Das vom Moos überwucherte Haus von Percy Smith, in dem der britische Dokumentarist und Filmpionier sich mit Pflanzen und Tieren umgab, um Erziehungsfilme zu realisieren, um zu forschen, allein mit seiner Leidenschaft zu arbeiten, ist nicht nur die Grundlage für die musikalischen Abstraktionen des schönen Minute Bodies: The Intimate World Of F. Percy Smith von Stuart A. Staples, sondern auch ein Bild für das Haus von Hans Hurch, die Viennale, die möglicherweise abrissbereit, möglicherweise renovierungsbedürftig, als Denkmal, als pure Gegenwärtigkeit oder als Erinnerung in Wien zur Begehung einer trauernden, ignoranten oder in die Zukunft blickenden Gemeinde aufgesucht wurde. Es war wie erwartet schwer, die Härte und gefährlich weit ins politisch Manipulative sowie unterdrückend Dominante reichende Präsenz des verstorbenen Festivaldirektors mit der Zärtlichkeit, Liebe fürs Kino und Traurigkeit zu verbinden, die sein Fehlen im Kino auslösen muss. Denn diese verschiedene Stränge eines Widerstands im Festivalbetrieb vereinte Herr Hurch wie kein Zweiter.
Die Viennale 2017, ein Haus aus Moos. Manche brachte Geschenke, die sanft von Trennungen erzählten (Vai-e-Vem, The Big Sky), andere zeigten, wo Herr Hurch ihnen die Augen öffnete und andere fragten sich, ob Festivals wirklich einen Geist besitzen, ob in ihnen das Leben eines Kurators fortbesteht oder ob das eine romantische Idee ist, die von den Realitäten der Kinomaschine und der fortschreitenden Zeit hinweggespült wird. Man muss nur auf die Cahiers du Cinéma heute blicken, um nicht an diese Geister zu glauben. Die diesjährige Viennale war wie eine langgezogene Kurve um einen Friedhof herum. Man hat viel Zeit, in andere Richtungen zu blicken, aber man spürt jederzeit eine Gravitation, die auch ein Versprechen sein könnte, aber vor allem eine Frage: Was jetzt? Eine der wichtigsten Prinzipien der filmkuratorischen Arbeit in Wien ist immer schon die persönliche Handschrift des Kurators. Das diesjährige Festival war wie ein Manifest dafür, weil sie sich unrealisiert realisieren musste, weil niemand mehr den Stift halten konnte, mit dem geschrieben wurde. Im Kino jedoch verschwindet alles hinter der Gegenwärtigkeit der Filme. Und diese gilt es zu würdigen, wenn sie es verdient haben. Dann gibt es Geister.
– San Clemente – Urgences – 12 Jours (Raymond Depardon)
Watching people light up in hidden places, remembering them though we’ve never met, moving through corridors step by lagging step, seeing the sky in the courtyard, only in the courtyard.
– The Big Sky (Howard Hawks)
What a great big sky it in this dancer on the landscape, as the band of not-quite-brigands turned frontiersmen picks their way across branches and logs, over riverbends and fires, strung and tied together like a whiff of true companionship.
– The Day After (Hong Sang-soo)
And then they fell apart, companions and lack thereof, with embarrassment worn on their sleeves, all the embarrassment of attempting, not knowing, lacking, sorely lacking the path to an embrace.
– L’Amant d’un jour (Philippe Garrel)
Yes, there might have been a touch, but it was pushed against the wall and faded away, unfurled and faint, barely visible in the night walks on Parisian streets. But the lingering aftertaste of violets and freckles chases the screen away.
– Ex Libris (Frederick Wiseman)
If we could look behind the scenes, we would surely land on the planet of dream libraries, its stages deployed like paintings of a utopian project, its petals open in the flattering light of the human ambition to know, together.
– Quei loro incontri (Jean-Marie Straub, Danièle Huillet)
Unrooting, uncovering, unveiling, letting speak, finding a voice, finding the voice buried under moss, lychen and the green streams littered on the shores, sitting on a rock with all of sunlight on your face, opening shadows.
– La nuit où j’ai nagé (Damien Manivel, Kohei Igarashi)
A wanderer with a face full of the clarity of white, all white, a lost mitten and shoulders deep in snow, a quest to deliver dream messages to those we meet among sea creatures of the deep, a mountain to cross in silence.
– Barbara (Mathieu Amalric)
Sea of music carrying away, bringing into existence, awash with life and the currents of grief, all stirred into fireworks, a myriad of colors and a blister of a smile. Oh, how beautiful it is to dive in!
Valerie Dirk
2 Fragen:
Kann man Bruno Dumonts Jeannette auch politisch lesen?
Herausgefordert wurde diese Lesart durch die penetranten Wiederholungen in den Gesängen der französischen Nationalheldin: Frankreich, Glaube, Christentum, Judentum, Kampf. Die Bewegungen dazu bestanden (unter anderen) aus exzessivem Headbangen. Das Peitschen von Frauenhaaren auf Sand. Welch Metapher, gerade jetzt.
Auf meine Frage, ob der Film, abseits der innovativen ästhetischen und formalen Spielereien, auch ein politischer Kommentar sei, reagierte Dumont ausweichend. Alles sei ambivalent: Péguy, la France, Jeanne, la foi.
Und doch, trotz ihrer ungelenken Direktheit, trotz der Gefahr, alles andere unterzuordnen, scheint mir die Frage relevant, auch wenn ich sie immer mit einer gewissen Beschämung stelle.
Is Grace Jones human, and if so, why?
Bloodlight and Bami von Sophie Fiennes arbeitet dualistisch. Zum einen sieht man perfekt inszenierte Bühnenauftritte der Musikerin, während welchen sie aliengleich und dominant das Scheinwerferlicht beherrscht; zum anderen sucht eine verwaschene Digitalkamera-Ästhetik danach, Graces Menschlichkeit zu dokumentieren: auf Jamaika im Kreise der Familie, kehlig lachend, fluchend, sich sorgend, essend (Meeresfrüchte), trinkend (Wein), badend. An einem neuem Album arbeitend. Sich schminkend, sich selbst analysierend: I’m human.
Viktor Sommerfeld
La Telenovela Errante von Raul Ruiz – Die Soap als Bildgefängnis
Ein Film bleibt noch lange nach meiner kurzen Viennale. Neben vielem erwartbar Guten war La Telenovela Errante von Raúl Ruiz der unerwartete Fund meiner vier vollen Tage. Zurück in Berlin, als ich Freunden Bericht erstatte, erwische ich mich immer wieder bei dem Versuch diese fremdartigen Fragmente eines unfertig gebliebenen Filmes zu beschreiben. Erst hier lese ich Wikipedia über Ruiz und werde direkt belohnt mit Ruiz über Ruiz: „Der Barock … ist eine Art zu sparen und keine Ausgabe. Man darf Barock und Rokoko nicht vermengen, sondern muss Ersteren mit einem Restaurant zur Mittagszeit vergleichen: es gibt sehr wenig Platz, man versucht so viele Leute wie möglich unterzubringen, um die größtmögliche Anzahl an Kunden zu haben.“ Diese eigenwillige und gewiss enigmatische Definition seines Barocks erhellt sich in La Telenovela Errante, welcher den Kitsch der südamerikanischen Soapbilder in mehr oder weniger zusammenhängenden Episoden schonungslos auswalzt und zeigt, wie die Bilder des zwischenmenschlichen Pathos, der schmalzigen Romanze und der raunenden Dramatik selbst aktiv werden, um die Menschen noch in den alltäglichsten Situationen zu überwältigen. Die Telenovela, das ist das Bildgefängnis, aus dem es für die sozialen Formen kein Entrinnen gibt. Bei der Suche nach einer Straße namens ‚La Concepción‘ in der gleichnamigen Episode treffen drei Männer an einer Kreuzung aufeinander. Während eines endlos kreisenden Dialog verlieren sie sich immer tiefer in den symbolischen Abgründen des Wortes ‚Concepción‘. Ausgehend von der Freundin des einen Mannes, die zufälligerweise wie die Straße heißt, tun sich immer neue Bedeutungen auf. Es gibt keinen Ausweg aus dem Netz der Verweise, in schleichender Hysterie steigert man sich immer weiter hinein in dieses wichtigste aller Gespräche, schon bald scheint Alles in diesem einen Wort bedeutet. Ruiz‘ muss keinen Widerspruch von außen einführen um die Absurdität dieser Szene zu zeigen. Er lädt einfach immer weiter generös Bedeutungen ein, gibt allen Möglichkeiten einen Tisch, bis der Laden implodiert und als leere Hülle vor uns steht. Der Barock wird hier zu klarsten Form, die sehr präzise auf die Strukturen zeigt, in denen Bilder unsere Lebenswelt gestalten. Und dafür muss man nie eine chilenische Telenovela gesehen haben.
Erster Zwischentitel in Steamboat Bill, Jr.: „Muddy Waters“
Erster Zwischentitel in Neighbors: „The Flower of Love could find no more romantic spot in which to blossom than in this poet’s Dream Garden.“
Traumgärten in Bologna: In einem Gespräch mit Frieda Grafe, Hartmut Bitomsky und Thomas Tode hat Harun Farocki einmal die Frage gestellt, ob man noch Filme machen könne, wenn es schon von allem Filme gäbe. Bologna lehrt mich vor allem, dass es noch viel mehr Filme gibt. Auf einer Ebene ist das befreiend, auf einer anderen einschüchternd. Es entsteht hier nicht nur eine starre Überwältigung und Handlungsunfähigkeit als Filmschaffender, sondern auch als Cinephiler. Das Schauen von Filmen rückt in einen Modus der Akzeptanz dessen, was man nicht sieht. Erstaunlich in welcher Form der Bericht vom Kinogang immer noch von einer Rhetorik des allgemeinen Verständnis geprägt wird und wie wenig von der tatsächlichen Verirrung, in der das Selbstbewusstsein weniger dem Sehenden, als dem überlegenen Kino selbst angehört. Es gibt natürlich Besucher, die einen Überblick über ein solches Programm haben, aber letztlich habe ich dieses Jahr von sehr vielen gehört, dass sie das Festival „entspannter“ angehen, sich mehr treiben lassen und sich weniger dieser wilden Jagd nach den von Serge Daney beschworenen verborgenen Schätzen hingeben wollten. Es gibt also ganz ähnlich den Essayfilmen von Farocki eine Rückbesinnung auf den Autor, in diesem Fall den Autor des Sehens. Es geht weniger um das Programm des Festivals als das persönliche Überleben darin, die Erkenntnis, dass im Traumgarten nicht jede Frucht erreichbar ist. So reif bin ich noch lange nicht und so habe ich die Woche nach dem Festival damit verbracht, Filme zu sehen, die ich auf dem Festival verpasst habe.
Meine persönlichen Momente des Festivals:
Zum einen eine legendäre Tanzsequenz mit Sehnsuchtsträumen, Überblendungsorgien, betrunkenen Hunden und dem magnetischen Gesicht von Ivan Mosjoukine in Kean ou Désordre et génie von Alexandre Volkoff. Eine Szene, die wie vieles in Bologna derart gut musikalisch begleitet wurde, dass mir die Kubelka-Strenge bezüglich der Projektion ohne Musikbegleitung gehörig um die Ohren flog. In meiner Wahrnehmung sollte es immer beide Möglichkeiten geben. Einmal mit und einmal ohne Musik. Eine Szene, in der ein Film spazieren geht. Eine Szene, in der dem Kino erlaubt wird, zu erzittern. Eine Szene, die meiner dieses Jahr auffälligen, überdurchschnittlichen Liebe zu Hunden (auf der Straße und im Kino) in die Karten spielte genau wie eine grenzwertig brutale Szene in Marie Epsteins und Jean Benoit-Lévys Itto, in der einem Hund die Welpen weggenommen werden, was zu Irritation und schließlich ungebremster Wut im Tier führt. Zum Schmerz des entrissenes Kindes hatte auch Frank Borzage in seinem zärtlichen Until They Get Me einiges zu sagen. Dann waren da die Farben im Schwarz von Blood on the Moon von Robert Wise. Und dann Place de la Concorde von Etienne-Jules Marey, ein Film, der eigentlich nicht als solcher gedacht war und einen wie die Lumière-Projektionen auf dem Festival an das Kino erinnert, was das Kino ist und sein könnte, nicht was es war. Im weniger als eine Minute langen Film sieht man das Treiben in der französischen Hauptstadt an einem belebten Tag. Es passiert so viel im Bild, dass es gut getan hat, dass der Film mehrfach gezeigt wurde. Wie Abbas Kiarostami einmal sagte: Man fühlt, dass Dinge interessanter anzusehen sind, wenn ein Rahmen um sie herum ist.
Das stimmt aber nicht ganz. Schließlich habe ich auch die tosenden Grillen in den Bäumen von Bologna gehört, die im heftigen Gewitter wankenden Blätter eines Bananenbaums im Hof vor unserem Fenster, das Licht, das über die Terrakotta-Gemäuer wandert und dieses Jahr auch endlich das unsichtbare Wasser, das zwischen den Häusern, kaum sichtbar durch die Stadt fließt. Kein Rahmen, trotzdem Kino und zwar in einer Art und Weise, das scheint mir nicht wirklich präsent zu sein, die sich eben abhebt von diesem Streben nach dem neuem Film, dem viele Zuseher und die schreibende Zunft so auf den Leim gehen. Das heißt nicht, dass sich in Bologna nicht auch viele Probleme einer Kulturbranche zeigen, die relativ willkürlich entscheidet, was von der Filmgeschichte erhalten und beleuchtet wird. Das Problem ist, dass eine Kritik dieses Vorgehens jenen vorbehalten wird, die mehr Früchte aus dem Traumgarten kennen, als vom Festival zur Verfügung gestellt werden. Weit entfernt von solchem Wissen möchte ich abschließend noch betonen, dass mir das Prinzip der „Gatekeeper“ in der historischen Auseinandersetzung mit Filmen fatal scheint. Verschiedene Figuren schwingen sich auf zu Experten von diesem oder jenen Kino, sie werden zu Entscheidungsträgern, die letztlich sagen, was relevant ist und was nicht und zu bestimmten Themen scheint es nur sie zu geben, die dazu etwas äußern sollen und können. Was dabei an Tradition gewonnen wird, geht an Lebendigkeit, Offenheit und tatsächlicher Auseinandersetzung mit dem Kino verloren. Nach Bologna fahren sollte man trotzdem und zwar nicht, um wie viele das grandiose Essen und die schöne Stadt zu genießen, sondern um die seltene Chance wahrzunehmen, zu erfahren, dass Kino mehr ist, als man sehen kann und dass nicht nur deshalb das Vergangene im Kino immer von der Gegenwart und Zukunft des Mediums erzählt.
Rainer Kienböck
Mittlerweile habe ich für mich einen dienstbaren Weg gefunden durch das Programm zu navigieren. Recht willkürlich schließe ich vor Beginn des Festivals ein paar der Programmreihen aus, die mir weniger interessant erscheinen, dann lasse ich mich zu Beginn des Festivals treiben und peile dabei eine gesunde Mischung aus halbverschollenen Raritäten und Klassikern, die ich noch nicht gesehen habe, oder wiedersehen möchte, an. Im dritten Jahr habe ich mich auch endlich damit abfinden können, dass das Il Cinema Ritrovato ein Festival des Verpassens ist: jede Entscheidung für eine bestimmte Vorführung ist zugleich eine Entscheidung gegen andere ebenso interessante Programmpunkte. Es hängt sicherlich mit dem Reiz dieses Festivals zusammen, dass manche dieser Entscheidungen Filme betreffen, die vielleicht für Jahrzehnte nicht mehr gezeigt werden.
Ich war in jedem Fall gut beraten, in der Programmgestaltung vieles dem Zufall zu überlassen. Das hat zum Beispiel dazu geführt, dass ich wohl nie zuvor in einem so kurzen Zeitraum so viele Stummfilme gesehen habe. Vor allem die Reihe mit Filmen von vor 100 Jahren hatte es in sich, war 1917 ein annus mirabilis des Kinos oder führt ein sorgfältig kuratierte Auswahl von 50 Filmen aus einem beliebigen Jahr automatisch zu so einem fantastischen Programm? Robert Wienes Furcht mit Conrad Veidt, Tösen från Stormyrtorpet von Victor Sjöström und vor allem Frank Borzages Until They Get Me zählen ohne Zweifel zu den besten Filmen, die ich in Bologna sehen durfte. Und das obwohl kaum einer der 1917er-Filme untertitelt war und die Simultanübersetzungen noch immer so schlecht sind, dass ich im Endeffekt lieber versuche dänische, schwedische oder italienische Zwischentitel zu lesen (es spricht für die Filme, dass sie trotzdem wirken). Until They Get Me muss auch aus einem anderen Grund in diesem Text Erwähnung finden – er spielt in Kanada.
Wie die Zufälligkeiten eines solchen Festivalbesuchs es so wollen, begann mein Bologna-Aufenthalt mit einem Screening von Bill Morrisons Found-Footage-Kompilationsfilm Dawson City. Frozen Time, der sich der Geschichte der namensgebenden Stadt in Nordkanada – einem Zentrum des Gold Rush des späten 19. Jahrhunderts – annimmt. Dawson City war nur der Auftakt für eine überproportionale Menge an Kanada-Western in meinem persönlichen Programm. Neben Borzages Film muss ich an dieser Stelle auch Otto Premingers River of No Return erwähnen: Marilyn Monroe in Cinema Scope und Technicolor und dennoch lebt der Film stärker von der unvergleichlichen Präsenz Robert Mitchums (dem diesjährigen Festival-Posterboy). Nach River of No Return und Blood on the Moon am Folgetag hatte ich mir vorgenommen, zumindest einen Mitchum-Film pro Tag zu schauen. Die Zufälligkeiten wollten es anders, und ich sah zu meinem Bedauern keinen einzigen weiteren.
Aber noch einmal zurück zu den Stummfilmen. In einem längeren Text habe ich bereits über die grandiosen Lumière-Programme geschrieben, die es in Bologna zu entdecken gibt, samt großartigen Einführungen (ich verweise noch einmal auf Aboubakar Sanogo) und wunderbarer Musikbegleitung – einer der Pianisten hat das Musikrepertoire sogar um seine Stimme ergänzt. Diese Aktion war für mich sicher der skurrilste musikalische Moment des Festivals, bei dem Musik eine große Rolle gespielt hat. Bei den Freiluftvorführungen am Piazza Maggiore gab es gleich zwei solche musikalische Höhepunkte: zum einen die Live-Performance von Maud Nelissen & The Sprockets zu The Patsy von King Vidor und zum anderen Monterey Pop von D.A. Pennebaker, der Konzertfeeling aufkommen ließ. Umgeben von hunderten Leuten, die Soundanlage bis zum Anschlag aufgedreht, der Applaus des Publikums am Piazza mischt sich mit dem Applaus des Publikums im Film. Eine überwältigende Erfahrung, die mich zumindest ein wenig mit der Praxis digitaler Projektion von analog entstandenen Filmen versöhnt – auf konventionellem Weg hätte man den 16mm-Film wohl kaum auf der 20 Meter hohen Leinwand am Piazza zeigen können.
Zum Abschluss noch ein paar weitere Eindrücke vom Piazza, die ich einfach erwähnen muss: L’Atalante auf Riesenleinwand wiederzusehen, über Michel Simons Brillanz zu staunen und natürlich über die vernebelten Traumbilder von Jean Vigo, in denen dennoch das „echte Leben“ pulsiert; der Festival-Trailer, in dem Jimi Hendrix zu Because the Night lipsynched und Brigitte Bardot zum gleichen Lied ein Tänzchen wagt. Leider, leider hat er es (noch) nicht auf die gängigen Video-Plattformen geschafft, um ihn hier zu teilen – es wäre ein würdiger Abschluss für einen Text über die Höhepunkte des Festivals.
Ivana Miloš
Every Love Has Its Landscape
Where architecture and summer join, bringing about a hazy, misty awareness of movement and fiction caught in a tête-à-tête lasting several days, there cinema can soak the streets and inhabit a sanctuary upon a hill, overlooking the landscape with the decisive stance of a searcher akin to Sterling Hayden in the opening shots of Johnny Guitar. Here, only a celebratory blink of the eye separates the fear of being caught in a storm and buried by the rubble of an explosion bringing in the future from the feeling of mercifully basking in the past. Have the images invaded and pervaded your consciousness or has the sun gone to your head? Blissfully, there is no way of telling. Bologna’s Il Cinema ritrovato resembles what Hélène Cixous calls an “exploded” reading, with splitters and fragments building up the experience of a festival, a history, and a cinema.
The cinema revealed in Bologna may well be one of many, but its fruits are more alluring than most and whet the appetite with a delicious twist. If a screening such as the 1917 Pathé Frères’ treasure box Les danses enfantines can serve as a foundation of a festival visit, there is much to be discovered lying in wait in the intertwined shadows of arcades. The study of the movement of young ballerinas thus easily metamorphoses into a glimpse of a mysterious forest glade inhabited by nimble, fawnlike dancers with inimitable expressions, secrets, and promises. Chief among them is the promise of motion, made manifest by the rise and fall of feet cushioned upon grass, divulging the magic of dancing bodies with a touch of the camera shutter responsible for the wondrous slow motion of the dancers. Mechanical marvels commingle with revelations of (almost) unknown realities, as the program section of hundred-year-old films featured every year eloquently goes to show. Étienne-Jules Marey’s Place de la Concorde, a 88mm wide and 19m long filmstrip also breathes mystery when projected as it was never intended to be. These early sprouts of an art, their intentions partly uncertain, partly ignored and reassembled for the present, meet and traverse the humanity of Frank Borzage’s Until They Get Me (1917), Tay Garnett’s hyperbolized Destination Unknown (1933) and Tamizo Ishida’s lacework masterpiece Hana Chirinu (1938).
Then there is Arne Sucksdorff’s My Home is Copacabana (1965), riveting in its image-capturing skillfulness, whose spirit exactly matches its sapling protagonists. Somewhere between the sea and the sky, real-life yet fictional favela orphans Lici, Jorginho, Paulinho and Rico reimagine themselves based on the stories they have experienced and related to the director. Their feverish, incredibly fragile existence is led on the Atlantic shore of the beach in Copacabana and the ramshackle shelter they built for themselves on top of Morro da Babilônia. Both of these are at all times open to invasion, unwelcome intervention and the heedlessness of others. The children may and do try to defend them, but failure is pre-inscribed in their actions. My Home is Copacabana portrays the lack of home by gently, but unsparingly sculpting the spaces of its non-existence. But the issue of homelessness does not bring on an edifying, moralizing or pitying perspective; the film remains as clear and respectful as can be towards the children’s struggle to survive. A wild, dancing kite criss-crossing the skies during the opening credits personifies the quicksilver nature of a ruthlessly shaky life as well as the succulence of short-lived delights characteristic for and belonging to a child. When the children get chased away from their hill shack by bandits, they take to sleeping in fishermen’s boats on the beach. Dream meets devastation in the contours that envelop their lithe forms. The framing is flawless. One evening, a ritual is performed for Yemanja, the goddess of the sea, and a fire started on the beach outshines the darkness. A dance carries sand, sea, and laughter back into the skies.
Dance works towards resistance and the construction of two more universes: that of Med Hondo’s West Indies (1979), presented as a part of the Film Foundation’s World Cinema Project and Jean Rouch’s La Goumbé des jeunes noceurs (1964-65), well-concealed in the depths of the Documents and Documentaries section. The most elementally precious element of Hondo’s work (alongside his incomparable introduction) is the opening shot of the lurid setting of his story of relentless migrations between Africa, Europe and the Caribbean, a story of colonization and repression, on a giant slave ship located inside an industrial warehouse. This in itself is a dance; one of choice and skill, of camerawork chosen as the means of storytelling embarked on a ship just as so many of its participants had been throughout history.
Another migration, that of the inhabitants of French Upper Volta to the city of Abidjan in the Côte d’Ivoire, acts as a starting point for Rouch’s incredible engulfment in an association of migrants shaped around the goumbé, a traditional dance they rely on in the desire to maintain a community and ensure mutual solidarity and assistance in a foreign land. While the secretary-general reads out the statute and the names and occupations of the chief members of the association, each is presented in a series of perfectly rounded portraits, miniatures of every worker at their workplace and their home. The film flows and feels like a simple, devotedly woven cloth – it wraps itself around its participants purposefully, letting them breathe as freely as they wish. If humanity could take on the unostentatious garb of these images, of their fabric and tone, the promises of movement made a hundred years ago could come to life with true vigour. Hence, Rouch shows the goumbé in motion, in splendour, as a halo of brightness on fire. And if the dance of cinema is going to catch fire again, it better develop the radiant rupture of triumphant life and spread its wings in the night. Nobody will strike at a firefly in the darkness.
Valerie Dirk
Zeitreisen auf der Piazza Maggiore: Obwohl ich bereits das dritte Jahr zum Cinema Ritrovato fahre, habe ich heuer zum ersten Mal die Kinomagie der Piazza Maggiore für mich entdeckt, auf der ich das Kino, noch intensiver als sonst, als Zeit- und Raummaschine erfahren habe.
Mit A Propos de Nice von Jean Vigo (nach Place de la Concorde von Etienne-Jules Marey) im Vogelflug über das Nizza von 1930 und mitten hinein in die Stadt während des Karnevals. L’Atalante fährt auf Hochzeitsreise durch nordfranzösische Kanäle und sucht das Bild der Geliebten (Dita Parlo !) im Wasser. Während Johnny Guitar von Nicolas Ray mit der großartigen Joan Crawford (die Farbe ihrer Hemden, ihre Haltung) und ihrer Gegenspielerin Mercedes McCambridge, spaziere ich von der ersten in die letzte Reihe. Kino kann man (zumindest kurzzeitig) auch im Gehen genießen. Monterey Pop von D. A. Pennebaker entführt die ZuschauerInnen in das Kalifornien von 1968, also in eine Zeit, in der die Geschichte der Popmusik und des direct cinema geschrieben wird. Sweet nostalgia schwemmt über die Piazza, denn das ist die Musik, mit der ich und viele andere aufwuchsen (die Schallplatten des Vaters). Totale Bewunderung für die Performances von Otis Redding, The Who, Janis Joplin und Grace Slick von Jefferson Airplane. Jimmy Hendrix enttäuscht dagegen, er ist zu vollgedröhnt. Die missbrauchte Gitarre hat gut daran getan, nicht flammend zu lodern. The Patsy von King Vidor erwärmt durch die wunderbare Komik der Marion Davies und dem live Jazz-Orchester. Es ist meine letzte Reise auf der Piazza.
Med Hondo: Der afrikanische Regisseur ist meine persönliche Neuentdeckung. Ab Afrique sur Seine und Soleil Ô hänge ich am Köder. Verhandlungen afrikanischer Identität in Frankreich, dabei ohne schwarz-weiß-Malerei, mit Humor und zugleich tiefster Depression. Realistisches schwarz-weiß, sehr direkt, Straßenszenen und ein bißchen früher Fassbinder. Ich glaube zu wissen, was ich bei den anderen beiden Filmen zu erwarten habe. Und werde getäuscht: West Indies, ein knallbuntes Musical im Bauch eines Schiffs, rhythmische Choreografien, Zeitsprünge vom 16. Jahrhundert in die Jetzt-Zeit (1979), Migration und Sklaverei werden auf spannende Weise zusammen gedacht. Sarraounia wiederum ganz anders. Ein Kriegsfilm über den Widerstand einer nigerianischen Stammesführerin, die gegen die Eroberungszüge der Franzosen und die Intrigen der afrikanisch-muslimischen Stammesführer Stand hält. Cinemascope, Farbe, Musik, Wüste. Ein Epos. Med Hondo ist auch zu Gast. Oft den Tränen nah, so determiniert in seinem Glauben an eine Gemeinschaft, an die Anderen, an das Kollektiv, an den Sozialismus/ Kommunismus und so ablehnend gegenüber einem Kino des l’art pour l’art.
En plus: Helmut Käutners Ludwig II und die Sprache O. W. Fischers. Douglas Sirk und das humanistisch-sakrale Melodrama (The Magnificent Obsession). Die Schönheit, Tragik und Aufrichtigkeit Rock Hudsons. Caffè, Apperitivo und holpriges Italienisch. Frühmorgens Universal Filme mit „bad-sad-gal“ Mary Nolan: Outside The Law und Young Desire. Letzterer rührt zu Tränen, so hoch schwebt sie empor, so schnell fällt sie.
Sebastian Bobik
Da dies mein allererstes mal beim Il Cinema Ritrovato war, muss ich natürlich als erstes Highlight das Festival an sich hervorheben. Ein schöner Ort, gutes Wetter, ein tolles Programm… Ich kann eigentlich nur gut von diesem Festival sprechen. Natürlich sind die Konditionen in manchen Kinos etwas kompliziert (wenn die Klimaanlage mal ausfällt kann der Kinobesuch schon recht hart werden) und die Sprachbarriere ist noch ein Problem, an deren Lösung gearbeitet werden muss, doch das alles wird locker wieder wett gemacht durch die wunderbare Atmosphäre vor Ort.
Bevor ich nun meine Filmhighlights aufliste sollte ich noch kurz ein bisschen Platz für den Festivaltrailer finden. Der hat dieses Jahr besonders begeistert und man kann nur hoffen, dass sich das Festival entschließt ihn im Internet zu veröffentlichen.
Nun zu meinen persönlichen Höhepunkten, die ich hier in der Chronologie auflisten werde, in denen ich die Filme gesehen habe:
Gleich am Abend meiner Ankunft begab ich mich noch zum Piazza Maggiore um Jean Vigos wunderbaren Film L’Atalante zu sehen. Ist Michel Simon hier sogar besser, als in Boudu sauvé des eaux von Jean Renoir? Doch nicht nur Michel Simon ist wunderbar bei Vigo: der ganze Film ist voller traumhafter Momente. Sei es die berühmte Sequenz unter Wasser, oder die erste Kamerafahrt über das Schiff (ein Moment der mir Gänsehaut bescherte). Dennoch war L’Atalante nicht mein größtes Highlight an dem Abend. Davor wurde nämlich A Propos De Nice, der ebenfalls von Vigo ist, vorgeführt. Ich war ohne jegliche Information über diesen Film hingegangen und was mich überwältigte war eine Freiheit, die man nicht mehr oft in Filmen sieht. Besonders beeindruckt hatte mich eine simple Bewegung: Ein Gebäude neigt sich um 90 Grad. Es ist eine Bewegung, die man sonst nur in verspielten Amateuraufnahmen sieht, die auf Camcordern gedreht wurden. Eine Bewegung, die einem in einer Filmschule sofort ausgeredet wird, und eine Verspieltheit ausdrückt, die man oft vermisst. Was darauf folgte, war ein mit herrlichen Aufnahmen gespicktes Portrait von Nizza. Wenn ich daran zurückdenke, sehe ich einen Fluss von Bildern: Eine Frau auf einem Sessel, verschiedene Outfits an ihr werden überblendet bis sie plötzlich nackt ist, eine bizarre Parade und die schwingenden Beine von Frauen, die in Zeitlupe tanzen. Gleich am folgenden Abend sah ich ebenfalls auf dem Piazza Maggiore Johnny Guitar von Nicholas Ray. Auf einer riesigen Leinwand mich unglaublichen Farben und großem Publikum war der Film einfach ein wunderbares Erlebnis.
Am Tag darauf entdeckte ich Hana Chirinu von Tamizo Ishida. Dessen Entdeckung ist für mich wohl der absolute Höhepunkt meiner Zeit in Bologna. Tage später sah ich den ebenso wunderbaren Mukashi No Uta ebenfalls von Ishida. Beide Filme wurden in schlechten Kopien gezeigt. Das Bild war zum Teil unerkennbar dunkel. Trotzdem konnte dies den Filmen kein bisschen schaden. Ishida ist ein Regisseur, der zumindest in diesen beiden Filmen mit wunderbaren Einsichten, Szenen, Figuren und Beziehungen dieser überrascht, und jemand, der hoffentlich bald auch jenseits von Bologna wiederentdeckt wird. Die Welt verdient es, diese wunderschönen Filme sehen zu können.
Ein weiteres Highlight, das auf der Piazza Maggiore extrem an Erfahrungswerten gewann, war Monterey Pop von D.A. Pennebaker. Dieser war selber anwesend um seinen Film einzuführen und sichtlich gerührt, ihn vor so großem Publikum zeigen zu dürfen. Im Film gibt es großartige Auftritte (vor allem Janis Joplin, Otis Redding & Jimi Hendrix). Es herrschte eine mitreißende Stimmung auf der Piazza und Applaus, bei dem man nicht wusste, ob er eigentlich im Film, oder auf der Piazza stattfand.
Der letzte Film auf dem Festival, den ich gesehen habe war Decasia von Bill Morrison. Es war schon am späteren Abend und ich war ziemlich müde. Als diese Bilderflut begann auf mich herabzuregnen, wurde ich sehr schnell wieder wach. Es ist schwer die Erfahrung des Filmes in Worte zu fassen, er ist einfach ein Erlebnis. Ein Film, den man über sich kommen lassen muss, wie eine Welle. Er kann einem das Gleichgewicht nehmen, doch wenn man sich mit ihm gehen lässt ist es eine unvergessliche Erfahrung. Für mich war es der einzige Horrorfilm, den ich auf dem Festival sah.
Andrey Arnold
Mädchen in Uniform: Die sensible Manuela wurde vom preußischen Mädchenstift kaputtdiszipliniert. Jetzt schleppt sie sich langsam das Stiegenhaus hinauf, will sich von oben in die Tiefe stürzen. Doch als sie kurz davor ist, schleudern ihr ihre Mitschülerinnen, die sich ein paar Stockwerke tiefer scharen, ihre geballte Empathie entgegen: In einer koordinierten Bewegung recken sie die Arme in die Luft und rufen „Nein!“ (oder dergleichen). Das Zielobjekt wird von dieser kraftvollen Gemeinschaftsgeste erfasst und zur Besinnung gebracht, wie von Zauberhand. Es ist ein starker Moment, eine hochgradig künstliche Pathos-Pfeilspitze, die die Kollektivromantik und den Widerstandsgeist des Films perfekt auf den Punkt bringt – aber auch dessen unheimliche, präfaschistische Vision kathartischer Gruppenekstasen.
Johnny Guitar: Ich habe diesen Über-Film in Bologna zum zweiten Mal gesehen, aber eigentlich zum ersten Mal. Seine unfassbare Kraft ist mir erst hier richtig bewusst geworden. Andere können besser ausdrücken, was es mit ihr auf sich hat. Als Emma gegen Ende von Vienna erschossen wird, wurde in einigen Ecken gejubelt. Ich kenne diese Art von Jubel und will ihn im Kino niemandem vergällen. Dennoch hoffe ich, dass die Jubelnden den Film noch öfter sehen. Und irgendwann nicht mehr jubeln, möglicherweise.
West Indies: Schwarze Komplizen der französischen Kolonialmacht führen weiße Touristen durch die Karibik (ein buchstäbliches Sklavenschiff, weil in diesem Film alles beim Namen genannt wird) und preisen die örtlichen Attraktionen. Stolz verweisen sie auf die willfährige Arbeiterschaft, die emsig mit ihren Macheten hantiert. Ein Schwenk fokussiert ihre Choreografie (weil dieser Film auch ein Musical ist) und verweilt darauf – gerade lange genug, um sich vorzustellen, dass die tanzenden Klingen keine Werkzeuge sind, sondern Waffen.
Bildnis einer Unbekannten: Ein Film voller Freuden (und Ambivalenzen), nicht zuletzt dank des Schauspiels von Ruth Leuwerik und O.W. Fischer. Aber auch ein Film, der sehr stark über Sprache funktioniert und über den Dialog. Und bei mir (wieder einmal) die Frage aufwarf, inwieweit sich Filme „übersetzen“ lassen – und wie viele Fehlurteile gefällt wurden, weil jemand (ich zum Beispiel) nicht imstande war, die Eigenheiten eines spezifischen Idioms wahrzunehmen. Natürlich muss man nicht Deutsch können, um Käutners Film zu genießen. Und natürlich können einem trotz (oder wegen) sprachlicher Unkenntnis Dinge auffallen, die einem Native Speaker (oder Beinahe-Native-Speaker) verschlossen bleiben. Aber wird man das einzigartige Wechselspiel zwischen Gestik, Mimik, Rhythmus, Duktus, Timbre, Inhalt, Charakter, Wortwahl und Pointiertheit, mit der Fischer an einer Stelle sagt: „Ich bin gar nicht reizend, ich bin reiz-bar“, mit dieser fabulösen Pause zwischen den Silben des letzten Wortes, wirklich zu schätzen wissen? Bei der schönsten Überblendung des Films stellt sich diese Frage jedenfalls nicht: Ein Porträt der „Unbekannten“ verbrennt langsam im Kamin und verschmilzt mit einer Nahaufnahme ihres Gesichts, das eines der tollen Lieder des Films singt: „Ist denn mein Mund ein Vagabund, der ewig wandern muss, von Kuss zu Kuss…“
Arkasha zhenitsya: Die lustigste russische Stummfilmkomödie, die ich je gesehen habe (ich habe noch nicht viele russische Stummfilmkomödien gesehen). Ein Mann betrinkt sich am Vorabend seiner Hochzeit. Am nächsten Tag die Ausnüchterungskur. Er dreht den Wasserhahn auf, um sich frischzumachen – und schläft promt unter dem Becken ein. Das Wasser läuft über. Er glaubt, es regnet, schlägt den Kragen hoch. Später: Ein Spaziergang im Park – mit Frack, Zylinder und Gehstock (die Bourgeoise war schon vor der Oktoberrevolution Zielscheibe des Spotts). Schläft im Stehen ein, der Stock ist notdürftige Stütze. Lausebengel stoßen sie weg. Pardauz! Wer jemals einen über den Durst trank und am nächsten Tag zeitig aufstehen musste, weiß: It’s funny cause it’s true.
Die kleine Veronika: Ich habe mir die Projektion des Films auf der Piazetta Pasolini leider nicht angesehen. Aber ich habe die betörende Musikbegleitung von Florian Kmet gehört, während ich abends im Hof der Cineteca saß, umgeben von neuen und alten Bekannten, einen schönen Festivaltag im Herzen. Und das reicht.
Manchmal bedarf es des zeitigen Anstoßes durch einen Mitbetrachter, um zu erkennen, dass man bei der Beurteilung eines Films einem Kurzschlussurteil unterlegen ist. Der Wert des Schweigens nach dem Kino – insbesondere des Schweigens über den gesehenen Film – sollte nicht unterschätzt werden; denn es gibt dem eben Aufgenommenen die Möglichkeit, weiterzuwirken, sich zu entfalten, Wurzeln zu schlagen. Aufzugehen in den Tiefenschichten des persönlichen Bildreservoirs, auf dass es irgendwann in neuem, ungeahntem Gewand wiederauferstehen kann. Doch genauso leicht vermag die unventilierte Filmerfahrung eines Cinephilen und Vielsehers zu verkrusten und ins Unbewusste abzusinken, in einer Form, die dem zugehörigen Kunstwerk in keiner Weise gerecht wird. Womöglich hat man schon beim Schauen gespürt, dass in den Bildern mehr steckt, als der erste Blick verrät. Doch irgendein Denkreflex hat sich quergestellt und die Intuition abgebügelt. Das kenne ich schon, ich weiß, wie das funktioniert. Ein klarer Fall nach Schema F, etc. pp. Man kommt aus dem Kino und tut seine fundierte Geringschätzung kund, mit wohliger Abgeklärtheit in den Augen. Und man beginnt bereits damit, zu vergessen. Womöglich zu Recht – doch vielleicht auch nicht. Und lauscht man dem, was andere über den Film zu sagen haben, jene, die anderer Meinung sind und diese auch zu begründen wissen, so gibt es hier, in dieser kurzen, empfindlichen Phase zwischen Ersteindruck und Bilanz, die Hoffnung einer Rettung.
Eine solche erfuhr für mich William K. Howards The Power and the Glory (1933) beim heurigen „Il Cinema Ritrovato“. Ein Film, der mich beim Sehen relativ kalt ließ – abgesehen von der Irritation durch ein paar stilistische Eigenheiten, die ich allerdings sehr schnell unter der Kategorie „gescheiterte Experimente“ verbuchte. Er handelt vom Leben und Tod des (fiktiven) Railroad-Tycoons Tom Garner, der in jeder Altersstufe von Spencer Tracy gespielt wird. Erzählt wird Garners Geschichte von seinem Sandkastenfreund und langjährigen Wegbegleiter Henry (Ralph Morgan). Der Film beginnt mit einer Totenmesse für den verschiedenen Magnaten, die ein sichtlich niedergeschlagener Henry gesenkten Hauptes verlässt. Zuhause spricht er mit seiner Frau über den Toten. Diese hat kaum gute Worte für ihn übrig. Henry sieht sich veranlasst, Garner (oder Tom, wie er ihn nennt) in Schutz zu nehmen, und seine Imagekorrektur-Bestrebung setzt seine Reihe von Rückblenden in Gang (die markante Flashback-Struktur des Film legt einen Einfluss auf Orson Welles‘ Citizen Kane nahe, wie Pauline Kael und Dave Kehr – der Kurator der Howard-Schau in Bologna – vermerkt haben).
Die Rückblenden zeichnen Garners Werdegang in groben Zügen nach. Einerseits ist die knapp 80-minütige Erzählung sehr elliptisch. Man sieht die Hauptfigur als Kind, und kurz darauf heißt es im Voice-Over: „Ehe man sich’s versah, war er einer der erfolgreichsten Eisenbahnunternehmer des Landes“. Andererseits gibt es eine komplexe narrative Schichtung mit vier Zeitebenen, zwischen denen zickzack-artig hin- und hergesprungen wird: Garners Kindheit, seine Prä-Tycoon-Phase als einfacher „track walker“ (eine Art ambulanter Schieneninspektor), der spätere Zenit seines Erfolgs und die Rahmenhandlung nach seinem Tod. Auf den ersten Blick entsteht dabei (im Unterschied zu Citizen Kane) der Eindruck der Apologie eines missverstandenen Self-Made-Mannes, der vielleicht etwas überambitioniert, aber (fast) immer rechtschaffen und ehrlich war. Dessen Unglück in erster Linie auf die Schwäche und Ignoranz seiner Nächsten zurückzuführen ist. Ich nahm diese Präsentation, die wie ein Schlüsselreiz auf meinen ideologiekritischen Reflex wirkte, für bare Münze – obwohl es durchaus Momente gab, in denen gewisse Widersprüchlichkeiten der Form leise Zweifel in mir weckten, ob der Film sich wirklich derart vorbehaltlos hinter Garners Figur stellte, wie ich meinte, glauben zu müssen. Weiters erschien mir Henrys aufdringlicher Voice-Over als unnötige Doppelung der Bildebene – ein weiters Reflexurteil, diesmal formalistischer Natur. Wenn’s bei Blade Runner nicht passt, warum sollte es hier Sinn machen?
Nach dem Film war ich bereit, ihn sofort ad acta zu legen, als müde Aufsteiger-Story und holprige Spielerei mit fragwürdiger Botschaft. Doch das kurze Gespräch mit einem Freund unmittelbar nach dem Screening belehrte mich eines Besseren – vor allem, weil seine Argumente andocken konnten an Aspekte meiner Wahrnehmung, die ich zwar verdrängt, aber noch nicht verbaut hatte. Der bloße Hinweis auf eine Handvoll offenkundiger Doppelbödigkeiten rückte den Film umgehend in ein anderes Licht und zwang mich, ihn nochmal unter anderen Vorzeichen Revue passieren zu lassen.
Zentral für dieses Umdenken war die Bewusstwerdung der eigentümlichen Perspektive von The Power and the Glory. Nahezu alles, was wir über Tom erfahren, wird durch Henrys rosarote Brille gefiltert. Und Henry ist eine ziemlich jämmerliche Figur. Ein pedantischer Angsthase und geborener Lakai, der sein Leben lang zu Tom aufgeblickt hat, stets in dessen Schatten stand und vielleicht sogar ein wenig in ihn verliebt war, ohne es sich selbst einzugestehen – eine Art Smithers ohne Pragmatismus. Der Film macht dies in jeder dritten Szene deutlich. Zeigt, wie er sich als Kind nicht traut, ins Wasser zu springen, als Tom sich beim Tauchen zwischen zwei Steinen verheddert. Wie er als Studierender genüsslich eine schnörkelige Schönschrift kultiviert – in einem Brief an den verehrten Kameraden. Wie er als Toms Sekretär Arbeit findet und aus Knausrigkeit beinahe dessen Anlagetipps ausschlägt, die ihm schließlich zu seinem gemütlichen Heim verhelfen.
Zugleich spricht aus jedem Wort Henrys die rückhaltlose Anbetung, die er Tom entgegenbringt, diesem ur-amerikanischen Machertypen, der all das verkörpert, was er nie sein konnte. Auf den er dermaßen viel projiziert, dass jede noch so zaghafte Kritik an diesem Idol um jeden Preis auf Abstand gehalten werden muss. Sein Versuch, das eherne Erinnerungsbild seines Freundes intakt zu halten, äußert sich gerade in der schon erwähnten Aufdringlichkeit seines Voice-Overs, der sich manchmal über die Stimmen der Figuren legt und diese in Handpuppen verwandelt – etwa in einer parabelhaften Szene über die Annäherung zwischen Tom und seiner Frau Sally (Colleen Moore), bei der Henry, wie auch bei vielen anderen von ihm geschilderten Ereignissen, gar nicht zugegen war. Diese „Geschichtsklitterung“ macht ihn auf subtile Weise zum unzuverlässigen Erzähler und verleiht den Rückblenden eine faszinierende Ambivalenz. Das Karikatureske mancher Passagen, die Garner als „simple country boy“ verklären oder ihn zum klarsichtigen „maverick“ krönen (der zwar nichts von Rechnungswesen versteht, aber weiß, wie man ein Bahnunternehmen zu führen hat, verdammt nochmal!) tritt unter diesem Blickwinkel deutlich hervor. Der Umstand, dass der damals 33-jährige Spencer Tracy seine Figur auch als unbedarften, analphabetischen Jungspund spielen darf, erscheint plötzlich nicht mehr wie eine befremdliche Hollywood-Eigenheit, sondern als Kommentar auf den unhintergehbaren Idealcharakter dieses verbrämten Gedächtnis-Garners. Und eine besonders ärgerliche Sequenz hat nun etwas von einer Verblendungs-Apotheose: Der Großindustrielle besucht eine Fabrik, die von einem Streik stillgestellt wurde. Ein garstiger Gewerkschafter mit russischem Akzent peitscht die dumpfen Arbeitermassen auf. „Wenn ich diesen Garner in die Hände bekomme, dann…“ – „Was dann?“, ertönt es aus der Menge. Der Chef, im Herzen nach wie vor ein Mann des Volkes, besteigt die Bühne, verweist den Hetzer auf seinen Platz und hält eine Brandrede, die jeden noch so renitenten Kommunisten zur Räson bringen würde. Aber leider gab es damals ein paar Sturköpfe, wie man erfährt, der Streik musste blutig niedergeschlagen werden, Hunderte kamen ums Leben. Sind das die Taten eines guten Mannes, mahnt Henrys Frau? Papperlapapp, eine bedauernswerte Notlösung, sagt ihr Mann. Und überhaupt – hast du schon mal über seine Gefühle nachgedacht? Zuweilen manifestiert sich Henrys Opfermythos sogar in der Ästhetik. Für die Kameraarbeit zeichnet der eminente Schattenmaler und Tiefenschärfenspezialist James Wong Howe verantwortlich, viele Einstellungen neigen zum Sakral-Monumentalen. Doch keine so sehr wie die, in der Garner nach seinem Selbstmord im Schlafzimmer aufgefunden wird. Henry und der Sohn des Toten fügen sich in eine Komposition, die stark an Pietàs und klassizistische Todesdarstellungen erinnert, gerinnen förmlich zu Elementen eines symbolischen Gemäldes. Von links fällt durchs Fenster ein göttliches Licht. Es ist derselbe Schimmer, der in der Eröffnungsszene die Totenmesse beehrte. Die Heiligsprechung ist vollendet. Und man begreift, dass es in „The Power and the Glory“ eigentlich gar nicht um Tom Garner geht, sondern um Henry. Nicht um die Macht und die Herrlichkeit, sondern um die unstillbare Sehnsucht danach, die den amerikanischen Traum bis heute am Leben hält. Um die Weigerung, dessen Kehrseiten ins Gesicht zu blicken und die Trauer eines Stellvertreterdaseins.
Natürlich ist diese Lesart nicht die „Richtige“. Ohne die Anregung von außen hätte sich meine anfängliche Interpretation mit ziemlicher Sicherheit durchgesetzt, und es ist sehr gut möglich, dass andere Zuseher ihr den Vorzug geben würden. Aber die beschriebenen Ambiguitäten sind fraglos im Film enthalten – und wenn man bedenkt, dass das Drehbuch von Preston Sturges stammt, liegt die Spekulation, dass es sich dabei um Absicht handelt, nicht fern. Hätte ich nach der Sichtung geschwiegen, wäre mir diese Facette entgangen – passend bei einem Film, der nicht zuletzt von hermetischen Weltbildern erzählt.
Sergei Loznitsas Austerlitz ist ein trauriger Film über das Versagen der Erinnerungskultur in einer geschichtslosen Gegenwart. Oder zumindest will er das sein. Er wurde in Gedenkstätten gedreht – Sachsenhausen, Dachau und anderen ehemaligen Konzentrationslagern – handelt aber vom Scheitern des Gedenkens. Wie schon in The Event (2015) nutzt Loznitsa die Evidenzen dokumentarischen Materials und die Zuspitzungen einer minutiös durchkonzipierten Tonspur zur Formulierung eines Gedankens, einer Idee, vielleicht sogar einer Botschaft, deren Konturen hier noch wesentlich stärker hervortreten als in all seinen vorhergehenden Arbeiten. Am Ende ist sein Zugang immer noch zu offen und die Konstruktion zu feingliedrig, um auf eine avancierte Form von Pamphletismus reduziert zu werden. Aber als „stinklangweiliger Experimentalfilm in hässlichen Bildern, der alles und nichts bedeuten kann, weil hier alles im Auge des Betrachters liegt“ – so Rüdiger Suchslands Brachialurteil – kann „Austerlitz“ eigentlich nur erscheinen, wenn man es mit dem Betrachten nicht so genau nimmt.
Das zentrale Spannungsmoment von Austerlitz – ironisch benannt nach einem Roman W. G. Sebalds über einen Mann, der von seiner verdrängten jüdischen Herkunft erfährt und versucht, die Geschichte seiner Eltern im Zweiten Weltkrieg zu entbergen – liegt in einer Diskrepanz zwischen Geschichte und Gegenwart, zwischen der Realität der Massenvernichtung und der Surrealität des Holocaust-Tourismus. Dieser Konflikt zieht sich durch alle Bilder des Films, schon die ersten Aufnahmen sind damit aufgeladen: Touristenströme, die zwanglos vergitterte Tore mit der Aufschrift „Arbeit macht frei“ passieren, in den Gesichtern eine Mischung aus Neugier, Befangenheit und Indifferenz – Tore, durch die 70 Jahre zuvor Menschen unter völlig anderen Bedingungen in den Tod gehetzt wurden. Ähnlich seiner Revolutionsstudie Maidan (2014) wählt Loznitsa einen distanzierten, fast schon soziologischen Blick auf das Geschehen: Ausgedehnte Teleobjektiv-Totalen, wuselnde Wimmelbilder, diesmal in historisierendem Schwarz-Weiß.
Der erste Eindruck ist der einer Obszönität, die sich allein schon aus dem Kleidungsstil der Leute speist. Sommerliche Hemden, Shirts und kurze Hosen dominieren. Viele tragen Sonnenbrillen, zuweilen erkennt man ein Hitzeflimmern. Jemand fährt sein Schoßhündchen in einem Wagen umher. Manche können sich ein Gähnen nicht verkneifen. Die gemächlichen Massenbewegungen sind nicht zielgerichtet, wie Flaneure in einem Park scheinen einige der Nase nachzulaufen. Es herrscht eine entspannte, zerstreute und komfortable Atmosphäre. Ein Außerirdischer würde mit diesen Aufnahmen konfrontiert niemals auf die Idee kommen, es handle sich dabei um die Begehung eines Tatorts des schlimmsten aller Menschheitsverbrechen. Der zweite Eindruck verstärkt den ersten: So gut wie jeder hat hier eine Kamera, und das unablässige Knipsen der Hobbyfotografen – etliche ausgestattet mit Selfie-Sticks, den plakativsten Insignien zeitgenössischer Narzissmus-Kultur – verwandelt das Lager in eine bloße Sehenswürdigkeit, die statt kollektivem Gedenken nichts als personalisierte Andenken generiert.
Aber vielleicht ist dies ein Fehlurteil: Woher weiß man schließlich, was wirklich in diesen Menschen vorgeht? Die Deutung der demokratischen Kader Loznitsas ist hier zunächst noch ein heurisitscher Prozess ohne eindeutige Stoßrichtung, wie in Maidan. Aber die Haltung des Regisseurs macht sich bald deutlich, um nicht zu sagen überdeutlich bemerkbar. Seine Agenda mutete in The Event noch verhältnismäßig kryptisch an, konterkariert durch die Eigenheiten des Found-Footage-Materials. Die Anspielungen und formalen Marker schienen oft nur für Kenner des titelgebenden „Ereignisses“ einsichtig – die Vektoren von Loznitsas subtiler Argumentation offenbarten sich mir erst nach dreimaliger Sichtung und moderater Recherchearbeit. Austerlitz spricht überwiegend Klartext. Emblematisch steht hierfür der Einsatz eines fröhlichen, unüberhörbaren Pfeifens, das mehrfach durch Vladimir Golovnitskiys präzises Tondesign geistert. Mag sein, dass Loznitsa dieses Pfeifen tatsächlich gehört hat – aber seine Betonung ist kein Realismuseffekt, sondern eine künstlerische Prioritätensetzung.
Die „Beweislage“ eines Geschichtsbewusstseinsverlusts wächst sukzessive an. Von einer schrittweisen Enthüllung wie bei Loznitsas ästhetisch und thematisch verwandtem Kurzfilm The Old Jewish Cemetery (2014) kann aber nicht die Rede sein. Es steht schon früh geschrieben auf den T-Shirts der Besucher: „Cool Story, Bro“ – eine sarkastische Internetreplik auf öde Postings – hier, „Jurassic Park“ da. Der Kontext macht die harmlose Non-Kommunikation dieser Schriftzüge zur Selbstbloßstellung (wobei man anmerken muss, dass der Film nie einzelne Menschen vorführt – dafür sind schlicht zu viele im Bild, jeder ist ein Pars pro Toto – sondern stets nur die Bedingungen ihres Verhaltens). An manchen Stellen führt die Überlagerung von Bild- und Tonebenen zu intellektuellen Kontrastmontagen ohne Schnitt. Eine Gruppe lauscht den erläuternden Ausführungen ihres Guides, als sich eine andere vor sie schiebt. Im Vordergrund versucht eine lächelnde junge Frau, eine Wasserflasche auf dem Kopf zu balancieren, was den zweiten Gruppenleiter zu einer Anekdote aus seinem Indienurlaub animiert. Oft schraubt Loznitsa bestimmte Geräusche hoch, bis ins Lächerliche – das Quietschen von Türen, das Klicken von Auslösern – und lässt die periodisch aufbrandenden Vermittlungsbemühungen der (Audio-)Guides in der Banalität des Lärms ertrinken. Später greift er zu drastischeren Stilmitteln, präsentiert Bilder, deren Pointenhaftigkeit ihre dokumentarische Kontingenz auslöscht: Ein Mann, der wie ein Stummfilmkomiker mit ungelenkem Gefuchtel gegen eine Mücke ankämpft. Leute, die im Sitzen ihre Stullen verdrücken („Keine Sorge, es ist nicht die letzte Gelegenheit zum Essen“, tönt es im Off). Irgendwann erklingt ein Beethoven-Klingelton, einmal erläutert jemand den Touristen, sie kämen jetzt zum „düstersten Teil der Tour“. Besonders schneidend – aber paradoxerweise auch am Wenigsten gesetzt – wirken jene Momente, in denen sich die Frage zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung nicht mehr stellt, weil alles offen vor einem liegt: Grinsende Schnappschüsse vor dem Krematorium, Posen vor dem Marterpfahl, und zum Schluss eine Reihe von erleichterten Selfies am Ausgangstor. Hier manifestiert sich mit einer schockierenden Beiläufigkeit, was ein Kritikerkollege treffend notiert hat: Wie wenig sich der Besuch der Konzentrationslager inzwischen vom Besuch einer mittelalterlichen Folterkammer unterscheidet, wie weit weg das alles für viele historisch zu sein scheint und wie nahe an trivialer Schauerkatharsis.
Ist das also das Fazit des Films? Wenn ja, hat man es schon nach kurzer Zeit „begriffen“, und das Enttäuschende an Austerlitz wäre gerade seine eindeutige Lesbarkeit als Menetekel und (An-)klage. Loznitsa hält in Interviews nicht hinterm Berg mit seinen Intentionen und Meinungen und bestätigt diese Sichtweise. Im Vergleich zu Maidan fehlt es seinem neuen Werk fraglos an Ambivalenzen, was auch dem Thema geschuldet sein mag – die Fatalität historischer Ignoranz, die Unfähigkeit, die Zeichen vergessener Zeiten zu deuten, verleiht auch seinen Spielfilmen (My Joy) einen wutentbrannten Drall. Aber so einfach ist es letztlich trotzdem nicht. Zum einen gibt es da eine Passage, die heraussticht, in der sich der Kader verengt, einzelne Figuren vor dem Hintergrund eines Denkmals beim Innehalten, bei der – so scheint es – versuchten Reflexion fokussiert werden, das weiße Rauschen abflaut und die Möglichkeit einer Erkenntnis, einer Vergegenwärtigung spürbar wird. Und zum anderen ist Loznitsas dokumentarisches Kino von seiner formalen Anlage her immer noch partizipativ: Es fordert Arbeit und Aufmerksamkeit, um seine volle Wirkung zu entfalten, und es sind eher Fragen als Statements, die man darin vorfindet: Macht diese Erinnerungskultur in ihrer derzeitigen Form noch Sinn? Lässt sich die Shoah überhaupt „vermitteln“? Die Schlüsse zieht man immer noch selbst. Es gibt also – zum Glück – immer noch Raum für das „Auge des Betrachters“ in Loznitsas Kino. Aber am Schluss winkt er uns noch einmal zu, in Form einer freudig davonhüpfenden Besucherin, und es ist unmissverständlich ein sardonisches Winken: Ein Abschied nach dem Ende der Geschichte, die Zukunft ungewiss.
Zum Abschluss unserer Texte aus Bologna eine Übersicht unserer Highlights vom Festival und einige Schlussworte. Zur Übersicht noch mal unsere Tagebucheinträge:
Mehr noch als das Kino bleibt von Bologna das Erleben einer Kinokultur. Dabei begegnet man nicht nur in Bologna einem interessanten Paradox: Die Liebe zum Kino wird oft durch ein einzelnes, unbewegtes Bild ausgedrückt. Warum? Tragen diese Screenshots, Poster und Fotos in sich das Versprechen oder Geheimnis ihrer Bewegung? Sind sie unserer Erinnerung doch ähnlicher als das Laufbild? Oder ist das Laufbild nur so fest zu halten? Wie die Erinnerung. In Bologna ist dieses Bild das Schlussbild aus Modern Times. Es ist doppelt verewigt und restauriert. Es zu sehen, löst die Erinnerung an die Bewegung selbst aus.
Ansonsten drei dieser Erinnerungen, die mich so schnell nicht verlassen:
Der Rauch abgefeuerter Pistolen in Flesh & the Devil von Clarence Brown. Er dringt aus dem Off links und rechts in das stumme Bild, Silhouetten erstarren und bewegen sich und wir wissen einen langen Augenblick nicht, wer lebt und wer stirbt; nur wer liebt.
Ein anderer Rauch im Nebel von Les portes de la nuit von Marcel Carné. Eigentlich bleibt von diesem Film weniger als ein Bild. Was bleibt, ist ein Gefühl; man träumt und kann mit dem Leben gar nicht gegen diese Träume ankämpfen. Im Nebel verbinden sie sich.
Schwindel in I pugni in tasca von Marco Bellocchio. Die Kamera zu nah.
ANDREY
Dreimal sehe ich in Bologna die „allererste“ Kinovorführung, das Lumière-Kurzfilmprogramm, das am 28. Dezember 1985 im indischen Salon des Grand Café in Paris lief. Einmal beim Eröffnungsabend vor Casque d’Or, digital auf Riesenleinwand und mit Livekommentar von Thierry Fremaux, einmal in der Lumière-Ausstellung in DVD-Qualität an die Wand projiziert, später auf der Piazzetta Pasolini vor Jean Epsteins großartigem Coeur fidèle, von einem historischen, handgekurbelten, lärmenden Projektor gespielt, im originalen Kleinformat, ruckelnd und zuckelnd wie man es sich vorstellt. Die Atmosphäre eines cinephilen Himmels. Arbeiter verlassen die Fabrik. Ein Baby wird gefüttert. Der Gärtner mit dem Schlauch kriegt eine kalte Dusche. Ein Soldat scheitert lustig an der Pferdbesteigung. Kinder springen in die Gischt. Eine Stadtansicht. Botschaften aus einer Zeit, als es noch keine schlechten Filme gab. Dass das alles passiert ist, ist eine unheimliche Gewissheit. Immer wieder schauen Leute in die Kamera, und ich fühle mich zuweilen an Youtube-Clips erinnert. Das Wesen der Schaulust hat sich nicht verändert, nur das Staunen ist dahin, und das Wissen um die Singularität jeder einzelnen Aufnahme. Wird man in 100 Jahren einen Laptop aufstellen und dem entzückten Publikum Katzenvideos präsentieren?
Die letzte Einstellung von Jacques Beckers Montparnasse 19, einer in vielerlei Hinsicht klischeehaften Künstlerbiografie, deren brutales Finale mich dennoch getroffen hat, hallt nach. Der mephistophelische Kunsthändler Morel (gespielt von Lino Ventura) hat soeben dem Tod Modiglianis beigewohnt – einem Tod aus Hoffnungslosigkeit, wie einem der Film nahelegt. Jetzt ist er in einer dunklen, kargen Wohnung. Zuhause bei Modiglianis Verlobten, die vom Ableben des Malers noch nicht weiß. Er bietet ihr an, sämtliche Bilder ihres Mannes zu kaufen. Bald werden diese sehr viel wert sein, auch das ahnt sie nicht. Die glückliche Fügung treibt ihr Tränen in die Augen, endlich etwas Abgeltung für alle die Mühen und Entbehrungen. „Ich verstehe“, sagt Morel, und beginnt dann völlig unvermittelt, die Gemälde einzupacken, mit schnellen, schroffen Bewegungen, ein kurzer Blick auf jedes Bild genügt ihm, als würde er Ersatzteile am Fließband prüfen, während die Kamera auf ihn zufährt und die Musik – wie eine melodramatische Version von Mihâly Vigs Soundtrack zu A torinói ló – anschwillt bis zur Unerträglichkeit. So dreht man das Messer in der Wunde um. Becker ist ganz allgemein ein Filmemacher klarer, starker, glatter, harter Gesten – trotzdem fällt mir, denke ich an Touchez Pas Au Grisbi, immer wieder das Adjektiv „süß“ ein. Irgendwas am Bild Jean Gabins und René Darys, die als alternde Gangster zuhause an trockenem Brot herumknabbern, lässt mich an Jarmusch und Kaurismäki denken.
Auch niederschmetternd: Der Schluss von Vasilij Ordynskijs Četvero, düsteres Tauwetter: Ein Held, der keiner ist, stirbt umsonst, und ein Ersatz ist schnell gefunden. Da helfen auch die Farbe und der beschönigende Voice-Over nichts, der Zynismus ist nicht zu übertünchen. Ein Film, der sich vehement dagegen sträubt, das zu tun, was die Zeit von ihm verlangt. Das Negative findet sich überall, in allen Ländern und fast allen Epochen, in den genannten Beispielen wie auch in den erstaunlich finsteren Gesellschaftsporträts der Laemmle-Junior-Universal-Jahre (gegen Afraid to Talk kann House of Cards einpacken), in der existentialistischen Hysterie von „Les Abysses“ (den ich nicht ausgehalten habe, aber nicht vergessen werde), in der iranischen Dämmerung von Ebrahim Golestans Khesht o Ayeneh. Aber wenn man wieder an die Lumières denkt, fragt man sich, ob die Negativität im Kino erst erfunden werden musste, ob das Kino nicht von Natur aus positiv ist. Denn diese Filme freuen sich über alles, was sie sehen, weil sie nur das ansehen, was sie freut. Eigentlich: Sollte nicht jeder Film aufhören wie Modern Times, laut Peter von Bagh das vollkommenste Bild menschlichen Glücks, das je auf Film gebannt wurde? Aber dann gäbe es Taipei Story nicht mit seiner fantastischen Edward-Hopper-Schlusseinstellung. Und bei einem Festival wie dem Cinema Ritrovato will man sich nicht entscheiden müssen.
IOANA
Gesehen und wiedergesehen
•Cœur fidèle von Jean Epstein
•Le quadrille von Jacques Rivette
•Khaneh Siah Ast von Forough Farrokhzad
•I pugni in tasca von Marco Bellocchio
•Taipei Story von Edward Yang
•Modern Times von Charlie Chaplin
•Les portes de la nuit von Marcel Carné
•Fat City von John Huston
•Casque d’or von Jacques Becker
•Flesh and the Devil von Clarence Brown
•Filme von Gabriel Veyre
•Touchez pas au grisbi von Jacques Becker
•Shin Heike Monogatari von Kenji Mizoguchi
•A house divided von William Wyler
•The kiss before the mirror von James Whale
(1 regret – Ugetsu Monogatari nicht wieder gesehen zu haben, aber wir haben ihn auf Film gesehen)
RAINER
Der prägende Moment in Bologna war für mich eine Zäsur. Als mich der stete Wechsel zwischen unerbittlicher Hitze und Klimaanlagen dahinraffte und mich fast drei Tage außer Gefecht setzte. Davor hatte ich bereits einige sehr gute Filme gesehen: Marnie von Alfred Hitchcock (als Technicolor Vintage Print), Le Trou von Jacques Becker, der apokryphe Vingarne von Mauritz Stiller, die faszinierenden Reisebilder des Lumière-Kameramanns Gabriel Veyre aus Mexiko; The Wild One von Laszlo Benedek hat mich sogar die Ikonizität Marlon Brandos besser verstehen lassen. Als ich mich aber dann am dritten Tag meiner krankheitsbedingten Pause spätabends zu Last Tango in Paris schleppte, in der Hoffnung die zwei Stunden zu überstehen, ohne ohnmächtig zu werden, war das eine überwältigende Erfahrung. Aus dem stickigen, fiebrigen Appartement in die fiebrigen Bilder des Films (sind sie tatsächlich fiebrig, oder war das meiner Tagesverfassung geschuldet?): Liebe, Verzweiflung, Erotik, Butter – danach musste ich mich gleich wieder hinlegen. Der nächste und letzte Tag beginnt mit dem Korruptionssumpf einer amerikanischen Großstadt (Afraid to Talk von Edward L. Cahn) und endet mit einem Schusswechsel im Schneesturm (McCabe & Mrs. Miller von Robert Altman). Nach der Zwangspause sind diese Filme viel klarer in Erinnerung, als ich es von Filmen, die ich Festivals sehe, gewohnt bin. Die Freude darüber wieder im Kino sitzen zu können hat das Gefühl von Festival-Fatigue ausgestochen. Hoch lebe Bologna (und seine Tagliatelle) und Butter!
Das Cinema Ritrovato ist ein cinephler Vergnügungspark, in dem man von Vorführung zu Vorführung taumelt wie ein kleines Kind, stets begierig nach der nächsten Attraktion, ganz egal, ob einem die letzte gefallen hat oder nicht, ob der Verstand schon in den Seilen hängt und um Erbarmen bettelt, ob man überhaupt noch sieht, was sich auf der Leinwand abspielt – die Augen wollen immer mehr, verzaubert von der Überfülle des Programms stürzen sie uns in einen hemmungslosen Sichtungsrausch, der mitreißt und verdattert wie die Karussell-Szene in Jean Epsteins Coeur fidele, eine dekadente Kinoverkostung, bei der jeder von allem probieren will, aus Wollust und Neugierde, aber auch aus Angst, dass es irgendwann keinen Nachschlag mehr gibt. Denn der Zirkus ist nicht ewig in der Stadt, die Zeit ist beschränkt, und die zahllosen Titel im Katalog buhlen allesamt lautstark um die Gunst potentieller Zuschauer: Nimm mich! Hereinspaziert! Das hast du so noch nicht gesehen! Nahezu jedes Screening verspricht, etwas Besonderes bereitzuhalten. Ein eben erst geborgener Schatz aus den hintersten Ecken eines Nationalarchivs! Der Technicolor-Vintage-Print eines unumstrittenen Klassikers! Die frisch restaurierte Fassung eines verkannten Meisterwerks, mit Live-Orchesterbegleitung und Expertenvorrede! Viele Sektionen locken mit dem Reiz des Unbekannten: Alternative Filmgeschichten, verstaubte Perlen, vergessene Talente. Und auch wenn sich der Budenzauber zuweilen in Schall und Rauch auflöst und man den Saal mit der Frage verlässt, ob das eben Gesehene wirklich Gedenken verdient hat, auch wenn man das wachsende Übergewicht digitaler Projektionen beanstanden kann, so träumt man doch jede Nacht von der Utopie, das Programm in seiner Gesamtheit verschlingen zu können – das Kino ist hier nach wie vor ein fremder Kontinent, der danach schreit, entdeckt zu werden.
Hier wüten auch Stürme: Etwa am Ende von William Wylers A House Divided , als der ganze aufgestaute Weltenhass der titanischen Vaterfigur sich imposant zu tosenden Wassermassen auftürmt. Ein sonderbares, aber ausgesprochen eindringliches Psychodrama. Ungewöhnlich das Setting: Ein Lachsfischerdorf im Nordwesten Amerikas. Das Leben ist hart. Die naturalistischen Arbeitsalltagsaufnahmen sorgen dafür, dass man das wirklich glaubt, vielleicht sogar spürt, selten wähnt man sich in Studiokulissen. Über allem thront in einem Haus auf einem Hügel Seth Law (Walter Huston, der Vater von John, damals vor allem als Theaterschauspieler bekannt). Ein großer Mann, dessen Wort Gesetz ist für seine Fischergesellen und vor allem für seinen sensiblen Sohn (Kent Douglass), der sich nichts sehnlicher wünscht, als diese öde Gegend zu verlassen. Doch der Vater lässt ihn nicht ziehen. Der Tod der Mutter, mit deren Begräbnis der Film beginnt, als wäre es der Auftakt zu einem Requiem, hat ihn nur noch härter gemacht. Da hat sich jemand seiner Autorität entzogen, ohne ihn zu fragen. Da ist nun ein Verlust, der ihm zu schaffen macht, aber er darf sich keine Blöße geben. Alle müssen wissen, dass seine Souveränität und Männlichkeit intakt ist. Houston spielt Law als jemanden, für den die Virilität zur Neurose geworden ist. Es gibt eine Reihe von starken Szenen, in denen seine Selbstbestätigungslust sich auf brutale Weise Bahn bricht. Ein rabiates Wrestling-Match in eine Bar, später einen ausgelassenen irischen Hochzeitstanz. Law bestellt sich eine Frau aus dem Katalog, zunächst nur, weil er jemanden zum Kochen braucht, aber weil die Dame jung und hübsch ist, hofft er auf einen zweiten Frühling. Als er herausfindet, dass sie seinem Sohn zugetan ist, bricht ihm dass die Beine – buchstäblich. Jetzt kriecht er in stolzer Erbärmlichkeit über den Boden und droht weiterhin, als wäre nichts passiert. So dringlich ist Hustons Performance, dass er selbst im Rollstuhl seine Mitschauspieler in den Schatten stellt, und nie als Bösewicht erscheint, sondern stets nur als durch und durch Verzweifelter. Und dann kommt das unglaubliche Finale, purer Expressionismus, eine letzte Konfrontation in strömendem Regen, Flucht der jungen Liebenden aufs Meer, dessen finster-furiose Wogen selten so bedrohlich wirkten wie hier, und als die Wolken sich verziehen, hat sich der Ödipus-Komplex von selbst aufgelöst.
Was liebt das Kino mehr, Wasser oder Feuer? Die Flammensymphonie, die Ebrahim Golestan in seinem Kurzdokumentarpoem Yek atash (A Fire) inszeniert, ist jedenfalls nicht weniger überwältigend als Wylers wilde Wellengänge. Die fragmentarische Aufzeichnung der Löschung einer entzündeten Ölquelle im Iran, 1958. Der Hitzegeysir schießt in die Luft, und die Leinwand lodert lichterloh, man weiß sofort wieder, warum DCPs nie ein Ersatz sein können für Filmkopien. Man beginnt zu schwitzen, und nicht nur wie in Bologna üblich, aufgrund der schlechten Belüftung und mörderischen Temperaturen im Saal. Golestan hat Respekt vor der mühsamen, langwierigen Prozedur und ihren ausführenden Organen, filmt jeden Arbeitsschritt mit der gleichen empathischen Aufmerksamkeit. Aber ebenso scheint er sich der Faszination des Feuers nicht entziehen zu können, dem flirrenden Farbspektakel, dessen glühende Turbulenzen die wüste Umgebung verfremden, so dass man sich hin und wieder in einer rostroten Mad-Max-Marslandschaft wiederfindet.
Golestan ist ein Autor, Produzent und Filmemacher, der das prärevolutionäre Kino Irans entscheidend mitgeprägt hat, das Festival widmete ihm eine kleine Schau. Unter anderem zeichnet er mitverantwortlich für Forough Farrokhzads legendären Khaneh siah ast (The House is Black), der hier in einer hervorragenden Kopie zu sehen war, wenngleich ohne Untertitel. Farrokhzad und Golestan verband eine private und professionelle Beziehung. In seinem filmischen Hauptwerk Khesht o ayeneh (Brick and Mirror), dessen restaurierte Fassung heuer (digital) in Bologna gezeigt wurde, spielt sie eine kleine Rolle, legt als verschleierte Frau einem Taxifahrer ihren Säugling auf die Rückbank, fordert in so heraus, Verantwortung zu übernehmen. Das Haus ist in Brick and Mirror nicht schwarz, dafür aber die Stadt. Am Anfang fährt der Taxifahrer Hashem (Zackaria Hashemi) durch ein dunkles Teheran, im Radio läuft ein Hörspiel, dessen (von Golestan selbst eingesprochene) mythologische Menetekel sich über die urbanen Nachtbilder legen wie Travis Bickles Voice-Over über New York in Taxi Driver. Auf der Suche nach der Mutter des Babys irrt Hashem durch freudlose, schwarz-weiße Cinemascope-Gassen, trifft Verlorenen und Verrückte in einem Labyrinth der Hoffnungslosigkeit. Dann landet er in einem verrauchten Café, wo süffisante Intellektuelle Schaum schlagen und Dampf plaudern, ohne Perspektive oder wahre Leidenschaft. Schließlich nimmt er das Kind mit zu sich nach Hause, wo seine Geliebte wartet. Sie will es adoptieren, doch er sträubt sich, er kann nicht, er hat Angst vor den Nachbarn, deren böse Blicke hinter den Vorhängen lauern. Es ist eine Atmosphäre vager Angst, lähmender Unentschlossenheit und verhinderter Nähe, die sehr stark an Antonioni erinnert, auch wenn die politische Allegorie hier viel deutlicher zum Vorschein kommt. So wie das Private ins Soziale gebettet ist, ummantelt Golestan eine ausgedehnte, klaustrophobische Sequenz in Hashems Apartment, in dem das Paar vergeblich versucht, sich zu verstehen (der Abwechslungsreichtum der Auflösung dieser Passage ist beeindruckend), mit kafkaesken Vignetten aus dem Leben der Marionetten, Gesellschaftsporträtminiaturen, die allesamt Orientierungslosigkeit signalisieren. Kulminationspunkt dieser befremdlichen Bestandsaufnahmen ist eine Szene gegen Ende des Films, in der Hashems Geliebte (die im Übrigen als Einzige an die Möglichkeit einer Befreiung glaubt), ein Waisenhaus besucht. Golestan stürzt sich in eine Montage der vergessenen Kinder in ihren Krippen, ihrer ungelenken Bewegungen und formlosen Laute, wippenden Köpfe und schnappenden Hände, eine kaputtes Bildgedicht zwischen Groteske und Entsetzen, Symbolismus und Sinnlichkeit, das schließlich in einer wuchtigen Kamera-Rückfahrt mündet, in deren Trägheit sich die tiefste Trauer offenbart.