Driven through the day by sound – On Krešimir Golik’s Od 3 do 22

Agnès Varda’s Cléo de 5 à 7 follows a woman in real-time, showing her psychological transformation as she faces the possibility of having cancer. One and a half hours of Cléo’s shifting ideas about herself, reflections on her past life, flowing self-interpretations, relentless outbursts of monologues, heated dialogues, and highly expressive images accompany the process. 

Od 3 do 22 also follows a woman, but unlike Varda’s iconic work, it is not the fictionalization of a life-changing moment, but a documentation of a day in the life of Smilja Glavaš, a young mother with a determined face and a worker at the Pobjeda textile factory in Zagreb.

Unlike in Varda’s work, Od 3 do 22 does not show the protagonist’s day in real-time, but condenses 19 hours into a little more than 10 minutes. Yet similarly to Varda, Golik shows time as it is perceived by the female figure. In this case, time is not filled with self-interpretation and self-reflection, it is measured by work, leaving no space for a personality to evolve. Time passes by in the repetitive nature of the worker’s actions.

She is awakened by the alarm clock and from that moment, noises dictate her rhythm. At home, it is her child’s murmur that calls Smilja to work, outside it is the buzz of the city, while the clatter and whistle of factory machinery chase her through her hours of labour. Back home the work continues, the child’s sounds are only in the background of chopping, peeling and cooking, washing, flushing, and drying. As the day ends, the ticking of the clock returns and becomes another sound in the incessant chain of noises. 

A whole day goes by without hearing Smilja talk, and the lack of speech is not a stylized exaggeration. There is no place for talking in her day, it consists exclusively of work. The monotony of her routine is set to the tempo of a metronome; in order to keep up with it, her movements need to become automatic and discussion or self-expression would merely be a distraction. 

Each of her steps has its place in the day and her gestures never last longer than possible. She is not simply in a hurry, but every movement has to fit in a tight schedule and therefore she has to be constantly conscious of time. Each movement of her body is tightly calibrated, she can never allow herself to ponder life; she always has to be alert. When she sits on the bus, she doesn’t seem to observe the city or to contemplate, but rather looks forward to the following moment. Each second is about the next one, each thought of hers is about the next station of the day. 

Motherhood is often associated with a similar kind of awareness, but what we see in Smilja’s case is rather the enforced alertness of the worker. Her role as a mother is completely subordinated to that of a working woman, her relationship to the child is about taking care of his needs, rather than giving him attention. She wakes him up, gets him dressed, feeds him, and locks him in the dark house alone while she goes to work. From a middle-class perspective in the age of parenting books and baby-monitors, such a practice appears like an act of shocking negligence.

It was probably even more extreme to see, one day after watching Pedro Almodóvar’s Madres paralelas, a film that shows motherhood and, above all, womanhood as a role that bears the responsibility not only for the child but for the whole of society as well. In Almodóvar’s film, Penélope Cruz is closely watching her baby on a baby monitor. Smilja’s situation encompasses an entirely different culture and society, in which her solution, or the lack thereof, was neither uncommon nor avoidable. It’s integral to this way of life, which is the experience of separation: separation from spare time, separation from relaxed concentration and, most importantly, separation from the child.

Varda und Mekas: Der Sammler und die Sammlerin

In Agnès Vardas TV-Serie „Agnès de ci de là Varda“ kommt es in der zweiten Episode zu einem Aufeinandertreffen zwischen der gewohnt liebenswert erzählenden Filmemacherin und Jonas Mekas. Das ganze findet statt auf der Biennale di Venezia, Varda hat sich als Kartoffel verkleidet, was spätestens seit Les glaneurs et la glaneuse, in dem einige herzförmige Kartoffeln aus dem Boden geerntet werden, ihr Markenzeichen wurde, Mekas lässt sich mit ihr fotografieren, legt seine Hand auf ihre Schulter. Sie erzählt, dass sie sich gefreut habe, ihn wiederzusehen. Man kennt sich. Nun ist man mehr oder weniger zusammen gestorben. Zwei Ewige des Kinos. Zwei, die vieles eint. Jonas Mekas und Agnès Varda, der Sammler und die Sammlerin. Beide hatten sich nicht ausschließlich, aber häufig mit etwas befasst, was man autobiografische Formen der Dokumentation nennen könnte, ein Verschmelzen zwischen Leben und Kamera oder auch nur Filme, solche die entstehen während man lebt, weil man lebt. Sie haben derart nicht nur ihr Leben mit der Kamera festgehalten, ja verlängert, sondern sie haben im Blick ihrer Kamera erst begonnen zu leben. Die nahen Bilder, die uns bleiben, sind jene der jeweiligen Wahrnehmung. Ihr Sehen, ihre Stimmen, der gelegentliche Blick in den Spiegel (deutlich häufiger bei Varda), die Freunde, die Orte, die Gedanken und Stimmungen. So dringlich fragt uns dieses Kino jetzt zurück: Was bleibt von einem Leben, einem Kino?

Der Sammler und die Sammlerin, die jedes Bild, so scheint es, behalten haben, um darin das Kino zu finden, um daraus das Kino zu behaupten. Sie haben Tagebücher gedreht und in ihren Narrationen eine unheimliche Nähe zum Zuseher aufbauen können, weil bei ihnen alles sehr direkt, mit offenen Armen nach außen reichend formuliert ist. Manche haben ihnen das vorgeworfen. Raymond Depardon, zum Beispiel, äußerte unlängst, dass Varda es sich einfach machen würde, weil sie den Zusehern immer alles erkläre in ihren Filmen. Mekas hatte nicht zuletzt aufgrund seiner Machtposition innerhalb der Filmkultur einige Feinde und die Unschuld seiner Bolex-Poesie war durchaus strategisch. Was nichts an dem ändert, was im Kino transportiert wird, was dort auf der Leinwand erscheint, in diesen kleinen Filmen, die manchmal alles dafür tun, gar nicht als Filme wahrgenommen zu werden.

Zwei, für die das Kino kein Beruf war, sondern ein Lebensstil. Auf der Website von Jonas Mekas findet man ein Bild der beiden beim Essen. Ein anderes Treffen der beiden fand beim Experimental Film Festival in Knokke-le-Zoute 1963 statt. Dort projizierte Mekas mit einer Bande von Eingeschworenen illegal Jack Smiths Flaming Creatures während der Preisverleihung auf das Gesicht eines Redners. Als die Intervention unterbunden wurde, zeigte man den Film im Hotelzimmer. Varda war dort zusammen mit Jean-Luc Godard und Roman Polanski. Alle wurden dazu verhört. Mekas kommentierte das Screening in der Village Voice: „Having plenty of time to play around at the festival I made one good friend: Varda’s five-year-old daughter. We had a good time together. So the last day of the festival I mentioned it to Varda. I thought she’d be happy. Instead, I noticed that her face became pale. For a moment I couldn’t understand the fear I saw in her face. Only slowly did it dawn on me that she took me for a sex maniac. After all, I am showing that dirty, transvestite movie in my room. And there is the Flaming Barbara with me. Sitney, I was told, got about 20 proposals from fags who were swamping the fest and who couldn’t exactly figure out what’s behind that beard. And there were rumors going on about the nightly orgies taking place in my hotel room…“

Wiederum ein anderes Mal interviewte Mekas Varda. Dabei erwies er ihr zugleich die Ehre, hinterfragte aber vor allem ihre, in seinen Worten „eskapistischeren“ und „kapitalistischeren“ Arbeiten. Letztes Jahr dagegen äußerte er sich äußerst wohlwollend gegenüber Vardas und JRs Visages Villages. Man könnte diese Begegnungen als kleine Anekdoten abtun, die nur deshalb Bedeutung bekommen, weil beide Filmemacher nun verstorben sind. Aber dann ist ihr Kino doch von solcher Natur, dass diese Begegnungen darin angelegt sind, das Anekdotenhafte zum Bedeutsamen werden soll und darf. Das, was am Rand lebt und erscheint, dass was verdrängt wird, bekommt die große Bühne: Ein Sonnenstrahl, ein erster Schnee, eine Erinnerung, die Ausgestossenen der Gesellschaft, Katzen (so viele Katzen), Wolken am Himmel; und auch das, was zwischen Menschen entsteht. Sei es Freundschaft, Liebe oder ein politisches Aufflackern utopischer Möglichkeiten. Der Glaube daran, dass die Kamera, die Welt registrieren kann, um sie reisen muss, weil man Bilder und Töne sammeln muss, um zu leben, weil das Leben erst dann Bedeutung gewinnt.

In einer Welt, in der ein seltsam gleichgeschaltetes, ausuferndes „autobiografisches Dokumentieren“ zum Alltag vieler Menschen gehört, nehmen Varda und Mekas nochmal eine ganz besondere Rolle ein. Statt auf vorgefertigte Bildmuster setzen sie auf Individualität, statt geglätteter Klarheit ist es die Undurchdringbarkeit der Erfahrung, es gibt ein Zusammen-Sein in ihren Filmen statt ein Sich-Abgrenzen, das eigentlich möglich wäre mit diesen romantischen Helden versteckt hinter ihren Linsen. Aber Varda und Mekas zelebrieren das Leben. Ihre disziplinierte, obsessive, lustvolle Praxis war die beste Form kollektivistischer Arbeit zwischen Sehenden und Filmemachern. Das sowjetische Kino hat nie dieses Ideal erreicht. Man sieht durch die Augen einer Kamera, man wird zu ihrem Blick, die Welt kann sich darunter verändern. Weil man lernt mit anderen Augen zu sehen. Varda ging dabei viel bescheidener vor. Mekas poetischer. Zwar umarmten beide digitale Technologien, aber Mekas Schaffen war lange Zeit doch deutlich mehr an das filmische Material gebunden. Varda hat sich dagegen auch in anderen Formen des filmischen Ausdrucks mehr als behaupten können. Dennoch hatte das Filmemachen für beide letztlich mehr mit Wahrnehmung zu tun als mit Technik, mehr mit Flüchtigkeit als mit abgeschlossenen Werken.

Zwei Reisende, die Bilder mitgebracht haben. Sie reisen weiter, wir behalten ihre Bilder.

Das Leben, so schön: Visages Villages von Agnès Varda und JR

Visages Villages von Agnès Varda und JR

Am Anfang dieses Beitrags steht das Gefühl eines inneren Zwiespalts. Schon während der Vorführung von Visages Villages hat sich in meinem Kopf ein Text strukturiert. Es gibt da ein paar Beobachtungen, die mir in den Fingern brennen. Andererseits stellt sich schon auch die Frage, warum man über diesen Film schreiben will. Oder warum man über ihn schreiben sollte. (Patrick hat zuletzt darüber geschrieben, welche Arten von Eindrücke Filme oder auch Bücher hinterlassen können). Es gibt Filme, die sind wie ein reißender Fluss. Man springt in ihn hinein, liefert sich ihm aus und kommt am Ende abgekämpft, am Fuße eines Wasserfalls, nach Luft japsend, gerade noch so mit dem Leben davon. Es gibt auch Filme, die einen in Stasis versetzen, in einen Schwebezustand, der auf andere Weise fesselnd wirkt. Es gibt Filme, die hasst man. Es gibt Filme, da zuckt man mit den Schultern und vergisst sie gleich wieder. Und es gibt Filme wie Visages Villages. Sie berühren, amüsieren, aber sie hinterlassen keine tiefere Empfindung. Dennoch nimmt man lieber den längeren Weg nach Hause, geht eine Straßenbahnstation zu Fuß. Dann ist man daheim, beginnt zu tippen, um nach kurzer Zeit festzustellen, dass das Ganze doch nicht so berauschend war, wie es sich im ersten Moment angefühlt hat.

Visages Villages von Agnès Varda und JR

Ich habe mir einen Haufen Fragen notiert. Und lose Zusammenhänge. Banale Beobachtungen. Im Kino fand ich sie spannender, als jetzt, ein paar Tage später. Die Fragen scheinen mir kaum die Mühe einer längeren Beantwortung würdig. Ich habe mir eine Struktur für meinen Text ausgedacht – noch während des Abspanns –, aber ich werfe sie über Bord. Wenn ich diesen Text je fertigbekommen will, muss ich mich treiben lassen. Haben sich Agnès Varda und JR das auch gedacht, als sie ihren Film gemacht haben?

Klar, Visages Villages liegt eine klare Idee zugrunde. Das ungleiche Paar bereist Frankreich, trifft und filmt Menschen und setzt aus diesen Miniaturen einen Langfilm zusammen. Varda hat Erfahrung mit dieser Form. Sie hat die längste Zeit dieses Milleniums damit verbracht, so zu arbeiten: Les glaneurs et la glaneuse (und das Follow-up Les glaneurs et la glaneuse…deux ans après), Les plages d’Agnès und die Arte-Serie Agnès de ci de là Varda. Nichtsdestotrotz wirkt Visages Villages weniger zielgerichtet als diese Arbeiten. Es ließe sich darüber spekulieren, ob das an JRs Einfluss liegt.

Auf jeden Fall wirkt Visages Villages schon allein deshalb weniger zielstrebig, weil nicht Vardas sanfte Stimme als eine Art Tour-Guide durch den Film führt (am extremsten hat sie diese Rolle in Agnès de ci de là Varda praktiziert), sondern die Filmemacherin im Voice-over eine Art Doppelconférence mit JR hält. Ein Off-Kommentar in Dialogform. Die Beiden sprechen also fortwährend über den Fortschritt ihres Projekts. Sie kommentieren aber nicht durchgängig in Retrospektive, was sie erlebt haben, sondern scheinen zum Teil in der Gegenwart des Films die nächsten Schritte auszuhandeln. Manchmal rutschen diese Gespräche auch in die Bildebene. Dann trifft JR Varda zum Tee, um Pläne zu schmieden. Das ist pure Inszenierung. Und sie ist nicht gut versteckt. Daraus entwickelt sich ein interessantes Katz-und-Maus-Spiel zwischen Dokument und Fiktion.

Visages Villages von Agnès Varda und JR

Wieder kurz zurück auf die Meta-Ebene. In meinem Kopf hatte ich mir schon wunderbar zurechtgelegt, wie man den Film fein säuberlich in Motive aufteilen könnte. Die verschiedenen Begegnungen könnte man etwa in die Kategorien Menschen, Landschaft und Kunst einteilen und dann eine taxonomische Ordnung der einzelnen Miniaturen vornehmen. Das würde auch gut zu Vardas Leidenschaft des Sammelns passen. Immerhin hat sie selbst zwei Filme nur zu diesem Thema gemacht. Und versucht eine audiovisuelle Taxonomie Frankreichs anzulegen. Ein Sammler nimmt in der Regel etwas mit. Ein Souvenir.

Nun musste ich nach etwas Nachdenken feststellen, dass es sich mit Visages Villages etwas anders verhält. Das Sammeln von Bildern ist dem Film freilich auch inhärent, aber JR fügt dem Film eine weitere Note hinzu. Er lässt etwas zurück. Die absurd hohe Menge an großformatigen Fotomotiven, die er auf Fassaden, Schiffscontainern oder Ruinen hinterlässt, gibt zwar Anlass zum Schmunzeln („JR putting things on walls“ hat Hashtag-Qualitäten), nichtsdestominder unterscheidet sich Schaffensmodus des Zurücklassens drastisch von Vardas liebevoller Entnahme. Brachiales Geben stößt auf zartes Nehmen. Das ist schon interessant.

Nun gut, es ist vermutlich nicht die brillanteste Beobachtung, dass Visages Villages seine Energie zu guten Teilen aus den Widersätzen seines Protagonistenpaars bezieht, in der Rezeption des Films überwiegen aber die Gegenüberstellung der alten Frau und des jungen Mannes oder jene des hippen Instagram-erprobten Stars und der Filmemacherin, deren Hochzeit, wie die ihres Mediums, einige Jahrzehnte zurückliegt. Was einen Film wie Agnès Vardas Mur murs, eine Studie über Street Art in Los Angeles, aber von Visages Villages unterscheidet, ist, dass Varda in ersterem die Bilder sammelt, die schon da waren, während sie in letzterem extra für den Film angefertigt werden. Womöglich liegt die Dynamik also weniger in der Persönlichkeit der Protagonisten, als in ihren Arbeitsweisen. Vielleicht ist auch dieser Schluss banal. Aber es hat mehr als einen kurzen Spaziergang gedauert, bis ich in meinem Denken über den Film darauf gekommen bin. Das ist in der Regel ein gutes Zeichen.

Boudu sauvé des eaux von Jean Renoir

Boudu Jean Renoir

Welch ein filmisches Gedicht, wenn Jean Renoir in seinem Boudu sauvé des eaux (und nicht nur dort) immer wieder betont, dass ein Bild nur von einer Realität umgeben, wirken kann. Bei ihm ist ein Establisher eines Abendessens eine Erkundung des Raumes. Seine Kamera steht in einem anderen Zimmer und filmt durch den Flur. Im Vordergrund ist so eine Familiengeschichte, eine Geschichte des Hauses und im Hintergrund ist die eigentliche Szene. Dies ist genauso politisch wie filmisch motiviert. Von einem herkömmlichen Establisher kann man jedoch kaum sprechen, da Renoir immer wieder seine Räume und Flächen durchdringt und ihre Perspektiven benutzt, um Gegensätze aufzuzeigen und jede Einstellung zu einem poetischen Nieselregen werden lässt. Bei ihm sind die Wände eines Hauses, die Fenster und Türen, der Blick zwischen zwei Bäumen und ein durch das Bild treibendes Boot immer die Tiefe statt der Rahmen seiner Geschichte. Die Kamera wird parallel fahren, der Blick von den Mauern verdeckt; dieser Blick, der von Türen gerahmt erscheint und von den Lichtern mit Tiefe versehen wird.

Zur Theatervorlage von René Fauchois fügte Renoir die zahlreichen Außenszenen hinzu, die zum einen immer so konstruiert sind, dass am Rand der Bilder ein Raum entsteht, der den Zufall der Welt in die Konstruktion einer kinematographischen Realität hineinlässt und zum anderen von realhistorischen Räumen erzählt, die ganz wie die Geschichte des Films auf eine Klassenkollision zielen. Boudu, ein Tramp, der wie Chaplin keine Ambitionen hat, seinen Stand zu verlassen (dann schon eher sein ganzes Leben!) wirft sich in die Seine. Dort wird er ausgerechnet vom Muster-Bourgeoise Buchhändler Lestingois gerettet. Dieser wird gemeinsam mit seiner Haushälterin (mit der er eine Affäre hat) und seiner Ehefrau versuchen, Boudu zu einem guten Bürger zu erziehen. Michel Simon spielt Boudu in einer zerreißenden Komik zwischen Verrücktheit, Anarchie und Emotionalität. Eine politisch-soziale Satire also, die jedoch durch die speziellen formalen Vorlieben von Renoir zu einem existentialistischen und visuellen Kinoereignis wird, das weit über das bloße zynische Schmunzeln hinweggeht. Das Spannungsfeld liegt zwischen Zuneigung und Unzufriedenheit und Renoir vermag es, seine Unzufriedenheit durch seine Zuneigung auszudrücken. Damit ebnete er den Weg für das italienische Kino der Nachkriegsjahre, für François Truffaut, für Glauber Rocha, für (man traut es sich kaum zu schreiben) Jean-Luc Godard, Wim Wenders und eigentlich alle anderen ernsthaften Filmemachern auch. Sukdevh Sandu begann sein Review aus dem Dezember 2010 für den Telegraph mit folgenden Worten: It’s hard to imagine cinema without Boudu Saved From Drowning.

Boudu Jean Renoir

Die Freiheit des wandernden Blicks, von der André Bazin in Bezug auf Renoir gesprochen hat, wirkt aus heutiger Sicht überholt, aber nach wie vor nicht ganz weit hergeholt. In Zeiten in denen der Zufall und der Impuls eine große Rolle im künstlerischen Kino spielen, zeigt Renoir, dass ein wandernder Blick und eine Offenheit der Welt auch in einem Bewusstsein für alle Komponenten des Bildes und des Tons entstehen können. Zum einen deutet er mit seinen Dekadrierungen und Entleerungen immer wieder an, dass sich die Welt im Off-Screen fortsetzt und zum anderen sind seine Bilder mit einer solchen Vorsicht für Vordergrund und Hintergrund gebaut, dass dort einfach etwas passieren muss, was uns erlaubt, eben entweder den Vordergrund oder den Hintergrund oder den Rand des Bildes zu beobachten. Dennoch liegt da ein brennender Fokus und Renoir selbst hat davon gesprochen, dass Boudu für ihn ein Film sei, der um die Performance eines Schauspielers gebaut wurde. In diesem Zusammenhang kann man auch die Teleobjektiv-Aufnahmen aus großer Entfernung verstehen, die Boudu wie ein Raubtier in den Straßen von Paris verfolgen. Ein solches Vorgehen wählte auch häufig John Cassavetes (man denke an die unfassbare Gene Rowlands, torkelnd mit Zigarette und Sonnenbrille in Opening Night) oder Agnès Varda in ihrem Cléo de 5 à 7. Die Schönheit dieser Aufnahmen liegt in ihrer Direktheit, denn jeder Schritt fordert eine erhöhte Aufmerksamkeit der Kamera, die Texturen zwischen sich und den Raubtieren erforscht während sie sich elegant selbst als Raubtier offenbart, immer folgend, blickend, lauernd. Dabei wird der Vordergrund immer wieder verdeckt zum Beispiel durch vorbeifahrende Autos, die wiederum von einer Welt jenseits der Fiktion erzählen.Das gleiche gilt für Zwischenschnite auf beteiligte und unbeteiligte Statisten und Passanten.Gleichzeitig setzt Renoir die verschiedenen Mittel natürlich ein, um Gegensätze zwischen den Ständen und Lebensweisen aufzuzeigen. Damit wandert hier nicht nur der Blick sondern die gesamte Wahrnehmung dieses Blicks.

Man könnte zum Beispiel über die Nachbarsfrau im Film schreiben. Sie erscheint immerzu in der Tiefe des Bildes, waschend an einem Fenster zum Innenhof. Sie hat keine Geschichte, sie ist lediglich eine soziale Realität, die das Bild zu einem Ereignis werden lässt. Denn dort ist Leben hinter dem Fenster, im Fenster und auch neben dem Fenster. Sie ist gleichzeitig ein fiktionaler Faktor ästhetischer Verspieltheit und ein dokumentarisches Element im Paris der 1930er Jahre. Und zwischen diese beiden Polen bewegt sich Renoir, der sie entweder für einen politischen Drang oder für ein humanistisches Begehren benutzt, im Zweifelsfall aber für beides zugleich.

 

Locarno-Tagebuch: Tag 6: Das Leiden, das Wetter und Cléo

Cléo und der Soldat in "Cleo de 5 à 7"

Beginnen wir heute mit meinen zwei Lieblingsthemen (wieder einmal). Erstens, das Wetter: es regnet immer wieder, alle paar Stunden in unterschiedlicher Stärke. Die Temperaturen sinken dabei nicht wirklich, was das Ganze zu einer sehr schwülen Angelegenheit macht.

Cléo de 5 à 7

Zweitens, Agnès Varda: gestern habe ich mir ihren vielleicht bekanntesten Film, Cléo de 5 à 7 angesehen. Im Gegensatz zu ihrem Spätwerk, dass immerzu leise „Marker“ flüstert, brüllt „Cléo“ laut „Nouvelle Vague“, oder sogar „Godard“. Die ziellos herumwandernde Titelfigur Cléo, die auf die Ergebnisse einer Autopsie wartet und dabei auf allerlei Menschen trifft. Der Film ist einerseits eklektisches Sammelbecken unterschiedlichster Kamera- und Schnitttechniken (und damit abermals innovativer als das Gros der Wettbewerbsfilme), und andererseits ein weiteres Beweisstück für Vardas außerordentliche Begabung im Filmen von Alltagsszenen. Selten hat man die Boulevards und Gässchen von Paris so klar in Szene gesetzt gesehen (und das soll was heißen, zieht man die unzähligen Filme in Betracht, die in dieser Stadt spielen).

Sonst gab’s sehr viel Neues zu sehen. Dos Disparos vom argentinischen Filmemacher Martín Rejtman, der vor allem wegen seiner unerträglichen Generation X-Ennui-Attitüde im Gedächtnis bleibt, die er auf ziemlich anstrengende Weise mit Hipstersensibilität verbindet. Das klingt schwer vereinbar, ist es auch. Mal erwartet man an der nächsten Ecke Chevy Chase auftauchen, mal einen Popsong und Zeitlupenmontage. Alles in allem, ist der Film leider zu sehr von seiner eigenen hochkulturellen Bedeutung überzeugt, und versucht sie so zu verbergen, dass sie doch jedem auffällt. Das soll heißen, der Film versucht seinen Kunstcharakter mit Trashelementen zu kaschieren, ohne zu erkennen, dass seine Kunstelemente selbst bereits trashig sind – alles klar?

Rauch und Spiele in

Dos Disparos

The Fool (Durak) ist da schon ein anderes Kaliber. Nachdem ich gestern einen Haufen Obdachlose und Vagabunden auf den Leinwänden Locarnos gesehen habe, reihte sich The Fool nahtlos in die Reihe der eher deprimierenden Filme im Festivalprogramm ein. Die Moralkeule schwingt dieser Film so gut, dass man sogar über manche dramaturgische Schwächen hinwegsehen kann (first and foremost, plumpe Exposition). The Fool ist ein politischer Film, den man ungefähr so deuten kann: Der Russe Yury Bykov macht einen Film über den einzigen nicht-korrupten Russen, der es aufgrund seiner Aufrichtigkeit bisher nur bis zum Installateur gebracht hat und ziemlich in die Klemme kommt, als er versucht achthundert Menschen das Leben zu retten. Angetrieben wird dieser Plot von einer Reihe höchst unwahrscheinlicher Zufälle (in bester klassischer Hollywoodmanier also), der moralische Punch macht dafür einiges davon wieder gut. Der Film reiht sich mehr oder weniger in die Reihe der gut gemachten und nett anzusehenden, aber wenig kühn inszenierten Wettbewerbsbeiträge ein (mittlerweile habe ich 9 von 17 der Filme im Hauptwettbewerb gesehen, und traue mir dieses Urteil zu).

Die korrupte Bürgermeisterin in

Durak

Zum Abschluss, noch eine kleine Notiz zu Cure – The Life of Another, neben L’Abri der zweite Schweizer Film im Concorso Internazionale. Darin brilliert Sylvie Marinkovic als Linda, die mit ihrem Vater, einem Arzt, während den Wirren des Balkankriegs aus Zürich in dessen Heimat Dubrovnik zurückkehrt. Dort ist sie für den Tod eines anderen jungen Mädchens verantwortlich, woraus sich eine Reihe Lynch-iger Vorfälle entwickeln. Es ist fast wie verhext, dass die formal spannenderen Filme, wie La Princesa de Francia, La Sapienza oder eben Cure, träge Angelegenheiten sind und die spannenderen Werke, wie The Fool recht plump inszeniert sind.

PS: Heute muss ich leider aus Mangel an Einfällen auf ein Postskriptum verzichten.

Locarno-Tagebuch: Tag 5: In love with Agnès Varda

Agnès, mon amour

Die liebe, kleine, große, alte Dame Agnès Varda beeindruckt mich mit jedem Film ein wenig mehr. Selbst in ihren fiktionalen Werken zeigt sich ihr dokumentarisches Auge fürs Alltägliche. Schöne Beispiele dafür finden sich in Sans toit ni loi, dem Gewinner des Goldenen Löwen von 1985, in dem sie mehrmals auf Inszenierungsmittel zurückgreift, die man eher aus dem Dokumentarfilm kennt (z.B. Interviews mit „Zeugen“) und in dem sie immer wieder mit der Kamera auf Orten und Plätzen verharrt, die unmöglich aus den Händen eines Szenenbildners stammen können. Sans toit ni loi fügte sich auch wunderbar in mein restliches Tagesprogramm ein, denn für einen depressiven Start in den Tag sorgte der Wettbewerbsbeitrag L’Abri des in Tangiers geborenen und in der Schweiz arbeitenden Filmemachers Fernand Melgar. L’Abri ist ein Dokumentarfilm, der Geschichte(n) rund um ein Obdachlosenasyl in Lausanne erzählt. Weder zu polemisch, noch zu objektiv nähert sich Melgar dieser diffizilen Materie. Weder verflucht er die Verantwortlichen oder die mittellosen Immigranten, noch glorifiziert er die Mitarbeiter der Hilfsorganisation oder die kälteleidenden, bettelnden Obdachlosen. Trotz seiner sozialpolitischen Sprengkraft wird der Film so nicht zu einer rein inhaltlichen Übung, sondern bleibt durch die menschliche Nähe, die Melgar zu beiden Seiten aufbaut, ein Film. L’Abri ist ein legitimer Nachfolger der Direct Cinema-Bewegung, indem er es schafft ohne Kommentar oder übermäßigen Einsatz von Zwischentiteln, eine dramaturgisch durchstrukturierte „Geschichte“ zu erzählen.

Sans toit ni loi

Was gibt’s sonst noch Neues? Einen erstmaligen Besuch beim Concorso Cineasti del presente, dem Wettbewerb für Debut- und Zweitfilme junger Filmemacher. Songs of the North von Soon-mi Yoo ist in erster Linie wegen seiner Entstehungsgeschichte interessant. Der Film wurde nämlich (illegal) in Nordkorea gedreht, ein Film über ein Land, zu dem der (Süd-)Koreanerin jahrelang der Zugang verwehrt worden ist, wie sie gleich zu Anfang in einem Zwischentitel festhält. Der Film hätte Agnès Varda Stolz gemacht: Gefilmt mit eher mittelmäßigen Kameras, teils versteckt, kombiniert mit Archivmaterialien und Ausschnitten aus nordkoreanischen Propagandafilmen. Das Ergebnis ist, wenn man mich fragt, zwar eher relevant und interessant, als „gut“, aber alles in allem wiegt hier die Faszination für das Artefakt an sich, die Mängel der filmischen Form auf. Darüber hinaus, und weil auch das hier immer wieder thematisiert wird, ein genuin digitales Werk, das auf 35mm, oder selbst auf 16mm, schlicht nicht machbar gewesen wäre.

Nordkoreanische Schneelandschaft in

Songs of the North

Außerdem habe ich mir Original-Schweizerschokolade gegönnt (CHF 5,85). Mjam, mjam.

PS: Cineteca di Bologna-Restauration eines Antonioni-Films auf großer Leinwand, mi piace.