich möchte ihm begegnen, entgegnen. Ich möchte etwas zu seinen mich nachhaltig störenden Filmen sagen, was nicht gesagt wurde oder etwas verneinen, widerlegen, anzweifeln, auflösen. Ich kann und möchte nicht, seine Bedeutung für das Kino hinterfragen. Ebensowenig soll sich das hier wie eine Kritik an seinem Schaffen lesen, dafür fehlen mir die Instrumente und die Laune. Vielmehr möchte ich über ihn verstehen, was mich am Kino stört. Sein neuer Film The Fabelmans bietet sich als perfektes Beispiel für diese Unternehmung an, schließlich liefert er eine selbstmythologisierende, irgendwie alles zusammenfassende Genese seiner durch die Filme schimmernden Persona, seiner überlappenden Vision eines Kinos und der durch das Kino verformten Welt. Wann immer hier also von The Fabelmans geschrieben wird, ist eigentlich und unbedingt das Werk Spielbergs an sich gemeint.

Ich kann mich noch genau erinnern, ich muss fünf Jahre alt gewesen sein, als ich den Namen Spielberg zum ersten Mal bewusst hörte. Bei einem Abendessen im Nachbarhaus erzählten sich die allesamt älteren Kinder von weißen Haien und Dinosauriern und in meinem Kopf entstand neben manch furchterregender Phantasie ziemlich schnell eine Verbindung zwischen Namen und Beruf. Spielberg und Regisseur. Ein bisschen so wie Becker und Tennisspieler, Matthäus und Fußballspieler, Clinton und Präsident. Meine erste Begegnung mit einem Film Spielbergs habe ich vergessen, da muss ich ihm also gleich widersprechen, da er in The Fabelmans doch allzu dick aufgetragen von bestimmten Filmen erzählt, die ihn geprägt hätten. So ganz stimmt das natürlich nicht, denn auch ich hatte solche Erlebnisse im Kino. Die aber kann ich kaum mit weit aufgerissenen Augen und Lichtstrahlen verknüpfen. Vielmehr erlebte ich sie, zum Beispiel bei meiner ersten Begegnung mit Antoine Doinel ganz bei mir selbst, gar nicht so stark auf die Leinwand fixiert, sondern mehr von ihr durchdrungen, das, was sie zeigte, durch mich fließend erspürend. Ich entdeckte das Kino weniger im Kino als in dem, was von ihm in mir fortlebte. Für mich hängt das Altern an den geheimsten Momenten, dann, wenn ich alleine bei mir erahnte, dass es etwas gab, was ich nicht kannte.    

Spielberg aber zeigt Erkenntnisgewinn in penetrant lichtdurchfluteten Nahaufnahmen, er behauptet, dass man (ich, du, die Kamera und vor allem ein ominöses Wir) sieht und deshalb empfindet. Das war immer anders für mich. Gerade weil ich dem Sehen so viel Bedeutung beimesse und stets beigemessen habe, empfinde ich stärker in der Erblindung, dann also, wenn sich etwas über das Sehen stülpt, sei es eine Berührung, ein Geräusch oder ein körperliches Erinnern (die leichten Zuckungen, mit denen ich einschlafe, der Phantomschmerz, der sich gegen das innere Vergessen sträubt, ein plötzlicher, verlorengeglaubter Geruch, der mich am Leben hält). Wenn je etwas in mir gereift ist, dann geschah dies in der Dunkelheit, eben dort, wo mich niemand sehen konnte, am wenigstens ich selbst, in einem Zustand entblößter Intimität, geborgener Vertrautheit, mich umgebender Sicherheit. In diese Dunkelheit, die es bei Spielberg schlicht nicht gibt, weil er alles ausschließt, was sich nicht erzählen lässt, zerre ich bis heute meine Ängste und Begehren. Diese Dunkelheit ist paradoxerweise das Kino für mich. Ich weiß aber nicht, ob das so widersprüchlich ist. Es spielt auch keine Rolle, es führt nur letztlich dazu, dass mir die Formen des Erinnerns, des Konstruierens eines Lebens in The Fabelmans unerträglich falsch vorkommen, ein bisschen so, als hätte Proust geschrieben: Ich sah den Sandteig und alles war klar. Spielberg filmt immer nur die Blüten und behauptet, dass sie Samen wären. Warum? Wahrscheinlich weil die Blüten den größeren gemeinsamen Nenner erzeugen, sie lösen die Emotion aus, die er einfangen will, während die Samen viel zu unberechenbar und ehrlich wären für dieses Kino der Gefühlskontrolle. 

Nun mag man mir entgegnen (ich kann mir keinen Dialog mit Spielberg vorstellen, weil ich tief in mir überzeugt bin, dass ihm das alles egal ist), dass dieser Mann nun mal filmt und wenn man filmt, dann geht es ums Sichtbare und dann kann ich nicht erwarten, dass er das filmt, was man nicht sieht. Das ist wiederum mir egal. Mal abgesehen davon, dass ich glaube, dass es Filme über das Heranwachsen gab, die diese Dunkelheit erahnt haben (zum Beispiel von Maurice Pialat), behaupte ich im Gegensatz zu diesem Regisseur keineswegs, dass meine Form des Älterwerdens kollektive Gültigkeit hat; ich bin nicht dazu in der Lage und ich bin nicht dazu bereit, mich selbst so sehr zu entleeren, dass andere sich auf mich, in mich projizieren sollen. Diese Form der Projektion (in diesem Wort werden jene, die Spielberg zusprechen, die gewünschte Doppeldeutigkeit finden) beseelt beziehungsweise pervertiert jede Sekunde in The Fabelmans, einem Film, der angeblich aus Kindheit und Jugend seines Machers berichtet, während man dazu eingeladen wird, in jedem Bild sich selbst zu entdecken. Man blickt in den großen, alles überblendenden Spiegel der westlichen Mittelklasse. Die daraus folgende Rührung ist lediglich narzisstische Flucht in überladene und schlichtweg falsche Bedeutungen von Familie, Mutter, Vater, erste Liebe, die auch deshalb so anwidernd effektiv arbeiten, weil diese limitierte, auf eine bestimmte Bildungsschicht zielende Art des Fühlens längst den Ereignissen vorausgeht. Wie ich bereits erwähnte, kannte ich Spielberg bevor ich mich in eine Klassenkameradin verliebte und bevor ich mich ins Meer wagte. Sein larger than life Kino erzeugt Erwartungen an das eigene Leben. Bis zur Verwechslung. Spielberg würde mir, so denke ich, ohne mit der Wimper zu zucken, sagen, was es bedeutet, meinen Vater zu lieben. Aber er kennt meinen Vater nicht und das macht mich stutzig.

Das Älterwerden in The Fabelmans ist ein sentimentales Unterfangen. Dagegen habe ich nichts einzuwenden, auch wenn die im Film vorherrschende Sentimentalität eher der überhöhten Erinnerung an die Jugend, als dem tatsächlichen Durchleben selbiger geschuldet scheint. Das Sentimentale, Glorreiche, Überwältigende der Jugend äußert sich auch nicht stilistisch, wie das zum Beispiel in den Kindheitserinnerungen von Danilo Kiš geschieht, dafür ist Spielberg viel zu industriell, brav. Er behauptet (und viele folgen ihm), dass man in diesem industriellen, von bekannten Grammatiken beherrschten System persönlich erzählen kann. Das muss man sich erstmal trauen. Aber seis drum. Spielberg behauptet auch, dass man entlang einer nachträglich nachvollziehbaren Linie altert, dass sich das, was zählt, aufeinander schichtet und ergänzt, dass es einen Ariadnefaden gibt, entlang dessen man sich irgendwann zurück durch das eigene Leben bewegen kann. Eine Begegnung hier, ein Scheitern dort, ein Trauma, eine Erfahrung, ein Erfolg und schon ist man wer und kann davon erzählen. Mein Älterwerden dagegen bestach stets dadurch, dass das, was mir eben noch wichtig schien, kurz darauf bereits wieder vergessen war. Das ist auch heute noch so, schließlich werde ich noch immer älter und möchte mich auch weigern, je so alt zu werden, dass ich zurückblicke auf etwas, das ich als abgeschlossen erzählen möchte. Wenn ich unter Einfluss von unerwünschten Gefühlsregungen doch einen Blick zurückwerfe, dann empfinde ich meist Entfremdung. Meine Ich-Erzählungen lassen keine Fäden erkennen, sie verirren sich ununterbrochen, enden in Sackgassen und ja, es sind diese Sackgassen, in denen ich vielleicht etwas von mir erkenne. Eine Begegnung mit meinem jüngeren Ich würde nicht diese von Hollywood propagierte Lebensweisheit auslösen, sondern schlicht Irritation. Jedes Jahr ist letztlich eine Aneinanderreihung genuiner Fehler, die mich ein bisschen mehr verstehen lassen, dass ich nicht bin, wer ich glaubte zu sein. Es mag ein Bild geben, das dadurch entsteht, aber ich könnte dieses Bild nie selbst erzeugen, empfinde mich vielmehr im ständigen Widerspruch zu diesem Bild. Ich muss ständig Rollen aus meiner Vergangenheit spielen, die mir keineswegs entsprechen. Spielberg dagegen bedient sein eigenes Bild, er erschafft es gleich mit, weil er weiß, dass die Mythenbildung Teil der Filmwelt ist. Es lässt sich bestimmt auch besser leben, wenn man sich selbst narrativeren kann. Wer nun sagt, dass es nun mal zum Kino gehört, ein Leben in Plot-Points und derlei Stumpfsinn einzuteilen, hat nie Filme gesehen. Und irgendwann muss auch ernsthaft darüber diskutiert werden, dass Filme enden, das Älterwerden aber nicht. Es fällt auf, dass kaum ein Film je über die dust to dust Religiosität hinweggegangen ist, um wirklich zu zeigen, was passiert, wenn man immer weiter altert, selbst wenn man schon tot ist. Körper scheinen ohnehin nicht so wichtig für das Kino-Altern, zumindest bei Spielberg, bei dem nie wer müde wird oder lasch, bei dem es nie das Gefühl gibt, dass vor drei Jahren noch schmerzfrei war, was heute höllisch wehtut. Auch das ist vergeistigt, spirituelle Blicke in den hell strahlenden Himmel. Das wahre geistige Symptom des Alterns jedoch, das sich an sich selbst berauschende Selbstmitleid, spart er aus. Es ist zu wenig tröstlich für seine Art des Kinos. Er überlässt es den Zuschauern, die unterstützt von penetranter Musik weinen sollen. Diese Musik entspricht selten dem Raum des Geschehens, sie kommt aus dem Raum des Betrachtens. Spielberg zeigt wiederholt sein Alter Ego beim Setzen von Musik auf bereits existierende Bilder, man könnte es musikalische Untermalung nennen, nur dass die Bilder hier eher die Musik untermalen; hier verrät er sich, denn sein Erinnern ist nicht subjektiv, es sucht nach einem allgemeingültigen Effekt. Und was ist daran schlimm? Gar nichts, nur dass eben nichts gezeigt und gesagt wird. The Fabelmans ist reines Suggestivkino, eine leere Samthülle, in die sich jene (vor allem Männer) einkuscheln können, die ihren eigenen Bezug zur Kindheit verloren haben. Kind sind ohnehin alle geblieben, nur die Jugend verliert man zu schnell (auch dieser Satz lässt mich schneller altern). Es ist nicht wirklich traurig, dass sich die Eltern des jungen Fabelmans oder Spielbergs trennen, traurig ist, dass ein Gefühl der Geborgenheit nicht haltbar ist, und das haben letztlich alle schon, aber alle anders erlebt. Würde einer schreiben: Wir alle verlieren das Gefühl der Geborgenheit, würde man ihn als Schriftsteller kaum ernst nehmen. Im Kino dagegen scheint dieser Allgemeinplatz auszureichen, weil das Kino nur allzu gern die Wahrheit betrügt, für ein egal wie billiges Gefühl kollektiver Erinnerung.

Zum Spielberg-Mythos gehört beispielsweise, dass er als kleiner Junge gerne Züge kollidieren ließ und weil er das immer wiederholen wollte, zum Kino gekommen ist. Ist es nicht spannend, dass ein destruktiver, auf die reine Freude an der unvorhersehbaren, zerstörerischen Bewegung gerichteter Impuls zu einem Kino führte, das für sich beansprucht, alles fügen, in runde Formen gießen zu können? Was ist aus diesem Jungen geworden, der angeblich einen Zug in die Luft sprengen wollte für das Kino? Jemand, der glaubt rückwirkend alles zusammenfügen zu können, einer, der schwelgerisch lügt über das, was angeblich irgendwann alles Sinn ergibt, statt einfach weiter zu erkennen, dass das mit dem so innig geliebten Licht am schönsten ist, wenn es durch die Risse und Narben dringt. Einer, der klebt, statt sprengt. Spielbergs angeblich jüngeres Ich hat viel mehr über mein Älterwerden verstanden als dieser alte Mann, der darüber Filme macht. Am Ende steht dann auch in The Fabelmans eine Art offene Erkenntnis, etwas Erbauliches, mit dem man weiter altern kann. Ich muss nicht betonen, dass mir Derartiges noch nie widerfahren ist. Je älter ich werde, desto unabgeschlossener jede Erkenntnis. Jeder Abschluss führt nur zu weiteren Verästelungen. Kann man darüber nicht erzählen? Ist es so viel wichtiger, das Gegenteil zu behaupten? Für jede letzte Einstellung, in der wer auf einen wie auch immer kadrierten Horizont zusteuert, stirbt jemand, weil von rechts oder links zufällig genau dann ein Auto kommt. Es war John Ford, der in seinem Young Mr Lincoln verstanden hat, wie man eine solche, dem Horizont zugeneigte Schlusserkenntnis zeigen könnte: in einem Gewitter, in dem klar wird, dass das, was kommt, alles was war, wegwischen wird.

Spielen, als wäre nichts passiert: Rewind & Play von Alain Gomis

Es kommt vor, dass man sich im Angesicht der herrschenden Würdelosigkeit fragt, wie sich ein kleines bisschen Erhabenheit bewahren ließe. Schließlich bilden sich die meisten von uns ein, dass es sowas gibt, sonst hätten wir schon längst verzagt. Die Kunst, seit jeher Refugium in derlei Fragen, schwimmt allgemeingesprochen als halbwegs sichtbare Boje zwischen dem erdrückenden, alles bedeckenden Unsinn, wird aber, wir kennen das, von diesem nur allzu leicht eingenommen. Das hindert uns nicht daran, in ihr nach eben jener Würde zu suchen, denn wenn wir nur einen kleinen Funken von ihr spüren, können wir wieder einige Tage weiterleben. Da sind wir nicht anders, als das vergiftete Mädchen aus dem irischen Märchen, das ihr Leben lang auf Heidekraut kauen muss, damit das Gift sich nicht in ihrem Körper ausbreiten kann.

Derzeit kann man ein wenig Würde in Rewind & Play von Alain Gomis entdecken. Das liegt eigentlich weder am Film und dessen recht braver Manier, die musikalischen Regungen seines Protagonisten, Thelonious Monk, filmisch zu übersetzen, noch am französischen Fernsehprogramm aus dem Dezember 1969, dessen Dreh die Bilder dieser Found-Footage-Arbeit liefert. Es liegt nur an Monk selbst, der hier vom TV-Apparat aufs Übelste vorgeführt, genötigt und stereotyp in Schubladen gedrängt wird, bis er anfängt zu spielen, einfach zu spielen, um damit allem zu entkommen. Er spielt auf seinem Flügel, so formuliert es der Moderator in Bezug zu einem anderen Konzert, dem er beiwohnen durfte, als wäre nichts passiert.

Er erhebt sich zur Einfachheit, wie Péter Nádas unlängst bei einer Lesung formulierte (es ging ihm um die prinzipielle Aufgabe des Künstlers und Menschen), die unendlich komplexe Einfachheit seiner Musik, die dem Lärm dieser und aller Zeiten widersteht. Er erhebt sich all dieser grellen Lichter und stumpfsinnigen Fragen, der ermüdenden Erwartungen und des uninspirierten Zynismuses und wir erheben uns mit ihm.

Der Film ist in der Mediathek von arte zu sichten:
https://www.arte.tv/en/videos/103053-000-A/rewind-and-play/

Leo der Spaziergänger

Keine Sorge, das wird keine dieser anstrengenden Huldigungen, die überlasse ich jenen, die glauben, ihr Herz an jene verlieren zu müssen, die mit vergoldeten Schuhen in Kunststoff treten. Aber etwas ist mir dann doch aufgefallen und ich fände es geradezu fahrlässig, das nicht zu Papier zu bringen, schließlich darf man nicht nur an den Lippen jener hängen, die uns unablässig erzählen, dass die populäre, zugleich vulgäre und edle Faszination am Calcio mit dem kalten und wettbewerbsfördernden Ergebnis zusammenhängt, dieser endlos gleichen, furchtbar anödenden Frage, wer denn nun gewonnen und wer verloren hat. Der wahre Tifoso (das Wort hängt übrigens mit der Infektionskrankheit Typhus zusammen, Dunst und schwindelerregendem Nebel) weiß es längst besser. Sie oder er interessiert sich nicht für das Ergebnis, es ist nämlich klar, dass alles, was heute auf der Anzeigetafel steht, morgen schon ganz anders aussehen kann. Vergangene Erfolge verenden in der Schnelllebigkeit, sich daran zu klammern, wäre fatal. Es ist ein großes Missverständnis, dass irgendwer als Sieger vom Platz gehen kann, man irrt, wenn man glaubt, dass eine Titelsammlung zählt im Angesicht der Vergesslichkeit der Welt. Es bleiben nur Namen und ein zweifelhafter Ruhm, der von Generation zu Generation weitergereicht wird wie Glaubensrituale. Das hilft vielleicht dem Einzelnen, der sich an den vergeblichen Trost der allerdings verblassenden Erinnerung klammern kann, aber nicht dem Sport, der sich unentwegt vergleichen muss mit dem mythologischen Gewicht, das sich inzwischen wie ein rettender Hafen, egal wie erlogen und übertrieben die alten Geschichten auch sein mögen, gegen die Kommerzialisierung und Banalisierung dieses Massenphänomens stemmt.

Nein, der wahre Tifoso spürt, dass es in seinem Sport nur um zwei Dinge gehen kann: Zum einen die Überwindung der Sinnhaftigkeit und zum anderen, um die lächerlichen, komödiantischen Beilagen dieser Überwindung. Die Überwindung der Sinnhaftigkeit kennt viele Schönheiten und eine Hässlichkeit. Ist es nicht wunderbar seltsam und willkürlich und gegen sämtliche physikalische, neoliberale, evolutionäre Logik gerichtet, dass ausgerechnet elf Spieler, nicht vier oder dreiundzwanzig mit ihren Füßen (und Beinen, Brüsten, Köpfen, Ärschen, Hüften, Rücken, Gesichtern, Hälsen, Geschlechtsteilen, Fersen, nur bitte nicht mit den Händen, auch wenn unklar ist, wo eine Hand beginnt und wo sie endet) in einem für diesen Zweck hergestellten, exakt abgewogenen und abgemessenen Kunststoffball treten, um zu versuchen, selbige Kugel in ein rechteckiges Gestänge zwischen das ein Netz gespannt wird, zu befördern, und dass sie diesem Ziel, also jenem, öfter in diese Maschen zu treffen als elf andere Spieler, von denen Jean-Paul Sartre einmal sagte, dass sie es seien, die den Sport unendlich erschwerten, folgen, in einer Spielzeit, die mit ungefähr zweimal 45 Minuten bemessen wird und dass Frauen und Männer mit Fahnen und Pfeifen versuchen, das Geschehen gemäß täglich zu Streits veranlassenden Regeln zu kontrollieren? Diese absurde Grundsituation (man stelle sich das Fußballfeld als eine Theaterbühne für ein Beckett-Stück vor) ermöglicht verschiedenen Faktoren, zum Beispiel dem Zufall, dem Unerklärlichen, dem Ungerechten oder dem Ästhetischen seit Jahrzehnten ein Überleben wider aller bürokratischen und finanzorientierten Versuche größerer Planbarkeit und damit verbundener Gewinnmaximierung. Die Überwindung der Sinnhaftigkeit, ein Tifoso weiß es, ist der romantische Kern seiner bescheuerten Liebe, der Grund, warum man einst vom schönen Sport sprach.

Doch damit einher geht auch eine Hässlichkeit, nämlich die, dass die Absurdität dieser Überwindung jeglicher Sinnhaftigkeit, effektiver scheint, wenn der Sport an Wichtigkeit gewinnt. Je wichtiger man den Stumpfsinn nimmt desto schöner seine Lächerlichkeit, desto größer die Befreiung vom täglichen Gewicht des Lebens, desto stärker die Gefühle. Diese Wichtigkeit jedoch steht in keinerlei Verhältnis zur Welt, aus der der Calcio auszubrechen verspricht. Schon vor Jahrzehnten hat dieser Sport, nicht zuletzt aufgrund seiner medialen Ausbeutung, so sehr an Wichtigkeit gewonnen, dass es ihm unmöglich wurde, ein Gegengewicht zum Alltag zu bilden. Stattdessen wurde er in diesen integriert, er wurde zum Diskursobjekt, Politikum, zum Grund scheiternder Ehen, zum Anlass für Gewalt, Nationalismen, zum Sinnbild kapitalistischer Ungleichheit, zum Anlass unerträglicher, nicht enden wollender Werbung, zur Perversion dessen, was einem ohnehin jeden Tag begegnet. Dabei könnte man sich leicht auf die lächerlichen und komödiantischen Begleitumstände konzentrieren. Ganz befreit von irgendeiner Bedeutung schwimmen sie im Dunstkreis dieses Sports.

Sie sind der Grund, warum der wahre Tifoso den Amateursport bevorzugt, denn er weiß, dass dort das Potenzial für die Unfassbarkeit, die Aushebelung physikalischer Grundsätze nicht nur höher ist als bei den Profis, sie ist auch vollkommen in ihrer Lächerlichkeit. Statt Sondersendungen im TV gibt es höchstens einen Lachanfall im Sportheim, weil die Nummer 4 in der 95. Minute vor Wut ihr Trikot zerrissen hat oder weil eine verirrte Krähe dem Torwart von der Latte in den Nacken kackte. Die Tatsache, dass eben jene Nummer 4, obwohl der Trainer mehrfach darauf hingewiesen hatte, Freistöße im Mittelfeld kurz auszuführen, bereits in der dritten Minute aus der Mitte einen hoffnungslos scheiternden, niemals vom Boden abhebenden Diagonalball (allein dieses Wort ist Ausdruck herrlicher Absurdität) in die Füße des Gegners schlägt, beschreibt das, was diesen Sport ausmacht. Die jüngste deutsche Faszination (kurzlebig wie sie war) für den irgendwie aus dieser echteren Welt stammenden Stürmer Niclas Füllkrug erzählt genau von diesem Begehren im Tifoso, das was sie oder er immer noch, zunehmenden verzweifelnd, in diesem Sport sucht.

Abhilfe schafft da nun ausgerechnet einer, der eben jene Romantik bislang eher mit Füßen trat. Es geht um den argentinischen Werbebotschafter für unzählige untragbare Unternehmen, Lionel Andrés „Leo“ Messi Cuccittini. Dieser Mann, der seit Jahren mehr und mehr aussieht wie ein alter, müder Karpfen in einem Aquarium, einer, der mit halbgeöffneten Mund nur noch langsam durch das trübe Wasser schwebt, so langsam, dass Kinder vor dem Aquarium mit dem Finger auf das Tier zeigen und ihre Mütter fragen, ob es ihm nicht gut gehe, hat zunächst mit der geradezu unmenschlichen Perfektion, der Eleganz und Effektivität seines Spiels die Lächerlichkeit hinterfragt (sein Spiel überwand die Wirklichkeit eher mit einem magischen Realismus, dem plötzlichen Auftauchen von Bewegungen, die man eigentlich nur erträumen konnte) und dann mit seiner geldorientierten Überwichtigkeit, der Arbeit für Scheichs und Fluggesellschaften, die er mit dem Charme eines Seelenlosen vermittelte. Messi strahlt nicht wie sein stets gegen die Regeln der Welt rebellierender Vorgänger Diego Maradona, Messi hat sich nicht auf die Seite der Verlierer geschlagen, um mit ihnen die Sinnhaftigkeit zu besiegen, nein, er ruht im Reich der Gewinner, jene, die den Calcio in den Abgrund geführt haben. Aber seit einigen Jahren begeistert der vergötterte Geselle mit einer Verhaltensauffälligkeit, die den Calcio von seiner aufgeblasenen Wichtigkeit zurück in die Schönheit seiner Lächerlichkeit führt. Dieser Messi hat sich nämlich entschieden, im hochkörperlichen, durchanalysierten modernen Leistungssport als geradezu teilnahmsloser Spaziergänger aufzutreten. Verträumt schlendert er über den Rasen und schaut sich um wie einer, der gar nicht weiß, was das alles soll und warum er hier gelandet ist. Er bleibt stehen und schaut sich um. Messi muss der einzige Spieler sein, der nach dem Spiel von der angenehmen Brise im Stadion, den Wolken am Himmel oder der Form der an den Grashalmen klebenden Spucke berichten kann. Damit tritt er nicht in die Fußstapfen von Pelé oder Maradona, sondern in jene von Robert Walser oder Charles Baudelaire.

Messi ist ein Seelenverwandter Peter Handkes. Während um ihn alle wie aufgescheuchte Hennen rennen, verteidigt er verkrampft und doch erhaben die Langsamkeit. Messi ist ein Flaneur. Das hat schon begonnen, als er noch in Barcelona lebte, da hat man ihn manchmal dreihundert Meter weit im Abseits spazieren sehen, die um ihn herrschende Panik ignorierend. Es mag stimmen, dass seine Trägheit trügt, dass sie eher an ein Raubtier erinnert, das sich möglichst wenig bewegt, um nicht von der Beute ertappt zu werden, aber Messi hat sein Flanieren so perfektioniert, dass es selbst zum Sinn seines Spiels wurde. Es ist egal, ob Messi plötzlich explodiert und ein Tor schießt, der Tifoso weiß, dass es viel schöner ist, ihm beim Spazieren zuzusehen. Schritt für Schritt, es ist eine Zeitlupe, die endlich verlangsamt, was immer schneller wurde. Manchmal steht er einfach da. Man ist sich nicht sicher, ob ihm gerade ein Gedanke kommt, ein revolutionärer Einfall womöglich, einer, der alles verändern könnte oder ob er einfach nur in der Leere verweilt wie ein Stumpfsinniger in der Wüste. Es gibt Phasen in einem Spiel, in denen schaut Messi nicht mal in die Richtung des Balls. Es interessiert ihn nicht, er hat Besseres zu tun. Im Amateursport gibt es viele solche Messis, es sind die, die ehemals höher gespielt haben, die heute mit Bierbauch im Mittelkreis stehen und die Bälle verteilen, die zu einem Sprint pro Spiel ansetzen und sich dabei fast zerren. Aber Messi geht schöner als sie, er geht schöner, weil das langsame Gehen viel mehr bedeutet, wenn alle anderen rennen. Der wahre Tifoso weiß, dass Messis Auszeichnungen zum Spieler des Spiels nichts mit seinen Toren zu tun hat. Er bekommt die Trophäen dafür, dass er die Kunst des Gehens in der wichtigtuerischen Aufgescheuchtheit verteidigt. Dank ihm lebt der Calcio, man kann nur hoffen, dass er noch einige Jahre weitergeht, denn je älter er wird desto langsamer wird er gehen, desto mehr wird er stehen und desto reiner wird sein Aufbegehren gegen die Schnelllebigkeit.

Tiefe Pfützen: Odds Against Tomorrow von Robert Wise

Ein Film, mit Bildern so satt, dass die Geschichte in ihnen verschwimmt. Gleich zu Beginn eine matt glänzende Pfütze auf irgendeinem Trottoir, jedes Bild, jede Geste eigentlich nur Teil eines filmischen Essays über städtische Pfützen und den ganzen Dreck, der in ihnen treibt, die lila Ölfilme, Zigarettenstummel, vollgesaugten Essensreste, die ausgespuckten Erinnerungen an die Gräuel der Vergangenheit, die tiefliegenden Krankheiten der USA. Im Sudel spiegelt sich der nächtliche Himmel, der nichts mehr zurückwirft außer gleichgültiger Wolken. So beginnt der Film und so endet er. Keine Träume, kein Entkommen. Dazwischen in den melancholischen Farben Schwarz und Weiß der ganze Hass der Vereinigten Staaten. Ihr Rassismus, ihre Gier, ihre ausgemergelten Gesten einer sich zum Prinzip erhobenen Männlichkeit. Das ist Odds Against Tomorrow von Robert Wise, in seinen unvergesslichsten Bildern mit einer speziellen Infrarotkamera gedreht. Ein solches technisches Detail spielt oft keine Rolle. Hier aber erzählt es von einem Sehen, das an den unter den Dingen liegenden Temperaturen interessiert ist, ein Mehr-Sehen salopp gesagt, die Kinematographie als Thermometer eines Zustandes.

Die Kamera führte Joseph C. Brun, es ist vollends unverständlich, warum seine Arbeit an diesem Film nicht in einem Atemzug genannt wird mit jener Gregg Tolands an The Grapes of Wrath oder Leonardo Simões an Juventude em Marcha. Die Bilder kontrastieren das Schwarz und Weiß, die Linien der Häuserschluchten, die Tiefen der kargen Wohnungen und Seelen mit solcher Wucht, dass man sich mit einem Mal wieder erinnert, warum das Kino und sonst nichts!

Die Zwischenbilder (Totalen und Stimmungsbilder) werden zum dominanten Strang, dazwischen leiden einige Figuren und suchen nach dem Glück. Man hofft fast, dass eines dieser menschenentleerten Bilder für immer auf der Leinwand stehen bleibt. Vielleicht auch weil man die allzu dick aufgetragene Allegorie des Films nicht mehr ertragen kann oder die Wahrheit, die sie einem sagt. Harry Belafonte, der den Film produzierte und sich Blacklist-Autor Abraham Polonsky (seine Dialoge treiben wie meist nach außen, lassen nicht zu, dass man sie nicht mit dem intendierten Hintersinn hört) ins Boot holte, hat eine wichtige und in ihrem pointierten Vortrag auch treffende Botschaft an jene, die kein bisschen oder besonders naiv an eine Versöhnung zwischen den Schwarzen und Weißen in den USA glauben. Der Film aber ist viel zu gut für derlei Diskurs. Seine Wahrheit übersteigt die Notwendigkeit seines Anliegens.

Das sah Robert Wise wohl ähnlich, zumindest lässt seine Regie das vermuten. Mehr als für den Noir-Plot oder die Rassismus-Allegorie interessiert er sich für das Umfeld, das Habitat, in dem sich die Narration ausbreiten darf. Zig Szenen füllen ein Nichts, das, so ahnt man, innerlich ist. So wird einmal eine im Treibgut verendete Puppe gezeigt und einmal wird der müde Körper einer einsamen Frau entblößt und einmal wird auf einen Hasen geschossen und einmal huscht ein Lächeln über ein versteinertes Gesicht und je mehr man davon sieht desto besser versteht man, dass unsere Handlungen und Vorurteile stets Produkte eines Klimas sind, dass es vermag, alle und besonders die, die besonders nachhaltig nach persönlicher Freiheit lechzen, mit in den Abgrund zu reißen. Mal tragisch machtlos, mal unwissend federführend.

Der Ausbruch, die Auflehnung gegen dieses Klima, wenn man Wise oder auch den Neorealisten vor ihm folgt, liegt im Verstreichen der Zeit, im Warten, das unablässig studiert wird in Odds Against Tomorrow, ein Warten auf den Gesichtern, in den Körpern, den Räumen, aber auf was eigentlich? Das, was in diesem Film vergeht und damit eigentlich schon im Werden vergangen ist, wird mit einem Mal zur reinen Gegenwärtigkeit und damit zu einer zweiten Chance, einem Innehalten, indem das, was eigentlich abläuft (der Film, das Leben, das Verbrechen), durchkreuzt werden könnte. Eine Bewusstwerdung. Dass diese sichtbaren und spürbaren Möglichkeiten, alles anders zu machen, nicht wahrgenommen werden von den Protagonisten, ist tragisch und zeigt einmal mehr wie passiv die größten Figuren des us-amerikanischen Kinos wirklich sind.

Die unwirkliche Wucht des Remco Evenepoel: Lüttich-Bastogne-Lüttich 2022

Was die TV-Übertragungen von Radrennen besonders ansprechend und gleichermaßen absurd macht, sind all die für den Sport essentiellen Aspekte, die die Kameras nicht einfangen können. Das Unfilmbare, Nur-Erzählbare des Sports. Diejenigen, wortwörtlichen Elemente, die die sowieso schon geradezu lächerlich passive Position des Betrachters im Angesicht des auf den Bildschirmen flimmernden Leidens noch weiter von den Sportlern entfernt. Dazu gehören der Wind (den man nur in extremeren Ausprägungen anhand sich bewegender Bäume sehen kann), die Steilheit der Straßen (der Begriff „False flat“ zeigt, dass hier nicht nur das Kameraauge getäuscht werden kann), Hunger, Durst, Dreck, der Geruch nach Pisse (der sich entleerenden Fahrer) und Dung (vom Straßenrand), das Laktat (man sieht es nicht) sowie all jene Geschichten, die den Kameras entgehen, weil sie sich zu weit hinten oder zwischen den Ereignissen abspielen.

Die diesjährige Austragung von Lüttich-Bastogne-Lüttich, La Doyenne wie das seit 1892 ausgetragene Rennen mehr liebevoll als demütig genannt wird, steckte voller solcher, für die Heimzuschauer unsichtbarer Wesenszüge. Als der spätere Sieger Remco Evenepoel, der pausbackene, blondschopfige Goldjunge des belgischen Radsports, im Ziel vom Gegenwind erzählte, klang das fast wie eine Mär. Zum einen war praktisch während der gesamten Übertragung nichts von diesem Wind zu sehen, zum anderen wuchtete er sich durch selbigen, als wäre da nichts außer die schiere Kraft der Beine und des Willens. Während des Rennens nannten die Kommentaren unentwegt die zurückgelegten Höhenmeter, ganz einfach deshalb, weil man sie mit bloßem Auge nicht wahrnehmen kann.

Eine andere Unsichtbarkeit des Rennens war besorgniserregender. Ein heftiger Sturz, der das halbe Peleton auf einer enorm schnellen, leicht abfallenden Passage zu Fall brachte, forderte einige Opfer und schlimme Verletzungen. Mit betroffen war Julian Alaphilippe, der die Frühjahrssaison bereits im März mit einem spektakulären, glimpflicher verlaufenden Sturz einläutete. Er stürzte gegen einen Baum und zog sich einige schlimme Verletzungen zu, die auch seine Lunge beeinträchtigten. Ein unscharfes Helikopterbild, das den besorgten Romain Bardet (der eigentlich für ein anderes Team fährt und sich derart seiner Chancen beraubte, um den Sieg zu fahren) zeigt, wie er versucht seinem auf dem Boden liegenden Kollegen zu helfen, gehört zugleich zu den wichtigeren wie schockierenderen des bisherigen Jahres. Dies waren die einzigen Bilder Alaphilippes und erst die Berichte über seinen einigermaßen stabilen Zustand ermöglichten eine erneute Konzentration auf das Rennen.

Lüttich-Bastogne-Lüttich ist ein trügerisches Rennen. Im Gegensatz zu anderen Horten großen europäischen Radsports wie die Kopfsteinpflaster in Flandern oder Nordfrankreich, die Serpentinen der Alpen oder die schmalen Ziegenpfade der Pyrenäen, wirkt der Parcours im Kirschblütenlicht eines gemäßigten Aprils geradezu freundlich. Die Wallonen an der Strecke haben sich längst nicht dem gleichen Flaggenkult verschrieben, wie ihre löwenschwenkenden Nachbarn aus Flandern. Sie applaudieren brav und begeistern sich, natürlich umso mehr, wenn, wie in diesem Jahr, zum ersten Mal seit Joseph Bruyère, Freddy Maertens und Frans Verbeeck 1976 drei Belgier auf dem Podium landeten, aber außer einiger ins Bild gehaltener, nackter Ärsche und dem inzwischen obligatorischen Klimaaktivisten, der es wieder schaffte, hinter dem Sieger über die Ziellinie zu laufen, wirkte das Rennen geradezu zahm. Selbst die am Streckenrand aufgeschreckten Pferde, Alpakas und Kühe wirken entspannt in ihrer Panik.

Obwohl die Belgier seit Philippe Gilberts Siegesfahrt 2011 nun 11 Jahre warten mussten bis sie wieder einen (und dann gleich drei) ihrer nationalen Vertreter auf dem Podest bejubeln konnten, haftet dem Rennen ein lokalerer Geschmack an, als anderen Eintagesrennen. Es gibt weniger Pilger, die quer über den Kontinent reisen, um an den Côtes zu stehen, als an den Pavés, Hellingen oder Alpenpässen. Gilbert übrigens fuhr dieses Jahr sein letztes Lüttich-Bastogne-Lüttich. Die legendäre Côte de La Redoute, die dieses Jahr, dazu gleich, noch legendärer wurde, als sie es ohnehin schon ist, war wie jährlich vollgeschrieben mit dem Namen dieses großen Radsportlers.
Phil
Phil
Phil
Phil ein ganzer Anstieg lang, ein Name, der sich in diese Straßen geschrieben hat, sodass man jedesmal, wenn man ihn ausspricht, ein Stück näher an das Ende der Straße gelangt. Man kann nur ahnen, was Gilbert, der in der Region geboren ist, durch den Kopf ging, als er derart verabschiedet wurde (er beendete das Rennen auf Rang 46 und in der Ewigkeit zugleich).

Weiter vorne hatte Evenepoel in die Pedale getreten, als wäre in ihnen all die Ungerechtigkeit der Welt verborgen. Er presste den auf ihm liegenden Druck aus en Oberschenkeln. Er stampfte mit der Wucht einer Dampflock, sodass man fürchten musste, sein Rad könne jederzeit in zwei Teile brechen. Die heroisch kämpfenden Streiter der ehemaligen Ausreißergruppe (insbesondere Bruno Amirail, der es tatsächlich noch unter den besten Zwanzig ins Ziel schaffte), die Evenepoel aufklaubte wie von den Bäumen gefallene Kastanien, zerbrachen an seinem Hinterrad in tausend Teile. Evenepoel blieb über 257,2 Kilometer in seinem Sattel sitzen, nur einmal, als er seine entscheidende Attacke über die Kuppe eben jener Côte de La Redoute (1,6km, Durchschnittsteigung 9,5 %, Maximalsteigung 22 %) setzte, erhob er sich mit solchem Aplomb aus dem Sattel, das sein Rad ihm und der Straße und der ganzen Physik menschlicher Leistungsfähigkeit zu entgleiten drohte.

Alle anderen platzen auf wie reifes Springkraut. Niemand konnte sein Hinterrad halten. Nicht die großen Kletterer, die sich immer etwas ausrechnen bei diesem letzten der Frühjahrsklassiker, nicht Superstar Wout van Aert, nicht einer aus dem Starensemble des Teams Bahrain – Victorious, die zuvor in einer Serie beinahe ulkiger Dauerattacken (Mikel „Hans“ Landa tänzelte kilometerlang vor dem Feld und bewies damit, dass man auch ironisch radfahren kann, postmodern gewissermaßen, nur so tuend, als ob, aber doch dadurch tuend) das Feld dezimierten. Selten ist es Fahrern gelungen eine Attacke an der Redoute, ins Ziel zu bringen. Sie ist ein Hügel der Vorentscheidung und nicht der Entscheidung. Dieses Jahr war alles anders, vielleicht auch wegen des Gegenwinds, den man nicht sah, aber spüren musste. Vor allem aber wegen Evenepoel, der bewies, dass man stampfend fliegen kann.

Während der Siegerehrung sang Evenepoel die belgische Nationalhymne neben seinen zwei stummbleibenden Landsmännern (Überraschungszweiter Quinten Hermans sowie van Aert, der seine eindrucksvolle Top-10-Serie bei Klassikern fortsetzt) auf dem Podium stehend so innbrünstig mit, dass van Aert sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte. Evenepoel besitzt die Ausstrahlung alter Volkshelden. Die Marketingleiter von Suppenfirmen wären dumm, wenn sie ihn nicht sofort unter Vertrag nähmen. Auf dem Weg zum Fußballprofi hat sich dieser erst 22jährige Komet, dessen Vater Patrick bereits Radsportler war, für die Straße entschieden. Kein Versprechen leuchtet derzeit heller am Radsporthimmel und obwohl er 2020 während der Lombardei-Rundfahrt ähnlich wie sein Teamkollege Alaphilippe in diesem Rennen, schwer stürzte und sich das Becken brach (die Bilder seines regungslosen Körpers am Fuße einer Böschung gehören zu jenen filmbaren Aspekten des Sports, die ihn allerdings nicht näher an die Zuschauer bringen, sondern verstärkt unwirklich erscheinen lassen), scheint sein Weg in den Radsportolymp vorgezeichnet. Wenn man Vorschusslorbeeren essen könnte, wäre Evenepoel bereits geplatzt. Mit diesem Triumph bei seinem Debüt bei Lüttich-Bastogne-Lüttich allerdings löst er ein erstes, großes Versprechen ein. Man darf gespannt sein, was das mit ihm macht.

Das Frühjahr hat jedenfalls gezeigt, dass die problematische, aber berauschende Unwirklichkeit der Nullerjahre zurück in den Sport gekehrt ist. Waren es damals Bergsprints zwischen Alberto Contador und Michael Rasmussen, sind es heute einige titanenhafte Überfahrer wie van Aert, Mathieu van der Poel, Evenepoel oder Tadej Pogačar (der als Vorjahressieger aufgrund eines Trauerfalls in der Familie nicht starten konnte in Lüttich), die die Vorstellung des Machbaren ausreizen. Gleichzeitig haben diese Fahrer erstaunlich selten gewonnen in diesem Frühjahr. Sie kämpfen (noch) mit der Wirklichkeit. Die einschlafenden Beine van Aerts im Finale dieses Rennens, das gesenkte Haupt van der Poels vergangene Woche in Roubaix, der wackelnde Körper Pogačars an der Mur de Huy, all das zeigt, dass Menschlichkeit und Wirklichkeit existieren, gerade dort, wo man sie nicht erwarten oder sehen kann.

Wörter für die Welt da draußen #9: Zistrose

Erst dachte ich, ein Kind hätte sie aus dünnem Papier gefaltet und in der Landschaft verteilt, so unwirklich zart glitzerten sie im winterlichen Sonnenlicht auf einem längst vergessenen Wanderweg im sardischen Hinterland. Ihre blassen Blütenblätter erzitterten selbst in kaum merklichen Brisen und schon ein einzelner Regentropfen, ich war mir sicher, hätte die ganze Blume umkippen und durchsichtig auf der rotsteinigen Erde schimmern lassen.

Aber das konnte nicht sein, schließlich sah ich dieses Pflänzchen überall wachsen und den widrigsten Bedingungen trotzen. Wie so oft strömt gerade aus den zerbrechlichsten Körpern der reichhaltigste Saft. Die größten Bücher wurden auf den dünnsten Seiten gedruckt, die tiefste Liebe mit der brüchigsten Stimme gestanden. Ich stand vor dieser Blume und beobachtete wie ihr Schatten ins Meer fiel, während ihr holziger Dunst sich mit dem südlichen Licht vermischte, bis mir ganz schwummrig wurde.

Man sagt, dass Napoleon Bonaparte seine Heimat Korsika schon von Weitem am Geruch dieser Zistrosen vernahm. Ihr betörender Harz lässt Haare wachsen und verschließt Wunden. Ladansträucher unter denen die Dichter und Ziegen schlafen wollen. Ich widerstand meiner Versuchung, eine Blume zu pflücken, um sie nach Hause zu tragen. Sie würde verenden, so weit vom Meer. Stattdessen bastelte ich mir eine aus Papier. Ein schwacher Versuch, aber irgendwie muss man beginnen zu leben.

Ivana Miloš, Rockrose Unfurling, 2022, Aquarell auf Papier, 13 x 13 cm