Viennale 2018: Her Smell von Alex Ross Perry

Her Smell von Alex Ross Perry

Es wird richtig düster in Alex Ross Perrys Her Smell. Und das ist ein Modus, den man aus seinen früheren Filmen so nicht kennt. Klar, das Ende von The Color Wheel ist einigermaßen verstörend, der namensgebende Grantler aus Listen Up Philip ist hochgradig unsympathisch und morbid, Queen of Earth hat schaurige Momente, aber nichts im Ausmaß dessen, was man in Her Smell zu sehen bekommt. Hier wird der Zerfall zelebriert. Der Zerfall einer Band, der Zerfall musikalischen Talents und der Zerfall eines Menschen.

Wir lernen die Punk-Band Something She nach einem ihrer Auftritte kennen. Früher hat das Dreigespann große Arenen gefüllt, jetzt bespielen sie nur mehr eine mittelgroße Halle. Wir befinden uns in der Mitte der 90er Jahre. Die Band hat ihren Zenit bereits überschritten. Backstage treffen die drei Musikerinnen Becky Something, Marielle Hell und Ali van der Wolff auf ihre Entourage: Beckys Ex-Freund Danny und ihre gemeinsame Tochter, den Label-Besitzer Howard und Beckys persönlichem Schamanen/Guru.

In nur wenigen Momenten wird deutlich, dass das hektische Wackeln und Schwenken der Handkamera in diesen Szenen keine rein ästhetische Stilübung ist. Es geht weniger um die Imitation von amateurhaften Backstage-Videos, sondern darum die Aufgescheuchtheit und Anspannung der Figuren spürbar zu machen. Noch funktioniert die Band auf der Bühne – darüber gaben die ersten Sekunden des Films Aufschluss – aber hinter den Kulissen sieht es ganz anders aus. Die selbstzerstörerischen Klischees, die mit der Musikbranche assoziiert werden, haben auch Something She kurz vor den Kollaps gebracht: Alkohol, Drogen, Zügellosigkeit, Selbstüberschätzung.

Her Smell von Alex Ross Perry

Hochmut kommt vor dem Fall, wie man so schön sagt. Es wird ein tiefer Fall werden, vor allem für Becky, die wohl ein großes musikalisches Talent ist, aber nach Jahren auf Tour und im Studio den Draht zur Welt verloren hat. Weder schafft sie es pünktlich auf der Bühne, noch im Tonstudio zu erscheinen, doch ist sie weiterhin der Überzeugung, dass die Welt nur darauf wartet, mehr von ihrer Musik zu hören. Dass Popularität dem Genie erst zufliegt, wenn es gepaart mit Disziplin auftritt, erkennt Becky nicht. Stattdessen verrennt sie sich in Paranoia und in eine ungesunde Abhängigkeit von ihrem esoterischen Guru (der es, wie sich später wenig überraschend herausstellt, ohnehin nur auf ihr Geld abgesehen hatte). Als die Band danach im Studio ein neues Album aufnehmen soll, kommt es zum endgültigen Bruch: Becky fordert von ihren Mitstreitern totale Hingabe ein, schafft es aber selbst nur sporadisch, im Studio zu erscheinen.

All das erzählt der Film in ungestümer Geschwindigkeit, in langen Sequenzen in denen die Kamera wild hin- und herschwenkt und scheinbar orientierungslos versucht im Tumult dem Geschehen und den Figuren zu folgen und ihnen dabei zum Teil aufdringlich nahe kommt. Die allgemeine Aufgeregtheit im Bild wird noch verstärkt durch den Klang gedämpfter Musik, johlender Massen und allerlei anderem Lärm. Über diese hektische Tonkulisse setzt Becky immer wieder zu ausholenden Monologen an, die daherkommen, wie die Wort gewordenen Fantasien eines allzu übermütigen Dramatikers. Dick aufgetragenen Pathos kennt man aus den Filmen von Alex Ross Perry – nie wurde er jedoch in solcher Geschwindigkeit vorgetragen. Insgesamt vermeint man im falschen Film zu sein: Das doch eher gemächliche Erzähltempo, das Perrys bisherige Filme auszeichnete, hat sich einen Turbolader genehmigt. Oder eine passendere Metapher: Her Smell wirkt wie ein Perry-Film auf Koks.

Ruhiger wird es erst nach einem Zeitsprung. Vier Jahre nach dem unrühmlichen Ende der Band, als Becky ein letztes Mal einen Auftritt – dieses Mal nur noch als Vorband für ihre Nachfolgegruppe Akergirls – in den Sand gesetzt hat, treffen wir sie in ihrem Haus. Sie ist in sich gekehrt, trinkt Tee, musiziert. Das Haus, so erfahren wir, ist das letzte Stück Besitz, das Becky geblieben ist. Zahlreiche Klagen haben sie in den Ruin getrieben. Die Welt ist dennoch in sanftes, warmes Licht getaucht, die Kamera schwebt geschmeidig durch die Szene. Das Brooklyn aus Golden Exits scheint nicht weit entfernt zu sein. Ruhe ist eingekehrt – sowohl in Becky als auch im Film.

Her Smell ist eine sonderbare Art von Musikfilm. Eine, wo die Musik immer in der Luft liegt, aber sich nur in den seltensten Fällen in einem Auftritt manifestiert. Das Spielen mit der Erwartung des Publikums, der durch Beckys Eskapaden verzögerte Erzählfortschritt erzeugt Frustration. Eine mächtige, aber gefährliche Emotion. Ein paar Mal kratzt Perry nur knapp die Kurve, spannt den Geduldsbogen aufs Äußerste, bevor es zum Höhepunkt kommt. Das Spiel mit den Erwartungen setzt sich auch im letzten Teil fort. Ein letzter Auftritt steht noch an: Zum zwanzigjährigen Jubiläum des Labels hat der Produzent Howard eine Reunion organisiert. Noch einmal treten Becky, Marielle und Ali gemeinsam auf. Becky hat sich versöhnt: Mit ihren ehemaligen Bandkolleginnen, mit ihrer Mutter, mit ihrer schärfsten Rivalin, mit ihrem Produzenten. Erlösung liegt in der Luft. Doch ein Hollywood-Ende bleibt Becky verwehrt. Der süße Geschmack des Triumphs offenbart im Abgang eine zutiefst bittere Note. Optimistisch ist das schon irgendwie, aber keineswegs hoffnungsfroh. Dennoch liegt eine gewisse Erleichterung in der Luft, denn über zwei Stunden totale Intensität haben ihr Ende gefunden. Der Film hat den Figuren und den Zuschauern alles abverlangt. Her Smell ist ein großer Film der Verdichtung und Konzentration.

Berlinale 2017: Golden Exits von Alex Ross Perry

Golden Exits von Alex Ross Perry

Im Laufe der letzten Jahre hat Alex Ross Perry eine Nische für sich gefunden, die irgendwo zwischen US-Indiekino und europäischem Autorenkino angesiedelt ist. Zwischen diesen beiden Polen bewegen sich seine Filme, mal stärker auf der einen, mal stärker auf der anderen Seite. In allen Fällen sind seine Filme geprägt von bewussten Setzungen, Setzungen bewusster Referenzen auf Perrys Vorbilder aus der klassischen Cinephilie und Setzungen bewusster Anspielungen auf die Klischees eines bestimmten amerikanischen Kinos, dass sehr stark mit dem Sundance-Festival verbunden ist (eine Form von Filmen, die eine Nische im amerikanischen Kinomarkt besetzen; in der Überzahl sind es figurenzentrierte, humorvolle Dramen über die Mittelschicht). Das soll nicht bedeuten, dass einzelne Figuren, Szenen und Motive im Baukastenprinzip zu einem Film zusammengesetzt werden, im Gegenteil ergibt sich aus der eigenwilligen Mischung dieser Referenzen ein eigenes Gefühl, das sich mittlerweile als Perrys filmischer Stil herauskristallisiert hat.

Golden Exits von Alex Ross Perry

© Sean Price Williams

Nachdem Perrys letzter Film Queen of Earth deutliche Spuren eines Bergman’schen Psychokammerspiels aufwies, bewegt sich Golden Exits nun wieder stärker auf der Seite des amerikanischen Indiekinos. Der Schauplatz ist das sonnendurchflutete Brooklyn, die Hauptfigur eine junge Australierin, Naomi (Emily Browning), die einen Job als Assistentin von Nick (Adam Horovitz) angenommen hat. Nick arbeitet als eine Art Archivar, der sich um die Organisation von Nachlässen kümmert. Sein aktuelles Projekt sind die Hinterlassenschaften seines Schwiegervaters, eines erfolgreichen Verlegers. Nicks Frau Alyssa (Chloë Sevigny) und ihre Schwester Gwen (Mary-Louise Parker) befürchten (nicht ganz unbegründet), dass Nick Naomi bei der Arbeit in seinem kleinen Büro vielleicht zu nahekommt. Nur wenige Blocks weiter hat Jess (Analeigh Tipton) ähnliche Sorgen bezüglich ihres Ehemanns Buddy (Jason Schwartzman), einem Jugendfreund Naomis.

Schon nach wenigen Minuten wird klar, dass viele der Figuren an der Grenze zur Karikatur angesiedelt sind. Naomi ist die exotische Fremde, die durch ihren Auftritt einen Mikrokosmos erschüttert; Nick ist ein schrulliger Eigenbrötler mit leicht Woody-Allenesker Sprachmelodie; alle Figuren sind irgendwie familiär oder beruflich miteinander verbunden; Brooklyn erscheint als Paradies aus sonnenbeschienen Reihenhäusern und hippen Cafés; die Bilder des Films erinnern nicht zufällig an den Vintage-Chic solcher Lokale; kurz, alles ist auf den ersten Blick sehr quirky, ironisch und hip. Doch Golden Exits ist, noch weniger als The Color Wheel und Listen Up Philip, eine Parodie des Erfolgsmodells „Sundance-Film“, sondern vielmehr eine behutsame Verformung, die durch die Hinzunahme von Kunstgriffen aus dem Repertoire des europäisch geprägten Autorenkinos an Eigenständigkeit gewinnt: der Vintage-Look kommt nicht aus dem Computer, sondern durch echtes 16mm-Filmmaterial zustande, das Schauspiel bricht an unzähligen Stellen aus den üblichen Bahnen aus und wirkt distanziert, gestelzt, verfremdet und die emotional geladenen Konfrontationen zwischen den Figuren können nicht verbergen, dass Perry sich bei der Inszenierung solcher Szenen von Bergman und Fassbinder inspirieren lässt.

Golden Exits von Alex Ross Perry

© Bow and Arrow Entertainment

Langsam aber stetig sorgt Perry so für ein Knistern, dass die Beziehungen der Brooklynites untereinander belastet. Die Ehefrauen verdächtigen ihre Männer, suchen Rat bei ihren Schwestern, die nur allzu bereitwillig auf ihren Schwagern herumhacken, die wiederum wegen ihres Begehrens für Naomi von schlechtem Gewissen geplagt sind. Der große Coup von Golden Exits ist nun aber, dass sich nie ein Grund ergibt, dass sich die aufgebaute Spannung entlädt. Letztendlich lassen sowohl Nick als auch Buddy die Finger von der Australierin und geben ihren Ehefrauen keinen weiteren Anlass sich zu grämen. Im Grunde verbindet Perry hier den Anspruch der klassischen Moderne das Drama ins Leere laufen zu lassen mit einem Narrativ und Milieu, wie man es aus dem amerikanischen Indiekino kennt. Als Naomi nach einigen Monaten nach Australien zurückkehrt, geht das Leben weiter seinen Lauf. Alles bleibt beim Alten, kein Grund für Versöhnung, weil nichts passiert ist.

A Certain Kind of Tourist: Permanent Vacation von Jim Jarmusch

Permanent Vacation von Jim Jarmusch

Anfang der 80er Jahre, als die Rebellen früherer Tage sich in ihren kalifornischen Ranches von der Mühsal des kommerziellen Erfolgs erholten, betrat ein neuer Maverick des amerikanischen Kinos die Bühne, die mittlerweile alte Garde des New Hollywood abzulösen. Dieser junge Mann mit den markanten weißen Haaren war Jim Jarmusch, sein erster Film Permanent Vacation. Über die Bedeutung dieses Films und der folgenden Arbeiten für das unabhängige Filmschaffen in den USA ist zur Genüge geschrieben worden, mein Anliegen ist jedoch eine andere Traditionslinie im amerikanischen Filmschaffen aufzuzeichnen, die in Permanent Vacation eine Fortsetzung findet (und womöglich auch in Jarmuschs späteren Filmen – das müsste man sich genauer ansehen).

Permanent Vacation von Jim Jarmusch

Permanent Vacation gewann 1980 bei der Mannheimer Filmwoche den Josef von Sternberg-Preis, eine Auszeichnung, die nach dem berühmten Regisseur benannt ist, der in den 40er Jahren auch an der University of Southern California unterrichtete. Einer seiner dortigen Schüler war Gregory J. Markopoulos, seines Zeichens eines der führenden Häupter der losen Bewegung amerikanischer Experimentalfilmer, die man heute gemeinhin unter dem Label New American Cinema subsummiert. Diese Überleitung ist freilich trivial, doch die Verortung von Permanent Vacation im Kontext des US-Avantgardekinos ist es nicht. Das mag weit hergeholt klingen, zumal Jim Jarmusch seine Einflüsse sehr offen kommuniziert, aber dabei kaum auf das unabhängige Filmschaffen der US-Avantgarde eingeht. Nichtsdestotrotz flackern in Permanent Vacation immer wieder zentrale Motive auf, wie man sie auch in den frühen Filmen von Markopoulos, Stan Brakhage, Kenneth Anger oder Maya Deren findet, gut dreißig Jahre nachdem diese Generation von jungen, unabhängigen, experimentierfreudigen Künstlern sich mit mehr als bescheidenen Mitteln dem Filmemachen widmete, folgt ihnen ein anderer junger, unabhängiger, experimentierfreudiger Künstler nach. Jarmusch ist zu diesem Zeitpunkt ohne Zweifel durch seine Zeit an der Filmschule ein (handwerklich) reiferer Filmemacher, und verfügt zudem über fortgeschrittene Technologie, vor allem was die Tonaufnahme und –mischung betrifft. Es erscheint mir trotzdem nicht allzu abwegig, dass Markopoulos oder Brakhage mit vergleichbaren Mitteln in diesem Entwicklungsstadium einen ähnlichen Film gedreht hätten. Am offensichtlichsten wird das in der Wahl der Hauptfigur, die in ihrer bubenhaften Schönheit auch genauso gut Du sang de la volupté et de la mort (oder einem beliebigen Frühwerk von Kenneth Anger) entsprungen sein könnte. Jarmusch wirft seinen engelsgleichen Protagonisten in den Dreck von New York City, dort flaniert er erhaben und unbefleckt durch die Ruinen der Zeit, wie die stilprägenden Figuren in den großen Trancefilmen der 40er und 50er. (An dieser Stelle sollten auch die frühen filmischen Versuche von Stan Brakhage nicht unerwähnt bleiben, in denen er, inspiriert vom italienischen Neorealismus ebenfalls heruntergekommene Schauplätze für seine kleinen Melodramen wählte.) Allie aus Permanent Vacation ist der namenlosen Dame aus Meshes of the Afternoon womöglich ähnlicher als den herumstreifenden Vagabunden und Flaneuren, an deren Seite ihn das Arsenal programmiert, die klarste Genealogie lässt sich aber zum spazierenden Protagonisten aus Bezúčelná procházka von Alexander Hackenschmied (dem späteren Lebensgefährten von Maya Deren) ziehen, der das Motiv des ziellos Wandernden und der urbanen Peripherie miteinander verbindet. Allie ist weniger Flaneur als stolpernder Somnambuler, der auf seinen Streifzügen durch das heruntergekommene New York auf opake und mysteriöse Gestalten trifft (die Szene im Wald mit dem halbverrückten Kriegsveteranen könnte auch aus Alex Ross Perrys Impolex stammen – die Verzweigungen der Einflüsse und Referenzen ließe sich also bis in die Gegenwart fortsetzen), die ebenfalls wie Traumgestalten aus einem Trancefilm agieren, Bedeutungen werden durch die Interaktionen von Allie mit den Nebenfiguren nicht aufgedeckt, sondern noch tiefer unter Metaphorik und Symbolik begraben. Ergänzt wird diese schlafwandlerische Trance durch die unheimlich anmutenden, rhythmisierenden Musikstücke, die sich wiederholt zu Jazzstücken entwickeln. Der Jazz ist dann aber auch das entscheidende Element, dass die Trance durchbricht, und den Geist der Neuen Wellen der 60er Jahre in den Film einführt. Permanent Vacation ist ein Film doppelter Natur: einerseits zwar experimenteller Trancefilm, andererseits aber narratives, wenn auch unorthodoxes Erzählkino. Jarmusch interessiert sich zugleich für die filmische Aufarbeitung eines Wandelns durch die Stadt, für die Erzeugung einer tranceartigen Atmosphäre, als auch für eine Psychologisierung mit Dialogen und Handlungen, die alogische und inkohärente Zwischenräume auffüllen. Die Abkehr vom Primat der Erzählung führte bewusst oder unbewusst zu einer Annäherung an eine filmische Tradition, die sich seit Jahrzehnten mit Problemstellungen des non-narrativen Filmemachens auseinandergesetzt hat. Für wen wäre eine Auszeichnung, die nach Josef von Sternberg benannt ist, besser geeignet?

Permanent Vacation von Jim Jarmusch