Die Kinomomente des Jahres 2015

Es war ein Jahr des Fließens, in dem man sich an das Vergessen erinnerte. Daher ist mein kleiner Rückblick dieses Jahr nicht nach den Filmen geordnet, sondern nach verschiedenen Phänomenen, Emotionen oder Symptomen des Filmjahres, die in sich die Geschichte einer wiederkehrenden Liebe und Angst erzählen.

Die Berührung

No No Sleep

2015 war ein Jahr für das Potenzial einer Liebe im Kino. Es lebte von den Möglichkeiten, sich doch einmal zu berühren, zu küssen, wenn nicht in der Realität, so doch in einem Traum, in einem abwesenden Moment oder in einem anderen Körper. Eine der großen Szenen der Berührung findet sich in No No Sleep von Tsai Ming-liang. Lee Kang-sheng liegt in einer heißen Wanne mit einem anderen Mann. Es ist ein Moment, bei dem man nicht weiß, ob es eine Berührung gibt oder nicht. Eine Hand greift unter Wasser nach einer anderen Hand. Ist es eine Illusion, eine Sehnsucht, passiert es wirklich? In Cemetery of Splendour von Apichatpong Weerasethakul gibt es die Faszination der Berührung von Schlafenden. Wie alles im Film bewegt sich diese Lust in einer Dazwischenheit von Ekel und Verführung sowie Spiel und Tod. Mit einer Berührung übertritt man die Schwelle, sie ist wie eine Erinnerung an die Gegenwart. Es sind die leichten Berührungen wie in Carol von Todd Haynes oder L‘ombre des femmes von Philippe Garrel, kaum sichtbare Berührungen wie in Samuray-S von Rául Perrone oder die zerfetzenden Berührungen wie in The Exquisite Corpus von Peter Tscherkassky (der nicht nur die Körper berührt, sondern gleich den Filmkörper), die letztlich ein Fieber auslösen. Die Berührungen haben uns weniger gerührt als zerstört.

Der Kuss

Carol

Und dann stürzt man sich hinein. Arnaud Desplechin hat in seinem Trois souvenirs de ma jeunesse etwas vollbracht, was mutig ist: Der Filmkuss. Ganz klassisch, magisch. Das Verschmelzen zweier Menschen, das Symbol, das Klischee, das Kino, ja. Es war Godard – ausgerechnet er – der gefordert hat, dass das Kino wieder zurück zu einer solchen Leichtigkeit muss. Desplechin, der manchmal zu Unrecht mit Rohmer verglichen wurde, hat gezeigt, dass er genau das kann, denn wo bei Rohmer ein Kuss nicht einfach nur ein Kuss sein will, da kann er bei Desplechin ein Kuss sein. Es ist die Lust daran, die Hingabe.  Eine ähnlich mutige und kräftige Einfachheit gibt es am Ende von Carol. Lange habe ich kein derart kompromissloses und keinesfalls aufgesetztes Happy End gesehen. Einen ganz anderen Kuss gibt es im zweiten Teil von Hong Sang-soos Right Now, Wrong Then. Hier geht es um die Unbeholfenheit, die Schüchternheit. Es ist ein Kuss auf die Wange mit dem Versprechen, dass es das nächste Mal die Lippen werden. In diesem Versprechen taucht wieder das Potenzial einer Liebe auf, einer anderen Zeit. Es muss ein neues Treffen geben, einen neuen Versuch, einen zweiten Kuss. Aber gibt es den?

Die Krankheit

Les dos rouge2

Schließlich verlässt die Protagonisten des Kinos 2015 die Kraft. Sie brechen zusammen im Rauch einer geheimen Schwangerschaft wie in The Assassin von Hou Hsiao-hsien oder sie entdecken einen mysteriösen roten Punkt auf ihrem Rücken wie Bertrand Bonello in Les dos rouge von Antoine Barraud. Die Körper versagen und mit ihnen verschwimmt die Seele, das Selbstvertrauen. Das beständige Husten im tödlichen Ascheregen von La tierra y la sombra von César Augusto Acevedo ist Inbegriff dieses Dahinsiechens, das gleichermaßen jegliches Potenzial der Liebe erstickt, als auch genau diese wieder von Neuem ermöglicht, wenn das was man liebt nicht die Kraft, sondern die Schwäche des Partners, des Vaters oder des Fremden ist. Außer Chantal Akerman in No Home Movie hat kaum ein Filmemacher Krankheiten offen thematisiert. Vielmehr waren es unerklärliche, fast magische Elemente, gar nicht so verschieden von einer Berührung oder einem Kuss. Darin liegt auch ein letztes Aufbäumen des Spirituellen im westlichen Kino, das die Krankheit als (surrealistische) Erscheinung inszeniert, als ein Geheimnis und Tabu, das ganz vorsichtig umflogen wird mit Gefühlen einer wundervollen Dekadenz wie bei Barraud oder der Schönheit, die den Tod bringt wie bei Acevedo. Im Kino, vermag die Direktheit genauso zu treffen wie ihre innere Zensur, die Angst.

Die Angst

No Home Movie

Im Dunkel einer plötzlichen Nacht irrt die Kamera von Akerman in No Home Movie durch das Haus ihrer Mutter. Sie rettet sich hinaus auf den Balkon, wild atmend und dann verschwindet sie im Bad, wo Wasser die Badewanne flutet. Es ist dies eine absolut einzigartige Szene, denn Akerman filmt das Aufwachen aus einem Albtraum hier wie einen Albtraum. Man kennt solche Tricks von Filmemachern, wenn man glaubt, dass die unheimliche Traumsequenz vorbei ist und sie dann doch weitergeht. Aber darum geht es bei Akerman nicht, weil es keine Illusion eines Friedens gibt, es gibt keinen Unterschied zwischen dem Aufwachen und Schlafen, zwischen den obskuren Schatten Innen und Außen, es bleibt ein Horror, eine Angst.

Das Unvermögen

One floor below

Ein erster Versuch, aus dieser Angst zu entkommen, ertränkt sich im eigenen Unvermögen. Wieder hat vor allem das rumänische Kino einige unvergessliche Momente des Unvermögens gefunden. Da wäre ein Wünschelroutenexperte in Corneliu Porumboius Comoara und ein verzweifelter, zögernder, lügender, ängstlicher Protagonist in Radu Munteans Un etaj mai jos. Dort filmt Muntean seinen Protagonisten ähnlich wie Renoir Michel Simon filmte, wie ein Raubtier. Teodor Corban liefert eine Darstellung ab, die neben  jener von Jung Jae-young in Right Now, Wrong Then sicherlich zu den besten schauspielerischen Leistungen des Jahres gehört. Beide fabrizieren ein Unvermögen, indem sie alles dafür tun, dieses zu verstecken, sodass es für den Zuseher sicht- und fühlbar wird. Dieses Schauspiel existiert in der Wahrheit einer Lüge oder besser: im Spiel mit der Identität, die sich dadurch offenbart, dass man sich selbst nicht wahrhaben will, verstecken will und sogar erneuern darf wie im Fall von Jung Jae-young, der zweimal dasselbe anders leben darf und doch vor uns der gleiche bleibt. Als dritte schauspielerische Verunsicherung sei hier noch Jenjira Pongpas in Cemetery of Splendour genannt, deren Unvermögen sich in den weit aufgerissenen Augen einer identitätslosen Sehnsucht äußert. Was in diesem Unvermögen, das aus Angst entsteht, noch bleibt, ist das Blicken, das Beobachten. Johan Lurf hat zwei spannende Blicke gezeigt, die politische Strukturen hinterfragen. In Embargo und Capital Cuba ist ein Blick auch immer zugleich das Angeblick-Werden. Die Machtlosigkeit und Penetration dieser Blicke, es ist das Kino selbst, das sich dahinter verbirgt, verunsichert, immer nur ein Potenzial.

Die Flucht

Kaili-Blues

Und was einem bleibt, ist die Flucht. Es ist nicht nur so, dass der Mainstream 2015 eine enorme Lust an Verfolgungsjagden entfesselt hat, die in Mad Max: Fury Road ihren nackten Gipfel erreichte, sondern auch der Filmemacher selbst floh in Person von Miguel Gomes aus seinem ersten Teil von As Mil e uma Noites. Und doch führen diese eskapistischen Ausbrüche in leere Versprechen. Der Weg führt zurück. Von der Illusion in die Realität und von der Realität in die Illusion. Ein flirrendes Wechselspiel zwischen dem Aktuellen und dem Vergangenen hat sich 2015 in den Kinos entfaltet. Es sind die unterschiedlichen zeitlichen Schichten in Cemetery of Splendour, die nostalgische Vergangenheit der Zukunft in Star Wars: The Force Awakens von J.J. Abrams, die Landschaften Chinas, die heute genau so aussehen, wie vor über 1000 Jahren in The Assassin,das beständige Echo in Aus einem nahen Land von Manfred Neuwirth, japanische Stummfilme entstanden mit digitalen Technologien im Haus eines Argentiniers in Samuray-S oder Jean Renoir, der als Synthese einer dialektischen Gefangenschaft aus einem Aquarium ausbricht in Jean-Marie Straubs L‘aquarium et la nation. Die Flucht geht nach vorne zurück, zurück in die Zukunft und vorne ist es mehr hinten als jetzt. Das Ende von Bi Gans hypnotischen Kailil Blues lässt die Zeit dann tatsächlich rückwärts laufen. Die Flucht zurück, der Neuanfang, die Nostalgie und die Erkenntnis, dass man nirgends wirklich hinfliehen kann. Es ist dies das Kino einer Identitätskrise. Ihr perfektes Bild findet diese Krise im Schlussbild von Jia Zhang-kes ansonsten über weite Strecken enttäuschenden Mountains May Depart: Im Schnee tanzt die großartige Zhao Tao zur unerfüllten und schrecklichen „Go West“ Hoffnung einer Vergangenheit. Eine Welt, die sich geöffnet hat, um wieder davon zu träumen, träumen zu dürfen, dass man sich öffnet. Aber man ist schon offen und diese Zukunft war auch nur Geschichte. Vor was flieht man?

Die Verschwundenen

IEC Long

Es ist klar, dass man in diesem Nebel aus Flucht, Angst, Berührung und Sehnsucht verschwinden wird, wie die Berggipfel hinter den Wolken in The Assassin. Vielleicht verschwindet man in einen Wald wie in The Lobster von Giorgos Lanthimos oder man versteckt sich einfach mitten im Bild wie einer dieser Flüchtenden im Mise-en-Scène Spektakel Aferim! von Radu Jude. Das Filmmaterial löst sich auf, die Asche bedeckt die Repräsentation, ein Hund verschwindet in der Magie von Sayombhu Mukdeepromein, ein Ozean überflutet all unsere Existenzen wie in Storm Children, Book One von Lav Diaz. Es bleibt Treibgut, kleine Reste wie in Things von Ben Rivers oder IEC Long von João Pedro Rodrigues und João Rui Guerra da Mata, mehr scheint nicht mehr möglich, wenn man von der Gegenwart erzählen will. Entweder die Fragmente dieser Identitästlosigkeit oder das Bedauern über ihren Verlust wie auf dem Gesicht von Stanislas Merhar in L‘ombre des femmes, der zeigt, wie man sich selbst belügt, um zu lieben. Hilflos irren auch die starken Figuren in Happy Hour von Hamaguchi Ryusuke durch die Welt nachdem eine ihrer Freundinnen körperlich und auch bezüglich ihrer Identität verschwunden ist. Selbst die Heldinnen Hollywoods verschwinden wie Emily Blunt in Sicario von Dennis Villeneuve. Es ist das Verschwinden in einer Machtlosigkeit und wir verdanken es den großen Filmemachern unserer Zeit wie Akerman, Garrel, Rodrigues&Guerra da Mata, Diaz, de Oliveira oder Weerasethakul, dass sich in diesem Verschwinden eine Sinnlichkeit greifen lässt. Der Sinn und die Sinnlichkeit des Verschwindens. Viel brutaler verschwindet die Bedeutung des Bildes und des Kinos in 88:88 von Isiah Medina. Hier verschwindet alles in der Flut der Bilder, die Montage regiert, aber sie steht nicht mehr im Dienst der Bilder, die sie verbindet, sondern sie wird zum einzigen Zweck eines Zappings und Clickings, das unsere Wahrnehmung in Zeiten dieser Identitätskrise bestimmt. Eine Schwerelosigkeit setzt ein, sie fühlt sich nur sehr schwer an.

Die Wiederkehr

Cemetery of Splendour2

Der einzige Film, der aus dieser Reise der Angst zurückkehrt, der Film, der gleich Phönix tatsächlich wiederkehrt, ist Visita ou Memórias e Confissões von Manoel de Oliveira. Verschlossen, um nach dem Tod sichtbar zu werden, ist dieser Film eine wirkliche Offenbarung, in der sich der Stil eines Mannes als seine Seele entpuppt. Er zeigt, dass Berührung im Kino immer im Wechselspiel aus Wahrnehmung und Selbst-Wahrnehmung entsteht. Die Distanz, sei sie zeitlich, räumlich oder emotional und die Umarmung, Zärtlichkeit, das Treiben in und jenseits einer Zeit und Zeitlichkeit. Dann schließen wir die Augen und fallen in eine Rolltreppen-Hypnose der Schlafkrankheit und vor uns kann nicht nur die Vergangenheit vergegenwärtigt werden, sondern auch die Gegenwart in ihrer Vergänglichkeit greifbar werden. Das Kino 2015 bemüht sich nicht mehr so stark darum, die Zeit festzuhalten, als wieder, wie in frühen Tagen des Kinos, die Flüchtigkeit von Erfahrungen spürbar zu machen und sie dadurch in unser Bewusstsein zu rücken. Die Erinnerung in den Filmen des Jahres ist keine feststehende Größe, sie ist selbst wie die Oberfläche eines unruhigen Wassers, in dem wir manchmal etwas erkennen können und manchmal verschwinden. In Visita ou Memórias e Confissões verschwinden die beiden Besucher in der Dunkelheit. Wir wissen nicht, ob sie von Gestern sind und das Heute besucht haben oder ob sie von Heute sind und das Gestern besucht haben. Dasselbe gilt für die Filme des Jahres 2015.

Viennale 2015: Unsere hohen Lichter

Nach fast einer Woche fühlen wir uns in der Lage, auf die Viennale 2015 zurückzublicken. Was bleibt vom Festival?

Patrick

Ich betone vor allem – aber nicht nur – die Filme, die ich bei der Viennale zum ersten Mal beziehungsweise zum ersten Mal im Kino gesehen habe.

Arabian Nights

Vier Filme

Visita ou memórias e confissões von Manoel De Oliveira

Weil er mich daran erinnert hat, wie es ist zu sterben

No Home Movie von Chantal Akerman

Weil die Kamera eine Seele ist (meine Besprechung)

The Immigrant von Charlie Chaplin

Weil es keine Fehler gibt

Vremena goda/Tarva yeghanakner von Artavazd Pelechian

Weil ich keine Worte dafür habe

Mein Film des Jahres 2015:

Right Now, Wrong Then von Hong Sang-soo (meine Besprechung)

Die Enttäuschung:

Mountains May Depart von Jia Zhang-ke: Es ist sicherlich kein schlimmer Film und Jia Zhang-ke ist und bleibt ein großartiger Metteur en Scène, aber das Verschwinden jeglicher Subtilität und des Bildhintergrundes aus vielen seiner Szenen ist der große Schmerz des Jahres.

13 Szenen des Festivals

Es gab diese Rolltreppen in Cemetery of Splendour von Apichatpong Weerasethakul, die mich in einen Traum gestürzt haben, der meine letzte Chance auf eine Flucht war. Die Schlafkrankheit ergriff mich bis Renoir in Straubs L‘aquarium et la nation platzte und ich mich fragen musste, ob und wie ich in einer Nation lebe. Ich weiß es nicht. Ich fühle mich wie der Baum im Wind in No Home Movie von Chantal Akerman und Philippe Garrel hatte völlig Recht, als er gesagt hat, dass Akerman in der Lage war, so zu erzählen, dass man merkt: es betrifft uns alle. Ich habe den ersten Kuss bei Desplechin und seinem Trois souvenirs de ma jeunesse (meine Besprechung) nicht mehr gesehen, aber nicht vergessen. Auch er betrifft uns alle. Er ist wie das plötzliche Erwachen des scheinbar Toten in Psaume von Nicolas Boone. Ein Augenblick, in dem die Zeit steht. Ein Schlag in die Kontinuität meiner selbstzufriedenen Wahrnehmung. Die Zeit läuft rückwärts im letzten Bild von Kaili Blues von Bi Gan (meine Besprechung), ein Ende, das mich sehen und erkennen ließ. Allgemein dachte ich oft, dass Filme nicht – wie Cristi Puiu sagt – lediglich ein Zeugnis sein sollten, sondern eine Offenbarung. Also das Gegenteil des verschleiernden Nebels aus dem Tal in The Assassin von Hou hsiao-hsien (meine Besprechung), dem Film, der meine Augen vor Schönheit in Glas verwandelt. Es sind die Rolltreppen aus Glas, die vom Wind geküsst werden. Ich ziehe mich aus wie der Filmemacher in Right Now, Wrong Then von Hong Sang-soo und springe ins Wasser wie die Kinder in der Katastrophe in Storm Children, Book One von Lav Diaz. Im Wasser ist es wie in L‘invisible von Fabrice Aragno, bei dem kein Bild in meinem Gedächtnis bleibt, sondern nur dritte Bilder, die sich zwischen dem Sichtbaren bewegen. Alles fließt. Im Wasser fliegen mir die Fetzen verbrannter Filme entgegen wie in Bill Morrisons Beyond Zero: 1914-1918. Sie sehen aus wie die schreienden Gesichter eines Grauens, das real wird, weil es materiell wird. Im wasser träume ich von einem Blick zwischen die Texturen, einem Blick, der mir gilt wie in Carol von Todd Haynes. Dann mache ich die Augen auf und stehe auf einer Rolltreppe im Kaufhaus in der Mariahilferstraße. Ich höre Weihnachtsmusik und stelle fest, dass es keine Szene ist, an die ich denke, wenn ich an The Exquisite Corpus von Peter Tscherkassky denke, sondern eine Textur.

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Weitere Besprechungen:

Arabian Nights von Miguel Gomes

The Golden Era von Ann Hui

Claude Lanzmann-Spectres of the Shoa von Adam Benzine

Tangerine von Sean Baker

Travelling at Night with Jim Jarmusch von Léa Rinaldi

Maru von Suzuki Yohei

In Transit von Albert Maysles u.a.

Ioana

The Event

Visita ou memórias e confissões – made then, seen now

Right Now, Wrong Then – wrong then, right now

The Assassin – pulsating death, still life – pulsating life, still death

The Cow – man then, cow now – cow then, man now – no cow, no man

Cemetery of Splendour – then is now, now is then – don’t live, don’t die

Trois souvenirs de ma jeunesse – wrong then, wrong now – paul then, esther now – now prequel to then. Amalric!

The Exquisite Corpus – sex then (60s-70s), orgasm now?

Happy Mother’s Day – sex then, mother of quintuplets now?!

Sobytie – shot then, made now

Samuray-s – film nowhere, memory of it now

As Mil e uma Noites – stories here, stories there, stories everywhere – politics now

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Chaplin – laugh then, laugh now – love then, love now

Comoara – hidden then, found now

Vremena goda/Tarva yeghanakner – breathtakingly insane then, insanely breathtaking now

Tagebucheinträge:

ROT

SCHWARZ 

DETLEF SIERCK

GOLD

GO WEST

GRÜN

HYPNOSE

BLIND

NEONRÖHREN

ECHO

SEIDE

BLAU

WIND

NEBEL

FEDERN

Andrey

The Hitch-Hiker von Ida Lupino

No Home Movie von Chantal Akerman

‚Non‘, ou a Vã Gloria de Mandar von Manoel De Oliveira

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„No is a terrible word“

Texte von Andrey:

As mil e uma noites von Miguel Gomes

The Look of Silence von Joshua Oppenheimer

Einer von uns von Stephan Richter

Die artenreiche Kino-Menagerie

Carol von Todd Haynes

Viennale 2015: Singularities of a Festival: NEONRÖHREN

Notizen zur Viennale 2015 in einem Rausch, der keine Zeit lässt, aber nach Zeit schreit. Ioana Florescu und Patrick Holzapfel sind am neunten Tag des Festivals endgültig im Traumdelirium angekommen, weil die Filme es ihnen gleichtun. Es herrscht eine Beruhigung bezüglich der Verunsicherung durch Bilder, als wolle man 24 Bilder jede Sekunde sehen, die es nicht gibt.

Apichatpong

Patrick

  • Zu Joe/Cemetery of Splendour: Für mich ging es sehr stark um diesen Moment vor dem Einschlafen, der gleich dem Moment des Aufwachens ist und das ganze gilt auch für das Sterben und die Geburt. Diese Ebenen waren ineinander verschlungen, ebenso natürlich Traum und Realität. Ich wusste nicht, ob diese Träume eine Flucht waren oder eine Offensive. Es geht auch um den Stillstand zwischen Geschichte und Gegenwart.
  • Diese Passage mit dem Kino, den Rolltreppen und den Lichtern war unglaublich. Ich werde mehr darüber schreiben müssen.
  • Marco Bellocchio und sein Sangue del mio sangue gehört zu den Überraschungen für mich. Diese Mischung aus spirituellen Spiegelungen zwischen Fragen des Berührens und der Unberührbarkeit beziehungsweise des Innen (Blut, Tränen, Sperma) und Außen (Blicke, keine Blicke, Oberflächen) sowie dem Komischen und Satirischen, ja bitteren Blick auf eine Welt habe ich so noch nicht gesehen. Für mich ging es sehr stark, um einen Verlust und die Schuld dieses Verlusts in einer patriarchalischen Welt.
  • Es gibt rotes Licht vor dem Gartenbau, das ähnliche Lichter wirft wie die Traumneonröhren in Cemetery of Splendour; Neon Dreams/Neon Bull, Diego Garcia will eine Neon Vague starten.
  • Ein weiteres Delirium gibt es bei Jean-Marie Straub und seinem L’aquarium et la nation; das laut Cutter Christophe Clavert “un-coupable”  Aquarium, in dem man sich verliert…man schwimmt gegen eine Wand oder man schwimmt nach draußen, aus dem Frame, aus dem Gefängnis? Was ist die Nation, ein Cadre oder der Hors Champs?
  • Ein solches Publikumsgespräch wie nach Straub kann es eigentlich nur auf der Viennale geben.

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Ioana

  • Es war bislang der beste Tag des Festivals, an dem ich Cemetery of Splendour, den zweiten Teil von As mil e uma noites, Sangue del mio sangue und L’aquarium et la nation sehen durfte.
  • Cemetery of Splendour ist ein großes Werk der Dazwischenheit. Der Film findet zwischen zeitlichen und räumlichen Dimensionen, zwischen Zuständen (wach sein und schlafen), zwischen dem, was man sieht, und dem, was man sich vorstellt (Schlafende, die in den Körpern eines Mediums aufwachen, Paläste) statt. Schon bei einer Schlafkrankheit, die davon kommen könnte, dass begrabene Könige, bettlägigen Soldaten die Kraft aussaugen, kann man Weerasethakul lieben.
  • As mil e uma noites wird so viel intensiver im zweiten Teil, es liegt vielleicht daran, dass man mehr bei den einzelnen Geschichten bleibt, die in sich genau so viele Abweichungen haben, aber auch immer weniger verspielt scheinen. Ich fand Ähnlichkeiten zwischen der ersten Geschichte und Japón, Gomes und Reygadas waren bislang nie gleichzeitig zusammen in meinem Kopf.
  • Bellocchios Sprung zu Vampirismen (nicht nur politische), Isolation und Berührungslosigkeit war so überraschend, dass ich zum zweiten Mal während des Festivals während eines Films überlegen musste, was ich bis zu dem Zeitpunkt eigentlich gesehen habe.

Viennale 2015: Singularities of a Festival: GRÜN

Notizen zur Viennale 2015 in einem Rausch, der keine Zeit lässt, aber nach Zeit schreit. Ioana Florescu und Patrick Holzapfel kneifen sich und träumen weiter im Sog der beleuchteten Vierecke. Dabei verschmelzen die Erfahrungen zwischen den Filmen mehr und mehr und wenn man die Augen am Abend vor dem Schlafen schließt, sieht man tausende Farben eines Kinos, das noch zu nahe unter den Lidern lebt, um schon verstanden zu werden.

Mehr zur Viennale bei uns

Taxi Driver De Niro

Patrick

  • Nachts fährt man durch eine fast leere Stadt (es sollte immer noch Wien sein, es sei denn ich habe mich verfahren) nach dem letzten Film des Tages. Sie streichen alle Fahrradwege grün. Mein Rad macht komische Geräusche auf diesem Farbgeruch. Ich blicke auf die feuchten Farbkörner des frischen Belags, die an meinem Vorderrad hochspritzen und dann auf das Licht meiner schwächlichen Vorderlampe, die den grünen Boden immerwährend beleuchtet, als würde ich das Kino mit auf meinem Weg nehmen.
  • Martin Scorsese steht mit einem Megafon im Gartenbaukino und schreit Touristen an, die ein Foto von ihm machen wollen. Eine Welle bricht ins Kino und mit ihr ein riesiges Schiff.
  • In Transit, der letzte Film von Albert Maysles, zeigt uns wie verklärt Amerika noch immer sein kann. (life is peaceful there) Der Film macht etwas anderes. Er baut eine Utopie der Menschlichkeit auf. So verklärt ist nicht mal Amerika.
  • Jem Cohen hat in seinem Publikumsgespräch gesagt, dass man verschiedenen Filmemacher einfach nicht nachahmen sollte…man sollte nicht versuchen, einen Bresson-Film oder Ford-Film zu machen. Perrone hat in Los actos cotidianos versucht, einen Pedro Costa-Film zu machen. Er hat sicherlich gute Dinge dabei gefunden, aber etwas anmaßendes liegt in dieser Haltung, die Cohen Recht gibt.
  • Trotzdem denkt man dann an Vanda. Ich weiß gar nicht weshalb. Ich denke an ihre Nahaufnahmen oder an sie.
  • Ein ehrlicher Film verliert meist von seiner Ehrlichkeit, wenn er im Festivalkontext gezeigt wird.

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Ioana

  • Der Perrone von heute sieht noch mehr wie Costa aus, als der Perrone von gestern. Nur ohne die Worte, die wie das Letzte klingen, was man vor dem Sterben sagt, ohne die schweren Blicke, ohne dass die Türen mehr als Türen sind. Eigentlich ohne alles. Daher verabschiede ich mich schon von seiner ersten Phase und warte trotzdem neugierig darauf, Filme aus seiner zweiten zu sehen.
  • Vielleicht ist In Transit eine gute Art sich zu verabschieden. Wer weiß?
  • Sobytie ist extrem interessant aus zahlreichen Gründen, aber die meisten Fragen muss ich mir über Loznitsas Umgang mit dem Archivmaterial stellen. Wie kann er mit Material arbeiten, das nicht von ihm gedreht wurde und darin das, was ich als seine Perspektive einschätze, durchsetzen? (Editing) Wieso sieht das fast wie continuity editing aus (natürlich eine Übertreibung) – war das Material teilweise montiert? Hat er Teile, die schon montiert waren, so übernommen? Wie viele Quellen gibt es? Wie kann der Film so abgeschliffen aussehen? Ich wusste, dass er mit Archivmaterial [aus der Zeit] gearbeitet hat und die ersten Minuten schienen mir trotzdem aus einem ‘Spielfilm’ (nein, den Unterschied gibt es so gar nicht) zu stammen. Ich stelle mir dreimal so viele Fragen über die Tonebene.
  • Ich finde manches aus der Beschreibung des Films, die auf der Seite der Viennale zu finden ist, komisch: “Loznitsa montiert seinerzeit entstandenes Material mit bewährter Zurückhaltung und konzentriert sich auf die Gesichter; man lernt: Im Moment ihres Geschehens ist Geschichte banal und du und ich sind auch durch bloßes Herumstehen daran beteiligt.”   
  • Kurz nach dem Film musste ich an Videogramme einer Revolution von Harun Farocki – die Vorbereitung auf die TV Sendung – denken und lachen. – Was sagen wir jetzt? Die hinten mit der Flagge – Wir haben gewonnen, wir haben gewonnen.  Dann musste ich natürlich an Porumboiu denken, ich frage mich, ob er noch in Wien ist.
  • Ich habe eine Thermosflasche in der Viennale-Tasche gehabt und die Tasche ist ein wenig geschmolzen, weil die Flasche heiß war und die Tasche aus Plastik oder etwas Ähnliches ist und ich habe mich geschämt, weil meine Tasche im Kino gestunken hat, aber du hast es nicht gemerkt.
  • A Poem is a Naked Person ist bunt und zerstreut und war ein guter Anfang für den Tag und ein Mann isst einen Becher.
  • Morgen kann man die Karte für Cemetery of Splendour reservieren, es darf nicht schiefgehen.

Viennale 2015: Singularities of a Festival: ROT

Notizen zur Viennale 2015 in einem Rausch, der keine Zeit lässt, aber nach Zeit schreit. Ioana Florescu und Patrick Holzapfel geben ihre Eindrücke vom Festivaltag wieder. Dabei werden sie nicht zwangsläufig schreiben, um welchen Film oder welches Programm es sich handelt. Es sind einfach Eindrücke, die gleich jenen undefinierbaren Empfindungen kurz vor dem Einschlafen durch die Schläfen wandern, bis sie sich hinter den Augen sammeln, von wo aus sie je nach Inspiration unsere Träume und Filme füllen.

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Patrick

  • Am Mittag wurden Akkreditierungen und erste Tickets ausgegeben. Man steht in einer Reihe und lechzt nach dieser Goldenen Eintrittskarte. Oh, wird es ein Traumland sein? Dieses Jahr habe ich eigentlich keine Erwartungen, weil der Stress die Erwartungen überfährt. Ein Traumland im Stress gibt es nicht, zumindest würde man beim Erwachen keine Fingernägel mehr haben. Zwei Filme sind es, die mich am meisten interessieren: Cemetery of Splendour von Apichatpong Weerasethakul und Mountains May Depart von Jia Zhang-ke. Alles andere, so sage ich mir penetrant lügend vor dem Schlafengehen, muss ich nicht sehen.

  • Am Abend will das Filmmuseum uns eine Filmgeschichte mit Hund&Katz&Gromit erzählen (vielleicht auch nicht). Dazu programmieren sie ein Kuriositätenkabinett, bei dem ich mir nicht sicher bin, ob alle Filme darin wirklich ihren Platz haben. Es reißt wieder diese Unsicherheit in mir auf…ich bin mir nie sicher, ob ein kuratorisches Programm größer sein sollte als die Qualität einzelner Filme darin. Ich bin mir sicher, dass es mehr beinhaltet als das bloße Zeigen von persönlichen Favoriten, ich bin mir auch sicher, dass ich auf solche Gedanken nur kommen kann, weil es ein solches Programm gibt. Aber einen Film wie Trash Cat von Kelsey Goldrich in diesem Kino zu sehen, ist ein wenig seltsam. Es ist einer dieser cleveren Ideen, die kein Film sind. Hippes Pointen-Kino mit neuen Medien und so.

  • Kinderlachen im Filmmuseum. Wo waren die Kinder letztes Jahr bei John Ford?

  • Das Einkreisen von Filmtiteln im Falter-Viennale-Planer ist eine unfassbar beruhigend wirkende Tätigkeit.

 

Catscradle

Ioana

  • Ich fange bald an einzupacken, obwohl es erst ab morgen 6 Filme/Tag gibt. Brille, dicke Jacke klein gemacht für die Nächte, an denen man bis um 2 in der Früh im Kino ist, Wasser, Halstabletten, Hustensirup, Kaugummi, Taschentücher, Proteinshakes, das Programm. Bleibt noch Platz fur den Katalog? Für Red Bull? Tasche, Rucksack, Viennale Tasche (sie passt nicht zu der Kette, an der die Akkreditierung hängt) oder Troller? Ein Heft. Für das Heft brauche ich auch einen Stift. Die Schlüssel, sonst schlafe ich am Josefstädter neben dem Tramp, der wie Michel Simon aussieht. Zigaretten für die nächsten zwei Wochen drehen, nur einige, so viel Zeit gibt es zwischen den Filmen nicht. Ich freue mich. Ich beeile mich.

  • Diese fallende Tiere sind unglaublich schön. Ich würde gerne die Filmstreifen haben, aber was würde ich dann damit machen? Ich hoffe, dass es eine Zeit geben wird, in der sich mehr Menschen auf die fallenden Tiere von Étienne-Jules Marey freuen als auf den ersten Schnee.

  • Ja, rot sieht besser aus auf Film. Die anderen Farben auch. Das Rot in Cat’s Cradle sieht sogar besser als Film-Rot aus.

  • Drei Frauen haben sich vor dem Filmmuseum Komplimente für ihre Jacken gemacht. Es war komisch, weil sie alle genau dasselbe Modell zu tragen schienen.

Die Fahrt in den Raum ist ein lauernder Tiger

An manchen Tagen stellt man sich die Frage, warum einen ausgerechnet das Kino verführt hat.

(Eigentlich stellt man sich diese Frage jeden Tag, denn man verliebt sich immer wieder neu)

Ich glaube immer wieder mal, eine Antwort für mich gefunden zu haben. Heute und gestern ist diese Antwort: Die Fahrt in den Raum. Damit meine ich jene Entscheidungen der Kamera, näher zu gehen, etwa zu suchen, einzudringen. Es ist in diesen Bewegungen, in denen die Illusion geboren wird, hier kommt es zur Berührung meiner Augen mit der Leinwand. Es gibt ganz unterschiedliche Ausprägungen einer solchen Fahrt. Es gibt seit jeher den Phantom Ride, jene Methode, in der wir uns mit der Kamera auf einem sich bewegenden Fahrzeug befinden und mit ihr in die Welt, die Welt des Films fahren. Hier versteckt sich die Möglichkeit einer Reise ohne Bewegung, das bewegungslose Driften ist ein Träumen in den Augen des Kinos, ich kann völlig unbeweglich sein, krank und verfault und doch mit der Kamera in die weite Welt hinaus. Es reicht mir manchmal nicht, wenn diese weite Welt durch einen Schnitt plötzlich vor mir liegt. Ich muss den Weg spüren, sehen, hören. Ich habe viel über die Züge und Phantom Rides bei Hou Hsiao-Hsien geschrieben, aber der ultimative Phantom Ride seines Kinos ist gar kein Phantom Ride und findet sich in Goodbye, South Goodbye, eine lange Motorradfahrt auf einer schmalen Bergstraße. Es ist deshalb ein so gelungener Phantom Ride, weil er sich selbst in seiner Bewegung verliert. Bei einem solchen Phantom Ride geht es nicht um das Ziel der Bewegung, die Bewegung selbst ist das Ziel. Bei besseren Griffith Filmen wie Way Down East verlegt sich diese Bewegung sogar in die Montage, die wie Eisschollen durch die Filme treiben. Ist es also die Bewegung durch den Raum, die mich verführt?

Oder ist es vielmehr die Zeit, die in diesen Raum geschrieben wird? Filmemacher wie Belá Tarr oder Jia Zhang-ke arbeiten beständig mit dieser Verzeitlichung der Bilder. Bei ihnen bedeutet eine Fahrt in den Raum auch nicht zwangsläufig eine Fahrt nach vorne. Sie kann seitlich verlaufen wie zu Beginn von Sátántangó, sie kann sich diagonal-schwenkend vorwärtsbewegen wie häufig in Still Life. In diesen Kamerabewegungen sammeln sich die Geschichte, die Politik und die Poetik der Figuren und ihrer Umgebungen. Vor allem sind es wohl die Erinnerungen. Es gibt aber eine ganz andere Frage an solche Bewegungen, die man mit der berühmten vorletzten Einstellung in Michelangelos Antonionis Professione: reporter diskutieren kann. In der Szene dreht sich die Kamera durch ein Gitter hindurch um 360 Grad und lässt wichtige Handlungen Off-Screen passieren, obwohl man sich fragen kann, ob das entscheidende Element der Szene nicht die Bewegung der Kamera selbst ist. Die Frage lautet, ob solche Kamerabewegungen ein distanziertes Schauen des Filmemachers bedeuten, in dem die autonome Kamera sozusagen die Freiheit der Auswahl des Blicks beleuchtet oder ob wir in diesen Bewegungen die Bewegung der Seele des und der Protagonisten nachempfinden, eine Zustandsbeschreibung, die eben mit Filmemacher wie Tarr an der Zeit hängt, bei anderen an der Sinnlichkeit, spirituellen Erhebungen, Erotik und Lust oder doch dem kinematographischen Selbstzweck, einer Masturbation der Bewegung (wie bei Hou Hsiao-Hsien, obwohl dieser auch gerne mit der Geschichtlichkeit arbeitet). Die fließende Kamera ist also ein Ausdruck innerer Zustände und der Macht der Sichtbarmachung zugleich. Sie vermag eine Erfahrung der Gefühle zu geben (das gilt immer wieder auch für Statik) und gleichzeitig hinter den fragilen Schleier blicken, der diese Gefühle verbirgt.

Der Schuss danach: Professione: reporter

Der Schuss danach: Professione: reporter

Einzig der nervöse Zustand scheint mir in der Montage besser aufgehoben, aber ein Schnitt nimmt ihm auch das Erdrückende der Zeit. Das Fiebrige, Nervöse, Panische zeichnet sich weniger dadurch aus, dass man die Zeit verliert wie in den schnellen Schnitten, die manche Filmemacher dafür verwenden, sondern gerade dadurch, dass die Zeit nicht aufhört, nicht unterbrochen wird, sich nicht verändern lässt. Das Fließende müsste also verstört werden. Hier kann der Ton eine enorme Rolle spielen, denn auch er bewegt sich durch die Zeit und den Raum. Carl Theodor Dreyer hat mal geäußert, dass ein Verständnis für die Existenz von Tönen, die immer existieren auch in dramatischen Szenen wichtig wäre. Es geht also darum, dass man das Flugzeug am Himmel auch hört, wenn man stirbt, es geht um eine Unaufhaltsamkeit der Welt und eine individuelle Nichtigkeit im Strom der Zeit. Töne dringen beständig in die Räume ein und das Kino tut gut daran, das zu dokumentieren statt – wie so oft im industriellen Kino – das Drama zu isolieren.
Die Gleichzeitigkeit der Dinge wie sie auch in einer statischen Einstellung, die sich durch den Raum bewegt, findet, nämlich jener Tischszene in Cristian Mungius 4 luni, 3 săptămâni și 2 zile ist entscheidend für die Wahrnehmung des Kinos. Hände und Stimmen greifen in den Kader, sie oszillieren zwischen On- und Off-Screen, unser Blick wird gelenkt, aber er wird mitten im Chaos gelenkt. Es geht hier um die Kontrolle des unkontrollierbaren Lebens. Dieses Gefühl erweckt sich bei mir nur, wenn das Leben auch dort ist, das Leben auf Film. Erst dann machen Dinge wie Framing, Sound-Design oder Lichtsetzung Sinn. Es geht nicht darum, einen Dialog oder ein Gesicht aus dem Film zu nehmen und es nach vorne zu holen, sodass wir es alle sehen können, es geht darum das Gesicht oder den Dialog im Film so zu inszenieren, dass wir sowieso dort hinsehen, auch wenn wir in jeder anderen Ecke auch etwas spannendes sehen würden. Ähnlich verhält es sich in der Malerei, nur dass es im Film die Macht der Bewegung gibt.

Die Zufahrten in There Will Be Blood von Paul Thomas Anderson (wie in jedem seiner Filme) sind pures Kino. Sie existieren exakt zwischen der absoluten Kontrolle eines Filmemachers im Stil eines Stanley Kubricks und der völligen Offenheit der Welt. In diesen Fahrten in den Raum offenbaren sich die Sicherheit eines manisch ausgelöschten Zweifels (Kubrick) und die Essenz dieses Zweifels selbst (Tarkowski). Anderson zelebriert den Rausch der Bewegung, um im Gesicht einer Emotion zu landen. Aber auch die Fahrt selbst berührt schon die Wahrheit und die Hintergründe dieser Emotion. Was hier etwas abgehoben klingt, soll eigentlich nur heißen: Eine Kamerafahrt auf ein Objekt zu, erzählt immer zur gleichen Zeit, von dem, was es filmt und von der Fahrt selbst. Was bedeuten diese Fahrten? Sind sie der neugierige Blick, der schweifende Blick, der suchende Blick, der täuschende Blick, sind sie ein Blick? Oder sind sie tatsächlich eine Penetration, eine Aggressivität, ein Tabu wie Jacques Rivette das über Gillo Pontecorvo geschrieben hat. Es ist mit Sicherheit so, dass man nicht immer auf etwas zufahren sollte, oder? Man muss vorsichtig sein. Für das rustikale Sehen schienen mir immer Schnitt oder Zoom geeigneter. Eine Zufahrt ist etwas zerbrechliches, sie ist wie das erste Wort an eine schöne Frau, der erste Kuss, die Zehenspitzen im kühlen Wasser nach einem langen Winter. Genau darin liegt ihre Schönheit. Sie kann zugleich vom Zögern und der Vorsicht des Kinos erzählen als auch von der Überzeugung und dem Mut. Wenn ein Filmemacher Fahrten ganz bewusst und nicht andauernd einsetzt wie beispielsweise Manoel de Oliveira oder Apichatpong Weerasethakul (unterdrückte Gefühle als perfektes Interesse für eine Kamerafahrt, die zugleich entblößt und bekleidet?), dann wirkt der Einsatz dieser Stilistik wie der mutige Schritt in ein neues Leben oder ein erster Atemzug nach einer Dürre. Einen ähnlichen Effekt erzielen Filmemacher immer wieder mit Musik, die erst spät im Film einsetzt. Beispiele hierfür wären Jauja von Lisandro Alonso und El cant dels ocells von Albert Serra. Die Kamerafahrt in den Raum ist wie ein lauernder Tiger. (wenn sie richtig eingesetzt wird: bewusst, behutsam, zärtlich, gewaltvoll).

Den Raum für die Fahrt finden: There Will Be Blood

Den Raum für die Fahrt finden: There Will Be Blood

Die erste Einstellung in Man Hunt von Fritz Lang, mehr eine Kranfahrt denn eine Zufahrt und doch beides zugleich: Eine Aufblende und ein Titel: „Somewhere in Germany- shortly before the War“ und schon bewegen wir uns durch ein für Deutschland eher untypisches Gestrüpp, ganz so als wären wir in The Thin Red Line von Terrence Malick, Gräser fassen in unser Augen, sie neigen sich im Wind der sich bewegenden Kamera. Nebel steigt auf vom Boden, die Mitte des Bildes ist erwartungsvoll leer, eine unerträgliche Spannung und Konzentration liegt in den Sekunden. Sonnenlicht drückt durch den dicken Wald und Nebel, die Kamera richtet sich langsam auf den Boden, als würde sie Spuren suchen. (eine ähnliche Einstellung zu Beginn eines Films findet sich in The Big Lebowski von den Coen-Brüdern). Eine fließende Blende und nun entdecken wir tatsächlich eine Spur auf dem Boden, eine menschliche Fußspur auf sandigem Untergrund. Die Kamera bewegt sich kontinuierlich in der gleichen Geschwindigkeit weiter und eine weitere fließende Blende bringt uns zum Held des Films, einem Jäger im Wald, einem lauernden Tiger (wir denken an Tropical Malady von Apichatpong Weerasethakul, aber trauen uns nicht zu sprechen, ob der greifbaren Spannung, die uns auch an die Fahrt des Bootes in das Lager von Brando in Apocalypse Now denken lässt mit Trommeln aus der Ferne und einem Tiger im Film). Die Kamera und der Jäger verharren, sie blicken sich um, ein leichter Schwenk. Ein Geräusch. Der Jäger weicht zurück und hält sich an einem Baum fest. Die Kamera schwenkt leicht nach unten. Sie hat ihre Beute, den Helden längst im Visier, sie ist im Vorteil. An dieser Stelle schneidet Lang zum ersten Mal in einen POV seiner Hauptfigur, also just an der Stelle, an der er diese gefunden hat. Erst die Kontroller durch die Fahrt hat den Weg frei gemacht für eine bewusst-klassische Montage. Wie der Jäger selbst hat sich die Kamera durch den Wald herangepirscht. Viele Filme beginnen bei der Jagd, viele Filme beginnen mit einer Fahrt.

Man Hunt von Fritz Lang

Man Hunt von Fritz Lang

Die besten Filme finden ihre Beute nie. Sie streifen umher, lösen sich wieder, sehen etwas, sehen nichts, wollen etwas sehen, sie sind zu weit weg, zu nah, sie haben eine richtige Position, sie warten, sie suchen, sie schlafen, sie bewegen sich und bewegen sich und bewegen sich und irgendwann schießen sie uns direkt ins Herz.