Ich möchte heute über Kentucker Audley sprechen. Kentucker wurde ob seines Namens in der Schule wahrscheinlich oft gehänselt. Heute ist er Schnurrbartträger und Schauspieler. In dieser Doppelfunktion spielt er die Hauptrolle in Charles Poekels Debutlangfilm Christmas Again, der hier in Locarno im Concorso Cineasti del Presente, und erstaunlicherweise nicht in Sundance, seine Weltpremiere feierte. Mein kleiner Verweis auf Sundance lässt erahnen, dass sich der Film sehr gut in die amerikanische Indie-Szene einordnen lässt. Das bedeutet in der Regel, dass ein Film zwar (relativ) unabhängig produziert ist (zumindest für amerikanische Verhältnisse), aber trotzdem die Narration und der Unterhaltungswert Formfragen übergeordnet sind. Die letzte Woche habe ich damit verbracht, mich über fehlende Kühnheit und Innovation in der Inszenierung zu beschweren und mehr Willen zur Kunst zu fordern, ein Wille, der auch in Christmas Again nicht erkennbar ist. Im Falle dieses speziellen Films, kommt jedoch der „Faktor Ford“ ins Spiel – man könnte ihn auch nach Chaplin oder Ozu benennen. Diese Regisseure haben auch Kunst geschaffen, ohne dass es ihr ausgesprochenes Ziel war, indem sie simpel und organisches Geschichtenerzählen inhaltlich und formell perfektioniert haben. Damit möchte ich nicht sagen, dass Charles Poekel ein neuer John Ford ist, aber zumindest, dass er es schafft über achtzig Minuten eine Geschichte zu erzählen, die visuell so aufbereitet ist, dass man Nähe, Emotion und Schönheit spürt. Da ist nichts unnötig „heavy-handed“, da wird nicht übermäßig mit Licht oder Musik getrickst, „Christmas Again“ ist ein schöner und liebenswerter (Weihnachts-) Film. Punkt.
Vom Zweitwettbewerb zum Hauptwettbewerb. Auch hier gab’s wieder Neues für mich zu sehen und zwar drei Filme, die sich kontinuierlich steigerten. Begonnen hat der Tag mit Paul Vecchialis Dostojewski-Adaption Nuits Blanches sur la Jetée, einem dialoglastigen Kammerspiel, in dem sich Nacht für Nacht zwei verlorene Seelen am Dock einer französischen Küstenstadt treffen für das ich um neun Uhr morgens noch nicht annähernd gewappnet war. Vielleicht überforderte mich das stetige Untertitellesen, vielleicht ist der Film aber ganz einfach auch nicht gut, denn als ich nach einiger Zeit einschlief und ein paar Minuten später wieder aufwachte, schien die Situation im Film unverändert (das heißt, es standen sich noch immer die beiden Hauptcharaktere im Dunkeln gegenüber und sprachen in gekünstelter Sprache über vergangene Liebe und die Wirren des Lebens). Zugegeben, der Film ist ganz nett anzusehen, macht es sich mit seinen (wenigen) Motiven aber auch nicht allzu schwer (Ein Hintergrund aus Hafenlichtern in Unschärfe macht sich ganz einfach gut). Alles in allem, war Nuits Blanches sur la Jetée aber der bisher schwächste Film im Wettbewerb. Nur um das klarzustellen, ich kritisiere den Film nicht für seine Theatralität, sondern dafür, dass er genau das, was einen theatralen Film auszeichnen kann, nicht macht: Die Dialoge sind zwar theatralisch geschrieben, aber nicht von besonders hoher Qualität, die Begrenztheit des Raums nutzt der Film ebenso wenig, wie die Möglichkeit mithilfe der Kamera die bühnenartige Anordnung aufzulösen (der Film findet vor allem in statischen Einstellungen statt).
A Blast, ein griechischer Film, war da schon eine Steigerung. Wie in Fidelio, l’odyssée d’Alice geht es hierin um eine Frau und die Seefahrt. In A Blast ist es allerdings die Frau, die daheim zurückbleibt, und ihr Mann der Kapitän eines Öltankers. Aber dieser Umstand ist, wie viele biographische Details im Film, irrelevant für den Verlauf. Elliptisch erzählt Regisseur Syllas Tzoumerkas von der selbstzerstörerischen Ader einer Frau, einer Familie und eines ganzen Staates. Gekonnt weiß Tzoumerkas Mikro- und Makroebene zu vermengen und gegeneinander auszuspielen, auch wenn er sich, wie mir vorkommt, einige Male in seiner eigenen Raffinesse verliert.
Als dritter Wettbewerbsfilm des Tages stand The Iron Ministry am Programm. Ein Dokumentarfilm über eine bzw. mehrere Zugfahrten in China vom US-Amerikaner J.P. Sniadecki. Sniadecki lässt die Bilder und die Zuginsassen sprechen, gibt keinen Kommentar, stellt nur selten Fragen. Wir sehen überfüllte Gänge, verschiedene Zugklassen, das Bordpersonal und allerlei exotische (für das westliche Auge) Kuriositäten. Der Film wird dabei allerdings nie marktschreierisch oder gar rassistisch, sondern zeigt (zumindest mir) neue Seiten dieses faszinierenden Landes. So filmt Sniadecki Chinesen der Mittelschicht (?), die offen und unerwartet selbstreflexiv über die Lage ihres Landes und der Kommunistischen Partei debattieren, über zu niedrige Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen.
Die Menschen verließen hier in großer Menge den Saal, was bei so einem Film allerdings zu erwarten war. Dieser Umstand ermöglicht es mir aber, noch ein Wort über den Besucherzuspruch zu verlieren. Der ist mittlerweile wieder etwas zurückgegangen, nachdem es am Ende letzter bzw. Anfang dieser Woche teilweise schwierig war Plätze zu ergattern, und man, gerade in den kleineren Kinos, beträchtliche Wartezeiten in Kauf nehmen musste. Die zweite Hälfte des Festivals war aber generell besser besucht als die erste, nun an den letzten Tagen, machen sich jedoch einige frühzeitige Abreisen bemerkbar. Über das hohe Durchschnittsalter des Publikums habe ich bereits geschrieben – in dieser Hinsicht hat sich nichts geändert.
Der Semaine de la Critique habe ich auch einen Besuch abgestattet, und ich bedaure, dass ich nicht mehr als nur diesen einen Film aus der Reihe sehen konnte, und dass es sich dabei um The Stranger handelte (15 Corners of the World und Electroboy klangen verlockender). The Stranger ist, wie alle sieben Filme der Semaine, ein Dokumentarfilm und behandelt, rund fünfundzwanzig Jahre nach seinem Tod, die letzten Jahre von Neil MacGregor, einem englischen Designer, der sich scheinbar grundlos auf eine irische Insel abgesetzt hatte und dort ohne Strom, fließendem Wasser und Heizung lebte. Der Film wurde leider Opfer seiner sehr speziellen Materie, dieser Person, von der ich noch immer nicht weiß, ob sie überhaupt bekannt oder berühmt war, an der ich nie Interesse, geschweige denn Sympathie, entwickeln konnte. Formal ist der Film brav gearbeitet, kombiniert Reenactments, Interviews, Archivfotos und beeindruckende Aufnahmen der irischen Küstenlandschaft, aber er schaffte es schlussendlich nie mich zu fesseln – beim restlichen Publikum kam der Film allerdings gut an, weiß womöglich heißt, dass es tatsächlich die Thematik war, die den Film für mich unzugänglich machte.
Sils Maria von Olivier Assayas, den ich eigentlich sehr schätze, möchte ich einfach nur möglichst schnell wieder vergessen. Seit der Premiere in Cannes wartete ich sehnsüchtig auf den Film und dann das: Kein Sex, keine Drogen, kein Rock’n’Roll, keine Revolution – das ist kein Assayas-Film.
PS: Die Kombination aus wenig Schlaf, Herumhetzen und angestrengtem Filmschauen hinterlässt seine Spuren. Ich bin mittlerweile froh, dass das Festival bald aus ist.