Viennale 2014: Weimar 101010

Die Hand über der Stadt aus "M"

Hin und wieder gelingt es ein persönliches Festivalprogramm so zusammenzustellen, dass sich zwischen zwei oder mehr Filmen spannende Synergien ergeben. Noch interessanter wird das, wenn sich diese Filmfolge nur rein zufällig aus dem Programm ergibt und nicht von den Kuratoren vorhergesehen ist. Montagabend war eine dieser Gelegenheiten, als um 18 Uhr im Urania-Kino in Von Caligari zu Hitler feierlich auf die Filme der Weimarer Republik zurückgeblickt wurde, und es quasi im Anschluss im unweit gelegenen Metro-Kino die Möglichkeit gab einen dieser Filme, Georg Wilhelm Pabsts Die Büchse der Pandora, zu bewundern. Pabsts Stummfilmklassiker lief im Rahmen des Special Programs zu Ehren des österreichischen Schauspielers Fritz Kortner, der im Film eine der Hauptrollen innehat.

Von Caligari zu Hitler ist, wenn man so will, das perfekte Vorprogramm zu quasi jedem Film dieser Ära. Zwar erreicht der Film nicht die Höhen wie Martin Scorseses Aufarbeitung der amerikanischen beziehungsweise italienischen Filmgeschichte und schon gar nicht die von Mark Cousins 15-stündigem magnum opus The Story of Film: An Odyssee, aber er macht Lust darauf diese Filme (wieder) zu sehen, und das ist denke ich einmal das wichtigste an einer Filmdokumentation über Film. Szene aus

An dieser Stelle eine Randbemerkung über Restaurations- und Aufführungspraktiken: Die Büchse der Pandora wurde in einer 2009 restaurierten Version mit Live-Klavierbegleitung gezeigt. Es handelt sich dabei um eine digitale Restauration, so weit so gut. Ich bin davon überzeugt, dass von dieser Restauration auch 35mm-Vorführungskopien gezogen wurden, im Metro-Kino wurde an diesem Abend allerdings digital projiziert. Einmal abgesehen davon, dass es mir etwas überkompliziert vorkommt eine DCP ohne Tonspur zu produzieren, da in diesem Fall die Verkleinerung des Bildkaders durch Hinzufügen einer Tonspur, wie es bei einem 35mm-Print der Fall wäre, wegfällt, halte ich es für bedenklich, dass hier einem Proxymedium der Vorzug gegeben wird. Gerade ein kanonischer Klassiker wie Die Büchse der Pandora muss doch in passabler Qualität als 35mm-Print verfügbar sein, und dann muss es im Sinne der Veranstalter, wie des Publikums sein, eine Präsentation im Originalmedium zu gewährleisten. Ich lasse mir hier gern Purismus vorwerfen, aber wenn schonl zu Beginn des Films Texttafeln anpreisen, dass durch die Möglichkeiten der digitalen Technik, das Gefühl der Montage, wie Pabst sie im Sinn hatte rekonstruiert werden konnte, dann ist eine solche Präsentationsweise einfach unehrlich. Und da steht nicht nur die Institution unter Kritik, die diese Schau organisiert, sondern vor allem die verleihende Institution, die solch eine DCP überhaupt anbietet. Erschwerend hinzu kommt noch, dass diese technisch gar nicht auf dem neuesten Stand ist und auf der Basis eines 2k-Scan hergestellt wurde. Für die technischen Möglichkeiten von 2009 sieht die DCP sogar sehr gut aus, den Vergleich mit einer Vorführungskopie in 35mm dürfte sie jedoch nicht wagen. Kortner und Brooks in

Das alles ist sehr schade, denn der Film entpuppte sich als ein sehr erfreuliches Kinoerlebnis. Die Büchse der Pandora ist zurecht ein kanonisiertes Werk der Filmgeschichte und zählt nicht umsonst zu den bekanntesten Filmen des Weimarer Kinos. Pabst gelingt es wie anderen großen Meistern der Filmkunst klassische Stummfilmästhetik hinter sich zu lassen und stattdessen eine universale Filmsprache zu sprechen. Deshalb war der Film zur damaligen Zeit wohl ein kommerzieller Flop – der Film ist ganz einfach zu progressiv. Psychologisch motivierte Charaktere, komplexe moralische Fabeln, ein bitterböses Ende und ein Hauptcharakter, der zur Hälfte des Films ganz einfach verstirbt – was aus heutiger Sicht recht banal klingen mag ist für die Weimarer Kinoindustrie geradezu avantgardistisch. Aber nicht nur das Drehbuch hält dem heutigen Erzählstandard stand, vor allem in Sachen Montage kann jeder (angehende) Filmemacher noch einiges von Pabst lernen. Mit einer unvergleichlichen Flüssigkeit und Leichtigkeit schreitet der Film voran und schafft es die Opulenz eines großbürgerlichen Penthauses mit einer kümmerlichen Dachgeschosswohnung zu verbinden, ohne dabei mit seinem visuellen Stil brechen zu müssen. Als einziger Wermutstropfen bleibt, dass gerade einem Film wie Die Büchse der Pandora das Glänzen und Flackern einer Zelluloidprojektion sehr stark abgeht – gerade wenn man sich nach Von Caligari zu Hitler, der verständlicherweise aus digitalisierten Filmausschnitten besteht, auf „the real thing“ freut.

PS: Kommt es nur mir so vor oder verringert sich tatsächlich die Zahl der läutenden und vibrierenden Mobiltelefone in den Kinosälen? Kann es sein, dass es zumindest in Festivalkreisen nun endlich dazu gekommen ist Awareness für solche Störungen zu schaffen? Das Kino als Ort, wo man noch Ruhe hat, vor der Welt, die einem ständige Erreichbarkeit abverlangt.

Viennale 2014: Leviathan von Andrey Zvyagintsev

Größe ist natürlich nicht nur ein Gestus, aber manchmal ist der Gestus mit einer Haltung zur Welt verbunden, die eine Größe voraussetzt. Leviathan von Andrey Zvyagintsev (nicht zu verwechseln mit der innovativen, ethnographischen Schwindel-Poesie Leviathan von Lucien Castaing-Taylor und Véréna Paravel ) beginnt mit epischen Bildern eines brechenden Ozeans, dazu hört man ein symphonieartiges Treiben aus der Feder von Philip Glass, eine Macht, eine Urgewalt, die vom Ozean ausgeht, wie von der Härte und nüchternen Kälte Russlands und seiner Gesichter. Leviathan ist eine biblische Parabel und ein Politthriller mit satirischen Elementen. Im Zentrum der Handlung steht Kolia, der wie Hiob nach und nach auseinandergenommen wird. Nur ist es hier nicht unbedingt der Glaube, der ihn retten kann, sondern der Glaube der ihn vernichtet. Und sein Prüfer ist nicht Gott sondern ein korrupter Staat, der in alkoholischen Machtanfällen mit einer Angst regiert, die Schönheit vernichtet. Es treiben riesige Skelette an den vertrockneten Ufern, alte zerstörte Fischkutter, die Ruine einer Kirche. Zvyagintsev ist ein Freund der göttlichen Perspektive, seine Kamera bewegt sich elegisch und völlig unberührt über die Kraterlandschaften fast gemalter Gesichter einer sterbenden Hoffnung. Kolia lebt zusammen mit einer Frau, die so schön ist, dass man sie töten muss und einem Kind aus seiner ersten Beziehung. Bürokratische Machenschaften machen ihm durch unübersichtliche, in unfassbarer Geschwindigkeit vorgetragene Gesetze sein Eigentum, ein wundervolles Holzhaus am Ufer einer Geschichte streitig. Da Haus ist nicht das einzige was Kolia womöglich verliert. Er ist ein Bauernopfer dieser Welt. Dabei forciert Zvyagintsev die Themen von Schuld und Loyalität bis zu ihrer philosophischen Rasierklinge, das Blut rinnt schon über den Film und dahinter könnte irgendwo eine Liebe stecken oder sagen wir eine Sehnsucht. Beziehungen sind hier Missverständnisse, sie sind wütend, voll kalter Leidenschaft und doch mit einem brutalen Herz, das sich in Besäufnissen an seiner eigenen Melancholie erstickt. Es wird getrunken und geschossen und betrogen.

Leviathan Film

Auch der Ton ist hier elegisch, das Flügelschlagen von Eismöwen am Horizont, der Wind und das Knistern von Holz. Immer verharrt die Kamera noch einen Augenblick länger an den Orten, sie fährt noch einige Meter in den Raum, verlässt ihn, betrachtet ihn gleichgültig. Aber irgendwas passiert da, so etwas wie Schicksal oder politische Ungerechtigkeit. In beiden Fällen ist man wehrlos wie die Schweine, die den Dreck essen. Das Fischerdorf wird in all seiner hässlichen Schönheit in Perfektion inszeniert, nüchtern und doch betrunken. Immer wieder kommt es zu satirischen Szenen. So schießen Figuren plötzlich auf Abbilder von Politikern. Dabei fehlt aber manch aktueller Täter, der anderswo die Wände ziert. Ein Betrunkener bemerkt: Dafür fehlt noch die historische Distanz…der Alkohol lässt einen nur so lange lachen bis es noch schlimmer wird in Leviathan. Dann ist da jene Frau, Lilya, ein weißer Geist mit kristallenen, glänzenden Augen. Sie wandelt zwischen totaler Schuld und absoluter Unschuld, aber wenn man einmal schuldig war, dann kann man nicht mehr unschuldig sein.

Die Macht ist eine Aggression in Leviathan, keiner scheint sich so recht helfen zu können, alle sind wie gesteuert von einem fehlgeleiteten Selbsterhaltungstrieb, der im Endeffekt nur den Frieden zerstört. Desolate Bilder einer verschwundenen Welt. Ein Schimmer einer unliebsamen Wahrheit. Es ist der Blick zur Decke in der Kirche, der als doppelter Moment im Film auftaucht und auch ein derartiges Echo kreiert. Einmal ist dies ein narrativer Moment, als das Kind am Ende zur Decke blickt, zeigt es, dass die Kirche wieder steht (welch fataler Brutalität!), andererseits vollführt diese Einstellung sozusagen das Kunststück ein Erinnerungsbild zu sein, weil man die Ruine fast über den Neubau legt, also schon das Ende im Anfang mitsingen hört. Die Dichotomie von persönlicher Freiheit und der Funktionalität eines Staates findet sich in allegorischen Versatzstücken auch in der Ehe, der Religion, in der Natur und im Wesen des Kinos. Am Ende muss man wegsehen oder gehen, aus Angst, aus Liebe oder weil man gezwungen wird.

Viennale 2014: Hard to be a God von Aleksey German

Die Stadt in "Hard to be a God"

Eine mittelalterliche Stadt ist der Schauplatz für Aleksey Germans Hard to be a God – so scheint es zumindest, denn ein Off-Kommentar klärt auf, dass diese Stadt, diese Welt, sich gar nicht auf Erden befindet, sondern sich das Geschehen auf einem anderen Planeten entfaltet. Erdenmenschen haben den Planeten jedoch kolonialisiert und sind dort nun Halbgötter und Herrscher (in diesem Punkt kann man sich nicht sicher sein, so habe ich es zumindest verstanden – zu dieser Problematik später mehr). Einer dieser Erdenmenschen, Don Rumata, wird im Mittelpunkt der Geschichte stehen.

Drei Stunden habe ich Samstagabend mit Hard to be a God im Kino verbracht. Die erste halbe Stunde war ich fasziniert von den tollen tracking shots, dem imposanten, kontrastreichen Schwarzweißlook und der aufwändigen Kulisse. Dann stiegen langsam Zweifel in mir auf – wohin sollte das führen, was will mir der Film sagen, welcher Antrieb steckt hinter dem Film? Die nächsten zweieinhalb Stunden verbrachte ich damit, diese Fragen zu beantworten, aber blieb dabei erfolglos. Trotz all dieses Aufwands und der technischen Präzision des Films, stellte sich das Endresultat als quälend und nichtssagend heraus.

Elend und Dreck in Der Film ist groß, facettenreich und ohne Zweifel komplex. Es besteht natürlich die Möglichkeit, dass mir mein fehlendes Wissen um die russische Kultur und Germans restliche Filme mir den Zugang zum Film erschweren. Unabhängig davon fehlte Hard to be a God aber etwas viel grundlegenderes, sodass ich mich in der Berechtigung meiner Kritik bestärkt fühle: eine Vision, die dem Film Zusammenhalt gibt.

Diese Feststellung mag befremdend klingen, ob der präzise durchkomponierten, alles andere als beliebigen, Bildauswahl und des offensichtlichen politischen Anliegen Germans. Viele Aspekte des Films scheinen eine solche Vision, wie ich sie dem Film abspreche, anzudeuten. Mir geht es aber gar nicht darum, ob die radikale Anti-Ästhetik und die Überfülle an (politischer) Allegorie und Symbolik einem gewissen Muster folgen oder ob sie durchdacht sind (das sind sie ganz bestimmt). Es geht mir, und das mag banal klingen, um das Mischverhältnis dieser Elemente. Isoliert betrachtet sind die einzelnen Teile des Films nämlich durchaus interessant, fordernd, anspruchsvoll im besten Geiste des auteuristischen Filmschaffens, es geht rein darum was German macht (oder eher – nicht macht) um diese Elemente in Einklang zu bringen.

Exemplarisch werde ich also verschiedene, durchaus interessante Aspekte des Films besprechen, die stiefmütterlich im Chaos der Inszenierung untergehen und ihre Explosionskraft schließlich verlieren. Ich beginne bei der manieristischen Bildästhetik des Films. Manierismus ist in diesem Zusammenhang nicht rein negativ zu sehen, denn eine solche Überfülle kann, richtig eingesetzt, einen kathartischen Effekt auslösen. Noch dazu kehrt German diesen Manierismus eigentlich in einen Anti-Manierismus, einen Scheiß-Manierismus um. Die Scheiße ist hier wörtlich zu nehmen – selten sieht man in einem Film Fäkalien so prominent ins Designkonzept integriert. Sind diese Fäkalien nötig um ein Bild einer mittelalterlichen Parallelwelt zu zeichnen? Vielleicht, aber es scheint gar nicht Germans Anliegen zu sein, solch ein Bild zu zeichnen, sonst hätte er die drei Stunden Laufzeit seines Films nicht dafür verwendet eine elliptische Anti-Orgie zu zelebrieren, sondern etwas von der Lebensrealität der Menschen in dieser Welt zu zeigen – außer Furzen und Schnäuzen sieht man davon aber nicht allzu viel. Die potentielle ästhetische Sprengkraft einer manieristischen Visualität verläuft sich also. Darüber hinaus steht dieser Manierismus anderen Aspekten des Films im Weg. So wäre es für einen Film solch epochaler Länge und intimen Kameraspiels ein leichtes (oder vielleicht sogar eine Notwendigkeit) gewesen, die Lebensrealität dieser Menschen und dieses Planeten aufzuschlüsseln. Das passiert jedoch nicht und es wird auch keine epische Narration vorgetragen. Die Länge des Films scheint einfach daher zu rühren, dass nie eine Entscheidung für oder gegen irgendetwas getroffen wurde. Nun könnte man einwenden, German wolle bloß die Perzeption des Publikums testen und so einen emanzipatorischen Gestus wahren. Warum aber verkauft German den Zuseher an anderer Stelle für blöd? Warum lässt er ihn vollkommen im Dunkeln tappen und gibt keinerlei Möglichkeit diesen Film ohne extensives Vorwissen aufzuschlüsseln? Wieso setzt er alle möglichen billigen Tricks ein, die dem Konzept des emanzipierten Zusehers genau widersprechen (ich meine damit die unzähligen Blicke direkt in die Kamera, die Schönheit der Kameraführung inmitten des Drecks und die Opulenz der Sets und Kostüme). Nein, das Problem dieses Films liegt klar in der Frage: „Was will ich von diesem Film?“ Eine Frage, die German, womöglich aufgrund seines verfrühten Todes nicht beantworten konnte. So entsteht ein Film der Widersprüche, keiner fruchtbaren Widersprüche, aus der sich Synthesen ziehen lassen, sondern ganz einfach der unvereinbaren Widersprüche, die den Film unverdaulich machen.

Denn wo Größe im Film steckt, entstammt sie der Komprimierung, die Radikalität wiederum ist eine ästhetische, die Länge trägt nichts dazu bei diese Qualitäten zu unterstreichen und die politische Seite des Films geht ohnehin in der quälenden Redundanz und in der Hässlichkeit unter. Das zeugt von Germans Fehleinschätzung, dass er alles in diesen Film versammeln könne. Die Frage ist bloß, ob es sich überhaupt um eine solche Fehleinschätzung handelt, also um eine überambitionierte Vision Germans, oder ob der Film bewusst mit dieser thematischen wie visuellen Überfülle spielt und ganz einfach daran scheitert.

Mir erscheint die letztere Möglichkeit bei näherer Betrachtung plausibler: Die filmische Welt die German hier nach dem Vorbild des Romans der Strugazki Brüder (die unter anderem auch für die Buchvorlage für Tarkowskis Stalker verantwortlich sind) präsentiert, wird bloß in Umrissen skizziert. Die genauen Spezifika dieser Welt bleiben jedoch unklar, das heißt, man tappt mehr oder weniger drei Stunden lang im Dunkeln und aufgrund der Erklärungsarmut wirkt der Film noch enigmatischer als er aufgrund seiner Form bereits ist. Das allein will ich dem Film jedoch nicht vorhalten – enigmatische Filme sind sogar zu begrüßen. Was man German aber vorhalten kann, ist aber, dass die komplette Dechiffrierung des Films durch die verworrene Handlungsstruktur, durch die sich der Film einem grundlegenden Verständnis entzieht, andere Lesarten des Films blockiert. Man sieht, das spricht gegen den Versuch einer Publikumsemanzipierung, denn das Anliegen Germans ist im Kern ein politisches (wie auch das der Strugazkis). Dass der Film als eine große politische und soziale Allegorie zu lesen ist, wird inhaltlich sehr deutlich gemacht aber eben narrativ und formal total sabotiert.

Zusammengefasst geht es mir also nicht darum, dass der Film Hässlichkeit zelebriert, oder enigmatisch ist, oder per se zu lang ist, oder keine wortgetreue Adaption darstellt, sondern dass alle diese Aspekte nicht unter einer „künstlerischen Vision“ zusammengefasst sind, oder überhaupt zusammengefasst werden können. Das soll nicht heißen, dass ein Film kohärent sein muss, aber er sollte in dem Maße kohärent sein, indem es seine eigene Form und sein eigener Inhalt es verlangen, ansonsten handelt es sich bloß um eine postmoderne Spielerei. Und da zeigt sich auch in welcher Hinsicht der Film sich den Vorwurf der Beliebigkeit gefallen lassen muss: nicht in Bezug auf Bildauswahl oder Handlungsstruktur, sondern in Bezug auf die künstlerische Vision, die es im Falle von Hard to be a God nicht fertig brachte wegzulassen, auszulassen, einzusparen, wo es nötig war. Sich auf die Emanzipation des Zusehers auszureden, ist in diesem Fall, wie oben ausgeführt nicht legitim. Im Kern, ist es die Aufgabe eines Künstlers eine Auswahl zu treffen (und wenn es nur Wahl ist verschiedene Lesarten vorzuschlagen), wenn er das nicht tut, macht er sich selbst obsolet.

Viennale 2014: Court von Chaitanya Tamhane

Vira Sathidar in "Court"

Chaitanya Tamhane ist offensichtlich nicht sehr zufrieden mit einigen Vorgängen in seinem Land. Court, der Debütlangfilm des erst 27-jährigen Inders aus Mumbai, setzt sich unter anderem mit dem indischen Rechtssystem auseinander. Diese Auseinandersetzung exerziert Tamhane am Beispiel des fiktiven Volkssängers und Poeten Narayan Kamble durch. Neben seinen Auftritten als politisches Sprachrohr der indischen Unterschicht, unterrichtet der halbgreise Narayan Kamble an einer Schule. In dieser Funktion bekommen wir ihn auch zum ersten zu Gesicht und folgen ihm schließlich von seinem Arbeitsplatz zu einer Demoveranstaltung, wo er auftritt. Während des Auftritts wird Narayan Kamble jedoch von der Polizei verhaftet. Bis zu diesem Zeitpunkt stand der Musiker im Mittelpunkt des Geschehens und Tamhanes Kamera folgte ihm auf Schritt und Tritt. Kaum im Gefängnis verschwindet Narayan Kamble nicht nur aus der diegetischen Öffentlichkeit, auch sein Platz als Protagonist wird von seinem Anwalt Vinay Vora (großartig gespielt von Vivek Gomber, der auch als Produzent tätig war) übernommen. Vinay Vora stammt aus wohlhabender Familie, ist schick gekleidet und lebt in einer austauschbaren, westlich-geprägten Parallelwelt, die mit dem gängigen Bild des „armen Indiens“, also der Lebenswelt seines Klienten, wenig gemeinsam hat. Auffallend scheint zu sein, dass Vinay Vora den Narayan Kamble eher aus philanthropischen Motiven, als aus finanzieller Notwendigkeit vertritt (später stellt er sogar dessen Kaution). Als er später bei einer Veranstaltung über die Probleme und Willkür im indischen Rechtssystem referiert wird diese Vermutung bestätigt. So erinnert Vinay Vora ein wenig an klassische Jimmy-Stewart-Charaktere (wenngleich auf einer anderen gesellschaftlichen Ebene), der in Josef-K.-Manier einen Spießrutenlauf von Anhörung und Anhörung über sich ergehen lassen muss und sich mehr und mehr im Paragrafendschungel verliert.

Der namensgebende Gerichtssaal in Die Frage nach Vinay Voras Antrieben bleibt aber offen. Er unterstützt jene Menschen, die in bester gesellschaftskämpferischer Manier gegen jenes Establishment ankämpfen, dem er selbst angehört. Vinay Vora wirkt jedoch keineswegs wie ein edler Ritter in glänzender Rüstung, der bereit ist sein Vermögen oder seinen Lebensstil für soziale Gerechtigkeit aufzugeben. Andererseits, scheint er sein gemütliches Leben auch nicht wirklich zu genießen – das Verhältnis zu seiner Familie ist schlecht, Frauen und Freunde scheinen ebenfalls keine große Rolle in seinem Leben zu spielen. Was ihn antreibt ist ein vager Wille für eine gerechtere Rechtsprechung und weniger Korruption, ein Wille der von den Mühlen der Justiz langsam zermürbt wird, denn das Leben als Anwalt in Indien ist Sisyphusarbeit – als Narayan Kamble schließlich gegen Kaution wieder freikommt, wird er sogleich wieder verhaftet und wieder ist die Anklage ein bloßer Vorwand, den die Polizei mit Hilfe der Staatsanwaltschaft aus der Luft gegriffen hat, um den Dissidenten und ein für alle Mal hinter Gitter zu bringen und endlich Ruhe zu haben vor der bürokratischen Mühsal der Durchsuchungsbefehle, Gerichtstermine und Zeugenaussagen.

Vivek Gomber in Schlussendlich wird man das Gefühl nicht los, dass die indische Mentalität und das von den Briten vor mehreren Jahrhunderten eingesetzte Rechtssystem nicht so recht zusammenpassen. So ist Court nicht bloß ein Aufschrei gegen juristische Willkür, sondern auch ein gewichtiges post-koloniales Statement.

Viennale 2014: Kentucky Pride und My Darling Clementine von John Ford

My Darling Clementine von John Ford

Die Programmierung von Kentucky Pride vor der pre-release Version von My Darling Clementine im Rahmen der John Ford Retrospektive im Österreichischen Filmmuseum könnte-wenn man rein vom kreativ-vermittlungsbezogenen Potenzial kuratorischer Vorgänge ausgeht-zwei Gründe haben. Der erste Grund wäre, dass man einem oft übersehenen Film-in diesem Fall Fords Stummfilm Kentucky Pride-eine besondere Aufmerksamkeit schenkt, wenn man ihm am ersten offiziellen Tag der Viennale neben einen dieser absoluten Filme von Ford, nämlich My Darling Clementine stellt. Ein anderer Weg würde in eine Verbindung zwischen den beiden Filmen führen, Abdrücke, die zwischen zwei Werken aus zwei grundverschiedenen Phasen des Schaffens von Ford flimmern.

Vielleicht findet der Dialog zwischen den Filmen aber in etwas statt, dass an diesem Abend im Unsichtbaren Kino gar nicht sichtbar war. Denn zum ersten Mal war es mir vergönnt diesen atemberaubenden Print der pre-release Fassung von My Darling Clementine zu sehen. Bekanntermaßen hatten sich die Produktions- und Regielegenden Darryl F. Zanuck und John Ford nicht auf einen finalen Schnitt einigen können. Zanuck zerschnitt Fords Visionen an einigen Stellen. So hatte ich nun zum ersten Mal die Gelegenheit diese alltäglichen Augenblicke zu sehen, in denen der faszinierende Wyatt Earp (gespielt von Young Mr. Henry Fonda, der nicht nur bei Ford immerzu spielt was er selbst und wir alle gerne wären, eine unbestechliche Gelassenheit, sicher und doch zurückhaltend, ehrenhaft und doch zielstrebig, abwesend und immer da) auf der Veranda sitzt, balanciert und atmet bevor Clementine in dieser Stadt mit dem vielsagenden Namen Tombstone ankommt. Ambivalenzen in den Figuren wie eine kurze Verständigung zwischen dem im pre-release sowieso weitaus aufregenderen Doc Holliday und Clementine während der Operation von Chihuahu. Die lyrische Seite des Western, die Zanuck natürlich nicht ganz aus den staubigen Kontrasten einer einsamen Seelenwelt entfernen konnte, ist und bleibt die große Stärke eines Films, der seine Figuren wie Geister im amerikanischen Sand inszeniert, dunkle Gestalten, die gegen die majestätische Luft laufen und dabei nie vom trockenen Humor des Regisseurs gewahr sind. Ein Schluck Whiskey ist hier immer zugleich ein Klischee, die Bewertung des Klischees, seine kulturelle Verortung, männliche Schwäche und Stärke, ein Ritual und eine Flucht. Der Duft nach Wüstenblumen ist nur jener eines Parfums, das Land ist immer eine Illusion, immer gibt es den nächsten Traum, die nächste Sehnsucht.

Henry Fonda in My Darling Clementine

In diesem Sinne ist es auch nur konsequent, dass am Ende der fordschen Fassung kein schüchterner Wangenkuss sondern ein einfacher Händedruck zwischen Wyatt und Clementine steht. Der Weg den Wyatt reiten wird, führt in das Bild Amerikas und zugleich eine endlose Wüste der Trauer. Zanuck hatte diesen flüchtigen Kuss nachdrehen lassen, ein Fremdkörper damit Hollywood funktioniert, eine zumindest etwas größere Sicherheit am Ende des Kinoabends. Ford wurde in seiner Karriere immer wieder Opfer solcher Zerstückelungen. Ob vom Regisseur beabsichtigt oder von seinem Studio Fox erzwungen steht am Ende von Kentucky Pride ein solcher Kuss (zum Teil vor Kameras!!!) und genau hier sprechen die Filme miteinander. Es geht dabei um die Frage der Vereinigung verlorener Seelen in der Weite eines Landes, das von gesellschaftlichen und politischen Prinzipien beherrscht wird, die in den männlichen Herzen von Ford keine andauernde Nähe sondern nur ein Streben nach sich Selbst und nach Mehr zulassen. In Kentucky Pride gehören diese Herzen und damit auch der Kuss Pferden. Der Regisseur versuchte sich in diesem Stummfilm an einer manchmal sehr niedlichen Jack London Erzählweise, indem er aus Sicht eines Rennpferdes in das Milieu von Pferderennen einsteigt. Dabei verfolgen wir die Geschichte des Rennpferdes Virginia’s Future, das sich verletzt, gerettet wird, von ihrer Tochter getrennt wird und schließlich voller Stolz diese bei einem Rennen beobachtet, wieder vereint, sich berührend. Ein Kontrast zweier Filme, bei denen der frühere Film ein Ende besitzt und der spätere geradewegs durch unsere Herzen reitet, als wäre da ein Horizont am Ende der Welt. Dies ist natürlich auch genrebedingt, aber im Dialog beider Filme zeigt sich wie Ford als Künstler und sein Sentiment dafür kämpfen mussten, Dinge wegzulassen, um mehr Gefühl zu ermöglichen. Der eigentliche John Ford Moment in der Beziehung zwischen den Figuren in Kentucky Pride vollzieht sich in einer Szene etwas früher im Film zwischen Mensch und Pferd. Es ist jene zerreißend poetische Anekdote als Virginia’s Futures Ziehvater Beaumont beiläufig auf einer Straße das Pferd tätschelt, ohne zu bemerken, dass es sich dabei um sein Pferd handelt. Es ist dies ein Augenblick dieser beiläufigen Nähe, dieser wahren Zärtlichkeit, die es immer nur in einer Flüchtigkeit geben kann bei Ford. Ein Sehnsuchtsbild aus Sicht des Pferdes, so wie das dringliche und emotionale Feuer in Wyatt, das ihn in den berühmten Tanz mit Clementine unter den unfertigen Symboliken einer Nation zieht.

In beiden Filmen sehen wir schwarze Pferde im Regen. In ihnen spiegelt sich vielleicht eine Einsamkeit und Schutzlosigkeit wieder, die nicht zuletzt auch für die Menschen in den Filmen gilt. In die Ecke gedrängt, wehrlos und doch voller Würde und Überlebenstrieb. Es ist entweder so, dass Wyatt Earp selbst wie ein Pferd getrieben wird oder dass die Pferde auch ohne ihre Reiter weiterziehen würden. Zumindest bis ein großer Produzent ihnen sagt, dass sie anhalten müssen.

My Darling Clementine von John Ford

(Aber niemand kann verhindern, dass Ford sich dafür interessiert wie es aussieht, wenn ein sterbender Mann einen letzten Schuss in einen Trinktrog feuert, vorbeigaloppierende Pferde einen staubigen Wüstenschleier entfachen, der das Unsichtbare als poetisches und doch reales Konstrukt offenbart oder ein Mann kurz nachdem er vermeintlich Schlimmes getan hat über einen Balken stolpert.)

Viennale 2014: German Love: Amour Fou von Jessica Hausner

Amour Fou von Jessica Hausner

Heute Abend eröffnet Amour Fou von Jessica Hausner die Viennale. Premiere feierte der Film in der Un certain regard Sektion der diesjährigen Filmfestspiele in Cannes. In einer ganz bitteren Ironie erzählt die Regisseurin darin wie Heinrich von Kleist, einer jener großen deutschen Dichter und Denker, ein Romantiker, fataler Romantiker, bestechender Pragmatiker, dieser Mann, eine Partnerin nicht zum Leben sucht, sondern zum Sterben. Nach langer vergeblicher Mühe findet er in der Ehefrau eines Bekannten, Henriette Vogel, eine mögliche Partnerin.

Die deutsche Liebe, so voller Fatalität und Nüchternheit, so voller Vernunft und doch schlägt in ihr ein Herz, ein absurdes Herz. Man denkt an Wir sind Helden (auch wenn man sie nicht hören muss):

Aurélie die Männer mögen dich hier sehr
Schau auf der Straße schaut dir jeder hinterher
Doch du merkst nichts weil sie nicht pfeifen
Und pfeifst du selbst die Flucht ergreifen
Du musst wissen hier ist weniger oft mehr

Ach Aurelie in Deutschland braucht die Liebe Zeit
Hier ist man nach Tagen erst zum ersten Schritt bereit
Die nächsten Wochen wird gesprochen
Sich aufs Gründlichste berochen
Und erst dann trifft man sich irgendwo zu zweit

Amour Fou von jessica Hausner

Selten hat man diese zärtliche Gefühlskälte derart gekonnt, weil komisch, sowohl im Sinn von lustig als auch merkwürdig, gesehen. Dabei füht Hausner mit subtilen und tonalen Spitzen einen absurd-präzisen Kampf gegen die eigene Form und lässt gerade daraus so etwas wie ein filmisches Pendant für die Fatalität der Handlung entstehen. Das Erschreckende scheint, dass diese Art des Ausdrucks nicht nur ein historischer ist (auch wenn daher natürlich die meisten Manierismen der Figuren rühren) sondern ein deutscher. Amour Fou ist-wie man das so macht im österreichischen Kino-ein Tableaufilm. Nur, dass es hier die Bilder einer Zeit sind, die in den gemäldeartigen, entleerten Décors und in den steifen Personenkonstellationen zu Tage tritt. Wie Éric Rohmer in seinem Die Marquise von O… evoziert die Bildsprache eine Zeit und ein Gefühl für die Kunst und Weltsicht jener Zeit. Aber das Echo davon hallt heute besonders stark. Auch ist der Film äußerst vertraut mit dem Werk von von Kleist. Fast zu verspielt zitiert der Film nicht nur Inhalte sondern auch sprachliche Eigenheiten des Autors.

Hausner erzählt von den fehlenden Verbindungen zwischen den Menschen, den Merkwürdigkeiten, die in einem selbst verharren statt herauszuplatzen. Moralische Fragen werden in dieser Welt in ihr Gegenteil verkehrt. Ein Selbstmord als gemeinsame Tat ist dabei einer der großen paradoxen Aspekte des Films. Von Kleist erhöht den Moment größter Einsamkeit zur absoluten Zweisamkeit. Aus diesem Widerspruch zittert sich langsam eine allgemeine Widersprüchlichkeit zwischen Zuneigung und Respekt (diese wird besonders eindrucksvoll in der Dreiecksform des Schlafzimmers von Henriette und ihrem Gatten eingefangen).

Amour Fou von Jessica Hausner

Dabei deformiert die Regisseurin ihre Bilder hin zu einer bizarren Wahrnehmungsverschiebung im Zuseher. Am poetischsten gelingt ihr dies gegen Ende, wenn der großartig aufspielende Stephan Grossmann (schon lange habe ich keinen deutschen Schauspieler mehr derart nuanciert gesehen) als Vogel kurz nachdem er das Drama besichtigt einen Blick auf den See wagt. Die Banalität dieser Einstellung und die Spannungen zwischen inneren und äußeren Welten, die dabei entstehen, erinnern an jene Einstellungen von Bruno Dumont wie etwa am Ende seines La Vie de Jésus, in denen gerade durch die Normalität eine Beunruhigung ins Spiel kommt.

Der romantischte Film über die Lächerlichkeit von Romantik, den ich gesehen habe.

Viennale 2014: Young Mr. Lincoln von John Ford

Young Mr.Lincoln

Mit der Retrospektive für John Ford im Österreichischen Filmmuseum und der Peter Handke geht ins Kino-Schau im Metrokino hat die Viennale 2014 einige Tage vor ihrem offiziellen Beginn am 23.Oktober bereits Fahrt aufgenommen.

Schon in den ersten Bewegungen von Young Mr. Lincoln bemerkt man das verspielte Gewicht mit dem Ford seine weltbekannte Figur heroisiert. Eine Fiktion ist das, die von einer coolen Zärtlichkeit durchdrungen wird, von einer entdramatisierten Narration, die den absolut vorhandenen Pathos in einer Art versteckt, die man wohl selten gesehen hat. Vergleicht man den Film-und das bietet sich ja durchaus an-mit Steven Spielbergs Lincoln so bemerkt man recht schnell welch außerordentlicher Regisseur Ford und welch beschränkter Filmemacher Spielberg ist. Beginnen könnte man bei den Darstellungen und Darstellern von Abraham Lincoln. Gibt der außerordentliche Daniel Day-Lewis jene ikonische Figur bei Spielberg wie ein Theaterdarsteller, als Alleinunterhalter für die, mit seiner Kraft überforderte Kamera so verhält es sich bei Henry Fonda und Ford so, dass die Darstellung immer im Verhältnis zur Kamera entsteht. Als würde ein unsichtbares Gewissen die Bewegungen und moralischen Sätze des jüngeren Lincolns lenken, als würde uns jederzeit klar, dass wir einen bestimmten politischen und persönlichen Blick auf diesen Mann erkennen. Der Abstand zur Kamera oder das prominente Framing des markanten Hutes des späteren Präsidenten in der Bildmitte im Gerichtssaal deuten auf dieses Vorgehen hin. Ford mystifiziert seinen Blick derart und lädt ihn so auf, dass wir uns nie sicher sein können, ob es sich lediglich um eine nostalgische Glorifizierung oder doch um eine ironische Liebeserklärung handelt. Außer in der letzten Szene kommen diese Momente nie mit großen Gesten, sie sind einfach Teil der anekdotischen Vorgehensweise (Drehbuch: Lamar Trotti) des Films. Bei Spielberg werfen die großen Schatten an den Wänden, das überbetonte Kerzenlicht und das strahlende Weiß, das durch die Fenster und Türen dringt (ganz zu schweigen vom Blau, in den der Film getunkt ist) immer schon mit einer Schwere um sich, die einen so lange ob der Bedeutung des Ganzen anschreit, dass man schlicht sein Interesse verliert. Ford benutzt Film hier als Sprache mit der er-der Filmemacher-aus einer bestimmten Perspektive von etwas erzählt während Spielberg technische Mittel benutzt, um etwas aus einer amerikanischen oder gar universellen Perspektive zu vermitteln. Der Effekt ist spiegelverkehrt. In Spielbergs Film hat man das Gefühl, dass er aus einer anderen Zeit stammt und nur im Kontext einer bestimmten Kultur funktioniert, während Ford mit seinem Understatement ein Gewicht und eine Bedeutung ermöglicht, die entweder ehrlich ist oder als politische Propaganda bestens funktioniert. Natürlich bedient er sich sämtlicher Stilmittel, die Spielberg in seiner Betrachtung des Mannes benutzt, aber bei Ford ist man sich immer einer zurückhaltenden Bewunderung bewusst während Spielberg so tut als wäre sein Ansatz die Wahrheit selbst. In beiden Filmen wird viel über Logik und Moral gesprochen, aber während Spielberg nicht anders kann als den Stoff durch einen merkwürdigen Filter zu neutralisieren, lädt ihn Ford mit einem subjektiven Gefühl auf. Spielberg legt in einen äußerst komplexen historischen Vorgang ein äußerst emotionalisiertes und vereinfachtes Drama während Ford in einen einfachen Fall eine äußerst komplexe Wahrnehmung einflößt. Vielleicht ist der Vergleich ein wenig unfair, weil Ford-man sieht es als er am Ende nicht widerstehen kann, Lincoln in ein Gewitter spazieren zu lassen-in diesem Ausschnitt des Lebens noch nicht das Gewicht der Geschichte finden kann wie Spielberg, bei dem es um die amerikanische Frage schlechthin geht.

Young Mr. Lincoln von John Ford

In Young Mr. Lincoln wird einmal beschrieben, dass Lincoln einen Fluss genauso betrachtet wie eine Frau, die er liebt. Genau das gleiche gilt für den Blick von Ford, diese Romantik, diese Einsamkeit. Lincoln ist eine eigene Form des Loners, den beispielsweise John Wayne im selben Jahr für ihn in Stagecoach gab. Zunächst betrachten wir ihn als jungen Mann am Scheideweg, ein Denker, ein Bücherwurm, eine verlorene Seele. Er widmet sich dem Recht und nach einem ungeklärten Mordfall am Rande eines grandios gefilmten Festes mit Holzstammteilungen und Tauziehen schlägt die große Stunde von Lincoln, der die Angeklagten, zwei Brüder von denen nicht klar ist, wer den Mann ermordet haben soll, verteidigt. Ein Mann des Volkes, der mit seiner unbestechlichen Moral und Logik und mit einer gesunden Prise Humor die Leute begeistert. Dieser Humor ist ein entscheidendes Element im Film, weil er eine Distanz schafft, die den Pathos bricht. Außerdem existiert eine Art Traumlogik in den Bildern, dieser romantische Touch mit Sehnsuchtsbildern aufgeladen, die einem immerzu sagen, dass diese Ikone das Kino ist und nichts anderes. Dabei agiert die kinematographische Verklärung aber selbst nie verklärend, sondern macht sich immer als solche bemerkbar. Vielleicht ist der Unterschied zwischen Ford und Spielberg, dass Ford einen romantisch-politischen Film über Geschichte gemacht hat und Spielberg eine romantisch-politische Geschichte mit Film.

Im Gericht trifft in der Figur der Mutter der zwei mutmaßlichen Mörder die juristische Wahrheit auf die emotionale Wahrheit. Genau in diesem Spannungsfeld bewegt sich der Film und vieles in der amerikanischen Geschichte mit dem Lincoln konfrontiert war. Die Mutter verweigert ihre Aussage, weil sie niemals einen ihrer Söhne belasten könnte. Hier vereinen sich das Drama von Film und das Theater des Gerichts. Nur Ford bemüht sich keineswegs um dieses Drama. Ihn interessiert das Verständnis, das Lincoln für diese Frau hat. Die Kamera isoliert die Frau kaum sondern setzt sie immer ins Bild mit dem jungen Lincoln, der aus ihr lernt und damit bekommt der Raum des Gerichtssaals bei Ford eine filmische Komponente, die ihn über jenen Spielraum für ein theatrales Schuss/Gegenschuss Dispositiv hebt. Bei Ford ist das Gericht ein Film: Raum mit Tiefe (man beachte den Richter im Hintergrund), Off-Screen (man bemerke das betrunkene Aufstoßen eines der Jurymitglieder) und mit einem Staging im Raum.

Young Mr.Lincoln mit Henry Fonda

Ein letztes Beispiel für die Regiekraft von John Ford. Nach dem ersten Verhandlungstag befinden wir uns plötzlich in einer trauten Familiensituation der Angeklagten. Kerzenlicht, ein Holztisch. Ford filmt die traurigen und sich liebenden Gesichter kommentarlos. Es ist ein Moment poetischer Schönheit und es ist nicht ganz klar wie es dazu kommen konnte, da es gerade nicht besonders gut aussah für die beiden Brüder vor Gericht. Die Kamera und Montage gewähren uns erst nach einiger Zeit einen Blick auf das Ganze und wir bemerken, dass sich diese Szene hinter Gittern abspielt. Eine Illusion, die gebrochen wurde und dadurch zur vollen Schönheit gelangt.