Viennale Tagebuch: Dumont, the End of Festival


Zum Abschluss der Viennale eroberten nochmal drei große Regisseure die Leinwand, füllten sie mit Bildern, die anderen verborgen blieben. Zunächst war da Alain Guiraudie, der mit seinem „L’Inconnu du lac“, der von vielen als bester Film des Jahres bezeichnet wird, die Architektur eines Raumes in einer Klarheit entwirft, die ich so noch nie gesehen habe. Seine hitchcockartige Suspense-Geschichte an einem homosexuellen Cruisingsee hat genau 4 Schauplätze: Den See, den Strand, den Wald und den Parkplatz. Trotzdem hebt das den Film keineswegs auf eine abstrakte Ebene, es ist ein bewusstes Auslassen, durch das neue Räume entstehen. Ein flüchtender Ort wird konstruiert, der seinen ganz eigenen Gesetzen gehorcht. Außerdem gewinnt der Film natürlich eine gewisse Aufmerksamkeit mit dem extrem offenen Umgang mit männlicher Sexualität. Guiraudie entwirft ein Bild der Schönheit, der Gefahr, des Begehrens. Sein eigener Blick verschmilzt mit dem seines Protagonisten und eines der bessern Stücke Kino des Jahres entsteht. Für einen Film des Jahres (welch eine bescheuerte Kategorie) fehlt mir allerdings das Blut des Regisseurs, das durch den Projektor auf die Leinwand gespritzt wird, wie das Kunstblut im Film. Guiraudie hat den Film eben doch sehr mit dem Kopf gemacht und das hat er auch sehr gut gemacht, aber die persönlichen Elemente, die man hinter den Figuren und ihren Beziehungen vermuten kann, verlieren sich trotz der extremen Körperlichkeit in einer Art künstlichen Eloquenz, einer Kontrolle von Film und Zuschauer, die ich subjektiv als unehrlich empfunden habe. 
Das kann man nicht von einem Meister des Kinobildes sagen: Bruno Dumont. Mit seinem „Camille Claudel 1915“, der bereits auf der Berlinale zu sehen war, steigert sich der Verstörungsphilosoph in ein Gesicht, jenes von Juliette Binoche. Ähnlich wie Carl Theodor Dreyer in „La Passion de Jeanne d’Arc“ studiert er das Gesicht seiner Hauptdarstellerin. Ein Lächeln wird zu einer Sensation, jede Träne kommt aus dem Magen. Innere Landschaften entstehen durch die erdrückende Umgebung, die Camille im Irrenhaus ertragen muss. Die Zeit vergeht nicht und die Flucht in sich selbst, ist eine Flucht in den Wahnsinn. Von außen dringen die nerventötenden Schreie der Patienten; Nahaufnahme um Nahaufnahme dringt Dumont in diese Frau ein ohne sie jemals zu berühren. Immer wieder zeigt er POVs von Camille. Ein winterlicher Baum im Sonnenlicht, der Horizont. Mehr als gewöhnlich fährt seine Kamera mit der Figur und vor allem auf die Figur zu. Die verzerrten Gesichtszüge lassen die Nähe von Film und Filmemacher zu Auguste Rodin ersichtlich werden. In einem womöglich zu aufgezwungenen Kunstgriff wechselt Dumont die Erzählperspektive und lässt den Bruder von Camille seine Ansichten zur Religion reflektieren. Seine Stimme vermag mehr zu berühren, als anderswo ganze Filme, aber dennoch verliert er sich in einer Intellektualität, die bei Dumont normal hinter die Essenz rückt. Dennoch steht der Film ohne Zweifel als das nächste große Werk im Oeuvre einer der definitiven Regisseure unserer Zeit. Der Doktor selbst könnte ein Patient sein, Don Juan wird von den kranken Insassen geprobt, bei starkem Wind kämpfen sich Patienten und Schwestern auf einen steinigen Berg.“Es gibt nichts schlimmeres als Kunst.“ Denken und fühlen wird vereint.
Ähnliches mag man auch über Lav Diaz und sein „Norte, the End of History“ sagen. Mit gut vier Stunden ist das Werk des philippinischen Independent-Regisseurs eines der kürzeren in seiner Filmografie. Er entwirft eine moralische Geschichte über Schuld, Loyalität, Gewalt und Liebe. Aber er filmt sie in einer Art, die den drohenden Kitsch ertränkt. Die Kamera beherrscht in ruhigen Bewegungen Raum und Figuren, in den satten Farben verwirklicht sich eine brutale Poesie, die jederzeit in Gewalt und Einsamkeit ausbrechen kann, in der immer nur das Angebot einer Hoffnung besteht. Epik und Alltäglichkeit machen sich auf eine Reise, die man vielleicht mit „Once Upon a Time in Anatolia“ von Nuri Bilge Ceylan oder bestimmten Strömen in der Nouvelle Vague vergleichen kann. Diaz lässt die Zeit tatsächlich verstreichen, macht sie spürbar. Drama vollzieht sich im selben Moment, in dem es sich beruhigt. In Flügen über die Landschaft, die Distanz betonen und das Land spürbar machen, setzt Diaz ähnlich einem Musiker Brücken zwischen seinen Themen. Diese sind oft philosophischer Natur und beinhalten jene existentialistische Note, der man sich im Kino, dem Ort einer kollektiven Einsamkeit so schwer entziehen kann. Tiere bevölkern die Bilder: Ein Affe, Ziegen, Hennen und streunende Hunde. Die Natur und der Mensch, der Mensch und seine Natur, die Natur für sich alleine. Bei Diaz bekommt alles einen einzigen einen Platz und nichts davon ist zu viel, keine Sekunde.
Insgesamt hat die Viennale für mich völlig gehalten, was sie versprochen hat. Das ewige Rascheln vom Öffnen der Gratis-Kekse wird mir noch Wochen in den Ohren hängenbleiben, das Ellbogen-Wettrennen ins Gartenbaukino auch. Die Ruhe und Offenheit des Festivals und die Begeisterung für ein Kino, das leider keine besondere Massenwirksamkeit jenseits des Festivals hat, sind wie jedes Jahr absolut beeindruckend. Man hat das Gefühl die ganze Stadt ist cinephil. Die Frage ist natürlich, ob es nur zum Wiener Kulturdenken gehört sich wenigstens einmal auf der Viennale sehen zu lassen oder ob bei der Mehrheit eine tatsächliche Begeisterung besteht. Die zahlreichen Gäste und die langen und geduldigen Publikumsgespräche offenbarten einen Blick auf Film als Kunst. Der Respekt, den das Festival gegenüber dem tatsächlichen Medium Film hat, spiegelte sich auch in der Auswahl der Filme wieder. Die Freundlichkeit aller Mitarbeiter ist wahrhaft beeindruckend. Als ich zu Beginn des Festivals von einem Leben im Freizeitpark geschrieben habe, wusste ich noch nicht, dass der Freizeitpark mich aus dem Leben kegeln würde. Dennoch scheint mir, dass auch meine Beziehung zur Viennale davon profitieren würde, wenn ich als Besucher in der Stadt wäre. Ich werde jedenfalls nicht vergessen, wie Albert Serra mich über das Kino belehrte, ich für mehr als zwei Stunden gegen meinen Harndrang ankämpfte in „La vie d’Adèle“, zum ersten Mal schwebende, neugierige Hunde ins Bild laufen bei Lav Diaz, ein Regisseur bei seiner Produzentin anruft, um sich krank zu melden, obwohl er es nicht ist bei Porumboiu, wie Matt Johnson das Publikum während und nach seinem Film spielerisch für sich gewann, wie Miguel Gomes eine unfassbar gute Sammlung an Found Footage Material in seinem „Redemption“ zu einem irrsinnigen Ansatz verband, wie Casanova lacht während er mit einer Frau schläft, wie Juliette Binoche lächelt während sie weint, wie die frische Herbstluft in Wien nach den Filmen durch meine Lungen strömte.

Viennale Tagebuch: Philippinische Terroristen und Tränen


Nach einem langen Festivaljahr bietet die Viennale auch immer die Möglichkeit Filme wieder zu sehen, die man an anderer Stelle sehr gemocht hat. Dazu gehörten für mich „Medeas“ von Andrea Pallaoro und „La vie d’Adèle“ von Abdellatif Kechiche. Zwei sehr unterschiedliche Filme, die beide gewissermaßen mein Festivaljahr auf einen großen Nenner bringen. Denn der vieldiskutierte Gewinner der Goldenen Palme 2013 steht für mich für die sinnliche Aufregung und Unschuld des Festivalzirkus, den ich dieses Jahr kennenlernen durfte. Die tausend Eindrücke, die im Film in der wiederholten Nahaufnahme des geöffneten Mundes von Adèle kulminieren, lassen Film zu einem sinnlich-rhythmischen Erlebnis werden, die Offenheit und Furchtlosigkeit, mit der Kechiche eine junge Liebe einfängt, sucht Ihresgleichen. Zwar verliebt man sich beim zweiten Mal nicht mehr ganz so schön wie beim ersten Mal, aber es bleibt das gleiche Gefühl und der Boden, den der Regisseur einem dann wegzieht, ist aus Schmerz. Es geht dabei auch um die Art wie er den Prozess von Gefühlen zeigt: Lächeln und vor allem Tränen entstehen unter unserer Betrachtung und sind nie einfach da. „Medeas“ dagegen spricht eher die intellektuelle Auseinandersetzung mit Filmen an, die in diesem Jahr eine ganz neue Bedeutung für mich bekommen hat; ein Gefühl dafür, welche Art von Kino auch in dieser Zeit noch möglich ist und die gleichzeitig traurige als auch freudige Erkenntnis, dass sich dieses Kino fast ausschließlich auf Festivals befindet. Auch Pallaoro zieht einem den Boden unter den Füßen weg und hört einfach an der perfekten Stelle auf zu erzählen. Heute unterhielt ich mich lange mit dem Regisseur über seinen Film und konnte in ihm auch wieder jene Begeisterung für eine bestimmte Art Kino sehen, die in erst in diese Geschichten und diese Form treibt.
Treiben ist wohl auch das Stichwort für die Filme von John Torres, dem dieses Jahr ein spezielles Programm im Rahmen der Viennale gewidmet ist. Der junge philippinische Filmemacher, der sich zusammen mit unter anderem Raya Martin und Khavn De La Cruz zu einer ganz besonderen Bewegung im südostasiatischen Kino formiert hat, einem Kino jenseits unserer europäischer Sehgewohnheiten, dass an den Türen der Lyrik und Musik klopft, um bedingungslos persönliche, oft vibrierende Essays über unsere Zeit  zu entwerfen. Dabei passt der Begriff Experimentalfilm nur bedingt auf den ältesten und den neuesten Film von Torres, die ich beide nach nerdiger (im besten Sinne des Wortes) Einleitung von Olaf Möller sehen durfte. „Todo todo teros“ ist eine flüchtende Liebesgeschichte im Zeitalter einer Überwachung. Irgendwo angesiedelt zwischen einem Videotagebuch und „Fallen Angels“ von Wong Kar-Wai. Torres arbeitet mit Schrift und er spielt mit einem Feuerwerk an Eindrücken. Dabei lässt er seine unheimlich starke emotionale Seite oft in den Irrwegen seiner rebellischen Tendenzen, die er selbst als Terrorismus bezeichnet, vedursten. Damit steht er überraschend nahe zu Albert Serra, der in unserem Interview beständig von der subversiven Seite des Kinos sprach.  Gibt es in seinem Frühwerk noch einige Schwierigkeiten für mich, so hat mich „Lukas nino“ dann sehr begeistert. Ähnlich wie bei Raya Martin in „How to disappear completely“ baut sich darin ein tranceartiger Sog zwischen der Hommage an eine bestimmte Bildersprache (bei Torres, die des Philippnischen Mainstreamkinos der 1980er Jahre), wunderschönen Bildern und einer kindlichen Mystik, die von Flüssen erzählt, durch die man schwimmt, um eine Erinnerung zu vergessen und von Kindern, die glauben, dass sie halb Mensch halb Pferd sind. Die Eindrücke und Gefühle bombardieren einen und man merkt förmlich wie Torres von seiner gezwungenen Terroristentätigkeit, zu einem Musiker der Emotionen wurde, der Filmsprache tatsächlich mit Musik gleichzusetzen versucht. Im Rausch des Festivals dient ein solcher Film wie eine Metabeschreibung der Erlebnisse. Eine Bilderflut, die sich Zeit nimmt. Irgendwo darin geht Film verloren bis man ihn wieder findet und sich erneut darin verliebt.In einer fast schmerzenden Szene werden Augen massiert und jedesmal, wenn das Weiß der Augen zu sehen ist, verändert sich das 35mm Filmmaterial. Habe ich das wirklich gesehen?

Viennale Tagebuch: Ejakulationen, Hitler und Enthusiasmus


Wenn man die Einführung von Chris Fujiwara im Filmmuseum zu „Which Way To The Front“ von Jerry Lewis mit anhören durfte, dann war man schon vor dem Film begeistert. Es war eine zugleich emotionale und sachliche Einführung, die einen am Abend eines langen Viennale-Tages nochmal richtig auf Lewis einstimmen konnte. Der alberte sich in gewohnt grandioser Art und mit einer gewissen Verwandtschaft zu Tarantinos „Inglourious Basterds“ durch den 2.Weltkrieg. Diese Verwandtschaft sprudelte auch aus den begeisterten Worten von Fujiwara heraus. Ein großer Mann der Filmkritik und Festivalwelt. Der halbe Hitlergruß von Lewis im Film: „Half a Heil“, ist wohl eines der prägenden Zitate für mich bei der diesjährigen Viennale. Zuvor hatte ich zum zweiten Mal Asghar Farhadis „Le passé“ gesehen, ein Film der kaum Raum zum Atmen hat, aber dieses auch nicht braucht. Irgendwie ist Farhadi ja ein Verwandter von Götz Spielmann…diese eingeschnürten Dramen, die auch als Thriller funktionieren. Wenn man sich zu Fuß in der klaren Novemberluft zwischen den Kinos bewegt, dann hat man auch Zeit sich diese enge und Perfektion in Wahrhaftigkeit umzuwandeln. Außerdem schlägt man natürlich allerhand Brücken. Ich fühle mich immer hin und hergezogen bezüglich der Frage, ob es gut ist mehrere Filme an einem Tag anzusehen. Auf einem Festival ist das natürlich normal und eigentlich Pflicht und ich sehe auch, dass sich im Dialog zwischen den Filmen neue Welten auftun und die Filme extrem gewinnen können. Auf der anderen Seite hatte ich zum Beispiel nach „Història de la meva mort“ von Albert Serra das unbedingte Bedürfnis keinen weiteren Film mehr zu sehen. Ich tat es trotzdem. Je mehr Filme man sieht, desto mehr gibt es auch zu sehen. Eine unendlich ansteigende Kurve. Die fast unbegrenzten Zugangsmöglichkeiten unserer Zeit machen Kinoliebe zu einem Sport. Wie man spätestens seit Truffaut weiß, sind Filmliebhaber kranke Leute, aber wo gewinnt man noch etwas für sich aus den Filmen, wann reflektiert man darüber und setzt das Ganze in eigene kreative Energie um, wenn es so viel zu sehen gibt? Christian Petzold hatte mal gesagt, dass er in seinen Anfangsjahren an der Filmschule in eine Schaffenskrise kam, weil er nur noch am Filmeschauen war. Ist ein Festival also eine Krise für mich? 
In eine solche Krise gerät jedenfalls der Protagonist und gleichzeitig Regisseur des pursten Films, den ich bislang auf der Viennale gesehen habe. Pur, weil er bedingungslos offen und ehrlich ist: „La jungla interior“ von Juan Barrero. Der Film ist aus Privataufnahmen entstanden, die der Spanier bereits vor 4 Jahren drehte, als er von der Schwangerschaft seiner Frau erfuhr. Er konnte diese nur noch mit der Kamera betrachten, als würden die Bilder des Kinos ihn an sie binden, die Beziehung retten. Er begleitete sie 9 Monate, aber filmte mit Sicherheit keine klassischen pseudo-romantischen Bilder einer Schwangerschaft, sondern eine innere Zerrissenheit. Schwangerschaft wurde selten so offen, abstoßend und einfühlsam gezeigt wie hier. Gemischt wird das Ganze mit surrealen Bildern einer Befruchtung und dem inneren des Urwalds, das für das Innenleben der Figuren steht. Zwar lässt einen der Film ganz nah ran, aber es wirkt nie voyeuristisch oder gar pornographisch. Barrero spielt mit der Distanz, entfremdet das geschehen mit einer dänischen Voice-Over Stimme. Der Sänger, der dem Film seine Stimme lieh, saß im Kino neben mir. Es war sehr interessant zu bemerken, wie nervös er wurde, sobald er seine eigene Stimme ertönte. Trotz der manchmal extremen Bilder von On-Screen Masturbation bis zu Close-Ups des weiblichen Geschlechts war es äußerst ruhig im Kinosaaal, weil man eine Ehrlichkeit und ein Gefühl hinter den Bildern spüren konnte, die weit über eine rein intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Gesehenen hinweg reichen. Die Krise verstärkt sich dann noch, weil man so viele unterschiedliche Filme und Einflüsse auf einmal bekommt. Ein spanischer Avantgarde-Film über eine entfremdete Schwangerschaft, ein französisch-iranisches Drama über Scheidung und Vergangenheit und eine amerikanische Komödie über den 2.Weltkrieg. Ich mag meine Krise.

Viennale Tagebuch: Nächtliche Bewegungen Ende Oktober


Heute fand die große Österreichpremiere von Götz Spielmanns „Oktober November“ statt. Das Gartenbaukino war zu großen Teilen mit Mitarbeitern, Freunden und Sponsoren des Films gefüllt, mit seiner rauchigen Stimme leitete Spielmann zusammen mit Hans Hurch die Veranstaltung ein und am Ende gaben sich neben Spielmann selbst auch Teile des Casts und der Crew die Ehre, um sich vor der Leinwand selbst zu beglückwünschen. Sicherlich ein schöner und gerechtfertigter Moment für einen Film, der trotzdem nicht zu den besten seines Machers gehört. Spielmann erzählt ähnlich wie sein Kollege Haneke vor ihm vom Sterben, allerdings taucht er das Ganze nicht in ein enggeschnürtes und konsequentes Kammerspiel wie es bei „Amour“ der Fall war, sondern folgt einer fast schon fernsehartigen Dramaturgie mit Familie, Geschwistern, melodramatischen Betrug mit dem Landarzt und dem zynischen, sterbenden Vater. Alles ist ganz klar und ausgewogen bei Spielmann. Wo bei „Antares-Studien der Liebe“ und „Revanche“ Ecken herausstanden, wurde jetzt fein säuberlich abgeschliffen. Alles ist hier durchdacht und dabei ist Spielmann immer dann gut, wenn nichts gesagt wird und meistens dann schlecht, wenn gesprochen wird. Sein Ensemble, das sich zum Teil auch wirklich benimmt wie ein Theaterensemble (es fehlt nur das Spotlight im entscheidenden Moment, den jeder bekommt „ihre/seine“ Szene; ganz schlimm )erzählt die Geschichte eigentlich mit den Gesichtern. Sobald sie sprechen, verliert sich die Magie, die Spielmann auch ansonsten nur dann zum Vorschein bringen vermag, wenn er räumlich entfernte Menschen und Objekte in Verbindung setzt. In einer wahrhaft grandiosen Sequenz bricht der Vater am Boden zusammen und die Kamera verlässt fast wie in einer moderneren Version von „Professione: reporter“ den Körper der Figur, schwebt wie ein Geist über dem Geschehen, während gleichzeitig die zweite Tochter im Bad zu sehen ist und ein Fisch auf einem Stein gestrandet ums Überleben kämpft. Dieses Motiv wird sowohl im Dialog als auch im Bild weiter verfolgt und ist sicherlich der Höhepunkt eines Heimat-Melodrams der Marke Spielmann. Leider hält der Film diese Kraft nicht immer, verliert sich manchmal in arg konstruierten Subplots und gewolltem Humor. Anders formuliert: Die totale Kontrolle, die Spielmann nicht nur über seinen Film, sondern auch über das Publikum zu haben scheint, ist zwar bewundernswert, hindert den Film aber an wahrer Größe, denn schließlich fühlt man sich immer wie in einem Film und nie wie im Leben. 
Viel schlimmer misslang Kelly Reichardts „Night Moves“. Zu sehen ist eine Regisseurin, die mit Bildern, Rhythmus und einer totalen Verweigerung des Schauspiels versucht gegen ein völlig danebengegangenes Öko-Thriller-Schuldkomplexe-Drama-Drehbuch anzukämpfen. Was will man hier erzählen? Die Naivität von Terrorismus? Die Unbedachtheit der Protagonisten? Die Wirkungslosigkeit?  Garniert wird das Ganze mit hoffnungslos platten symbolischen Bildern, wie einem Reh, das tot am Straßenrand liegt, aber noch ein lebendes Kind in sich trägt. Ja, wenn man eine Sache tötet muss man aufpassen nicht noch eine andere mitzureißen. Zwar holt Reichardt alles aus Jesse Eisenberg und Dakota Fanning raus, aber der Fehler liegt schon im Casting selbst. Eisenberg spielt alles als Nerd. Und Fanning soll eine Mischung aus Michelle Williams und der Jennifer Lawrence aus „Winter’s Bone“ sein, die sich am Ende dann aber doch als Dakota Fanning entpuppt. Was dabei fehlt, ist eine nachvollziehbare Tendenz zu einer solchen Tat. Aktivität und Lebendigkeit hätte einem der Protagonisten sicherlich gut zu Gesicht gestanden. Der Film sieht gut aus und fühlt sich insbesondere in der ersten Hälfte auch gut an. Retten tut ihn das nicht. Die Neuentdeckung eines Genres verlief in „Meek’s Cutoff“ noch deutlich konsequenter und die Emotionalität traf einen in „Wendy and Lucy“ weitaus unmittelbarer. 

Viennale Tagebuch: Zwei Gutenachtgeschichten und das Ende des Kinos


Wenn man an zwei aufeinanderfolgenden Tagen zwei sehr ähnliche Filme ein und des gleichen Regisseurs anschaut, dann kann das schon mal zu Überlappungen in der Wahrnehmung führen. Bei mir war das an den letzten beiden Tagen bei Hong Sang-soo und seinen „Nobody’s Daughter Haewon“ und „Our Sunshi“ der Fall. Der äußere Stil von Sang-soo wirkt ein wenig wie eine nette Teerunde unter Rentnerinnen oder vielleicht eine liebe Gute-Nacht-Geschichte. Darunter mag sich etwas verbergen, aber wenn man wie Woody Allen praktisch ständig denselben Stil abfährt, der mit seinen langen, ungeschnittenen Dialogsequenzen und künstlerischen Zooms durchaus von hohem Wert ist, dann hat das etwas selbstgefälliges, was ich im Kino nicht sehen mag. In beiden Filmen stellt der Regisseur eine junge Frau an der Schwelle des Erwachsenwerdens ins Zentrum. Und in beiden Filmen bleibt diese Figur undurchdringbar, mit einer merkwürdigen magischen Aura, die Männer in Scharen anzuziehen scheint. „Our Sunshi“ kam mir dabei etwas durchdachter vor, weil er mit seinen klaren Formen und seinem System der Wiederholung von Anfang an als Gute-Nacht-Geschichte in lieben Farben angedacht war, während „Nobody’s Daughter Haewon“ eben doch ein vielschichtiger Film sein könnte, aber in seiner Form erstickt. Jedenfalls haben die Programmierung des Festivals und der Regisseur nichts dafür getan, dass ich in Zukunft diese beiden Filme auseinanderhalten kann. Aber irgendwie hat dieser Rauschzustand ja auch etwas schönes. 

In Strömen hat das Publikum „Història de la meva mort“ von Albert Serra verlassen. Einen derartigen Exodus habe ich im Kino noch nie erlebt. Grausam wie das Licht aus dem Foyer im Metrokino die Bilder auf der Leinwand zerschnitten hat, die Türen krachten, Handybildschirme leuchteten auf. Der Film selbst ist natürlich einer der besten des Jahres. Eine epische Meditation über Versuchung, Tod, Unschuld und Begehren. Heute hatte ich zudem die große Ehre Albert Serra zu interviewen, der mehr oder weniger in jedem Satz eine Provokation unterbringt. Allerdings gab er zu, dass es ihn frustrieren würde, wenn die Menschen aus seinen Filmen gingen. Verändern würde er sich aber nicht. Mir stellen sich da schon einige Fragen. Der Film hat schließlich den Goldenen Leoparden in Locarno gewonnen und wird von vielen Kritikern zu Recht hochgelobt. Warum liegen die Wahrnehmungen von Cinephilen und dem Mainstream immer so weit auseinander? Ist der Cinephile gar eine Antwort auf den Mainstream? Für mich ist dieses Kino Musik. Wenn Menschen Musik hören, würden sie nie nach einer Bedeutung fragen. Sie lassen sich einfach auf die Emotionen und den Rhythmus ein. Bei Kino scheint das der breiten Masse völlig unmöglich. Warum? Liegt es an den Feuilletonclowns, die keine Ahnung vom Kino haben, aber Filme nach ihrer gesellschaftlichen Relevanz bewerten und damit Trends und Geschmäcker prägen? Liegt es an den Fernsehanstalten, die alles in ihre Formate quetschen, die Marktanalysen erfinden, um zu wissen, was wir Menschen, der Mensch an sich, die Zielgruppe per se brauchen? Und damit wächst man auf und lebt man weiter. Liegt es an den Universitäten, wo frustrierte und oft gescheiterte Regisseure sich länger im Spiegel betrachtet haben als, dass sie die Leinwand betrachtet haben und ihren Studenten immer wieder sagen, dass es Psychologie und so weiter braucht. Dabei ist ein psychologisches Kino eben nur eine Form des Kinos. Bei Film als Gefühl geht es auch gar nicht um Intellekt, sondern so wie in der Musik sind diese Emotionen ja für jeden greifbar unabhängig von Bildung oder Interessen. „Història de la meva mort“ ist sicherlich schwer zugänglich, aber er folgt klaren menschlichen Themen. Selbst die grob skizzierte Handlung ist absolut verständlich. Ich verstehe nicht, warum man verstehen muss.„La última película“ von Mark Peranson und Raya Martin beklagt vielleicht auch deshalb ein Ende des Kinos. Der Film beschwört nicht nur ein Ende des Films als Material (ein durchgehendes Thema hier in Wien), sondern eben auch ein Ende der klassischen Wahrnehmung. Dabei kommt er sich aber ein gutes Stück zu originell vor. Der doppelte Boden auf dem das stattfindet, nämlich das Making-Of zu Dennis Hoppers „The Last Movie“ transferiert sich nicht ganz als solcher und so bleibt unsympathisch und größenwahnsinnig, was eigentlich nur ein Portrait dieser Eigenschaften hätte sein sollen. Experimentalfilm ist nicht so neu wie er hier versucht zu sein.

Viennale Tagebuch: Warten auf Porumboiu


Heute Morgen fand ich mich zum Interview mit Corneliu Porumboiu ein, einem anerkannten Meister des Absurden, der einmal gesagt hat, dass die Rumänen das Absurde erfunden hätten. Um 10 Uhr war ich dort und nach 15 Minuten kam man zu mir und sagte mir, dass er sich um eine Stunde verspäten würde. Er hatte verschlafen. Eine absurde Situation, in die mich Herr Porumboiu da versetzte. Ich saß etwas hilflos auf dem Sofa im Pressezimmer, da kam plötzlich Matt Johnson, der Regisseur aus „The Dirties“ um die Ecke und fragte mich „Are you a filmmaker?“. Dann hörte ich zu wie dem großartigen Jonathan Rosenbaum über eine lange Zeit anhand diverser Karten der Weg zum Festivalzentrum erklärt wurde. Kurz raus an die Sonne, dachte ich bei mir und lief schon wieder Klaus Lemke und seinem Zirkus über den Weg. Das Hilton war ganz wie das Hotel in „Tystnaden“ von Ingmar Bergman, nur die Nacktheit fehlte (noch). Hans Hurch ging dreimal im Kreis umher und Joshua Oppenheimer hatte große Schwierigkeiten mit dem Kaffeeautomaten. Der offizielle Fotograf der Viennale fotografierte mit Schal alles und jeden vor irgendwelchen Wänden. Schließlich kam Porumboiu und trotz seiner offensichtlichen Müdigkeit und dem Stress war er ein äußerst tiefgehender und guter Gesprächspartner.
„Class Enemy“ von Rok Bicek wurde ziemlich gefeiert vom Publikum und ich konnte mich dem nicht so ganz anschließen. Es geht um eine Schulklasse, die gegen ihren autoritären Lehrer rebelliert nachdem sich eine Klassenkameradin umgebracht hat. Zwar wirft der Film einige interessante Fragen bezüglich Erziehung und Ethik auf, aber dazu kann ich entweder in eine Philosophie-Vorlesung gehen oder irgendeine kritische Zeitung durchblättern. Wilde POV-Wechsel, unmotivierte Schnitte und ein konstruiertes Themengerüst, das sicherlich interessant ist, nicht aber filmisch. Ästhetisch hat der Film einfach alles von „Entre les murs“ von Laurent Cantet geklaut und immer mal wieder bringt er auch ein wenig „Monsieur Lazhar“ mit ins Spiel. Jump-Cuts und Achsensprünge um machtlose Lehrer herum, die vor überbelichteten Fenstern nachdenken, kurze prägnante Eindrücke von Schülern, das Nicht-Verlassen des Gebäudes. Alles schon gesehen, nicht lange her, weitaus besser gemacht. Im Q&A ging es dann solange über irgendwelche Publikumsreaktionen in der Slowakei und die Selbstmordrate in Österreich, dass ich kurz die Verbindung zur Viennale verlor. Aber da stand plötzlich wieder der Fotograf mit Schal neben mir und knipste munter Bilder und mir wurde klar, dass mein Leben doch wieder absurd war. Spätestens als ich meine Besprechung zu Porumboius Film erweiterte und übersetzte, um dann festzustellen, dass ich dieses Review gar nicht schreiben muss.