Text: Bianca Jasmina Rauch
Donnerstag, 9. Juli 1930. Ein Foto: Die Wenceslaus-Grube im niederschlesischen Hausdorf als beispielhafter Unglücksort eines folgenschweren Kohlensäureausbruchs. Hier wurde die Suche nach Kohle besonders verhängnisvoll. Die menschengemachten Einschnitte in der teils beackerten, teils bewaldeten Hügelebene verbergen die unter ihr Begrabenen. Nestlers Stimme weist den Fotos aus dem Archiv des schwedischen Fernsehens ihre Bedeutung zu, während sie zugleich für sich selbst sprechen. Das nächste Bild macht das Ereignis augenscheinlich: Rettungswägen bevölkern den Eingang zu einem Grubenschacht, dem sich Schaulustige mit versteinerten Mienen zuwenden, die Hände vielfach in den Hosentaschen: Sie warten. Fahrräder lehnen an Gerüsten, deren wackeliger Anblick wie eine zu spät kommende Warnung erscheint. Die Rettungskräfte sind die einzige Verbindung zwischen denen, die auf Hilfe warten und jenen, die draußen auf sie warten. Die Wartenden müssen sich dem eigenen Unvermögen einzugreifen stellen. Sie warten darauf, dass Lebende geborgen werden, um dem, was Leben genannt wird, noch einmal zu begegnen. Es sind flüchtige Momente, auf Material gebannt. Mit dem Zoom sucht Nestler nach Gesten, Gesichtern, nach der Schrämmaschine – dem metallenen Industrieungeheuer. In Nestlers Film dehnen sich die Augenblicke, um repräsentativ für ein Ereignis zu werden, das eigentlich im Verborgenen stattfand. Die in die Kamera geworfenen Blicke quittieren deren Präsenz als fehl an jeglichem der Plätze, die sie im Umkreis des Grubeneingangs einnehmen könnte. Das Spektakel hat sie hierhergeführt, zu berichten ist meist nur wert, was schockiert, was das Leben der einen nimmt und der anderen prägt. Die gefährlichen Arbeitsbedingungen, sie hätten davor vor aller Augen sein müssen, nicht jetzt, wo es schon zu spät ist. Schönbergs Begleitmusik zu einer Lichtspielszene op. 34 verleiht der ohnehin schon tragischen Begebenheit einen Nachdruck, der wie eine Empörung über den Fatalismus industrieller Arbeit und dem damit einhergehendem Streben nach wirtschaftlichem Wachstum klingt. Einhunderteinundfünfzig Opfer des Wachstumsstrebens.
Das Warten geht mit Einleitung zu Arnold Schoenbergs Begleitmusik zu einer Lichtspielscene von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet aus dem Jahr 1972 nicht nur über seine Tonebene eine Verbindung ein. Hierin rezitiert Peter Nestler, selbst vor der Kamera, Bertolt Brecht: „Das Monopol auf die Fabriken, Gruben, Ländereien schafft überall barbarische Zustände.“ Diese Worte reichen in Das Warten hinein und lassen die Dringlichkeit nach Widerstand begreifen. Die Wartenden werden zu Handelnden. Die Kommunisten rufen zu Demonstrationen auf. „Kumpels heute heraus: Demonstriert gegen Mordsystem“ heißt es auf einem Banner, das zwei Männer halten, eine Hand in der Hosentasche. Eine Geste des Wartens mitten im Aufbegehren. Wie lange kann man auf Veränderung warten, wenn man sie herbeizuführen versucht? Die Besucher*innen des abgelichteten Begräbnisses halten die Hände vor dem Körper: ein Zeichen der Verabschiedung, ein Gestus, der das Ende des Wartens für diejenigen markiert, die nicht mehr handeln können. Die Toten des Krieges und der Produktionsstätten liegen in blumengeschmückten Sargreihen in der Erde. Ihr Ende bildet auch das Ende des Films. Die Schar an Zylindern blickt auf die lange Reihe an Särgen herab. Selbst der Tod schafft die Klassenverhältnisse nicht ab. Die Kosten für das Begräbnis übernimmt die Gewerkschaft. Als Ruhestätte wird diese Hügelebene wohl nur so lange dienen, als sie nicht beackert und nach Verwertbarem durchsucht wird.