Filmfest Hamburg Diary: Tag 3: Diary

Was ich gestern sehen konnte: Das beste Kino des Festivals/Poeten mit rosa Regenschirmen, die ich nicht sehen konnte

Gestern zog es mich zur Mittagsstunde in Yoman von David Perlov. Der Filmemacher gilt neben Jonas Mekas als einer der Pioniere des sogenannten Tagebuchfilms. Er filmte sein Leben von 1973 und 1983 in sechs, ab einem gewissen Zeitpunkt von Channel 4 produzierten, Filmen. Das Filmfest Hamburg entschied sich dafür den Film in Anwesenheit von Perlovs Tochter Yael, die als Cutterin an der Entstehung des Films beteiligt war, alle Teile, die jeweils eine knappe Stunde lang sind, am Stück zu zeigen. Ich konnte mich also auf einen Tag mit Perlov einstellen. Doch zunächst musste ich das Kino finden, denn der Film lief im B-Movie, einem Kino, das in den letzten beiden Jahren nicht Teil des Filmfests war.

Und ich war begeistert, als ich es gefunden hatte. Dort hat man das Gefühl, dass man etwas finden kann. Ich finde das unglaublich wichtig. In den meisten Kinos hat man das Gefühl, dass einem etwas präsentiert wird, in diesem Kino hat man das Gefühl, dass etwas dort lebt, was darauf wartet, entdeckt zu werden. Ich habe ein paar Bilder mit dem Handy gemacht:

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Die Decke ist niedrig wie in einem Auto, die Wand wellt sich wie in einem Film von Tsai Ming-liang und das Licht wird vom Staub der Zeit umrahmt und zu einem Echo der Dunkelheit, sobald die Leinwand ihren ersten Hauch atmet. Der Boden ist sehr abschüssig, was ich schnell bemerkte, als ich eine vor mir auf demselbigen platzierte Flasche unter lautem Grollen in den Abgrund der Reihen vor mir beförderte.

Der Film selbst stürzte mich dann in eine derart tiefe Bewunderung, dass mir eigentlich wie gestern Worte fehlen. Was ist das für ein Phänomen mit den fehlenden Worten? Eine Schreibkrise? Wohl eher eine Sinnkrise. Ich beginne hier in Hamburg meine eigene Wahrnehmung von Dingen zu hinterfragen. Der Umgang mit Zeit, Bildern und Menschen fühlt sich falsch an. Ein Film wie Yoman macht mich ziemlich deutlich darauf aufmerksam. Was mich so stört, ist unter anderem dieses Tempo, mit dem Filme an mir vorbeiziehen. Dieser ungesunde Drang nach „mehr sehen“, der sich wie ein Fieber auf einem solchen Festival bemerkbar macht. Ich mag die Filme sehr gerne, aber nicht mein Herangehen an sie. Vielleicht sollte ich aber besser über die Filme schreiben, als über mein Leiden mit ihnen.

Zumal Yoman ein Film ist, der mir Alternativen offenbart. Es ist eine grandiose Studie des Lebens, des alltäglichen, eines Familienlebens. Es ist ein Film so voller Liebe und subtiler Verzweiflung, es ist ein Film voller Leben (das klingt wie eine Wiederholung, ist es aber nicht). Zugleich ist es ein Film über das Kino, die Wahrnehmung. Wenn man diese Dinge kombiniert, dann ist man am Herz: Das Leben und Kino/Kino und das Leben. Erstaunlicherweise gelingt es Perlov diesen Käfig, den er durch sein Fenster betrachtet, in eine unglaubliche Freiheit zu verwandeln. Eine Freiheit, die sich nichts diktieren lässt und dennoch lebt. Er zeigt, dass das Kino nicht nur ein Besuch in der Dunkelheit ist, sondern eine Wahrnehmung des Lebens…die Fähigkeit hinzusehen und zuzuhören..einmal sagt er, dass ihn nie Geschichten interessieren, sondern nur kurze Augenblicke, Gesten, Blicke. Ich kenne dieses Gefühl.

Nach dem Film geht es mir ein wenig wie gestern. Ich verliere meine Lust auf das Festival, meine Lust auf einen Kinobesuch. Ich fahre mit dem Fahrrad zurück zum Hotel, die Abende sind kalt in Hamburg. Im Park sehe ich einen Mann mit grauer Winterjacke und Schal. Er geht verwirrt und doch zielstrebig in verschiedene Richtung. Sein Blick ist immer leicht nach oben gerichtet, als könnte er so über die Hecken sehen. Ich beobachte ihn und vermute, dass er jemanden sucht. Ein Kind vielleicht. Ich bemerke, dass er an seinem linken Arm einen schwarzen Armreif trägt. Erst jetzt blicke ich in sein Gesicht. Er hat spitze, dicke Backen und glasige Augen, die eine außerweltliche Distanz ausstrahlen, er wirkt wie ein Mann, der Geschichten erzählen kann, aber selbst nur überleben will. Sein Schal ist schlampig um seinen Hals gebunden. Er rückt ihn immer wieder mit hektischen Gesten zurecht, wenn er die Kälte spürt. Ich fahre weiter.

Filmfest Hamburg Diary: Tag 2: Schönheit

Was ich heute gesehen habe: Folien, an denen Wasser ablief, die als Filter vor die Kamera gehalten wurden/Seidentücher, die als Filter vor die Kamera gehalten wurden/eine Möglichkeit, den Tod zu sehen

Gestern stand nach dem großartigen Samuray-S von Raúl Perrone und dem argentinischen Landschaftsporno To the Center of the Earth endlich der heißersehnte The Assassin von Hou Hsiao-Hsien auf dem Programm. Ich werde dazu in den kommenden Tagen eine längere Besprechung erarbeiten.

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Ich habe Angst vor dieser Besprechung, denn was kann man sagen, wenn einen Bilder tatsächlich sprachlos machen? Man reist an, um einen Film zu sehen, vielleicht ist man mit einem Notizbuch bewaffnet (ich tendenziell eher nicht, weil ich an ein Verhältnis von Film und Erinnerung glaube), man weiß meist schon ein paar Dinge über die Filme, da es sich bei einem Festival wie Hamburg ja größtenteils nicht um Weltpremieren handelt (bei Samurays-S, der völlig unverständlich von Locarno abgelehnt wurde, jedoch schon). Im Fall von Hou Hsiao-hsien kennt man das Gesamtwerk und geht mit einer gewissen Erwartungshaltung, die in meinem Fall weniger mit Freude als mit einem Begehren zusammenhängt. Das Kino war rappelvoll, fast unerträglich warm. Es geht mit einigen Minuten Verzögerung los. Und dann kann ich mich nicht mehr daran erinnern, geatmet zu haben. Ich bin niemand, der völlig in einem Film versinkt, das war auch dieses Mal nicht der Fall. (Es war auch schwer, denn die Frau neben mir öffnete im 5-Minuten-Takt ihre bis zum Anschlag mit Kohlensäure gefüllte Flasche unter einem penetranten Zischen, das in der Lautstärke nur von ihren Schlucken und einer anderen Frau mit der tödlichen Kombination aus klackerndem Armreif und Fächer überboten wurde.) Aber ich konnte die Schönheit von jedem dieser Bilder nicht in meinen Kopf zu einer Ordnung bringen, ich war überfordert vor lauter Anmut. Nun ist es so, dass auch Samuray-S schon diese Augenblicke hatte, aber bei Perrone ging es weniger um Perfektion als Intimität und einer Angst vor Zerfall, was nicht bedeutet, dass der Film in seinem Aufeinandertreffen aus Stummfilmästhetik und digitalen Technologien von einem anderen Planeten einzig emotional wahrnehmbar wäre. Bei Hou war jedes Bild von einer solchen Kraft, dass ich nicht mehr wusste auf welcher Seite der Leinwand ich war. Wenn es gestern bei The Treasure ein wenig um Illusionen und Fiktionen ging, dann habe ich heute vergessen, wie man das Kino kritisiert, ich habe gelernt, wieder an die Magie zu glauben.

Nun habe ich aber in mir diesen Drang, das in Worte zu fassen. Ich finde das ehrlichgesagt ziemlich untragbar und oft bin ich mir bewusst, dass meine Worte weder den Filmen noch meiner Wahrnehmung wirklich genügen können. Ich erwische mich in Diskussionen nach Filmen in einer großen Unzufriedenheit. Manchmal würde ich lieber alleine durch die Nacht spazieren, sodass der Film wie ein Echo in der Dunkelheit meine Schritte überschwemmt. Aber etwas in mir sprudelt, wie das Getränk meiner Sitznachbarin, ein naiver, vielleicht idealistischer Gedanke von einem Kampf fürs Kino, den ich paradoxerweise nur auf zwei Arten führen kann: Mit Film und mit Worten. Vielleicht ist es auch nur die Hoffnung, etwas zu verstehen, zu berühren. Denn, wenn man mit dieser Schönheit konfrontiert wird, dann ja auch gleichzeitig mit der Tatsache, dass man sie nicht berühren kann, weil sie einen selbst berührt. Wenn man also etwas sieht wie The Assassin, dann muss man darüber schreiben und es ist gleichzeitig eine Katastrophe, dass man darüber schreiben muss. Ich werde es dennoch tun.

Filmfest Hamburg Diary: Wie man ein Pferd mit den Händen befriedigt

Was ich heute gesehen habe:Wie man ein Pferd mit den Händen befriedigt/Wie das Surface einer digitalen Wünschelrute aussieht/Wie man ein Konzentrationslager in ein arrogantes Sensorium verwandelt

Bei meiner Ankunft in Hamburg lichtete sich der Nebel und ich musste endgültig feststellen, womit ich schon gerechnet hatte: Ich bin in Deutschland. Was das bedeutet, zeigte sich bei der Ausgabe der Tickets. Dort sagte man mir mit betont freundlichem, freundlich antrainierten, freundlich durchgehenden Ton, dass man, wenn man einmal Tickets für einen Tag reserviert habe, keine Möglichkeiten mehr habe, diese Reservierungen zu ändern oder gar neue zu machen. Von weiter hinten ertönte eine Stimme aus dem gewohnt heimeligen, an ein Gewächshaus (Filme sollen wachsen? Wir wachsen an und mit Filmen?) erinnerndes Festivalzelt: „Man muss eben planen.“, ich sage nichts, da ich Deutscher bin und genau geplant habe, aber der Mann neben mir hackt nochmal nach. Er fragt: „Aber warum geht das nicht?“, die Antwort: „Weil Sie dann schon ein Loch für diesen Tag auf ihrer Karte haben.“.

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Wenn man von Löchern spricht, dann ist auch Corneliu Porumboiu nicht fern, dessen Comoara mein zweiter Film auf dem Festival war. Porumboiu wird wieder etwas narrativer. Es geht – wie so oft, aber meist unbemerkt bei ihm – um eine Vaterfigur. Es geht um die Kraft der Illusion (die Liebe als Illusion, das Lieben von Illusionen und die daraus folgende Desillusionierung, very clever, aber das ist Porumboiu, come on. In seiner letzten Einstellung dreht er alles und man könnte alleine darüber Stunden diskutieren) und natürlich die Absurdität an sich. Porumboiu geht hier weitaus weniger formale Wagnisse ein wie in seinen beiden vorherigen Filmen Când se lasă seara peste București sau metabolism und Al doilea joc, aber sein Wagnis ist narrativer Natur, weil er sich im Bereich der Märchen aufhält, der Fiktionen…

Puh, das bringt mich irgendwie zum ersten Film des Filmfests Hamburg für mich: Saul fia von László Nemes. Ein polarisierender Film, ausgezeichnet von einer blinden Jury in Cannes mit dem Grand Prix derselbigen. Darin folgt man in einer aufgesetzten, extremen Nähe Saul Ausländer, einem jüdischen Mitglied eines Sonderkommandos in einem Konzentrationslager. Man ist immer in Bewegung und bekommt kaum Luft.  Es geht Nemes scheinbar darum, ein solches Lager fühlbar zu machen. Oft erleben wir die Massentötungen in einem unbequemen Off, wir hören beständig den Terror des Lagers, der sich solange als Realismus ausgibt, bis wir erfahren, dass er Effekt war, als er verschwindet, um andere Emotionen zu ermöglichen. Nein! Ich erinnere mich an Carl Theodor Dreyer, der gesagt hat, dass man verstehen muss, dass ein guter Filmemacher hört, was es in der Welt gibt, nicht was er gerade braucht. Und auch im Bild unterlaufen dem selbstsicheren Nemes einige Unsicherheiten in diesem arroganten Poserfilm. Das Problem ist, dass Unsicherheiten bei einer solchen Thematik schnell zum ethischen Verbrechen werden. Wiederholt verharrt die Kamera in möglichst spektakulären Einstellungen, bei denen Leichen im Bildhintergrund durchs Bild gefahren werden und das Off jetzt gar nicht mehr so Off ist, sondern nur so tut…und noch offensichtlicher sind die plötzlichen Point-of-Views, die Nemes hier einbaut, Gegenschüsse auf das Elend. Der erste Blick ist dabei natürlich bewusst gesetzt, er geht auf den Sohn, Sauls Sohn, ein Titel mit mehr Bedeutungsbenen als es visuelle Einfälle in diesem Film gibt, der für seine visuelle Innovation gelobt wird. Es ist ein Konzeptfilm, der nicht an seinem Konzept interessiert ist, sondern am Effekt dieses Konzepts. Narrativ geht es dabei um eine Würde, die größer ist als das Überleben und die sich in einem untragbaren Lächeln am Ende des Films offenbart. Es ist ein untragbares Lächeln, weil es eine Verklärung ist. Genau wie vieles andere im Film sich nach fünf Minuten der visuellen Überrumpellung in ein erschreckendes Nichts auflöst. Es ist ein ganz ähnlicher Film wie der Kurzfilm With a little Patience von Nemes. Hier ist ein Filmemacher, der einer coolen Idee bis zur Schmerzgrenze folgt, statt sich um seinen Film zu kümmern. Was bleibt ist ein Film, in dem fast gar nichts passiert, kein Ton, kein Bild, kein Blick spielt eine Rolle. Alles schreit mich an, alles fordert mich auf, über die Idee nachzudenken, nichts fordert mich auf hinzusehen.

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Weiteres:

  • Im Programmheft geblättert…amüsiert: Fred Wisemans In Jackson Heights wird uns von fritz-kola präsentiert und natürlich – wie fast alle Filme – nur thematisch beschrieben. Danke fritz-kola dafür.
  • Beim Frühstück begegne ich Koreanern, die in kompletten HSV-Trainingsanzügen auftreten. Ich versuche ihnen zu kommunizieren, dass sie nach London fahren müssen. Sie verstehen mich nicht.
  • Man sagt mir, dass ich am besten in jede der drei Vorstellungen von Hou Hsiao-hsiens The Assassin gehe. Heute ist die erste.
  • Am Vorabend gab es auch noch Boi Neon von Gabriel Mascaro, der mir letztes Jahr mit August Winds sehr gut gefallen hat. Auch er ist in diesem Film etwas narrativer unterwegs und lange Zeit macht sein Film richtig Freude. Besonders sein Gefühl für Farben, Framing und Bewegungen ist auf einem hohen Niveau. Allerdings forciert er ein Genderissue anhand unterschiedlicher Personen derart deutlich, dass es selbst die Jury in Cannes gesehen hätte, wäre er dort gelaufen. Was wir bekommen ist ein Film, zu dem eigentlich nur der Titel The Lusty Men passen würde…Rodeo und Sex, Tiere und Menschen, Mann und Frau, alles verwischt hier zu einem surrealistischen Sog, der aus einer dokumentarischen Beobachtung entsteht. Mascaro ist nach dem Film auch da und erzählt so einiges über seinen – auch seiner Meinung nach gelungenen, einzigartigen – Film. Heute war mit Sicherheit nicht der Tag, der an sich zweifelnden Filmemacher…jedenfalls musste er auch Hand an einem Pferd anlagen, damit es der Schauspieler auch tut. Fragwürdig jedoch dann sein Schwenk in selbiger Szene, der den Orgasmus des Pferdes ins Off verlegt. Darüber muss man aber nicht wirklich diskutieren…