Stop being in motion (pictures): 1999, baby

Es ist nicht wirklich möglich, über ein Kinojahr zu schreiben. Zu viele Faktoren spielen vor allem bei rückwirkender Betrachtung eine maßgebliche Rolle: Produktionsumstände, gesellschaftliche Strömungen, Kinobewegungen, Laufbahnen individueller Künstler, die eigene Wahrnehmung des Kinos zu jener Zeit und/oder zur Zeit des Betrachtens, Festivalpolitiken, Hollywoodpraktiken, Förderpolitiken, politische Ereignisse und Zufälle. Ein Jahr, das aber immer wieder in den Fokus rückt, ist 1999. Zum einen ist 1999 ein Jahr, indem es eine Art Realismus-Revolution im Kino gab. Hervorgehoben wird vielerorts das Filmfestival in Cannes, das im letzten Jahr des vergangenen Jahrtausends mit „Rosetta“ von Luc&Jean-Pierre Dardenne und „L’humantité“ von Bruno Dumont zwei Filme mit Preisen bedachte, die eine neue Alltäglichkeit, einen ehrlichen Schmutz des Lebens ins Kino warfen und somit in vielerlei Hinsicht einen filmpolitischen Ausruf tätigten. Zum anderen war 1999 ein Jahr der innovativen und frechen Filme aus den Vereinigten Staaten. Man sprach und spricht viel von einer eigenwilligen Suche nach neuen Möglichkeiten des narrativen Kinos, die aus verschiedensten Gründen 1999 ausgelotet wurde. Neben „Fight Club“ von David Fincher sind auch „Magnolia“ von Paul Thomas Anderson, „The Matrix“ von den Wachowski-Brüdern, „The Blair Witch Project“ von Eduardo Sánchez und Daniel Myrick oder „American Beauty“ von Sam Mendes zu nennen. Vielleicht prägt dieses Jahr auch den heutigen Film noch mehr als man glauben würde.

Magnolia3

Was allerdings kaum beachtet wird, ist das 1999 ein Jahr markierte, in dem viele Filme mitsamt ihrer Protagonisten die Sehnsucht entwickelten aus sich selbst, aus diesen immer gleichen Bewegungen auszusteigen. Die Figuren wollen der Gesellschaft, ihrem Leben und vor allem ihrer Aufgabe im Film entkommen. Es ist wie ein Anhalten und sich bewusst werden, dass man nichts ist außer einer Figur in einem Film. Und auch die Filme selbst haben einen Spiegel gefunden: Wir sind nur Filme und wir sind vor allem Filme. Wenn man ganz ehrlich ist, findet man für fast jeden Jahrgang genug Filme, um diesen Text zu schreiben. Bemerkenswert am Jahr 1999 ist jedoch, dass die filmische Form und die Prinzipien des Erzählkinos sich mit ihre Charakteren und diegetischen Welten beginnen aufzulösen.Zudem wird 1999 bezüglich dieser Bewusstwerdung eines filmischen Gefängnisses nicht unterschieden zwischen Industrie- und Kunstfilm. Die Filme wollen immer wieder aus ihrer Form ausbrechen, sie bezweifeln ihre eigene Realität und Logik, sie wiederholen ihre Bewegungen bis sie erschöpft zusammenbrechen und einfrieren, statt immerzu ihren narrativen Destinationen zu folgen. Lyrische, körperliche, zweifelnde Momente dringen so in Filme, die am Ende meist ihre eigene Machtlosigkeit erkennen müssen.

So beginnen die Charaktere in „Magnolia“, plötzlich zu singen. „Wise Up“ von Aimee Man:

It’s not what you thought
When you first began it.
You got, what you want
You can hardly stand it though
By now you know

It’s not going to stop
It’s not going to stop
It’s not going to stop
Till you wise up

Ein Lächeln in die Kamera am Ende des Films, lässt uns erkennen, dass wir erkannt wurden. Die Figuren wollen aussteigen, sie wollen ihren Fight Club gründen, in andere Welten reisen oder entwickeln ein sexuelles Parallelleben, der anhaltenden Versuchungen wie in Stanley Kubricks letztem Film „Eyes Wide Shut“. Sie verlassen ihre eigentliche Berufung, um ihre wahre Bedeutung zu finden wie in Michael Manns „The Insider“. Dabei ist ihr Eskapismus weder real noch realistisch. Ihre einzige Rettung sind die Filme selbst, die sie vielleicht, vielleicht auch nicht am Ende befreien während sie uns zuzwinkern und sagen, dass alles nur ein Film ist.. Werner Herzog könnte ein solcher zwinkender Mann sein. In Harmony Korines „Julien Donkey-Boy“ beschwert er sich bei seinem Sohn über diesen ganzen „artsy-fartsy bullshit“, ihn würden handfestere Dinge wie beispielsweise Dirty Harry interessieren. Ja, Werner Herzog, der im selben Jahr die Exzentrik seines Klaus Kinski in „Mein liebster Feind“ ausstellte. Doch „Julien Donkey-Boy“ ist wie meist bei Korine schon in sich selbst ein Eskapismus. Eine Flucht aus der gängigen Ästhetik (die er hier in den Dogmaregeln findet) und eine offene Thematisierung der Schizophrenie, die sich in der Form des Films, einem undeutlichen Farbenmeer wiederfindet. Ein plötzlicher Froschregen muss möglich sein, Rosenblätter aus dem schwarzen Nichts und kopflose Reiter. Wohin man blickt, sieht man Dinge, die man nie gesehen hat.

Fight Club4

Pola X6

1999 ist auch ein Jahr der Repräsentationskrise. Wie filmt man Hitler? Das hat sich auch Alexander Sokurov in seinem „Moloch“ gefragt. Ein Film, der diese repräsentativ schwerbeladene Figur natürlich in einen Fluchtpunkt setzt, weit weg von dem, was wir glauben zu kennen, immer anders als wir erwarten und vor allem absurd. Die Figur selbst ist auf der Flucht vor dem Alltag. Urlaub, um sich von den Kriegsstrapazen zu erholen. Es wird klar, dass 1999 nicht unbedingt dabei hilft die Grenzen zwischen Darstellung und Realität zu definieren, viel eher verschwimmen sie in den milchigen Bildern von Sokurov oder den körnigen Landschaften in Nuri Bilge Ceylans „Clouds of May“ und den Meta-Körperauflösungen von David Cronenberg in „eXistenZ“. Was ist Film und was nicht? Wann ist es ernst und wann nicht? Was ist wahr und was nicht? It’s not what you thought when you first began it…ähnlich ergeht es einem auch im Schlussdrittell von Takashi Miikes Folter-Pleaser “Audition”. Hier werden auch Rollenmuster umgedreht, denn wenn Hitler ein Mensch sein kann, dann können, die Dinge die du besitzt auch beginnen, dich zu besitzen, ja dann werden Frauen Männer foltern und Krieg wird zur Poesie wie sowohl in Terrence Malicks „The Thin Red Line“, der zwar von 1998 ist, aber 1999 in Berlin den Goldenen Bären gewann und in „Beau travail“ von Claire Denis. Auch diese beiden Filme sind voller Eskapismus. Figuren, die ihre Aufgabe in einer kaputten Welt nicht mehr verstehen, Figuren, die sich weigern eine Maschine zu sein. Wohin kann man flüchten?

L'Humanité2

Beau travail6

Die Lösung findet sich in den Filmen. So endet „Beau travail“ mit einem Tanz, der alles wegwirft, das Leben und den Tod, den Film und die Liebe und genau damit alles rettet. In „Fight Club“ bewegt sich der Tod gar rückwärts und alles explodiert, „Where is my mind?“ und wohin schauen wir? „Fuck“, ist das letzte Wort in einem Film von Stanley Kubrick und er meint es nicht als Fluch, sondern als Bedürfnis. Bei Woody Allen werden 1999 Ratten geschossen in „Sweet&Lowdown“ und im betrachten von Zügen liegt eine Flucht aus dem zweitbesten Leben des zweitbesten Gitarristen der Welt. In „Bleeder“ von Nicolas Winding Refn wird die Filmgeschichte wortwörtlich in Namen durchdekliniert, als wolle man durch das Nennen von Namen einen inneren Rausch befriedigen, der immer nur der absolute Rausch einer Flucht ist, einer Flucht in viele unterschiedliche Dinge, die immer nur wieder zurück auf die Ursprungsfrage gehen: Wie komme ich aus diesem Film raus? Gewissermaßen ist dieser Text eine derartige Szene aus diesem Film. Was diese Filme eint, ist eine kurzzeitige Flucht, ein Schimmer der Hoffnung, sei es durch den Tod, die Liebe oder Gewalt. Wir können einfach aufhören, wenn der Film aufhört. Aber so einfach ist das nicht. Denn gleichzeitig sind sich diese Filme ihres eigenen Gefängnisses bewusst. Wenig Glück hat da die titelgebende „Rosetta“ bei den Dardennes. Ihre Fluchtversuche sind ein stetes Anrennen gegen eine Wand, ein Sprint über einen erdrückenden Acker wie bei Bruno Dumont, die Kamera, die sich auf sich selbst dreht wie in „Clouds of May“ und das Stück, dass sich mit der melodramatischen Realität verzweigt wie in „Todo sobre mi madre“ von Pedro Almodóvar. 1999 ist ein Jahr, in dem sich die Filme selbst umbringen wollen und mit ihm die Figuren.

Clouds of May

Niemand kann je die Tränen von Julianne Morre in „Magnolia“ vergessen, das Geräusch von Gas in „Rosetta“, den Sprung ins Wasser in „Ratcatcher“ von Lynne Ramsay… „The Virgin Suicides“, Slow-Motion Beauty-Deaths in 1999, baby. Die Kameras gehen aus, irgendjemand bringt einen letzten Kasten Drehschlussbier. Alle sitzen schweigend, denn keiner glaubt mehr an das, was er gemacht hat. Ein paar zynische Witze werden gemacht, es gibt keine Dispos für irgendeinen nächsten Tag, nur die Heimreise wird noch organisiert. Aber keiner weiß, wohin zu fahren. Irgendwann ist Winter und die Kamera steht im Eis, die Menschen haben sich vielleicht gerettet. In Abbas Kiarostamis „The Wind Will Carry Us“ ist es ein Warten auf den Tod. Die immer gleichen Wege, das Nachdenken über das Gute und Böse und die Absurdität der kleinen Momente, die einen am Leben oder in Bewegung halten. Bei jedem Anruf muss der Protagonist mit seinem Auto auf einen Hügel fahren, um Empfang zu haben. Einmal dreht er dort eine Schildkröte auf den Rücken als wolle er wenigsten in ihr den Tod finden, den er so sehr in einer anderen Person sucht. Aber als er schon lange gefahren ist, dreht sich die Schildkröte wieder um. Sie bleibt noch etwas im Gefängnis. Dies ist einer der schockierenden Momente des Kinojahres 1999. So viele Selbstmordversuche misslingen. Der Tod wäre eine Befreiung wie dieses Bild von Edward Norton im kollidierenden Flugzeug…der Heroinrausch von Xaver Beauvois in „Le vent de la nuit“ von Philippe Garrel, der auch mit Selbstmord (wie so oft) in Berührung kommen wird. Dabei geht es aber nicht um fatale Romantik oder eine Ausweglosigkeit, sondern um den tatsächlichen Eskapismus aus dem Film, die einzige Chance, der Bewegung zu entgehen. Düstere Wolken voller schöner Farben, die über die Leinwände spritzen wie Funken einer tatsächlich von der Zeit geprägten Kinosprache. Ich werde nicht die Frage stellen, warum man diese Farben heute nicht mehr so sieht wie vor 15 Jahren, weil ich glaube, dass man sie tatsächlich noch immer sieht. Das Spezielle an 1999 ist, dass sich das industrielle Kino und das Kunstkino vereinen, um zu flüchten. In „Pola X“ von Leos Carax führt diese Flucht in die größtmögliche Dunkelheit, die schön und unmöglich bleibt, ein Fluss aus Blut, der magisch und tödlich ist, nicht erlaubte Versuchung, eine neue Wand. In „The Talented Mr Ripley“ führt sie in das Licht Italiens und schließlich auch in die Dunkelheit. Sie erzählen von Menschen, die nicht mehr in ihrer Haut sein wollen, die nicht mehr sie selbst sein können. Selbst Filme wie „Toy Story 2“, „The Cider House Rules“ oder „The Green Mile“ schicken ihre Protagonisten auf Selbstfindungstrips ins Nichts. Vielleicht hat ausgerechnet M. Night Shyamalan mit „The Sixth Sense“ den Nerv dieser Zeit getroffen, weil er klarmachte, dass das Nichts womöglich sogar etwas ist, was wir von uns selbst nicht denken. Unsere Wahrnehmung gerät ins Wanken und wir sehen Gestalten in der Dunkelheit, die scheinbar atmen, scheinbar blicken, scheinbar lieben, aber vielleicht auch nur eine Fortsetzung der schwarzen Umgebung sind oder ein imaginierter Fleck auf einer Leinwand am Ende des Jahrtausends.

eyes wide shut

Diese Dunkelheit findet sich in den schlaflosen Nächten 1999. Als wäre man in der Nacht weiter weg, als könne man nachts wirklich flüchten. Die Nacht erzählt dieselbe Lüge wie das Kino…nur kälter. In „Bringing out the dead“ von Martin Scorsese wird sie zum Rauschzustand, ähnlich in „Eyes Wide Shut“ (eine Verkleidung, Masken, ein Tanz der anonymen Erregung) oder „Fight Club“. Der Wind in der Nacht ist ein Wind des Kinos. Die Tränen bemitleiden sich selbst, wenn sie niemand sehen kann, das Lächeln kann nur noch für eine Sekunde von der Kamera erhascht werden, ein leises Flüstern statt Gesang, ein letzter Blick zurück und dann schließt irgendwer die Augen und tut sich weh. Wenn es Nacht wird, dann kann man nichts mehr sehen außer der Leinwand. Die Bilder lassen die Figuren nicht fliehen, aber retten sie dadurch vor dem Sterben. Denn selbst wenn sie es noch so sehr versuchen, unsere Blicke halten sie und wenn sie merken, dass diese Blicke voller Liebe sind, dann werden sie vom Wind getragen.Irgendwo liegen die Figuren im Dreck. Sie können sich nicht mehr bewegen und verhaaren in ihrer Machtlosigkeit. Ihre Blicke vermögen uns zu fesseln, aber nur weil sie leer sind. Erschöpft fallen sie auf Betten, brechen unter der Hitze ihrer Müdigkeit und Verwirrung zusammen.

Rosetta

American Beauty

Einzig der Traktor von David Lynch fährt durch die Dämmerung. Als wolle Lynch sagen: Ich habe es euch schon immer gesagt. Aber letztendlich ist auch dieser Film eine Flucht vor dem Film und dem Leben. Für den Protagonisten und für den Regisseur ganz sicher auch.