He only gets to sing “My Way“: Annette von Leos Carax

Was ist nur aus der banalen Wirklichkeit geworden? Besetzt von inneren Dämonen, freudianischen Phantasiegebilden und medienkritischen Spiegelbildern hat sie sich zusammen mit der für sie erfundenen Struktur (ein Anfang, eine Mitte, eine Ende, nicht unbedingt in dieser Reihenfolge) aus dem Kino verzogen. Leos Carax blüht in dieser Umgebung auf, denn sein Kino ist eines der Verinnerlichung. Bilder bei Carax verweisen für gewöhnlich auf das Innenleben der Figuren, nicht auf einen Bezug zur äußeren Wirklichkeit. Schnitte und Überblendungen folgen weniger einer kausalen Logik als einer emotionalen und bewusst widersprüchlichen Ergriffenheit.

In seinem neuen Film, dem von Ron und Russell Mael (Sparks) musikalisch geschriebenen Annette treibt es der zu Unrecht mit großen Filmemachern wie Jean Vigo verglichene Carax endgültig zu weit und zwar, weil er nicht mehr die reinen Bewegungen, das große Theater, das sterbende Kino und die Lust am Sehen ins Zentrum seiner Selbsterkundung rückt, sondern ein in sich selbst erstarrtes, seltsam selbstbezogenes Potpourri der menschlichen Grausamkeiten. Am ehesten vergleichbar ist Annette wohl mit Pola X, der Melville-Verfilmung von Carax, allerdings haben die Blicke in den Abgrund in letzterem deutlich weniger gestellt gewirkt, als im neuen Amazon-Hollywood-Setting, das sich wenigstens nicht allzu sehr auf den sichtbaren production value auswirkt.

Der nur jenseits der Bühne lustige Bad-Boy-Comedian Henry McHenry (gespielt von Adam Driver, der sich nie so bewegen kann wie Denis Lavant, der sonst bei Carax den Rahmen sprengt, aber bei dem jede Bewegung so wirkt, als könnte er sich so bewegen wie Denis Lavant) und die noble Opernsängerin Ann Defrasnoux (gespielt von Marion Cotillard, die sich jeder Szene nähert wie einem verletzten Raubtier) verlieben sich und finden sich alsbald in einer destruktiven Abwärtsspirale, die vom Opern/Musical-Film lediglich mit Ahnungen, angestrengten News-Einblendungen und bedeutungsschweren Überblendungen (die vielerorts gefeierte Kameraarbeit von Caroline Champetier verpasst es trotz virtuoser Mehrfachbelichtungen auch in Annette die Körperlichkeit greifbar zu machen, die Carax in seiner Zusammenarbeit mit Jean-Yves Escoffier auszeichnete) erzählt werden. Was eigentlich passiert, interessiert Carax nicht.

Irgendwann kommt es dann zur Katastrophe oder Katastrophen (Verbrechen) irgendwo zwischen Pinocchio (die gemeinsame, titelgebende Tochter des Paares: eine Holzpuppe), Beauty and the Beast, Edgar Allen Poe, Ōshima Nagisa und der persönlichen Lebensgeschichte des Filmemachers, der sich gleich zu Beginn des Films mit Nastya Golubeva Carax zeigt, seiner gemeinsamen Tochter mit der fantastischen Schauspielerin Jekaterina Golubeva, die sich vor zehn Jahren das Leben nahm. Dass Adam Driver mehr und mehr aussieht wie Leos Carax ist nur der Gipfel der narzisstischen Selbstanalyse, die hier jederzeit von zig Ebenen verdeckt wird, aber doch offen genug liegt, um stets zu wissen, dass es hier um etwas irgendwie ernstes geht, so bizarr einem alles erscheinen mag. Dort wo manche das Kino wählen, um mehr oder überhaupt zu sehen, wählt Carax es, um sich dahinter zu verstecken während er sich entblößt. Das ist natürlich mehr als legitim, es ist nur schade, dass er sich nur selbst zu verstecken scheint und nicht wirkliche Geheimnisse oder Wahrheiten oder Lügen.

Zwischen Liebe und Kunst, Stardasein und Vaterschaft wartet also letztlich nur ein riesiges, zweifelndes, in sich aufgesplittertes Ich. Dass eine Zusammenarbeit von Sparks und Carax manch Merkwürdigkeit bereithalten würde, war zu erwarten. Der Umgang mit Musik in Annette bereitet durchaus Freude, zum Beispiel, wenn die Krankenschwestern während der Geburt „Breathe In, Breathe Out, Push“ singen oder wenn der „Accompanist“ (Simon Helberg) den Zuschauern seine Gefühle zu Ann gesteht, während er dirigiert. Die fehlende Balance des Seins ist nicht nur musikalisch Thema dieses Kinos der Aufsplitterung. Wenn die Figuren dutzende Male wiederholen, was sie fühlen, verformt sich das Gefühl selbst.

Allgemein verwandelt sich alles in diesem Film: Gefühle, Menschen, Puppen, Musik. Jeder Blick ist nur Ausdruck einer Psychose, nichts registriert mehr die Welt, um die Konflikte herum. Dadurch bleibt alles selbstbezogen, angedeutet, metaphorisch. Wirkliche Bilder aus dem Unterbewusstsein gibt es trotz der psychologischen Überfrachtung nicht, vielmehr verteilt Carax stumpfe Einladungen zur Interpretation. Doch was auch immer dieses oder jenes bedeuten mag, warum auch immer eine Holzpuppe, ein Mond, zwei Ertrinkende, die Heimsuchungen, #metoo, der Hyperbowl, die seltsame Gerichtssequenz, das alles bleibt seltsam egal, weil die Figuren und Konflikte im luftleeren Raum agieren, ohne erfundene oder wirkliche Wirklichkeit und ohne dass sie sich jenseits ihres inneren Moralkompasses behaupten müssten.

Auch als Studie des Publikums (ein Thema, dass Sparks und Carax teilen) liefert der Film in seinen Meta-Diskursen keine Erkenntnisse, nur Effekte. Laugh, Laugh, Laugh. Ähnliches gilt für das verkrampfte Bemühen, am Puls der Zeit zu schlagen, wahrscheinlich eine Spätfolge des Diskurses rund um Holy Motors. Was bleiben könnte, sind einige stark gefilmte Momente in mit der Kinogeschichte flirtenden Einstellungen und eine schöne Rahmung, der Mitarbeiter und Cast gemeinsam singend den Beginn und das Ende des Films ankündigen lässt.

Nadav Lapids oder Radu Judes eruptive, politische Prozesshaftigkeit, Leos Caraxs egomanische Innerlichkeit, Hong Sang-soos kontinuierliche Selbststudien, Angela Schanelecs elliptische Trauerarbeit, das Festivalkino wird derzeit bevölkert von bewusst unfertig erscheinenden Filmen; die sich selbst anödende Steifheit klassizistischer Ansätze wankt, sollte sich aber retten können, wenn die Poesie des Nicht-zu-Ende-Erzählens weiter unaufhaltsam in Richtung Konvention schlittert und man das Gefühl nicht abschütteln kann, dass manche Ideen schlicht ein bisschen mehr Zeit oder Arbeit gebraucht hätten. Der individuelle Ausdruck im Kino hat nie so stark berührt wie ein Gesicht oder ein perfekt gerahmtes Bild.