Wenn ich Danièle Huillet nicht sehen kann

In der Berliner Akademie der Künste wurde vergangene Woche ein verhältnismäßig riesiges Projekt auch für die Öffentlichkeit gestartet. Es betrifft die Arbeit (die hierbei großgeschrieben werden muss) der Filmemacher und Akademie-Mitglieder Jean-Marie Straub und Danièle Huillet.

Schwarze Sünde
Eine umfassende Ausstellung befasst sich mit Arbeits- und Vergegenwärtigungsprozessen ihrer Filme und der Welt. Der Titel: Sagen Sie’s den Steinen. Zur Gegenwart des Werks von Danièle Huillet und Jean-Marie Straub. Gleichzeitig werden in der Akademie einige Filme gezeigt, es gibt Konzerte und eine große Retrospektive an unterschiedlichen Orten in Berlin. (Mehr Infos hier) Ein großer Fokus wurde bei den unterschiedlichen Präsentationen, sogenannten Rencontres, am ersten Wochenende auf die Frage der Steine gelegt. Es handelt sich um einen Ausspruch von Danièle Huillet während einer Probe, als ein Schauspieler sich fragte, an wen er sich wenden solle. Anhand der Steine wurden Themen eröffnet, die sich zum Beispiel um die Zielrichtung einer abstrakten, politischen Wut drehten. Dabei scheint mir die dringlichere Frage jene der Vergegenwärtigung zu sein, die sich in dieser von Manfred Bauschulte in Elio Vittorini erkannten abstrakten Wut auch erzählen lässt. Innerhalb der umfassenden, reichen und zunächst überfordernden Ausstellung finden sich folgerichtig neben vielen faszinierenden, nicht zu sehr auf den Straub-Altar gestellten Arbeitsdokumenten, Interviews, Briefen und Setbildern (bewegt und unbewegt) auch künstlerische Interventionen, wenn man so will, also Arbeiten, die jene von Straub, Huillet in der Gegenwart befragen.

Ein kurzer Einschub, weil mir die von Jean-Pierre Gorin vorgeschlagene Schreibweise von Straub, Huillet (getrennt durch ein Komma, einen Atemzug oder wie sie in Où gît votre sourire enfoui? von Pedro Costa erklären, ein Frame) zwar wichtig scheint, aber nicht so relevant wie das gar nicht so subtile Politikum, das dort an der Akademie um den Namen gemacht wurde. So hörte man bei den Einführungen zahlreiche Varianten, die sich immer darum bemühten die Rolle von Danièle Huillet als mehr zu verstehen, als einen Namen hinter oder in Straub. Natürlich ist dieser Ansatz richtig, aber wie bei so viel politischer Korrektheit dieser Tage darf man schon fragen, ob die Reihenfolge einer Namensnennung wirklich zur allgemeinen Aufklärung ihrer Arbeit beiträgt. Viel mehr half da zum Beispiel das unterhaltsame Rencontre mit Kameramann Renato Berta, der erzählte wie Straub sich immer mehr um das Bild und Huillet sich immer mehr um den Ton sorgte, was zu einigen süffisanten Konflikten führte. Die Frage bleibt trotzdem bestehen. Sie gilt zum Beispiel auch für die portugiesischen Filmemacher António Reis und Margarida Cordeiro. In deren Fall wird Cordeiro oft völlig unterschlagen. Die sprachliche Richtigstellung bewegt sich in einem Vakuum, weil sie durch das nächste Verkürzen auf „die Straubs“ oder „das Kino von Straub“ wieder aufgehoben wird. Statt sich in solchen Sprach-Politika zu verunsichern, täte man gut daran, die Arbeit von Danièle Huillet sichtbar zu machen. Auch das leistet die Ausstellung und wie so oft mehr noch die Filme, die im Rahmen der Rencontres sowie über den Herbst in Berlin gezeigt werden. Neben den Filmen können solche sprachliche Verweise nur als ablenkender Schleier wahrgenommen werden.

Wie erzählt sich also das Kino von Huillet, Straub in der Gegenwart? Was erzählt es über die Gegenwart? Wie kann man von ihm erzählen in der Gegenwart? Vor allem, das wurde sowohl in der Ausstellung als auch bei den Vorträgen klar, mit einem benjaminschen Blick zurück nach vorne. Das passt auch irgendwo zum Kino von Straub, Huillet, wenn nicht zum Kino per se. Es wirkt fast anachronistisch im Vergleich zur modernen Welt. Die Wichtigkeit auf etwas zurück zu schauen ist in ihrem Kino angelegt und damit spiegelt sich das Vorhaben einer solchen Ausstellung und Retrospektive in sich selbst. Es ist die Perspektive zurück auf einen immer auch zurückgehenden Blick. Dennoch scheinen mir einige der Lektionen, die daraus gezogen werden, das gilt für die Vortragenden wie die Künstler innerhalb der Ausstellung, fragwürdig. Denn der Blick zurück war im Fall von Huillet, Straub immer mit einem gleichwertigen, in seiner Sinnlichkeit oft dominanten Blick in die Gegenwart verbunden. Jene Gegenwart fehlte vielen Reaktionen auf ihr Werk. Statt einer Neugier auf das Lebendige spürt man Versuche eine Methodik zu fassen, die eigentlich von ihrer Offenheit lebt. Ein Innehalten vor diesen Filmen wirkt immer hilflos. Genauso wie ein Bedauern. Deutlich wird das in zwei Beispielen im Rahmen der Ausstellung. Einmal werden fünf Ausgaben der Zeitschrift Filmkritik, auf deren Cover sich Filme von Straub,Huillet befinden in einer Glasvitrine ausgestellt. Es mag ein furchtbar naiver Vorschlag sein, aber eigentlich sollte man Besuchern ermöglichen, diese zu lesen, statt vor ihnen zu stehen wie vor Relikten (es sei erwähnt, dass es anderswo auf der Ausstellung die Möglichkeit des Lesens gibt). Ein anderes Beispiel ist Luisa Greenfields Video-Doppelprojektion History Lessons By Comparison. Darin gibt es eine Fahrt, die jene lange Autofahrt aus Geschichtsunterricht nachvollziehen will. Es ist also eine tatsächliche Re-Präsentation. Aber sie kennt nur eine Aufmerksamkeit für das Bild (nicht für die Welt, in der es entsteht) und erklärt den Film dadurch zu einer Simulation und ihre Fahrt wird zu einem Simulacra im Sinne von Baudrillard. Natürlich sagt niemand, dass man Filme über Huillet, Straub in deren Sinn drehen soll, aber den Wert eines solchen Ansatzes halte ich für inexistent. Dass das anders geht, konnte man wenn man des Italienischen nicht mächtig ist, zumindest ansatzweise in The Green and the Stone. Straub-Huillet in Buti. von Armin Linke und Rinaldo Censi erkennen. Ihr Besuch an den Drehorten in Buti war von einer Neugier beseelt, die zwar auf schon gemachten Bildern fungierte, aber diese gegen die Gegenwart überprüfte. In den nächsten Wochen sollen Untertitel hinzugefügt werden.

Toute Revolution
Wie in einem wunderbaren, in seiner Art ebenfalls anachronistischen Vortrag von Manfred Blank deutlich wurde, geht es im Kino von Straub, Huillet auch um das revolutionäre Potenzial eines möglichen Zufalls; das Möglichmachen eines Zufalls, der sich nicht nur für ihn in der Programmierung von Toute révolution est un coup de dés und Trop tôt/Trop tard erzählte. Ein Zufall, der wie jeder Zufall etwas außerhalb der Vergangenheit spielt. Denn woher ein Zufall kam, kann man bestenfalls im Nachhinein bestimmen. Erstmal muss er möglich sein. Es gibt die Bedingungen dieser Möglichkeit, aber man rechnet nicht mit ihr. Sie findet sich im Werk von Huillet, Straub nicht nur in den beiden genannten Filmen, sondern in jeder Einstellung. Wie auch Berta bestätigte, arbeitete sämtliche Konstruktion, Vorplanung und Wiederholung darauf hin, dass ein Zufall möglich wird. Es ist also vielmehr die Arbeit an einer Aufmerksamkeit als die Arbeit an einem Bild. Einmal kann der Zufall ein ins Bild fliegendes Blatt sein, das Bellen eines Hundes aus dem Off oder sogar eine ganze Revolution. Diese Aufmerksamkeit ist möglicher im Kino als im Ausstellungskontext. Sie ist unbedingt als eine in die Gegenwart gerichtete Aufmerksamkeit zu verstehen.

Wer, so sagt Straub in einem Interview innerhalb der Ausstellung, beim Wort Gott lachen müsse, der könne nie eine Revolution beginnen. Die Gefahr bei Huillet, Straub ist immer, dass sie selbst dieser Gott werden. Dann baut man ihnen einen Altar. Auch mir ist es oft so mit ihrem Kino gegangen. Man spürt, dass es unter den sogenannten Straubianern auch immer sehr um das Wissen geht, das sich hinter den Filmen abspielt: Fakten im besseren, Trivia im schlechteren Fall. Durch die klare Haltung der Filmemacher findet man eine Verlässlichkeit in der starken Gefasstheit und mal theoretischen, mal wütenden Untermauerung ihres Bestrebens. Eine Art Reinheit geht von ihrem Werk aus, dass einem hilft, jene abstrakte Wut, die Ziellosigkeit einer gegenwärtigen Auseinandersetzung mit dem Kino und der Welt  zu bündeln, zu fassen und vor allem zu richten. Das funktioniert auch deshalb so gut, weil diese Wut sich affirmativ in der asketischen Schönheit und Genauigkeit ihrer Filme findet und eben ganz im Sinne Émile Zolas als notwendiger Hass. Er ist gerichtet gegen sehr konkrete Folgen und Spuren des kapitalistischen Systems. Ob das nun gegen die Mode wie in Von Heute auf Morgen oder gegen die Synchronisation wie in einem bekannten Text von Straub gerichtet ist, bedeutet alles und nichts zugleich. Passend dazu fragte ein Zuhörer im Rahmen eines Rencontres vorsichtig, ob man denn heute noch von Anti-Kapitalismus sprechen dürfe. Wie in der Frage der Namensnennung spürt man auch hier eine Ohnmacht der Sprache, die vieles im Kino von Straub, Huillet hinterfragt. Denn Frieda Grafe bemerkte nicht umsonst in einem Text über Huillet, Straub, der zum Anlass einer Retrospektive im Filmmuseum München 1997 entstand und im Flyer der Ausstellung zitiert wird, dass die Art in der beide Filmemacher die Welt betrachten, immer auch an einer methodischen Auseinandersetzung mit Sprache hänge. Eine Sprache, die es heute nicht mehr zu geben scheint, vielleicht ja noch nie gegeben hat. Man braucht einen Glauben an sie, vielleicht eine Illusion. Es ist eine verlorene Sprache in gewisser Hinsicht und es zeigt sich bei vielen Vortragenden, dass sie analog zu Straub, Huillet mehr nach einem Weg zurück zu dieser Sprache suchen, als im Sinne von Serge Daney ein Ende der damit einhergehenden Desillusionierung zu beschwören. Ein Gedanke, der mir weder fern dieses Kinos scheint und noch weniger fern gegenwärtiger Notwendigkeiten. Mehrfach stellte sich mir die Frage: Wo ist hier die Illusion? Die Frage könnte man auch anders stellen: Was erzählt uns eine bearbeitete Drehbuchseite von einer Arbeit? War es nicht oft die Arbeit von Straub, Huillet, das man die Arbeit zwar spürt, aber sie sich nicht vor den Zufall schieben darf?

Und dann ein anderes Bild in der Ausstellung, die sich durch die Eröffnungstage an der Akademie zog: Ein Bild nicht von sprachlicher Genauigkeit, sondern sprachlicher Verirrung (nicht unnötig wie bei der merkwürdig und ganz bewusst in Englisch gehaltenen Einführung zum Werk von Harun Farocki ein paar Kilometer weiter im Arsenal): Ein Filmset in vielen Sprachen. Deutsch, Französisch und Italienisch. Die Crew steht zusammen, man wartet auf die Technik. Es ist staubig. Man befindet sich auf dem Ätna, jenem Vulkan, den ein gewisser Jean Epstein in seinen Betrachtungen zum Kino als Ort besonderer Perspektiven evozierte. Es sind die Dreharbeiten zu Schwarze Sünde. Die drei Heimat- und Fremdheitsprachen der beiden Filmemacher. Es gibt eine eigenartige Natürlichkeit der Ko-Existenz dieser Sprachen. Sie fließen ineinander. Um sich wieder an Grafe und ihrer Betrachtung zu orientieren, erzählt dieses Bild von einer Dazwischenheit, die jederzeit auf Unterschiede aufmerksam macht und sie dadurch überbrückt.

Fortini Cani

Im Gestus des Zurückblickens versperrte sich mir in diesen Tagen etwas beim Blick auf Straub, Huillet. Als könnte ich nur über ihre Filme wieder den Weg zurück zum nötigen Zufall des Kinos finden. Der Zufall, der das Kino möglich macht. Schließlich ist ihr Kino auch, auch wenn das abgenutzt klingt, eine Schule des Sehens und Hörens. Eben eine Lehre der Aufmerksamkeit. Vielleicht ist es deshalb, dass die Sorge um die Qualität von Kopien, seien sie analog oder digital selten so hoch ist wie, wenn es um Huillet, Straub geht. Die Zufälle, die sie ermöglichen hängen an jeder Farbe, jedem Rauschen. Man findet dieses Kino womöglich tatsächlich mehr im Leben als im Kino. Ein Paradox, das mich in diesen Tagen vom Kino entfernte und doch näher brachte.

Das Projekt Sagen Sie’s den Steinen. ist einzigartig. Es ist ein wenig wie in die Handgriffe einer praktischen und theoretischen Arbeit einzusteigen, sie beinahe verändern zu können, sie in in sich selbst ruhen zu lassen und diese ruhige Dringlichkeit zu spüren. In dieser Arbeit spiegelt sich auch eine Haltung zur Welt. Tendenziell regt sich ein Einwand gegen die mit dem Blick auf die Arbeit einhergehende Desillusionierung, aber schließlich entdeckt man, dass bei Straub, Huillet die Arbeit, wie vielleicht sonst nur bei Gustave Courbet, etwas Erhabenes ist. Sie berührt die Idee einer Möglichkeit, eines Zufalls und so widersprüchlich das klingt: einer Illusion. In dieser Perspektive könnte man sich dann auch finden, als Suchende zwischen den Bildern und in der Bestimmtheit von Bildern, Tönen und Haltungen einen radikalen Kommentar auf die Gegenwart finden, der niemals nur zu den Steinen spricht.

Berlinale 2017: Forum Expanded

Purple, Bodies in Translation - Part II of A Yellow Memory from the Yellow Age von Joe Namy

Jahr für Jahr sollte Kritik an der unüberschaubaren Menge an Filmen geübt werden, die bei der Berlinale gezeigt werden, und vor allem wie mit diesen Filmen umgegangen wird. Die einzelnen Sektionen sind oft lieblos mit Filmen bestückt, anders als etwa in Locarno fühlt man in der Filmauswahl selten so etwas wie eine kuratorische Handschrift (weder innerhalb der einzelnen Sektionen, und schon gar nicht festivalübergreifend). Eine Ausnahme von der Regel ist das Forum Expanded.

Das Forum Expanded ist nicht nur für Berlinale-Verhältnisse eine hervorragend konzipierte und mutig kuratierte Sektion, sondern zählt wohl insgesamt zu den spannendsten Nebenschienen großer Filmfestivals. Zwar werden im Umfeld von Filmfestivals mittlerweile immer häufiger installative Arbeiten oder kleinere Ausstellungen gezeigt, jedoch ist mir kein anderes Festival bekannt, dass diese Ausstellungen in einer Form institutionalisiert hat, wie das Forum Expanded. Seit einigen Jahren wird zusätzlich zum Filmprogramm in den Festivalkinos für die Dauer der Berlinale der Ausstellungsraum im Obergeschoss der Akademie der Künste mit unterschiedlichen Bewegtbildarbeiten bespielt. So finden hier Künstler Raum, deren Werke das Kinodispositiv aufbrechen; in anderen Fällen werden provokativ Brüche herausgearbeitet, indem einzelne Filme, die auch im Kino gezeigt werden könnten, als single-channel-Installationen in den Ausstellungskontext transferiert werden. Obwohl in manchen Fällen Kritik geübt werden kann (und muss), welcher Präsentationsmodus für welchen Film gewählt wurde, führt der Ausstellungsraum als Ergänzung zu den Filmprogrammen im Kinosaal zu einer Erweiterung der filmischen Perspektive. Es sind „Arbeiten, die das Kino von außen betrachten“ (Stefanie Schulte Strathaus) und deshalb wieder zu ihm zurückführen.

So wertvoll die Agenda des Forum Expanded ist, Kino und Ausstellungsraum, die unterschiedlichsten Facetten von Bewegtbildern in Beziehung zu setzen, so notwendig ist es auch Kritik zu üben. Für die Ausstellung hat man dreizehn Arbeiten ausgewählt von denen zwölf im Ausstellungsraum im Obergeschoss untergebracht sind und eine, leicht zu übersehen, hinter/unter dem Treppenaufgang. Die Fülle an Arbeiten auf begrenztem Raum hat Kompromisse in der Präsentation der jeweiligen Arbeiten zur Folge, die mich oft zweifeln lassen, ob einzelne Werke nicht doch besser in einem Kino aufgehoben wären, als unter solchen Bedingungen gezeigt zu werden. Am deutlichsten wird das in Fragen des Sounds. Während einzelne Arbeiten weite Teile des verfügbaren Raums klanglich für sich beanspruchen, bleibt für die dazwischenliegenden Filme nur der Griff zum Kopfhörer – und das obwohl die räumliche Anordnung der Leinwände im Gegensatz zum letzten Jahr diesmal weniger offen gestaltet ist (zumindest läuft man nun keine Gefahr mehr in der Rezeption von grellen Farben oder hellem Licht benachbarter Arbeiten gestört zu werden) – das führt zur paradoxen Situation, in der gerade die Dynamik des Ausstellungsraums, die unter anderem dadurch entsteht, dass man frei über Perspektive und Distanz zum Kunstwerk entscheiden kann, durch die Kopfhörerkabel verloren geht. Oft findet man sich in behelfsmäßigen (und weitaus ungemütlicheren) Kinosituationen wieder: sitzend, vor einer Leinwand, durch die Verkabelung an einen festen Platz und die Dauer der filmischen Arbeit gebunden.

Untitled Fragments von James Benning

Untitled Fragments von James Benning (© James Benning)

Die Ausstellung beginnt mit Wutharr, Saltwater Dreams des Karrabing Film Collectives, einem Film, der sogleich an der Entscheidung des Kuratorenteams zweifeln lässt, Filme im Museumsraum zu präsentieren: ein Motorschaden hat ein Boot lahmgelegt, nun erzählen drei Personen in Rückblenden ihre Version der Geschichte, wie es dazu gekommen ist. Die Handlung ist freilich nur der Ausgangspunkt für die Filmemacher und Darsteller des Aborigine-Kollektivs, um Fragen staatlicher Autorität, christlichen Glaubens und indigener Traditionen zu thematisieren. Es handelt sich also um einen episodischen Film, der seine Struktur erst durch die chronologische Abfolge der Ereignisse offenlegt und verständlich macht, denn die drei Erzählversionen werden nacheinander in single-channel gezeigt. Wie schon letztes Jahr in James T. Hongs Terra Nullius, der drei verschiedene nationalistische Bewegungen beim Versuch begleitete, ein umstrittenes Eiland per Boot zu erreichen, stellt sich in Wutharr, Saltwater Dreams die Frage, was der Film durch die Übertragung in einen Präsentationskontext gewinnt, bei dem anzunehmen ist, dass die Zuschauer den Film nicht in chronologischer Reihenfolge und in voller Länge sehen werden. Warum einen Film, der Dauer durch Wiederholung zu seinem wichtigsten formalen Prinzip erhebt, in einer Weise zeigen, die diesem Prinzip zuwiderläuft?

Nur wenige Schritte weiter versöhnt man sich mit der Idee einer filmischen Ausstellung. Im Raum hängt eine reflektierende Leinwand, die von zwei Scheinwerfern in purpurnes Licht getaucht wird. Im Spiegelbild der Leinwand sieht das Publikum sich selbst und zweisprachige Untertitel (arabisch und englisch), während durch den Kopfhörer Stimmen über das Verhältnis von Sprache und Schrift, Original und Übersetzung nachdenken. Das ist Joe Namys Purple, Bodies in Translation – Part II of A Yellow Memory from the Yellow Age. Hier hilft der Kopfhörer sich in diesen Sog aus Farben, Schrift, Stimme und Ton hineinziehen zu lassen und in den Reflexionsraum einzutreten, der auf sprachlicher Ebene eröffnet wird: wie kann Bedeutung und Erfahrung übersetzt werden? Wie verhalten sich Sprachen zueinander, wie Medien? Was ist an Übersetzungsarbeit nötig, um eine Leinwand zu einem Film zu machen?

Unmittelbar neben Joe Namys installativer Filmarbeit findet sich ein verspieltes wie komplexes Werk des kanadischen Künstlers Oliver Husain. Isla Santa Maria ist ein 3D Film über eine Insel im Lake Michigan, die der Legende nach an jenem Ort entstanden ist, wo ein Schiffwrack liegt, das 1893 zur World’s Columbian Exposition als Nachbau der Santa Maria angefertigt worden war. Husain verwebt in seinem Film alte stereoskopische Fotografien von dieser Messe mit der Frage nach dem zentralperspektivischen Blick, der allen gängigen fotografischen und kinematografischen Bildern zugrunde liegt, die mittels optischer Linsensysteme entstanden sind. Der Blick der Kamera wird hier als westlicher Blick verstanden, verwandt mit dem Blick Columbus‘ und seiner Nachfolger, die für den Massentod des Großteils der indigenen amerikanischen Bevölkerung verantwortlich sind. Der 3D-Blick als kolonialistischer Blick wird hier auf spielerische Art dekonstruiert, während Geschichte, Gegenwart und Zukunft durch Husains narrative Rahmung zueinander in Beziehung gesetzt werden.

Zwei weitere Arbeiten möchte ich ebenfalls noch hervorheben. Anders als die bisher aufgeführten, sind sie nicht als single-channel-Installationen konzipiert und folglich weniger einfach im Kinoraum vorstellbar. Zum einen ist da Jeamin Chas Twelve, ein filmisches Tryptichon: das Re-Enactment der Mindestlohnverhandlungen in Südkorea auf drei nebeneinanderliegende Leinwände verteilt. In jedem der drei Bilder sind Verhandlungspartner unterschiedlicher Interessensgruppen zu sehen. Sie sprechen frontal zum Publikum und gleichzeitig sprechen sie miteinander. Szenen der Verhandlungen wechseln sich ab mit dreifach identen Aufnahmen einer nicht näher beschriebenen Maschine: Verdreifachung und Interaktion zwischen den Screens wechseln sich also ab, während der Film in seinem Gesamtbild immer auch einem Ultra-Ultra-Widescreen gleicht. Die drei Kanäle von James Bennings Untitled Fragments verteilen sich wiederum auf die drei Wände einer Blackbox. Die zwei gegenüberliegenden Wände zeigen statische Aufnahmen eines verkohlten Waldbodens nach einem Brand beziehungsweise einer Zeichnung einer Indianerin an der Wand von Bennings Waldhütte in Kalifornien. Diese zwei Filme ähneln den radikal entleerten Filmen, die das rezente Werkschaffen Bennings dominieren, beide dokumentieren einzig das Spiel der Sonnenstrahlen im Bildausschnitt über sechzig Minuten. Die dritte Wand jedoch bietet eine Art Brücke zwischen diesen beiden filmischen Standbildern an. Zu sehen ist auf dieser Wand nur Schwarzbild und weiße Untertitel, zu hören sind die Funksprüche einer B-52 über Hanoi. Das Tondokument öffnet einen Diskursraum, der offenbar weit über die einzelnen Teilstücke der Arbeit hinausgeht. Die militärische Aggression in Vietnam wird zum Völkermord an den amerikanischen Ureinwohner in Beziehung gesetzt; und zum Feuer (dem Napalm im Vietnamkrieg, der „scorched earth“ amerikanischer Generäle während der Indianerkriege). Es scheint, dass Bennings filmische Studien in Statik und Dauer zueinander in Beziehung gesetzt, ganz neue Kräfte entwickeln können.

Hashti Tehran von Daniel Kötter

Hashti Tehran von Daniel Kötter (© Daniel Kötter)

Aus dem Ausstellungsraum ins Kino. Neben den Filmen der Ausstellung besteht das Programm des Forum Expanded auch aus Filmen, die im Kino gezeigt werden. Auch hier kann man zum Teil die Frage stellen, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre einzelne Filme aus dem Kino zu entführen, wenn die Gelegenheit dafür ohnehin gegeben ist, an anderer Stelle hat man es ganz einfach mit ein paar der wahrscheinlich interessantesten Filme des Festivals zu tun. Anhand drei dieser Filme lassen sich drei Fluchtlinien aufdecken, die sich durch die gesamte Sektion ziehen.

Der Einstünder Hashti Tehran von Daniel Kötter untersucht das Umland der iranischen Hauptstadt und zeigt dabei Seiten des Irans, die man ansonsten kaum zu Gesicht bekommt. In vier Episoden hält Kötter mit seiner Kamera fest, wie sich die Stadt und mit ihr das Land, die Gesellschaft, die Welt verändern. Inmitten eines Schneesturms filmt er die Bergstation eines Liftbetriebs in den Bergen von Tochal; er begleitet ein wohlhabendes Pärchen auf Wohnungssuche in einer modernen Trabantenstadt, bei der alle Anzeichen darauf hindeuten, dass sie als durch Petrodollar finanzierte Immobilienleiche enden wird; auf der anderen Seite der Stadt weist eine Sozialbausiedlung ähnliche Charakteristika auf; Nafar Abad im Süden der Stadt, eine der Keimzellen Teherans und der persischen Kultur, soll ebenfalls Neubauten weichen, weshalb Kötter die gewachsenen Strukturen der ansässigen Bevölkerung untersucht. Die dominante filmische Bewegung von Hashti Tehran ist der Schwenk, mit der diese Orte vermessen werden, auf der Tonspur finden sich Interviews und Gesprächsschnipsel, die nicht eindeutig zugeordnet werden können. Gespräche des Pärchens mit dem Immobilienmakler oder unter den Bewohnern von Nafar Abad dienen als Kommentar und Erklärung zu den Beobachtungen der Kamera. Hashti Tehran ist damit in zweierlei Hinsicht paradigmatisch für die Filme des Forum Expanded. Zum einen durch sein Interesse an Stadtplanung und Stadtentwicklung sowie dem Verhältnis von Wohnort und Bevölkerung (ähnliche Interessen befeuern Turtles Are Always home von Rawane Nassif, Jaffa Gate von Khadldun Bshara und Mohamad Yaqubi und Constructed Futures: Haret Hreik von Sandra Schäfer), zum anderen durch das spezielle Verhältnis von Bild und Ton im Film, das weit darüber hinaus geht sich bloß gegenseitig zu signifizieren.

Eija-Liisa Ahtila geht in Studies on the Ecology of Drama noch darüber hinaus und widmet sich sogleich der Frage, was filmische Wahrnehmung denn überhaupt bedeutet und wie sie mit bestimmten Bedingungen menschlicher Wahrnehmung zusammenhängt. In kleinen Sketches führt sie mit Experimenten vor, wie das Filmbild – photochemisch wie digital – letztlich ein Produkt eines anthropozentrischen Weltbilds ist, dessen Wirkung sich nur für das menschliche Auge entfaltet. Wie aber werden Tiere und Pflanzen in diesen Bildern repräsentiert, die nicht die ihren sind? Was zunächst nach einer Frage für New Age Hippies klingt, entpuppt sich als Reflexion über vermeintliche epistemologische Fixpunkte und verkompliziert das Verhältnis medial vermittelter Bilder zur Welt. Es geht Ahtila dabei weniger darum ikonoklastisch dem photoindexikalischen Bild eine Abfuhr zu erteilen, sondern Bewusstsein für bestimmte Konstanten zu schaffen, die man gemeinhin als gegeben annimmt.

Zehn Brücken über den Fluss Yahagi; pro Brücke zwei halbminütige statische Einstellungen; jede Einstellung wurde sechsmal belichtet, wobei jedes Mal fünf Sechstel des Bildkaders abgedeckt waren. Wie so oft im experimentellen Film stößt die Sprache bei der Beschreibung von Ten Mornings Ten Evenings and One Horizon von Tomonari Nishikawa an ihre Grenzen. Letztlich ist es wohl gar nicht möglich auf sprachlicher Ebene zu rekonstruieren was Nishikawa mit seinem 16mm Filmmaterial, seiner Kamera und einigen simplen Masken geleistet hat und zwar eine tiefgehende Auseinandersetzung mit Zeit und Raum, mit filmischer Dauer und der Gegenwart von Aufnahme und Projektion. In zehn Minuten kondensiert Nishikawa diese großen Themen, die die Theorie seit Jahrzehnten beschäftigt durch eine Form von Verdichtung, wie man sie in ihrer größtmöglichen Form in Asyl von Kurt Kren finden kann. Der Versuch einer Zerstückelung der filmischen Einstellung, die trotz unterschiedlicher Zeitebenen immer ein ästhetisches Ganzes bleibt. Filme wie Ten Mornings Ten Evenings and One Horizon stellen sich mutig der großen Frage der Beziehung von Zeit und Raum im Film und versuchen sie in der Tradition der filmischen Avantgarde durch formale Experimente zu beantworten (ohne Hoffnung auf eine endgültige Lösung) – eine Form des experimentellen Filmschaffens, wie man sie auf der Berlinale außerhalb des Forum Expanded kaum zu Gesicht bekommt.

Ten Mornings Ten Evenings and One Horizon von Tomonari Nishikawa

Ten Mornings Ten Evenings and One Horizon von Tomonari Nishikawa (©Tomonari Nishikawa)

Rainer on the Road: 9. Berlin Biennale

What the Heart Wants von Cécile B. Evans

Es kommt es mir so vor – und das schreib ich in meiner Rolle als Filmmensch, der keinen ganzheitlichen Überblick über die Entwicklungen in der Kunstwelt hat –, als ob die Gegenwartskunst nach gut zwanzig Jahren die Ideen der Postmoderne wieder verstärkt aufgreift. Nachdem die große digitale Euphorie und die damit einhergehende Verheißung totaler Demokratisierung der Produktions- und Distributionsmittel mittlerweile abgeklungen ist, hat sich zwar die Welt und die Gesellschaft verändert, vor allem hinsichtlich der Pflege sozialer Kontakte und unserer medialen Exponiertheit, aber die Kunst (und auch das Gegenwartskino) beschäftigt sich wieder zunehmend mit sich selbst – Selbstreferentialität ist einmal mehr en vogue. Innovation und Weiterentwicklung künstlerischer Positionen scheint immer stärker an technologischen Fortschritt gekoppelt, weil das gut erzogene Publikum sich kaum mehr schockieren oder in die Irre führen lässt. Paul Feyerabends programmatisches Credo „everything goes“ für uneingeschränkte Methodenvielfalt in den Wissenschaften hat offensichtlich in der Kunstszene mehr Resonanz gefunden, als in allen anderen Bereichen des Lebens. Im Kampf um Aufmerksam und (finanzielles) Überleben biedert sich die Gegenwartskunst auf jeden Fall zunehmend der marktliberalen Leitideologie des langen 20. Jahrhunderts an, was sie jedoch vehement abstreitet: und hier kommt die Postmoderne ins Spiel, denn diese Anbiederung wird mit einem mehr oder weniger aufgesetzten Augenzwinkern übertüncht. Man spiele ja nur mit diesen Ideen und dieser Ideologie und versuche sie durch Assimilation zu korrumpieren, hört man dann. Das alles sei eigentlich eh kritisch gemeint und man nutze nur die Mechanismen des Markts für seine eigenen Zwecke. Das ist offensichtlich Bullshit und das Augenzwinkern als fadenscheinige Ausrede ist nicht einmal gut gespielt.

What the Heart Wants von Cécile B. Evans

What the Heart Wants von Cécile B. Evans

Die kuratorische Linie der 9. Berlin Biennale ist ein Musterbeispiel für eine solche Vorgehensweise. Der Folder sieht aus, wie die Broschüre einer Sprachschule; klinische Reduktion, die vor fünfzig Jahren als minimalistische Positionierung noch schockiert hätte, wird als leere Floskel zum Leitmotiv auserkoren; das Glas- und Betonmonstrum der Akademie der Künste mit ihrem Flair eines überdimensionierten Konferenzraums dient als Hauptquartier; und mit der ESMT (European School for Management and Technology) wird ein Gebäude bespielt, das ehemals vom Parteiapparat des SED genutzt wurde und heute eine Wirtschaftsschule beherbergt. In gewisser Weise ist die ESMT, wo nebenher weiter der reguläre Universitätsbetrieb läuft, der Gipfel dieses Konvoluts an Widersprüchlichkeiten und Gefallsucht. Interessant, dass es jedoch gerade hier, abseits der großen Hauptausstellungsorte die Mixed-Media-Installation von Simon Denny und Linda Kantchev tatsächlich schafft die sperrigen Gegensatzpaare künstlerisch fruchtbar zu machen. Sie nähern sich mit Bewegbild, Text, Skulptur und Raumkonzept alternativen Geldmodellen wie Bitcoin und deren Ideen eines Anarcho-Kapitalismus, was wunderbar mit der Idee der Verzahnung von Form, Inhalt und Architektur korrespondiert. Hier lässt sich am besten eine konsequente Umsetzung der ansonsten recht hohlen Phrasendrescherei erkennen (nach rund zwanzig Minuten hat sich diese Keimzelle der kuratorischen Gedanken aber auch erschöpft und man hat den dortigen Ausstellungsbereich durchwandert). Es ätzt sich leicht über die Aufmachung dieser Veranstaltung, das ist insofern tragisch, als dass man darüber leicht die einzelnen Arbeiten aus dem Blick verlieren kann. Viele der teilnehmenden Künstler und Künstlerinnen haben sich dem Diktat des neo-postmodernen Augenzwinkerns nämlich standhaft widersetzt. Umgeht man die fehlgeleiteten post-post Orgien eines Simon Fujiwara und seines Happy Museum und sieht man über manche Absonderlichkeiten, wie Josh Klines single-channel Installation Crying Games in einer black box voll Katzenstreu (?) hinweg, dann finden sich einige sehr spannende Arbeiten, die besser mit den Herausforderungen, die sich der Kunst im 21. Jahrhundert stellen, umzugehen wissen, als es das Gesamtkonzept vermuten lässt. Einige dieser Arbeiten –ich habe mich dabei auf Werke beschränkt, die mit Bewegbildern arbeiten – möchte ich im Folgenden kurz vorstellen.

View of Pariser Platz von Jon Rafman

View of Pariser Platz von Jon Rafman

Es ist bezeichnend, dass die gelungensten Arbeiten an der Peripherie der Biennale zu finden sind. Da ist zum einen die kleine Ausstellung in der ESMT und da sind zum anderen Kellerräume und Dachgeschoss. Im KW, neben der Akademie der Künste am Pariser Platz der zweite Hauptausstellungsort der Biennale, hat man den geräumigen Keller für die Bewegbild-Installation What the Heart Wants von Cécile B. Evans buchstäblich unter Wasser gesetzt. Die ganze Halle, die einzig durch die Videoprojektion erleuchtet ist, wurde geflutet. Umgeben vom kühlen Nass, betritt man die zentrale Plattform, die sich zentral vor der Leinwand befindet, lässt sich in eines der Sitzkissen fallen und genießt ein ganz besonderes synästhetisches Erlebnis. Das Wasser ist mehr als eine leere Geste, wie man das zunächst vermuten könnte (auf einer Biennale voller leeren Gesten). Es verändert das Klima, die Akustik und die Lichtverhältnisse im Raum. Hier ist es merklich kühler, der Hall wie in einer Grotte gedämpft und auf der Oberfläche spiegelt sich die Projektion. Das Wasser erweitert sozusagen die Leinwand und lässt die Seherfahrung zu einer ganzkörperlichen Sinneserfahrung werden – Virtual Reality ganz ohne Brille.

Der Balkon des Dachgeschosses der Akademie der Künste bietet ein ganz anderes Schauspiel. Dort wird man als Besucher gebeten eine Virtual Reality Brille aufzusetzen und zunächst den Ausblick auf den CGI-animierten Pariser Platz zu genießen. Während man sich in dieser virtuellen Welt zurechtfindet, beginnt sich ein seltsames, schauriges Schauspiel zu entfalten. Körperschemen erheben sich in die Lüfte, die umgebenden Ausstellungsobjekte erwachen zum Leben, schließlich bröckelt der Boden und man fällt (Höhenangst sorgt für Extra-Nervenkitzel), um schließlich zu schweben. Luft, Wasser, beinahe hält man den Atem an, versucht den Schattenkörpern auszuweichen und bestaunt die abstrakten Objekte und Formen, die jegliche Raumorientierung zunichtemachen. View of Pariser Platz von Jon Rafman war meine erste Erfahrung mit Virtual Reality und dementsprechend enthusiastisch bin ich nun ob der neuen kreativen Möglichkeiten dieser Technologie.

The Tower von Hito Steyerl

The Tower von Hito Steyerl

Sieben Stockwerke tiefer sind zwei Arbeiten von Hito Steyerl zu sehen, die in vielerlei Hinsicht miteinander sprechen. Da ist zum einen The Tower, in dem ein russischer Programmierer von seiner Arbeit als Designer von virtuellen Realitäten spricht und zum anderen Extra Space Craft über den Einsatz von Drohnen im Irak. Die beiden Filme verbindet eine Animationssequenz des ehemaligen Sternobservatoriums des Iraks, dass durch die Kriege der letzten dreißig Jahre arg in Mitleidenschaft gezogen wurde. Der russische Programmierer hat es mittels Computeranimation als eine Art neuen Turm zu Babel zum Leben erweckt und in Extra Space Craft dient es als Metapher für die Sehnsucht nach den Sternen. Steyerls Arbeiten im kahlen Kellergewölbe scheinen gegen die isolierte Kunstwelt zu intrigieren, Verbindung zur Außenwelt und zu den tatsächlichen politischen und wirtschaftlichen Verwerfungen herstellen zu wollen. Sind sie deshalb verbannt worden, an diesen unwirtlichen Ort, der als einer der wenigen nicht durch die Ästhetik des Konferenzraums und/oder des Hipster-Schicks korrumpiert worden ist? Ich wünsche mir einen Zufluchtsort für diese verbannten Arbeiten, einen Ort, wo sie in Dialog treten können mit den verbannten (Kino-)Filmen dieser Erde.

Berlinale 2016: Warten auf Lav

Safe Disassembly von Andreas Bunte
  • Der Tag beginn mit Schlangestehen, denn es galt Tickets für die Vorstellung vom neuen Lav Diaz Film Hele Sa Hiwagang Hapis zu ergattern – dafür wagt man sich gerne übermüdet in die kalte Berliner Morgenluft.
  • Endlich habe ich es auch in die Retrospektive geschafft, nicht einmal der sperrige Titel „Deutschland 1966 – Filmische Perspektiven in Ost und West“ konnte mich davon abhalten. Die Hauptvorführstätte der Retrospektive ist das Zeughauskino und obwohl das Programm, das ich besuchte in einem der angemieteten Multiplexkinos stattfand, war eine Anpassung des Altersdurchschnitts auf übliches Zeughausniveau (Generation Geriatrie) zu beobachten. Zu sehen gab es ein Kuriosum des Deutschen Films der Sechzigerjahre und eine frühe Stilübung von Roland Klick. Unter dem Programmtitel „Drifters and Searchers“ wurde zunächst Klammer auf Klammer zu von Hellmuth Costard gezeigt (das oben erwähnte Kuriosum), ein rund zwanzigminütiger Film mit einem blutjungen Klaus Wyborny in der Hauptrolle. Eine wahnwitzige Roadmovie-Variation, die vor Referenzen auf die Popkultur und die Filmgeschichte („Dieses Auto ist Jean Vigo gewidmet“) nur so strotzt. Wybornys Ole will eigentlich von Hamburg aus die Welt erobern und nicht zuletzt vor der politischen Stimmung im Land fliehen. Sein Weg führt in aber nur bis Lüneburg und schon nach kurzer Zeit kehrt er zurück: Eine absurde Miniatur, die auch aus der Feder eines Surrealisten stammen könnte.
    Roland Klicks halblanger Film Jimmy Orpheus setzt ebenfalls einen Streuner ins Zentrum der Handlung. Jimmy ist ein Tagelöhner und Nichtsnutz (im Englischen würde man ihn wohl als „Hustler“ bezeichnen), der sich im Hafenviertel Hamburgs auf der Suche nach einem Schlafplatz versucht an eine Frau heranzumachen (Auffallend die inhaltliche Nähe zu Fritz Kirchhoffs Nur eine Nacht von 1950, der ebenfalls in Hamburg spielt und einen halbwegs heruntergekommenen Mann einer Dame nachjagen lässt). Das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Mann und Frau versetzt Klick mit Elementen des Genrekinos und avantgardistischen Techniken, wie sie die Nouvelle Vague popularisiert hat.
Klammer auf Klammer zu von Hellmuth Costard

Klammer auf Klammer zu von Hellmuth Costard

  • Ta’ang von Wang Bing zählt mit knapp zweieinhalb Stunden gleichzeitig zu den längeren Filmen im Programm der Berlinale und zu den kürzeren Arbeiten des Regisseurs. In Zeiten, in denen europäische Medien Völkerwanderungen herbeibeschwören, begleitet Wang verschiedene Flüchtlingsgruppen aus dem Volk der Ta’ang die in Myanmar an der Grenze zu China beheimatet sind. Wegen bewaffneter Konflikte in dieser Region sind in den letzten Jahren rund 100.000 Menschen über die Grenze geflohen und leben in improvisierten Flüchtlingslagern oder schlagen sich als unterbezahlte Hilfsarbeiter durch. Kurz, es gibt auch außerhalb Europas Krisenregionen in denen Menschen flüchten. Es gibt sogar sehr viele von ihnen (weit mehr als in Europa) und sie leben unter teils katastrophalen Umständen. Beeindruckend, dass diese Menschen selbst in diesem Lebensumfeld versuchen eine Art von Alltag zu etablieren. Das Dröhnen der Artillerie wird zum ständigen Begleiter, die improvisierten Gemeinschaftsessen am Lagerfeuer werden zum gesellschaftlichen Ereignis. Wang wird mit seiner Kamera Teil dieser Zweckgemeinschaft, was ihm erlaubt sich von der Makroebene zu lösen und den Konflikt aus der Perspektive individueller Schicksale zu zeigen. Es wird deutlich, dass diese Menschen zum Spielball größerer Interessen geworden sind, die sie nicht verstehen – so wird im Film gar nicht klar, wer überhaupt gegen wen kämpft und warum.
  • Ein Nachtrag zur Forum Expanded Ausstellung in der Akademie der Künste: Nach längerer Überlegung habe ich beschlossen auch Andreas Buntes Safe Disassembly ein paar Zeilen zu widmen. Ganz ohne Kommentar, weder in Wort, noch in Schrift, besucht Bunte eine ehemalige Munitionsfabrik in Ostdeutschland, die vor einigen Jahren zu einem Abrüstwerk umfunktioniert wurde. Eine norwegische Firma sorgt dort nun für die fachgerechte Entsorgung von verbotener Streumunition. Ohne Vorwissen lässt sich das jedoch nur erahnen. Die Arbeit der Maschinen (im gesamten Film kommt nur ein menschlicher Arbeiter vor) widersetzt sich der einfachen Deutung – werden hier Waffen gefertigt oder zerstört? – stetig und mechanisch folgt ein Arbeitsschritt auf den anderen und ebenso stetig und mechanisch richtet Bunte seine Kamera auf die vollautomatisierten Prozesse. Es ist eine seltene Qualität nicht nur keine Antworten zu geben, sondern sich darüber hinaus so vehement jeder Fragestellung zu entziehen.

Berlinale 2016: In der Akademie

Terra Nullius or: How to be a Nationalist von James T. Hong
  • Nachdem mir die Aufzählungszeichen in Ioanas Festivalberichten aus Rotterdam sehr gut gefallen haben, werde ich sie nun auch in meinen Texten von der Berlinale verwenden.
  • Die ersten paar Tage verbringe ich größtenteils in der Akademie der Künste beim Forum Expanded. Die Filme sind sehr ansprechend, bisher waren unter anderem neue Werke von Kevin Jerome Everson, Deborah Stratman und Mark Lewis zu sehen, doch das Begleitprogramm macht seinem Veranstaltungsort alle Ehre – es geht sehr akademisch zu. Vormittags werden Lecture Performances abgehalten und der Wiener Kunsttheoretiker Helmut Draxler hält in schwer verständlichem Englisch einen Vortrag, in dem es zu viel um Lacan geht. Alles in allem scheint das Forum Expanded eine Parallelwelt zu sein, das dem (musealen) Kunstbetrieb nähersteht, als der (Festival-/) Filmindustrie. Das hat natürlich seine Vorzüge, da man sich hier nicht mit diversen Begleiterscheinungen eines Filmfestivals herumschlagen muss (kurz: es geht wenig ums Geschäft), andererseits werden hier Fragen diskutiert, die recht wenig mit dem zu tun haben, womit ich mich gewöhnlich beschäftige.
  • Teil des Programms des Forum Expanded ist eine umfangreiche Ausstellung, in der Filme und Videoarbeiten gezeigt werden, die nach Ansicht der Kuratoren dort besser aufgehoben ist, als in einem Kinosaal. Im Falle von James T. Hongs Terra Nullius or: How to be a Nationalist (im Übrigen ein großartiger Titel) erscheint mir die Entscheidung jedoch fragwürdig. Eine achtzigminütige Studie, in der Hong sich unterschiedlichen nationalistischen Gruppierungen Taiwans, Chinas und Japans anschließt, um auf der umstrittenen Insel Senkaku zu landen, was ihm jedoch nicht gelingt, verliert im Galerieraum seine Pointe, denn in diesem Film geht es um die Aussichtslosigkeit des Unterfangens, die nur deutlich wird, wenn man den Film in voller Länge sieht. Action at a Distance von Yin-Ju Chen hingegen, ist eine faszinierende Installation auf drei Kanälen, die Found Footage von medizinischen und naturwissenschaftlichen Lehrfilmen und Aufnahmen von Polizeigewalt auf sehr poetische Art verbindet und dabei seinen politischen Gehalt behält, ohne zu plump zu werden – Politische Kunst, die sich bewusst von propagandistischen Inszenierungsformen distanziert, aber sich dennoch nicht in Ästhetizismus verliert.
We Demand von Kevin Jerome Everson und Claudrine Harold

We Demand von Kevin Jerome Everson und Claudrine Harold

  • The Illinois Parables bestätigt Deborah Stratmans Stellung als Meisterin der Essayform. Sie ist weder Benning, Farocki, Godard noch Straub, aber ihre komplexen und vielschichtigen Bild-Ton-Konfrontationen gehören mit zum spannendsten, was es im Gegenwartskino zu entdecken gibt. The Illinois Parables erzählt in elf Stationen von geschichtlichen Ereignissen, die sich in ihrer Wahlheimat Illinois zugetragen haben. Wie gewohnt greift sie dabei auf Archivaufnahmen zurück. Sie verwendet historische Tonaufnahmen, Zeitungsausschnitte, FBI-Akten und Filmaufnahmen, die sie selbst gedrehtem Material gegenüberstellt. Es sind Geschichten der Vertreibung, der Zerstörung, der religiösen Verfolgung, der Umweltkatastrophen und des Rassenhass, die als Ganzes weit über eine reine Beschreibung der Geschichte Illinois hinausgehen und ein stimmiges, wenn auch düsteres Bild der Vereinigten Staaten zeichnen: Vergangenheit wird in der Gegenwart lebendig.