Film als Widerspruch: Esther Kahn von Arnaud Desplechin

Esther Kahn von Arnaud Desplechin

Arnaud Desplechins Esther Kahn ist ein Film der Widersprüche. Der augenfälligste davon: Es ist zugleich ein universeller und ein spezifischer Film. Universell, also allgemein gültig, weil sein Thema eines ist, das zu uns allen spricht, weil es jedermann betrifft, weil wir uns jeden Tag damit befassen müssen. Wie soll ich älter werden? Wie werde ich erwachsen? Vor allem auch: Wie erschaffe ich meine Persönlichkeit? Die Fragen, die der Film bezüglich seiner Protagonistin in jeder Szene stellt, sind so breit, so zeitlos wie möglich. Wie muss ich auf die Welt reagieren? Wie muss ich handeln? Muss ich überhaupt irgendetwas tun? Damit geht die Frage einher, was eine Handlung ist. Diese Frage wird im Film direkt angesprochen, als Esther Kahn, aspirierende Bühnenschauspielerin, von ihrem Mentor erklärt bekommt, was es bedeutet, zu schauspielern. Diese Fragen loten das Verhältnis vom Individuum zur Gesellschaft aus, den ewigen Kampf, Eingang ins Leben, in die Umwelt zu finden, den dieses Verhältnis mit sich bringt. In dieser Hinsicht können wir uns alle mit dem Film respektive seiner Hauptfigur identifizieren.

Spezifisch ist der Film wegen seiner Detailversessenheit. Zeitpunkt und Ort sind so exakt umrissen, dass er nur genau dann und dort derart stattfinden könnte: jüdische Immigranten, Schneiderfamilie, im Londoner East End, um das Jahr 1900. Und obwohl die Figur der Esther Kahn eigentlich so nachvollziehbar, so bekannt weil in uns selbst angelegt wäre, wird sie so präsentiert, als sei sie eine Ausserirdische. In Arthur Symons gleichnamiger Kurzgeschichte, die im Film oft als erzählerisches Voice-Over zitiert wird, heißt es: „[Esther Kahn’s] whole face seemed to await, with an infinite patience, some moulding and awakening force, which might have its way with it. It wanted nothing, anticipated nothing; it waited. Only the eyes put life into the mask, and the eyes were the eyes of the tribe; they had no personal meaning in what seemed to be their mystery; they were ready to fascinate innocently, to be intolerably ambiguous without intention; they were fathomless with mere sleep, the unconscious dream which is in the eyes of animals.“

Esther Kahn von Arnaud Desplechin

Die Identifikation wird neutralisiert durch Entfremdung; erstens durch das Ansiedeln der Handlung in einem fernen und hermetischen Milieu, zweitens durch das Abgrenzen der Hauptfigur, ihre Nichtangepasstheit an dieses Milieu (Geschwister, Eltern, Rabbiner, sämtliche sozialen Kontakte), und drittens durch die Nichtangepasstheit an unsere Jetztzeit; an grundsätzlichen Gepflogenheiten, Umgangsformen, die in allen Kulturen dieselben sind und erwartet werden: beispielsweise Reaktion, irgendeine Reaktion, auf Impulse der Umwelt.

Dieser Nonkonformismus ist motiviert weniger durch jugendlichen Widerstand gegen das Umfeld oder eine besondere, ausgefuchste Schlauheit (sie wird als „neither clever nor stupid; but inert“ beschrieben) als durch Esthers Ratlosigkeit, durch ihre Nicht-Identifikation, durch Unverständnis ihm gegenüber; durch das Nicht-Sollen-Wollen; das bedeutet gerade auch Eigenständigkeit, die ihr von allen stets abgesprochen wird, und eine fragile Würde. In einer parabelartigen Szene zu Beginn, als die Kinder der Familie zu Bett gehen, wird Esther von ihrer Schwester gefragt, auf welche Eigenschaft sie besonders Wert legt. Sie zögert; die eine Schwester sagt, auf ihre Schönheit, die andere, auf ihre Intelligenz, der Bruder möchte reich werden. Esther findet keine Antwort. Dass sie später das Theater und das Schauspielern als ihre „Domäne“ entdeckt (ironischerweise gerade sie als permanent anti-performative Lebenskünstlerin), wird nicht, wie zu erwarten, als Katalysator zu einer groß angelegten Persönlichkeitsentwicklung verwendet. Der Konflikt zwischen ihr und der Umwelt persistiert.

Die Figur Esther Kahn erscheint uns deshalb bizarr, losgelöst, distanziert; aber auf warme, sensible Art. Nicht nur wird uns damit die Möglichkeit gegeben, sie zu hinterfragen, sondern auch uns selbst. Vielleicht nur, weil ich kurz zuvor Ordet gesehen habe, aber: Esther Kahn scheint mir in gewissen Dingen ähnlich Dreyers Film. Beide Filme distanzieren uns mit der gleichen Geste, mit der sie uns zu sich holen. Dreyers Einstellungen beschwören eine losgelöste, zeitlose Welt, die wir durch einen Guckkasten betrachten, die aber aus unserem Innersten zu kommen scheint, uns so unergründlich bekannt wie ein längst vergessener Traum. Alle Figuren in Ordet, selbst der „verrückte“ Johannes, erscheinen uns logisch und authentisch; in Zeitlupe können wir die entstehenden, unvermeidbaren Konflikte betrachten, vergleichbar heranziehenden, unheilvollen Wolken, Resultat kollidierender innerer Wertesysteme. Überhaupt sind der sich selbst als Jesusfigur sehende Johannes und Esther Kahn einander ähnlich, trotz ihrer Gegensätzlichkeit; unfreiwillig apart vom Rest der Gesellschaft stehend, als Reaktion letzterer auf ihren unter- (Esther) respektive übertriebenen (Johannes) Willen, ihre Person zu erfinden; das heißt ihrem Nicht-Mitgehen des Weges, der für ihre Persönlichkeiten von der Gesellschaft vorgesehen ist.

Die Vorgänge beider Filme bezeugen wir wie durch ein hermetisch abgeschlossenes Reagenzglas, wie eine chemische Reaktion, obwohl Esther Kahn filmisch ganz andere Mittel anwendet als Ordet. Ein sinnlich-impressionistischer Stil herrscht vor. Es konfrontieren uns, durch Handkamera, Realitäts-Schnipsel, Fragmente, in Großaufnahme, ein bisschen wie in Bruce Baillies Valentin de las Sierras. Diese Schnipsel, die uns außerordentlich nahe ans Geschehen, an Details heranbringen (und Details, Handgelenk, Wange, werden in der ersten Hälfte des Films oft noch besonders betont durch den Einsatz von Irisblenden) lassen uns auch etwas verloren zurück, zerbröseln die Realität, die wir uns nochmals neu zusammenbasteln müssen. Arthur Symons schreibt in seiner Geschichte: „Sometimes, when [Esther] had been watching [her family] until they had all seemed to fade away and form again in a kind of vision more precise than the reality, she would lose sight of them altogether, and sit gazing straight before her, her eyes wide open, her lips parted.“ Dieses ständige Push and Pull wird eigentlich den ganzen Film über praktiziert; in einer genialen Szene wird dieser Satz aber wortwörtlich umgesetzt, als wir sehen, wie Esther die Familie betrachtet, und verschiedene Familienszenen sanft überblendet werden, sich tatsächlich zu einem großen, multidimensionalen Puzzle formend, das Universelle und das Spezifische vereinend.

Ford und Beethoven

Dieses Bild bleibt in meinem Kopf, auch zwei oder drei Jahre, nachdem es mir in einem Film begegnet ist. Es gibt Filmbilder wie dieses, die ein Eigenleben entwickeln, die emblematisch werden für einen Film, einen Regisseur, eine Denkweise; andere Aspekte ordnen sich ihnen unter, und wir biegen Informationen natürlicherweise so zurecht, dass sie diesem Bild entspricht, oder besser: dass das Bild im Gesamtzusammenhang Sinn ergibt, auch wenn dieser weit hergeholt ist.

Das Bild stammt aus John Fords Drums Along the Mohawk, aber wenn ich mir dieses Bild vergegenwärtige, muss ich nicht nur an Ford, sondern oft auch an Beethoven denken, was unter anderem sicher von meinem Hintergrund als klassischer Musiker (Geiger) herrührt. Vergleiche von Filmemachern mit Komponisten oder anderen Künstlern anzustellen, ist verlockend, aber auch heikel: man läuft Gefahr, Künstler misszuverstehen, sie in ein vorgefertigtes (Denk-)Muster zu drängen, sie zu unkomplexen Schachfiguren zur Illustration von naiv-fehlgeleiteten persönlichen Erwägungen zu marginalisieren. Dennoch drängen sich mir einige solcher Vergleiche auf: Ford – Beethoven, dann Akerman – Schönberg (hier gibt es auch interessante biographische Parallelen), Chaplin – Mozart, vielleicht auch Nicholas Ray – Schumann oder Straub/Huillet – Luigi Nono. (Doch wer wäre etwa das Pendant von Sternberg? Eine Person, die vielleicht in allen anderen Künsten leicht eine Entsprechung fände, da ihr Profil derart klar umrissen und einflussreich ist… abgesehen von der Musik; was ist Ästhetizismus in der Musik? Sogar: „was ist Form in der Musik?“ ist nicht klar: nicht nur der „Grundriss in der Zeit“ gehört dazu, sprich deren Architektur mit gegebenenfalls wiederkehrenden Elementen; sondern auch das Tonmaterial, aus dem geschöpft wird, das Harmonik und Melodik bestimmt… Ist Musik also reine Form?)  Ich beschränke mich im Folgenden aber auf das eingangs genannte Paar.

Das Bild zeigt eine Frau auf einem sanften Hügel, die einen Soldatentrupp betrachtet, der gerade in den Krieg aufbricht. Schon der Gesamtcharakter des Bildes – melancholisch, pastoral, naiv, einfach, weit / weitgreifend (ample), „klassisch schön“ – erinnert an einen langsamen Satz Beethovens, oder zumindest der Wiener Klassik; besonders auch die Freude und Trauer, die gleichzeitig den Moment heimsuchen, ihn bestimmen, sich treffen in einer einzigen Geste: dem Blick der uns abgewandten Frau. Aber nicht nur diese Elemente sind Beethoven-artig: die Art und Weise der Konstruktion des Bildes (respektive die Art und Weise wie es zu uns spricht) entsprechen exakt der Methode, mit der Beethoven seine Wirkung zirkelt – ich spreche hier hauptsächlich vom frühen oder mittleren Beethoven. Die schein- und sichtbare Einfachheit des Bildes / der Musik ist das Resultat einer komplexen Arbeit; gleichzeitig kreiert diese Einfachheit starke Emotionen. Man könnte sagen: die Einfachheit kanalisiert / trichtert zwischen dem Input (Leben -> Künstler)  und dem Output (Wirkung des Kunstwerks auf das Leben des Publikums), die beide komplex und vielschichtig sind. Nehmen wir das Trio aus dem 1. Menuett des 1. Streichtrios als Beispiel; es verbindet alles oben Beschriebene (die Stelle kommt ab Minute 18:05):

 

Eine einfache Melodie, die von Ton zu Ton überhaupt keine Sprünge aufweist (Sprünge gelten normalerweise als besonders ausdrucksstark), alle Töne liegen in nächster Nähe, es scheint als werde keine Mühe aufgewendet, um einen bestimmten Effekt zu erzeugen; doch genau dieses Mühelose mündet in den weitläufig-melancholischen Gestus dieser Musik.

Ford und Beethoven: Dichter, die der geringsten, simpelsten, unbedeutendsten Geste besondere Bedeutung beimessen, die sie transformieren in etwas Transzendentales, beseelt von Anmut. Beethoven benützt äußerst oft Tonleitern, also die einfachste Art, Töne zu verbinden, zur Formung einer Melodie; dass man aus Tonleitern derartige Anmut herauswringen kann ist bei ihm immer wieder aufs Neue erstaunlich. Seine Tonleitern sind Fords Himmel, Steppen und Wälder; die kleinen harmonischen Wechsel sind das Heben eines Blicks oder das Anlehnen des Kopfs an eine Mauer. Etwa der Mittelteil aus dem 2. Satz der 2. Violinsonate (ab Minute 7:17):

oder gleich der Anfang der 13. Klaviersonate:

Diese Stellen sind blutsverwandt mit etwa dem Kopf-Anlehnen des Huw Morgan an einen Holzpfahl in How Green Was My Valley oder dem Blickwechsel zwischen seiner Schwester Angharad mit dem Prediger in der Kirche mit Senken und anschliessendem Heben des Blicks.

Die jähen, die idyllische Ruhe unterbrechenden Akzente und Charakterwechsel Beethovens können wir entdecken in den plötzlichen Attacken von Gauner-Clans oder Indianer; den tänzerisch-noblen Esprit Beethovens finden wir in den zahlreichen Paraden, Feiern, Märschen, Tänzen usw. in den Filmen Fords. Aber auch der derbe, etwas übermütige Witz Fords hat eine Entsprechung: Beethoven übernimmt den ebenso derben, frechen Humor Haydns in vielen schnellen Sätzen, die mit kurzen, kargen, abbrechenden Fragmenten spielen. In beiden Fällen stellt er einen Gegenpol (oder: eine Übersteigerung / Groteskisierung) des beschriebenen noblen-festlichen Charakters dar.

Drums Along the Mowhawk spielt zur Zeit des amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, um 1780; also grob zur selben Epoche des frühen Beethovens. Dieser Krieg ist nicht nur das (unsichtbar-drängende) eigentliche Zentrum des obenstehenden Bildes; er dringt wie ein Nebel in jede Pore, Aktion, Geste des Filmes; und bei Ford ist immer etwas spürbar, eine mysteriöse Kraft, die die Charaktere und Landschaften heimsucht, sie gleichzeitig in ihr Umfeld einbettet; der zweifelhafte Fortschritt der Zivilisation, Krieg, Hass und Ausgrenzung mit sich ziehend (am exemplarischsten vielleicht in Fort Apache und The Searchers). Nicht umsonst konfrontiert Ford fast immer seine Figuren mit deren vergangenen Ebenbildern; davon zeugen die zahlreichen einprägsamen Friedhofsszenen (etwa in Judge Priest, Young Mr. Lincoln, My Darling Clementine, She Wore a Yellow Ribbon) oder einfach das Sprechen zu verstorbenen Familienmitgliedern (hier treffen sich wieder optimistische und bittere Komponenten in derselben Geste).

Judge Priest

Auch für Beethoven ist dieser doppeldeutige Fortschritt Antrieb seines Werks; nach der französischen Revolution zunächst feuriger Anhänger Napoleons, es folgt Ernüchterung, der Rückzug der Widmung der Eroica an Napoleon. Das Einbrechen des Mystischen in die quirlig-lebhafte Jetztzeit, die Heimsuchung der Vergangenheit, des „Friedhofs“, finden wir bei Beethoven aussergewöhnlich oft als „Intermezzo“, als choralartige, homogen geführte Zwischenspiele in schnellen Sätzen; so etwa in oben erwähntem 1. Streichtrio (gegen Ende der Exposition des 1. Satzes; bei Minute 2:07):

 

Ford’s cinema, as all great cinema, is one of reactions“, sagt Tag Gallagher und bringt damit dessen musikalisches Element heraus; und um auf eine zu Beginn gestellte Frage zur Form in der Musik zurückzukommen: Form ist die Art des musikalischen Darstellens einer Kette von Reaktionen.

Rio Grande

Im Spiegel des Betrachters: Das Selbst im Film

Stendhal vergleicht den Roman mit einem Spiegel, von einem Mann im Korb auf dem Rücken getragen, der sich eine belebte Strasse entlang bewegt. Manchmal reflektiert er in die Augen des Betrachters das Blau des Himmels, manchmal den Schlamm der Strassenpfützen.

Was er nicht sagt: der Spiegel zeigt auch den Betrachter selbst.

Mögen wir Filme nur dann, wenn wir uns selbst darin wiedererkennen? Gibt es überhaupt Filme, in denen wir uns nicht wiedererkennen? Solche, die uns wegführen von uns selbst, in die Welt hinein. Zwangsläufig sind Filme unser Spiegel, aber wir sehen auch, was um uns, vor uns, und vor allem hinter uns liegt. Und was ist mit Filmen, die der sog. Experimentalfilmtradition angehören, sprich: deren Augenmerk oft nicht der Repräsentation gilt und die zum Abstrakten oder Konzeptuellen tendieren, etwa Ruttmans oder Fischingers Auffassungen von Film als „Musik“? Filme wie Lichtspiel Opus I-IV (1921-24), An Optical Poem (1938), und dementsprechend auch Brakhages Night Music (1986). Ich denke auch an Christian Lebrat, der in Trama und Holon (1978 – 1982) mit Farben experimentiert, versucht, neue Farben, oder neue Empfindungen von Farben zu finden, und zwar so, dass wiederholtes Schauen jeweils andere Farben oder Empfindungen an die Oberfläche spült. Können wir uns auch darin erkennen? Zumindest sind uns ja die Farben und Rhythmen bekannt. Im Vorwort zu An Optical Poem heißt es: To most of us, music suggests definitive mental images of form and color. The picture you are about to see is a novel scientific experiment – its object is to convey these mental images in visual form.

Selbst dieser abstrakte Film möchte nur etwas zeigen, das in uns liegt, ist ein Vehikel, um uns selbst zu bestätigen. Was wir sonst nur sehen können, wenn wir quasi die Augen schliessen – also in einer zweiten, imaginären Welt – transferiert der Film ins Reale. Hier stehen Lebrats Filme vielleicht als Gegensatz dazu, als epileptische, vibrierende Visionen (eine DVD-Komplation einiger seiner Werke wurde mit dem Titel vibrations versehen), die sich uns entziehen. Lebrat selbst sagt, er habe den Effekt dieser Filme überhaupt nicht vorhersehen können, wäre davon überrascht worden – ist es vielleicht nötig, dass ein Filmemacher bis zu einem gewissen Grad keine Kontrolle über sein Material hat, dass seine Filme abheben, um uns den Kontakt mit etwas Anderem zu ermöglichen, uns mit einer Perspektive auszustatten, die weit von uns entfernt liegt? Vielleicht können wir uns selbst so ein Stück weit aus der Film-Erfahrung wegdenken.

Bigger Than Life von Nicholas Ray

Zweifellos freut es uns, wenn wir in einem Film unsere eigenen Erfahrungen erkennen können, wenn wir aufschreien möchten – „genau so!“; einerlei, ob sich diese am Handlungsverlauf, einer evozierten Atmosphäre, einer Charakterisierung, oder an Details, einer Geste, manifestieren. Es spendet Trost – wir sind nicht alleine –, schafft eine Bande mit Charakteren oder Regisseuren. Extrem vielen Cinephilen scheint etwa Rohmers Le rayon vert besonders am Herzen zu liegen, oder auch Nicholas Rays On Dangerous Ground, und kein Wunder: es sind Filme über Einsamkeit, eine Grundvoraussetzung, um das Kino lieben zu können. Oder wenn ich an das erste Drittel von Akermans Je, tu, il, elle denke, ein Film, in dem ich mich sofort selbst sehe. Das hängt vielleicht damit zusammen, dass er den Eindruck erweckt, er entstehe aus dem Nichts, denn: es ist einer der selten anzutreffenden Filme, dei denen keine „Vorkenntnisse“ nötig sind, um sie zu verstehen, es gibt keine Mythen, die in der Ferne herumgeistern; ein „geschichtsloser“ Film. Er wächst nur, wie wir in unserer Wahrnehmung, aus sich selbst heraus – „genau so“!, ich fühle mich erkannt. Doch ist es deswegen ein guter Film?

Klar ist auch die Gefahr, die in solcher Selbsterkenntnis liegt; status quo, wir sehen und bemitleiden uns, aber es gibt kein Fortschreiten, keine Bewegung. Ist es nicht Aufgabe des Films, uns von uns selbst zu entfremden, Distanz und somit Reflexion zu injizieren, die ihrerseits Wandel und Taten ermöglichen? Aber ist das überhaupt möglich, wo wir doch dazu tendieren, alles so zu sehen, dass es uns entspricht? Sich selbst in einem Film sehen, das heisst, ihn schon zu kennen; und was wir noch nicht kennen, das macht der Akt des Sehens zum Erkannten, um es einordnen, oder: um es mögen zu können. Wenn wir uns hineinprojizieren in eine Identifikationsfigur, und weinen, weil es ihr schlecht geht: das hat Pedro Costa in einem Vortrag als „Fastfood“ bezeichnet: „It’s absolutely necessary that you must be outside, not on the screen. Never cry or suffer with the character who suffers on the screen, never. When we do that, it’s exactly what we do when we go to McDonalds„. Michel Mourlet in „sur un art ignoré“ hat gesagt: „Le cinéma est un regard qui se substitue au nôtre pour nous donner un monde accordé à nos désirs„, mit anderen Worten: Das Kino ist noch angepasster an unsere Begehren als unser eigener Blick.

Liberté et Patrie von Jean-Luc Godard

Filme, die uns von uns selbst wegreissen: da wäre etwa Godard, der so etwas vielleicht versucht (an dieser Stelle könnte man natürlich auch all die „Brechtschen“ Filme anführen, sei es Ford, Sirk, Straub-Huillet, usf.). All seine Filme enthalten die Welt als Gesamtes, lenken die Aufmerksamkeit weg von sich selbst, durch ständige Referenzen an Alles, Kunst, Personen, Begebnisse, Geschichten, Ideen. Letzthin habe ich Liberté et Patrie (2002) gesehen. Wie Michael Althen schreibt, bringt Godard die Form selbst zum Denken (une forme qui pense); der Blick scheint zuerst vom Film selbst zu kommen, auch wenn wir dann den Unseren noch darüberlegen. Wir erkennen darin nicht uns, sondern wir sehen den Film, wie er uns erkennt.

P.S: Sollten Filme, die uns unser Selbst spüren lassen, dies nur in einem negativen Licht tun? Negatives Licht – cinéma militant, positives Licht – humanistisches Kino.

Film Verstehen

„Ich habe den Film nicht verstanden“ – einen solchen Satz hören wir oft – und er scheint legitim als Vorsichtsmassnahme, die vor einem allfälligen verfrühten und fehlgeleiteten Urteil schützt. Aber was bedeutet es, einen Film zu „verstehen“? Ist es überhaupt möglich, einen Film nicht zu verstehen? Sollten wir mit der Zielsetzung in einen Film gehen, diesen zu verstehen?

Wir verstehen jeden Film – wir verstehen keinen Film.

Goodbye Dragon Inn

1. Wir „lesen“ bewegte Bilder, heißt es; und Lesen ist zu erlernen. Lesen wir die Bilder aber nicht, sondern „empfangen“ wir sie, dann brauchen wir nichts zu lernen, nur unsere Sinne zu nutzen. Weshalb können wir es nicht einfach beim Eindruck belassen, den die Bilder in uns hinterlassen? Sind wir verpflichtet, diese Eindrücke in ein Konzept zu zwängen, ein sinnstiftendes Korsett? Haben wir demnach einen Film nur verstanden, wenn wir das vermutlich dahintersteckende Konzept, das wir unentwegt suchen, als brave „aktive“, sich nicht „berieseln lassende“ Zuschauer, gefunden haben? Ein Film wäre dann als Schatzsuche angelegt; der Filmemacher versteckt darin sein Konzept. Oder aber er gibt zumindest Hinweise auf Teile des Konzepts, die wir durch aufmerksames Scannen des Texts / Subtexts finden und dann vervollständigen dürfen durch unsere eigenen Gedankenkonstrukte. Wenn wir keine Hinweise auf ein Konzept anfinden können, liegt es vollständig an uns, dieses zu ersinnen und mit diesem Akt den Film verstehen zu suchen.

Vielleicht ist „Konzept“ ein zu starkes Wort. Ersetzen wir es zum Beispiel mit „Weltsicht“. Ein jeder Mensch und Filmemacher hat ja doch seine eigene Sicht auf die Welt, positioniert sich in einem bestimmten Verhältnis zu ihr. Ein Film gibt automatisch Auskunft über diesen Sichtwinkel – selbst wenn er sich dem dezidiert verweigern will. Heißt „Film verstehen“ also, die Weltsicht dessen / deren Schöpfer zu erkennen? Den Film nicht zu verstehen bedeutete dann, keinen solchen Sichtwinkel zu finden. Der Autor hätte dann also seine Weltsicht zu kryptisch in den Film eingearbeitet, als dass wir sie entschlüsseln könnten? – dies ist natürlich Quatsch.

Wie hieraus schon hervorgeht, hat unser Verständnis vom Verstehen eines Films viel mit dessen Schöpfer als „Auteur“ zu tun. Wenn wir glauben, hier handle es sich um den Film eines „Auteurs“, so bedeutet das für uns die Bereitschaft, im Film nach Weltsicht / Konzept zu suchen. Wir unterstellen ihm, etwas Bestimmtes ausdrücken zu wollen – obwohl doch ein Film automatisch etwas „ausdrückt“, das wir empfangen sollen. Wir verschliessen uns dem natürlichen Ausdruck eines Films, um nach dem konstruierten Ausdruck zu suchen, sprich: den Film zu verstehen. Wenn wir jemanden als „Auteur“ betrachten, gibt das Zeugnis ab über uns, nicht über diesen: denn wir könnten jeden Menschen als „Auteur“ betrachten, Filmemacher oder nicht. Wir könnten jedes Handlungsmuster eines Menschen als „Statement“ lesen, als Ausdruck eines Konzepts, einer Weltsicht. Es gibt also Zeugnis ab über unseren Bereitschaftsgrad, uns mit dem Film „auseinanderzusetzen“. Ist kein „Auteur“ vorhanden, gibt es dann auch nichts zu verstehen?

What Time is it There?

2. Klar: Ein Film besteht aus einer solchen Anhäufung von Details, dass wir niemals über die Funktion all dieser Details Bescheid wissen können. Jeder Film öffnet sich vor uns wie ein dunkler Raum, den wir niemals betreten haben, dessen Ausmaße und dessen Möbel wir nicht kennen, die wir, langsam und vorsichtig fortschreitend ertasten können, aber niemals sehen.

3. Der Spruch: Kunst ist nicht da, um unsere eigene Weltsicht zu bestätigen. Unsere Weltsicht: was wir verstehen, einordnen können. Ich mag nur Filme, die ich nicht verstehe – was, wenn wir mit dieser Attitüde in Filme gehen? Das Problem: Dieses „Nicht-Verstehen“ wird dann zu einer neuen Art von Verständnis. Denn wenn ich diese Filme nicht verstehe, weil ich „zu dumm bin“, ihre Aussage nicht erkannt habe, kann ich mich damit nicht begnügen; ich bin doch (?) jedem Film gegenüber verpflichtet, einige Schritt auf ihn zuzutun, versuchen, ihn zu „erkennen“. Wenn ich mich dann genug informiere, vielleicht mit Hilfe von anderen, die den Film „verstanden“ haben, sehe ich das Licht. Dann kann ich den Film aber nicht mehr gut finden; was auf den ersten Blick grandios und enigmatisch erscheint, entpuppt sich als entschlüsselbar, klein und plump. Demnach muss ich die Aussage revidieren: Ich mag nur die Filme, die ich nicht verstehen kann. Das heisst, dass ich einen Film nur dann verstanden habe, wenn ich ihn nicht verstanden habe.