Dossier Beckermann: Life is a Highway (American Passages)

American Passages von Ruth Beckermann

Wieder: eine Reise. Es beginnt in New York. Ausgelassen bejubelt eine Gruppe von Schwarzen den Wahlsieg Barack Obamas 2008. Es ist Oktober, die Euphorie ist groß. Wenige Monate später sollte Obama sogar der Friedensnobelpreis verliehen werden. Nun, zum Ende der Amtszeit des ersten afroamerikanischen Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika blickt man mit mehr Ernüchterung auf diese Zeit zurück, erinnert sich aber womöglich an die damalige Aufbruchsstimmung. American Passages nimmt diese Ernüchterung vorweg. Die jubelnden Massen werden schon bald abgelöst von Bildern aus den projects, den Wohnbauprojekten für Sozialschwache am Stadtrand. Dort fühlt man sich, Obama hin oder her, im Stich gelassen.

Diese Strategie der Konfrontation unterschiedlicher (Selbst-)Darstellungen des Landes prägt auch den restlichen Film: Auf einen Besuch einer tiefreligiösen Kirchengemeinde folgt ein Intermezzo mit einem homosexuellen Elternpaar; auf ein Gespräch mit einer Historikerin zum großen Phantasma „American Dream“ folgt eine Bestandsaufnahme der rassistischen Strukturen, die überall im Land (noch immer) wirksam sind; auf eine Weihnachtsfeier der Reichen und Schönen in Las Vegas folgt ein Segment über die bevorstehende Delogierung einer völlig aufgelösten Frau. Diese Vorgehensweise hat weniger mit Zynismus zu tun, als mit einem Verständnis von Politik und Kunst, dass sich nicht in der Verbreitung vorgefertigter Meinungen erschöpft. Ruth Beckermanns Filmschaffen steht vielmehr für eine Bestandsaufnahme unterschiedlicher Weltentwürfe, die zusammen ein Beziehungsgeflecht ergeben, aus dem sich das Publikum selbst einen Reim machen soll (und muss). Verschiedene Argumentationsansätze werden vorgeschlagen, aber nicht aufgezwungen; in American Passages, mehr noch als in allen anderen Filmen Beckermanns seit ihrem Erstlingswerk Arena besetzt, steht das erzählerische Fragment im Mittelpunkt. Aus einer Vielzahl von Eindrücken und Gesprächen aus dem ganzen Land ergibt sich so ein durchaus vielschichtiges, und in seiner Ambition, monumentales, Bild der Vereinigten Staaten.

Dieses (Selbst-)Bild changiert zwischen dem einer glitzernden, heilen Welt, das völlig übereinstimmt mit den großen Mythen, die die amerikanische Unterhaltungsindustrie verbreitet und dem Bild eines Lands, wo Soldaten nicht aus dem Irak zurückkehren, wo Familienväter der Bandenkriminalität zum Opfer fallen, wo der Tod so viel gegenwärtiger scheint als in Mitteleuropa.

American Passages von Ruth Beckermann

American Passages ist im Kern ein Film über Identität. Einen ersten Hinweis für dieses Interesse an der amerikanischen Identität gibt die Sequenz gleich zu Beginn, wo einer der Befragten auf seine indianische Herkunft aufmerksam macht. Er sei zu einem Viertel Indianer und kann das durch eine Kennnummer nachweisen, die die bürokratischen Organe seinen Vorfahren zugewiesen haben. Die amerikanischen Ureinwohner zählen zu den sogenannten minorities, die alle zusammen, so eine andere Gesprächspartnerin, schon bald die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung ausmachen werden. Und doch muss sich jedes amerikanische Selbstverständnis mit dem Traum des weißen, männlichen, heterosexuellen Tellerwäschers messen, der sich anschickt Millionär zu werden. Dieser Traum ist so stark, dass selbst jene, denen er durch rassistische, sexistische oder ökonomische Ausgrenzungsmechanismen verwehrt bleibt, sich nur in Opposition dazu begreifen und definieren können (im Anschluss daran könnte man sich fragen, ob überhaupt irgendwo auf der Welt noch eine Selbstdefinition möglich ist, ohne dieses Modell zu berücksichtigen, das von der amerikanischen Kulturindustrie verbreitet wird).

Die Frage nach Identität ist eine Triebfeder im Werk von Beckermann. Die Reise auf den amerikanischen Kontinent ermöglicht ihr eine Reflexion über die Bedeutung von Identität, die weniger stark mit ihrer eigenen Biographie verbunden ist. Übersee ist ihr Blick weniger stark von ihren eigenen Erfahrungen gelenkt, American Passages scheint deshalb neugieriger, schweifender, befreiter von theoretischen Überlegungen, die dem Film vorangingen, am ehesten vergleichbar mit Ein Flüchtiger Zug nach dem Orient, jedoch ohne dessen literarische und historische Vorlage, die zur Orientierung diente. American Passages ist orientierungslos im besten Sinn. Ein Film auf den Spuren des Amerikanischen Traums, der sich als ebenso unauffindbar wie unwiderstehlich entpuppt. Auch deshalb, weil er sich aus so zahlreichen, wie vielfältigen und widersprüchlichen Untermythen zusammensetzt. Die Gefahr sich in diesen zu verheddern umschifft Beckermann clever durch die Betonung des Fragments – die einzelnen Mosaiksteine, die zusammen den Film ergeben, lassen sich im Kopf immer wieder neu montieren.

American Passages von Ruth Beckermann

Wie so viele Filmemacher ist auch Beckermann von der Durchquerung dieses phantasmagorischen Raums (der ist: Amerika) zu Höchstleistungen angetrieben worden. American Passages bleibt nicht unberührt von der Filmgeschichte. Wenn Beckermann, auf dem Weg durch die Südstaaten, aus dem Auto filmt und Straßenrand und Landschaft vorbeiziehen, so vernimmt man das deutliches Echo von Chantal Akermans Sud, die diese filmische Bewegung schon mit D’Est geprägt hat. Gibt es eine geeignetere Form die USA zu filmen, einem Land, das sich so sehr über sein Straßennetz und sein Verhältnis zum Automobil definiert, als aus dem Beifahrersitz eines Wagens? Für den Besucher (oder Eindringling) von außen bleibt wohl gar kein anderer Weg sich diese Dimensionen zu erschließen als sie mit Hilfe des Gespanns von Auto und Kamera filmisch zu vermessen. In einem rezenten Beispiel hat es Andrea Arnold mit American Honey ähnlich gehandhabt. Wim Wenders ohnehin.

„Amerika! Der Gedanke macht leicht. Alles wird möglich… wenn auch nur im Traum“ – Ruth Beckermann

Filmfest Hamburg: American Honey von Andrea Arnold

American Honey von Andrea Arnold

Alle Menschen sind in letzter Konsequenz Sternenstaub. Aus diesem Grund hat Stars Mutter ihr bei der Geburt diesen extravaganten Namen gegeben. Die Mutter ist mittlerweile tot. Wie so viele Angehörige der amerikanischen Unterschicht des Mittleren Westens ist sie der gefährlichen Anziehungskraft von Crystal Meth zum Opfer gefallen. Da ihr Vater sein Leben nicht sehr viel besser auf die Reihe bekommt, kümmert sich Star um ihre beiden jüngeren Geschwister. Die ersten Minuten von American Honey deuten auf ein düsteres Sozialdrama hin, auf eine unerbittliche Abrechnung mit der Lebensrealität der amerikanischen Unterschicht im bible belt. Doch dann kommt Jake und sein Mob verrückt-ausgelassener Kreuzritter, die in der stolzen Tradition des amerikanischen salesman mit Zeitschriften-Abonnements unter dem Arm durchs Land ziehen und Star in ihre Bruder-/Schwesternschaft aufnehmen. Ein weites Land ist das, durchaus facettenreich, klischeebeladen, aber in letzter Folge durch eine Reihe wechselseitiger Beziehungen geprägt. Beziehungen zwischen Klassen, Rassen, Geschlechtern, Klimata und Ökosystemen. Andrea Arnold wirft in American Honey einen Blick auf die Vereinigten Staaten, der auf der einen Seite tief in Americana verankert zu sein scheint, auf der anderen Seite (allein durch die Herkunft der Regisseurin) von außen kommt. Am Anfang steht da geduldige Beobachtung und eine Faszination für die lang etablierten (und filmisch verewigten) Reize dieses Lands – die endlosen Weiten, die Goldgräbermentalität, der unermessliche Reichtum –, aber auch ein sozialkritisches Bewusstsein für das Elend der unteren Schichten, für die strukturelle Diskriminierung und die fehlende Perspektive für weite Teile der Bevölkerung. Aus diesen Schichten rekrutiert sich die Gruppe an jugendlichen Verkäufern, die unter der Ägide der eisigen Krystal (ein Hybrid aus White Trash und Southern Belle) durch das Land reisen, um mit ihren Zeitschriften die gutmütigeren und wohlmeinenderen unter den Bürger übers Ohr zu hauen. Bis auf Shia LaBeouf, der Krystals rechte Hand Jake verkörpert, rekrutierte Arnold dafür eine beeindruckende Riege expressiver Physiognomien. Die schillernde Truppe an interessanten Gesichtern, die für sich bereits eine eigene Geschichte erzählen ist wohl eine der Hauptattraktionen in American Honey. Dazu kommt noch die Physiognomie der Landschaft. Zwar verzichtet Arnold darauf mit Landschaftsaufnahmen der steppenartigen Weiten des Mittleren Westens zu protzen, doch hat sie eine Vielzahl an Orten gefunden, die man nicht in allzu großer Regelmäßigkeit im Kino sieht: die Slums der krisengebeutelten zentralen Bundesstaaten, wie man sie z.B. aus Winter’s Bone kennt, die aus dem Nichts gewachsenen (Schiefer-)Ölfelder der Dakotas und Montanas, die Skyline und Villenviertel von Kansas City. Gerade die Auswirkungen des Schieferölbooms sind bisher nur spärlich kinematisch in Szene gesetzt worden – in diesen ehemals vernachlässigten, nun neureichen Regionen hat der Film seine besten Szenen.

American Honey von Andrea Arnold

Aber Obacht, es lauern Stolperfallen am Weg, die zu Kritik am Film einladen: allzu plakative Verurteilungen der Einkommensverteilung und blutleere Kritik am Kapitalismus; eine Bildsprache, die in vielerlei Hinsicht an die Sundance-Ästhetik anderer US-Indies erinnert; ein Übermaß an Musikzitaten. Aber all das hat auf einer anderen Ebene seine Berechtigung und entpuppt sich bei genauerer Betrachtung als vielschichtiger, als man das zunächst zugeben will. Es hat etwas Ironisches wenn ein Kleinbus voller weißer Südstaatler sich von Hip Hop Musik zur kapitalistischen Jagd aufs Geld motivieren lässt (ich würde behaupten, dass money im Kontext der schwarzen Musikkultur eine andere Bedeutung hat, als für den weißen Geldwäscher, der sich aufmacht Millionär zu werden). Zudem peitscht die Musik nicht nur die Protagonisten, sondern auch den Film voran, verleiht ihm eine Form roher Energie, die sehr gut mit dem Roadmovie-Rhythmus harmoniert. Die Lagerfeuerromantik à la Sundance bricht Arnold mit fehlender Schrulligkeit und dem Verzicht auf die Glorifizierung und Weichzeichnung von Armut, sowie einer Absage an jedwede Form der narrativen Schließung. Der Sozialrealismus vermengt sich mit einem oberflächlichen Beziehungsdrama zu einer Art ziellosem Roadmovie (ist es nicht eigentlich konstitutiv für dieses Genre, dass eine im Vorhinein festgelegte Destination angesteuert wird?), das in den richtigen Momenten uneindeutig, hart, aber zugleich hoffnungsvoll bleibt. American Honey ist ein coming-of-age Drama ohne abschließendes Befreiungserlebnis, eine Romanze mit unklaren Ausgangs- und Endpunkten und eine geduldig beobachtende, aber machtlose Sozialstudie.

Man kann so einiges kritisieren an American Honey, doch 160 Minuten kraftvolle Bilder sprechen für sich. Vermeintliche Schmuseästhetik trifft auf brutalen Realitätsglauben, die Hoffnung auf schnelles Geld auf das ökonomische Elend, gefühlvolles Liebesspiel auf fleischliche Begierde. Es lässt sich wieder einmal mit Cristi Puiu sagen: Es ist alles nicht so einfach.