Die Kinomomente des Jahres 2015

Es war ein Jahr des Fließens, in dem man sich an das Vergessen erinnerte. Daher ist mein kleiner Rückblick dieses Jahr nicht nach den Filmen geordnet, sondern nach verschiedenen Phänomenen, Emotionen oder Symptomen des Filmjahres, die in sich die Geschichte einer wiederkehrenden Liebe und Angst erzählen.

Die Berührung

No No Sleep

2015 war ein Jahr für das Potenzial einer Liebe im Kino. Es lebte von den Möglichkeiten, sich doch einmal zu berühren, zu küssen, wenn nicht in der Realität, so doch in einem Traum, in einem abwesenden Moment oder in einem anderen Körper. Eine der großen Szenen der Berührung findet sich in No No Sleep von Tsai Ming-liang. Lee Kang-sheng liegt in einer heißen Wanne mit einem anderen Mann. Es ist ein Moment, bei dem man nicht weiß, ob es eine Berührung gibt oder nicht. Eine Hand greift unter Wasser nach einer anderen Hand. Ist es eine Illusion, eine Sehnsucht, passiert es wirklich? In Cemetery of Splendour von Apichatpong Weerasethakul gibt es die Faszination der Berührung von Schlafenden. Wie alles im Film bewegt sich diese Lust in einer Dazwischenheit von Ekel und Verführung sowie Spiel und Tod. Mit einer Berührung übertritt man die Schwelle, sie ist wie eine Erinnerung an die Gegenwart. Es sind die leichten Berührungen wie in Carol von Todd Haynes oder L‘ombre des femmes von Philippe Garrel, kaum sichtbare Berührungen wie in Samuray-S von Rául Perrone oder die zerfetzenden Berührungen wie in The Exquisite Corpus von Peter Tscherkassky (der nicht nur die Körper berührt, sondern gleich den Filmkörper), die letztlich ein Fieber auslösen. Die Berührungen haben uns weniger gerührt als zerstört.

Der Kuss

Carol

Und dann stürzt man sich hinein. Arnaud Desplechin hat in seinem Trois souvenirs de ma jeunesse etwas vollbracht, was mutig ist: Der Filmkuss. Ganz klassisch, magisch. Das Verschmelzen zweier Menschen, das Symbol, das Klischee, das Kino, ja. Es war Godard – ausgerechnet er – der gefordert hat, dass das Kino wieder zurück zu einer solchen Leichtigkeit muss. Desplechin, der manchmal zu Unrecht mit Rohmer verglichen wurde, hat gezeigt, dass er genau das kann, denn wo bei Rohmer ein Kuss nicht einfach nur ein Kuss sein will, da kann er bei Desplechin ein Kuss sein. Es ist die Lust daran, die Hingabe.  Eine ähnlich mutige und kräftige Einfachheit gibt es am Ende von Carol. Lange habe ich kein derart kompromissloses und keinesfalls aufgesetztes Happy End gesehen. Einen ganz anderen Kuss gibt es im zweiten Teil von Hong Sang-soos Right Now, Wrong Then. Hier geht es um die Unbeholfenheit, die Schüchternheit. Es ist ein Kuss auf die Wange mit dem Versprechen, dass es das nächste Mal die Lippen werden. In diesem Versprechen taucht wieder das Potenzial einer Liebe auf, einer anderen Zeit. Es muss ein neues Treffen geben, einen neuen Versuch, einen zweiten Kuss. Aber gibt es den?

Die Krankheit

Les dos rouge2

Schließlich verlässt die Protagonisten des Kinos 2015 die Kraft. Sie brechen zusammen im Rauch einer geheimen Schwangerschaft wie in The Assassin von Hou Hsiao-hsien oder sie entdecken einen mysteriösen roten Punkt auf ihrem Rücken wie Bertrand Bonello in Les dos rouge von Antoine Barraud. Die Körper versagen und mit ihnen verschwimmt die Seele, das Selbstvertrauen. Das beständige Husten im tödlichen Ascheregen von La tierra y la sombra von César Augusto Acevedo ist Inbegriff dieses Dahinsiechens, das gleichermaßen jegliches Potenzial der Liebe erstickt, als auch genau diese wieder von Neuem ermöglicht, wenn das was man liebt nicht die Kraft, sondern die Schwäche des Partners, des Vaters oder des Fremden ist. Außer Chantal Akerman in No Home Movie hat kaum ein Filmemacher Krankheiten offen thematisiert. Vielmehr waren es unerklärliche, fast magische Elemente, gar nicht so verschieden von einer Berührung oder einem Kuss. Darin liegt auch ein letztes Aufbäumen des Spirituellen im westlichen Kino, das die Krankheit als (surrealistische) Erscheinung inszeniert, als ein Geheimnis und Tabu, das ganz vorsichtig umflogen wird mit Gefühlen einer wundervollen Dekadenz wie bei Barraud oder der Schönheit, die den Tod bringt wie bei Acevedo. Im Kino, vermag die Direktheit genauso zu treffen wie ihre innere Zensur, die Angst.

Die Angst

No Home Movie

Im Dunkel einer plötzlichen Nacht irrt die Kamera von Akerman in No Home Movie durch das Haus ihrer Mutter. Sie rettet sich hinaus auf den Balkon, wild atmend und dann verschwindet sie im Bad, wo Wasser die Badewanne flutet. Es ist dies eine absolut einzigartige Szene, denn Akerman filmt das Aufwachen aus einem Albtraum hier wie einen Albtraum. Man kennt solche Tricks von Filmemachern, wenn man glaubt, dass die unheimliche Traumsequenz vorbei ist und sie dann doch weitergeht. Aber darum geht es bei Akerman nicht, weil es keine Illusion eines Friedens gibt, es gibt keinen Unterschied zwischen dem Aufwachen und Schlafen, zwischen den obskuren Schatten Innen und Außen, es bleibt ein Horror, eine Angst.

Das Unvermögen

One floor below

Ein erster Versuch, aus dieser Angst zu entkommen, ertränkt sich im eigenen Unvermögen. Wieder hat vor allem das rumänische Kino einige unvergessliche Momente des Unvermögens gefunden. Da wäre ein Wünschelroutenexperte in Corneliu Porumboius Comoara und ein verzweifelter, zögernder, lügender, ängstlicher Protagonist in Radu Munteans Un etaj mai jos. Dort filmt Muntean seinen Protagonisten ähnlich wie Renoir Michel Simon filmte, wie ein Raubtier. Teodor Corban liefert eine Darstellung ab, die neben  jener von Jung Jae-young in Right Now, Wrong Then sicherlich zu den besten schauspielerischen Leistungen des Jahres gehört. Beide fabrizieren ein Unvermögen, indem sie alles dafür tun, dieses zu verstecken, sodass es für den Zuseher sicht- und fühlbar wird. Dieses Schauspiel existiert in der Wahrheit einer Lüge oder besser: im Spiel mit der Identität, die sich dadurch offenbart, dass man sich selbst nicht wahrhaben will, verstecken will und sogar erneuern darf wie im Fall von Jung Jae-young, der zweimal dasselbe anders leben darf und doch vor uns der gleiche bleibt. Als dritte schauspielerische Verunsicherung sei hier noch Jenjira Pongpas in Cemetery of Splendour genannt, deren Unvermögen sich in den weit aufgerissenen Augen einer identitätslosen Sehnsucht äußert. Was in diesem Unvermögen, das aus Angst entsteht, noch bleibt, ist das Blicken, das Beobachten. Johan Lurf hat zwei spannende Blicke gezeigt, die politische Strukturen hinterfragen. In Embargo und Capital Cuba ist ein Blick auch immer zugleich das Angeblick-Werden. Die Machtlosigkeit und Penetration dieser Blicke, es ist das Kino selbst, das sich dahinter verbirgt, verunsichert, immer nur ein Potenzial.

Die Flucht

Kaili-Blues

Und was einem bleibt, ist die Flucht. Es ist nicht nur so, dass der Mainstream 2015 eine enorme Lust an Verfolgungsjagden entfesselt hat, die in Mad Max: Fury Road ihren nackten Gipfel erreichte, sondern auch der Filmemacher selbst floh in Person von Miguel Gomes aus seinem ersten Teil von As Mil e uma Noites. Und doch führen diese eskapistischen Ausbrüche in leere Versprechen. Der Weg führt zurück. Von der Illusion in die Realität und von der Realität in die Illusion. Ein flirrendes Wechselspiel zwischen dem Aktuellen und dem Vergangenen hat sich 2015 in den Kinos entfaltet. Es sind die unterschiedlichen zeitlichen Schichten in Cemetery of Splendour, die nostalgische Vergangenheit der Zukunft in Star Wars: The Force Awakens von J.J. Abrams, die Landschaften Chinas, die heute genau so aussehen, wie vor über 1000 Jahren in The Assassin,das beständige Echo in Aus einem nahen Land von Manfred Neuwirth, japanische Stummfilme entstanden mit digitalen Technologien im Haus eines Argentiniers in Samuray-S oder Jean Renoir, der als Synthese einer dialektischen Gefangenschaft aus einem Aquarium ausbricht in Jean-Marie Straubs L‘aquarium et la nation. Die Flucht geht nach vorne zurück, zurück in die Zukunft und vorne ist es mehr hinten als jetzt. Das Ende von Bi Gans hypnotischen Kailil Blues lässt die Zeit dann tatsächlich rückwärts laufen. Die Flucht zurück, der Neuanfang, die Nostalgie und die Erkenntnis, dass man nirgends wirklich hinfliehen kann. Es ist dies das Kino einer Identitätskrise. Ihr perfektes Bild findet diese Krise im Schlussbild von Jia Zhang-kes ansonsten über weite Strecken enttäuschenden Mountains May Depart: Im Schnee tanzt die großartige Zhao Tao zur unerfüllten und schrecklichen „Go West“ Hoffnung einer Vergangenheit. Eine Welt, die sich geöffnet hat, um wieder davon zu träumen, träumen zu dürfen, dass man sich öffnet. Aber man ist schon offen und diese Zukunft war auch nur Geschichte. Vor was flieht man?

Die Verschwundenen

IEC Long

Es ist klar, dass man in diesem Nebel aus Flucht, Angst, Berührung und Sehnsucht verschwinden wird, wie die Berggipfel hinter den Wolken in The Assassin. Vielleicht verschwindet man in einen Wald wie in The Lobster von Giorgos Lanthimos oder man versteckt sich einfach mitten im Bild wie einer dieser Flüchtenden im Mise-en-Scène Spektakel Aferim! von Radu Jude. Das Filmmaterial löst sich auf, die Asche bedeckt die Repräsentation, ein Hund verschwindet in der Magie von Sayombhu Mukdeepromein, ein Ozean überflutet all unsere Existenzen wie in Storm Children, Book One von Lav Diaz. Es bleibt Treibgut, kleine Reste wie in Things von Ben Rivers oder IEC Long von João Pedro Rodrigues und João Rui Guerra da Mata, mehr scheint nicht mehr möglich, wenn man von der Gegenwart erzählen will. Entweder die Fragmente dieser Identitästlosigkeit oder das Bedauern über ihren Verlust wie auf dem Gesicht von Stanislas Merhar in L‘ombre des femmes, der zeigt, wie man sich selbst belügt, um zu lieben. Hilflos irren auch die starken Figuren in Happy Hour von Hamaguchi Ryusuke durch die Welt nachdem eine ihrer Freundinnen körperlich und auch bezüglich ihrer Identität verschwunden ist. Selbst die Heldinnen Hollywoods verschwinden wie Emily Blunt in Sicario von Dennis Villeneuve. Es ist das Verschwinden in einer Machtlosigkeit und wir verdanken es den großen Filmemachern unserer Zeit wie Akerman, Garrel, Rodrigues&Guerra da Mata, Diaz, de Oliveira oder Weerasethakul, dass sich in diesem Verschwinden eine Sinnlichkeit greifen lässt. Der Sinn und die Sinnlichkeit des Verschwindens. Viel brutaler verschwindet die Bedeutung des Bildes und des Kinos in 88:88 von Isiah Medina. Hier verschwindet alles in der Flut der Bilder, die Montage regiert, aber sie steht nicht mehr im Dienst der Bilder, die sie verbindet, sondern sie wird zum einzigen Zweck eines Zappings und Clickings, das unsere Wahrnehmung in Zeiten dieser Identitätskrise bestimmt. Eine Schwerelosigkeit setzt ein, sie fühlt sich nur sehr schwer an.

Die Wiederkehr

Cemetery of Splendour2

Der einzige Film, der aus dieser Reise der Angst zurückkehrt, der Film, der gleich Phönix tatsächlich wiederkehrt, ist Visita ou Memórias e Confissões von Manoel de Oliveira. Verschlossen, um nach dem Tod sichtbar zu werden, ist dieser Film eine wirkliche Offenbarung, in der sich der Stil eines Mannes als seine Seele entpuppt. Er zeigt, dass Berührung im Kino immer im Wechselspiel aus Wahrnehmung und Selbst-Wahrnehmung entsteht. Die Distanz, sei sie zeitlich, räumlich oder emotional und die Umarmung, Zärtlichkeit, das Treiben in und jenseits einer Zeit und Zeitlichkeit. Dann schließen wir die Augen und fallen in eine Rolltreppen-Hypnose der Schlafkrankheit und vor uns kann nicht nur die Vergangenheit vergegenwärtigt werden, sondern auch die Gegenwart in ihrer Vergänglichkeit greifbar werden. Das Kino 2015 bemüht sich nicht mehr so stark darum, die Zeit festzuhalten, als wieder, wie in frühen Tagen des Kinos, die Flüchtigkeit von Erfahrungen spürbar zu machen und sie dadurch in unser Bewusstsein zu rücken. Die Erinnerung in den Filmen des Jahres ist keine feststehende Größe, sie ist selbst wie die Oberfläche eines unruhigen Wassers, in dem wir manchmal etwas erkennen können und manchmal verschwinden. In Visita ou Memórias e Confissões verschwinden die beiden Besucher in der Dunkelheit. Wir wissen nicht, ob sie von Gestern sind und das Heute besucht haben oder ob sie von Heute sind und das Gestern besucht haben. Dasselbe gilt für die Filme des Jahres 2015.

Viennale 2015: Singularities of a Festival: ECHO

Notizen zur Viennale 2015 in einem Rausch, der keine Zeit lässt, aber nach Zeit schreit. Ioana Florescu und Patrick Holzapfel wissen nicht mehr wie lange das Festival schon dauert oder wie lange das Festival noch geht. Sie träumen von Bildern, die manchmal zu Filmen gehorchen, manchmal zu den Wegen zwischen den Kinos und manchmal wie ein Echo aus den Kinos hervorgehen und manchmal wie Narziss deutlich mehr mit sich selbst beschäftigt sind, als mit den Filmen.

Mehr von uns zur Viennale

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Patrick

  • Der schüchterne Blick eines Filmemachers, der nicht wissen kann, ob sein Film ein Herz hat.
  • De Oliveira hat ein Wunder in die Zeitkapsel gesperrt…Visita ou memórias e confissões…es war schon ein Wunder als er ihn eingesperrt hat, aber dadurch, dass er ihn eingesperrt hat, macht er uns das gleichzeitig bewusst und er nimmt dem Film die Gefahr des Prätentiösen. Es ist der narzisstische Film über das eigene Echo.
  • Was mich wirklich beschäftigt und zutiefst bewegt hat, war seine Antizipation von Unendlichkeit. Wenn das komisch oder prätentiös klingt, dann liegt das an meiner Wortwahl, nicht an dem was ich meine. Ich denke, dass es der erste Film meines Lebens ist, der einen Funken Unendlichkeit eingefangen hat, der den Tod austrickst, indem er ihm direkt in die Augen blickt. Natürlich machen das viele große Filme, aber hier habe ich etwas anderes gespürt. Es liegt in der Verbindung zwischen dem Material, dem Haus, der Fiktion, der Geschichte, dem Bild, den Fotos…De Oliveira zeigt hier nicht eine Idee von Erinnerung wie beispielsweise Resnais, sondern er zeigt die Dinge, die man wirklich berühren kann. Und da er diesen Film erst jetzt zugänglich machte, finalisierte er diese Idee, weil wir ihn erst berühren konnten, nachdem er die Welt verlassen hat.
  • Der ANIMALS-Fokus bewirkt, dass man plötzlich überall Tiere sieht. Tiere, die auch ohne den Fokus schon da waren
  • Draußen vor den Kinos lauern Menschen mit Masken (Halloween). Wissen sie nicht, dass das Kino die Kunst der Masken ist? Der Fiktion, wie De Oliveira sagt, die Make-Up-Industrie wie Godard sagt. Doch was niemand sagt ist, dass das Make-Up des Kinos Augenringe sind. Die Augenringe von denen, die es am Leben halten, die Augenringe, die den Darstellern einen Flair von Leben geben, die Augenringe, die man auch Cache nennt und die an sich die Leinwand sind. Sie existieren entweder, um unsere Augen durch den Ring zu ziehen oder um sie zu schmücken. Sie geben dem Sehenden eine Schwere und dem Schlafenden eine Genugtuung. Natürlich treffen sie sich im Kino, in dem man sehend schläft.

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Ioana

  • Ich weiß nicht, ob die Filme von Albert Serra unfuckable sind, wie er meint, aber Visita ou memórias e confissões ist und wird mich mich lange heimsuchen. Ich erkenne nicht, ob es sich so anfühlt, als würde ich in der Materie des Films schwimmen, oder als wäre er in meinem Körper eingedrungen, so wie man sagt, dass eine Göttlichkeit, an die ich nicht glaube, es machen könnte.
  • Um eine Pause zu vermeiden, habe ich einen Film gesehen, der wie To the Wonder mit Native Americans ist, nur ohne (eine andere als technische) Schönheit.
  • Ja, es war ein Fehler, die Teile von As mil e uma noites nicht nacheinander zu sehen. Weil es Motive gibt, die wieder vorkommen und die man vielleicht zwischen den Teilen (mit Joe und Straub) vergessen hat und weil er der Film allgemein als ein kleiner Ereignis wirkt. Seit einigen Wochen lerne ich, wie man Vogel fängt. Die Methode in De Vogeltjesvanger (der vor einigen Wochen im Filmmuseum zu sehen war) kommt auch bei Gomes vor. Ja, plötzlich sieht man Tiere überall.
  • Es gibt noch Festivaltage, aber ich würde es mir jetzt schon trauen, Perfidia als Ohrwurm des diesjährigen Viennale zu erklären. Ich höre ihn wie ein dauerndes Echo.

Echoing Eyes: Arabian Nights von Miguel Gomes

In Miguel Gomes’ Arabian Nights geht es vielmehr um die Relation von Narration und Realität oder Aktualität und Fiktionalität, als darum, ob wir es hier mit einem gelungenen Film zu tun haben. Es ist die Machart und Konstruktion des Films selbst, die hier – und das ist selten genug – von Bedeutung ist. Die bis zum Anschlag geöffneten Schleusen der Inspiration, der Politik, der Natur, des Kinos treten beständig in den Weg eines Versuchs, eine Geschlossenheit beim Sehen zu konstruieren. Gomes gibt am Anfang jeder seiner gut zwei Stunden langen Teile (1. Teil: The Restless One, 2. Teil: The Desolate One, 3.Teil: The Enchanted One) eine kurze, schriftliche Einführung in sein Vorgehen und seine politische Agenda. Der Film würde lose von der Struktur der Arabischen Nächte ziehen. Allerdings wäre das Geschehen in das zeitgenössische Portugal, ein Land in einer erheblichen ökonomischen und sozialen Krise verlegt worden. Die unterschiedlichen Episoden, die Scheherazade dem König erzählt, werden in zahlreiche Rahmen verpackt und erzeugen ein schier unendliches Wechselspiel aus dokumentarischen und fiktionalen Elementen, weitaus wilder und dennoch verwandt mit Gomes‘ Our beloved month of August.

Ob man den Film nun als ganzen betrachtet oder mit Pausen scheint relativ unerheblich. Gomes selbst äußerte sich, dass er zu Pausen raten würde, es aber prinzipiell möglich und in gewisser Weise „echter“ sei den Film am Stück zu sehen und vor allem in der richtigen Reihenfolge. So ganz scheint er sich also auch bezüglich der Präsentation nicht festlegen zu wollen. Ähnliches gilt für seine Ästhetik und seine Dramaturgie. Es ist nicht nur so, dass Arabian Nights ein Film wäre, bei dem man nicht sagen könnte, was als nächstes passiert, nein, vielmehr entsteht der Eindruck, dass es der Filmemacher selbst auch nicht weiß. Ähnlich wie Albert Serra praktikziert Gomes ein wortwörtliches Verschwinden des Regisseurs, es geht ihm vielmehr um das Treiben in einer filmischen Welt. Bezeichnend, dass Gomes sich relativ zu Beginn seiner Märchen und Dokumente selbst als Flüchtenden inszeniert. So sitzt er einsam zwischen seiner Crew, zieht eine Kapuze auf und rennt dann zum Schrecken des Filmteams davon. Es ist dies auch einer dieser humoristischen Zwischentöne, denen sich der Film nie ganz entziehen kann, die auf der einen Seite dann doch den Regisseur spürbar machen, aber sich auch immer dagegen wehren müssen, dass sie nicht das Gewicht des Films stören.

Arabian Nights Miguel Gomes

Doch was ist dieses Gewicht des Films? Ist es dieses Gefühl einer Geschichtlichkeit im Moment einer Realität? Oder ist es vielmehr die bloße Länge, der schiere Wahnsinn des Unterfangens? Ist es gar die Größe und flirrende Zerbrechlichkeit einer Kraft der kinematographischen Bilder, die hier sehr viel mit Kameramann Sayombhu Mukdeeprom zusammenhängen, einem Künstler, von dem wir auch dieses avancierte Spiel mit unterschiedlichen Formaten (die „Baghdad-Sequenzen“ wurden in 35mm gedreht, die „Portugal-Sequenzen in 16mm) und Stilen kennen, da er sie schon häufiger in seiner Zusammenarbeit mit Apichatpong Weerasethakul anwenden durfte, wohl am überzeugendsten in Uncle Boonmee who can recall his past lives? Man kann es nicht eindeutig sagen, aber ständig gibt es da dieses Gefühl, dass einem etwas entgeht, ein Film, den man nicht gewachsen sein kann, der sich mehr oder wenig selbst zur Geschichte oder besser zum fantastischen Zeitzeugen erklärt und es somit dieser überlässt, etwas mit ihm anzufangen. Aber einige Gedanken regen sich dann doch beim Sehen und Erinnern, Gedanken, die sich sicherlich mit der Zeit und mit wiederholten Sichtungen weiter transformieren.

The Restless One

Arabian Nights3

Ruhelos scheint auch Gomes. Immerzu auf der Suche nach einer filmischen Verwandlung, einer Überraschung, einem Rhythmuswechsel, alles ist jederzeit möglich. Das Gefühl einer angsteinflößenden Freiheit kehrt mit Arabian Nights zurück in das Kino. Schon im ersten Teil des Gesamtprojekts wird dies klar. Dieser ruhelose Film erinnert am meisten an Our beloved month of August, denn Gomes praktiziert hier am deutlichsten die verspielte Vermischung von dokumentarischen und fiktionalen Momenten. Auch Szenen wie jene mit dem Akkordeonspieler (den man bereits aus Gomes vorletzten Film kennt) oder das wiederholte Feuerwerk in Resende sowie eine Geschichte rund um Brände erinnern an Gomes‘ in ein Melodrama kippende Dokumentation. Wir hören die Stimmen der Betroffenen wie eine ewige Mahnung und beständige Poesie aus dem Herzen dieses Landes am Meer, diese Melancholie und dieser Humanismus von Gomes, scheinen wirklich aus dem Land und seinen Blicken geboren zu werden. Andernorts wurde der Film vielleicht auch deshalb als Liebesbrief an Portugal verstanden, obwohl es doch ein sehr wütender Liebesbrief ist. Bis der Film zu seiner Struktur um die arabischen Nächte findet, dauert es einige Zeit, Gomes ist ein Meister darin, seinen kreativen Findungsprozess filmisch festzuhalten. In diesem Findungsprozess stößt man auch zum ersten Mal auf einen Zweifel, einen Zweifel am Geschichtenerzählen, an der Geschichte, der Geschichtlichkeit. Kann man einer Idee und ihrer Realität beziehungsweise der Realität und ihren Ideen gerecht werden filmisch? Kann man filmisch überhaupt festhalten, was man sich vornimmt? Gomes zweifelt, aber obwohl er in seinem eigenen Film als Feigling vor seiner Aufgabe flüchtet, stellt er sich eben jenem Unterfangen in der Realität seines Films umso heftiger, mit einer immensen Palette an filmischen Sensationen, Explosionen und Möglichkeiten. Nicht nur eine Art SMS-Dramaturgie, in der Kurznachrichten als Text auf den Bildern erscheinen, sondern auch satirische Vulgarität, Schockeffekte wie die Explosion eines Wals oder der bereits angesprochene Meta-Blick in den Spiegel seiner eigenen Crew, in der ich auch endlich meinen Lieblingstonmann/Schauspieler Vasco Pimentel wieder sehen durfte. Um nochmal zurück auf das zu kommen, was ich eben eine satirische Vulgarität genannt habe: Gomes scheint eine Lösung hinter den komplexen Problemen und großen Katastrophen seines Landes immer wieder in äußerst banalen und animalischen Verhaltensweisen zu finden. Bei den großen Politikern geht es letztlich wie man schon immer gewusst hat um Erektionen, während anderswo im zweiten Teil Fahrstühle blockieren, weil man in einer Silvesternacht in sie hinein gepisst hat. In dieser Banalität kann man auch an Landschaft mit dem Sturz des Ikarus nach Pieter Brueghel denken. Oder vielleicht an den Spruch, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht sieht. Verloren in der Einfachheit und Komplexität jeder einzelnen Geschichte, man verheddert sich in einem Netz wie das Genie am Ende des dritten Teils, man ist gefangen in den Strukturen einer Politik und einer Fiktion zugleich. Unfähig das große Ganze zu erkennen und letztlich geht es in Arabian Nights genau darum: Um unsere Unfähigkeit die Gegenwart zu erfassen und die daraus resultierende Notwendigkeit von Fiktionen.

In fast jeder Episode spielen Tiere eine dominante Rolle und Gomes stellt ganz bewusst am Anfang seines Films die Frage nach dem metaphorischen Potenzial solcher parallelen Ereignisse. Dabei geht es ihm um ein Problem mit Insekten in der Gegend, in der er die Geschichte(n) des Hafens erzählt. Doch eine Metapher, das wird klar, ist genauso einer Krise unterzogen, weil eine Metapher Teil einer narrativen Struktur ist, die mit Arabian Nights nicht mehr greifen kann. Im Verlauf des Films treffen wir auf tote Wale, Hunde, einen berühmten Hahn, singende Vögel, Kamele, einen Esel und vieles mehr (etwas enttäuschend, dass es nicht wie in Tabu ein Krokodil gibt, ich liebe Krokodile). Das Fantastische kann hier weder autonom existieren, noch kann es als Fluchtpunkt oder Kontrapunkt zur Realität betrachtet werden. Vielmehr existiert das Fantastische in der Krise, es ist zugleich diese Krise, ihr Ausdruck, als auch völlig unabhängig von ihr. Das Reale ist immer Teil der Imagination und die Imagination Teil der Realität. Man denke an die Märchen, die uns Politiker erzählen, Legenden in unserer Geschichtswahrnehmung oder diese ewigen Sehnsüchte, die die Realität erst als solche konstituieren und erträglich machen. Indem Gomes das Fantastische (Arabische Nächte) und das Reale (die Krise in Portugal) auch örtlich und in seiner Bildsprache trennt und es uns dennoch nicht erlaubt sie emotional zu trennen, zeigt er uns zugleich die Kraft und das Versagen des Kinos, das immerzu nur aus Fragmenten bestehen kann, aber diese wie von selbst in unseren Augen zusammensetzt.

The Desolate One

Arabian Nights

Der zweite Teil ist der hypnotischte in Arabian Nights. Große, langsame Bilder, die mit zarten Bewegungen von einer Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit erzählen, eröffnen die erste Episode im Stil eines Westerns. Hinter diesen anfänglich sehr willkürlich scheinenden Ergüssen, entpuppt sich früher oder später immer eine philosophische, moralische oder politische Wahrheit. Es ist in diesem Teil, dass Gomes am Offensichtlichsten aus dem Imaginären etwas Wahres und Reales schöpft. In einer langen Gerichtsverhandlung, die stark an das Kino des verstorbenen Manoel de Oliveira erinnert, geht es um die Frage der Schuld. Gomes bewegt sich mehr und mehr auf abstraktes Terrain und dieses Terrain ist durchsetzt von einer Sinnlichkeit, die sich in Tränen, Blut und Körpern wiederfinden lässt. Es liegt ein Delirium der Würde in der Kriminalität und reichen Armut dieser Bilder. Ein Vorhang weht aus einem offene Fenster. Haben die Bewohner Selbstmord begangen? Das desolate ist die Ausweglosigkeit, die Undurchschaubarkeit und die absurde Tragweite dieser Verzweiflung. Aus diesem Grund ist Teil 2 auch der emotionalste Film der Arabian Nights. Musikeinlagen von Lionel Richie oder Rod Stewart inklusive (natürlich nicht zu vergessen, die gefühlt 20 verschiedenen Variationen von Perfidia, die wir im Film hören, wodurch die Musik zu einer eigenwilligen Hommage an Wong Kar-wai wird). Das Spielen ist Gomes ein wenig vergangen im zweiten Teil. War es im ersten Teil noch der Exzess eines Geschichtenerzählens in der Krise, in einer dieser Krisen, in der es immer so viele Geschichten gibt, so ist es jetzt ein Bewusstwerden der Unendlichkeit dieser Geschichten und ihrer Härte. Die Arbeitslosen, Diebe, Menschen an der Armutsgrenze, Verbrecher, sie alle, so abgedroschen das natürlich klingt, sind Menschen und sie sind Menschen Portugals.

Das Spirituelle und Erhabene ist bei Gomes trotzdem nicht sicher vor dem Zynismus. Zwar erscheinen die Bilder in diesem Teil hier und da tatsächlich wie aus einem Film von Weerasethakul, aber immer wieder wirft Gomes die sinnliche Wirkung mit seinem Intellekt und seiner Ironie über Bord. So ganz will er an keine Wahrheit glauben, so ganz vertraut er keinem Gefühl. Es ist so als würde man sich immer wieder in einem surrealen Meer verlieren und dann von Brecht oder Gomes gezwickt werden. Sie sagen uns: Träume, aber nur, um aufzuwachen. Doch für ein mögliches und sicher nicht nötiges agitatorisches Potenzial fehlt Arabian Nights letztlich der Ausweg, die Klarheit und die Erkenntnis. Wenn es eine Erkenntnis gibt bei Gomes, dann dass es keine Erkenntnis gibt. Wenn wir also wieder zurückkommen auf die Relation von Fiktion und Realität, dann kann man sagen, dass Gomes sie auch immer wieder gegeneinander ausspielt. Man kann sich nie sicher sein, wann uns eine Lüge erzählt wird und wann wir die Wahrheit hören. Ob das Kino die Wahrheit oder eine Lüge 24mal in der Sekunde ist, spielt bei Gomes keine Rolle, das Kino ist einfach 24mal in der Sekunde. Und immer, wenn wir romantisch glotzen, wird uns die Realität ermahnen und immer, wenn wir eine Art soziales Bewusstsein entwickeln, wird uns die Fiktion erheben. Der zweite Teil bietet auch die strengsten Gegensätze zwischen dem Theater des Kinos, der Musikalität des Kinos und der Kinematographie des Kinos. Das Theater liegt im Gericht, der Darstellung einer Schuld, die Musik in der Melancholie und Poesie und die Kinematographie in der Zeugenschaft und Konstruktion und diese Gegensätze markieren wohl auch die politischen Konflikte um Portugal (oder aktueller auch Griechenland). Und Gomes ist hier wirklich desolat, denn das Theater findet keine Antworten, die Musik ist nur mehr eine Erinnerung, ein Sterben und das Kino kann nicht eingreifen. Gomes greift nicht ein. Doch es gibt einen Hoffnungsschimmer, Vasco, ein junger Mann, ehemaliger Drogenabhängiger, er lebt mit seiner Freundin in einem Wohnblock und züchtet einen Buchfink für Gesangswettbewerbe. Seine Figur kommt nach dem zweiten Teil auch im dritten Teil vor. Nicht nur findet Gomes in ihm eine Narration, nein, er findet auch eine Dokumentation und eine Schönheit des Gegensatzes.

The Enchanted One

Arabian Nights2

Dieser Gegensatz ist Faszination eines eigenen Films im Film, einer Dokumentation (kann man in Arabian Nights davon sprechen?) über einen Buchfink-Gesangswettbewerb, der von Kriegsveteranen und Kriminellen durchgeführt wird. Die Schönheit des Gegensatzes. Einer dieser Vogelzüchter ist eben Vasco, der allerdings von einem Schauspieler gespielt wird (so schnell ist es vorbei mit der Hoffnung der Realität). Hier gibt es ganz plötzlich die Einfachheit eines Vogelzwitscherns, die Schönheit dieses Gesangs. Aber – und das wird auch gesagt – vor lauter singen, kann man sterben. Ist die Poesie Portugals gleichzeitig sein Untergang? Immer wieder gibt es in Arabian Nights die Musik, die Poesie, das Fantastische und immer wieder gibt es auch das Sterben. Nun erklären die Vögel, dass diese Ko-Existenz auch auseinander hervorgehen kann und es ist äußerst konsequent, dass Gomes in seinem dritten Teil die Ton- und Bildebene so extrem wie sonst nie in seinen Arabian Nights trennt. Einmal hören wir die Geschichte einer Asiatin und sehen Bilder einer brutalen Polizeidemonstration. Erst spät werden die beiden Ebenen kurz zusammengeführt, es ist ein wenig wie in einem Film von Gerhard Friedl. Sinn machen viele Geschichten sowieso erst oft in ihrem Abklang, aber das kennen wir bereits von Gomes aus seinem Redemption. Aber Gomes geht noch weiter mit den Gestaltungsebenen, denn Schrift spielt plötzlich eine enorme Rolle im dritten Teil. So liegt die Erzählung von Scheherazade ständig über den Bildern der Vogelzüchter und wird gleichzeitig zu einer Fiktionalisierung und Hintergrundinformation. Gomes zwingt den Zuseher zum Lesen, er nimmt seinen Bildern damit endgültig ihre Bedeutung, ja ihre Glaubwürdigkeit im Bezug zum Realen. Aber gleichzeitig ist auch diese Schrift im Bild ein Kino. Die Ebenen klaffen meilenweit auseinander, den Geschichten fehlt ihr Ton, ihre Sinnlichkeit, sie können nur noch nüchtern und gegen die eigene Ermüdung und das Schwinden der Inspiration entstehen. Sie werden jedoch durchgezogen, weil sie erzählt werden müssen, um das Volk zu retten. Dieses Vorgehen ist äußerst ungewöhnlich und hat mich ein wenig an Hou Hsiao-Hsiens zweite Episode seines Three Times erinnert, ohne dass Gomes auf irgendeine Art Stummfilmästhetik zurückkommen würde. Einen solchen, an Tabu erinnernden Moment, gibt es wenn dann am Ende des ersten Teils, als in im fröhlichen Rausch eines Neujahrsschwimmens plötzlich der Ton aussetzt und eine tragische Tragweite in das Geschehen haucht. Aber zurück zum tödlichen Gesang, der auch eine Warnung an der Abkehr von der Realität sein könnte oder aber anzeigt, was sich unter oder hinter dieser Fröhlichkeit und Illusion verfangen hat. Denn ein Lied wird auch gesungen, um Schmerzen zu vergessen, es wird auch gesungen, um Panik zu vermeiden, es wird auch gesungen, um Gefühle vorzutäuschen. Ist es nicht erstaunlich, dass diese Lieder, die uns oft erst ermöglichen, etwas zu fühlen, genau dieses Gefühl im Kino vortäuschen können? Die Lüge einer Wahrheit, Perfidia:

To you my heart cries out, Perfidia,
For I found you, the love of my life, in somebody else’s arms
Your eyes are echoing perfidia,
Forgetful of our promise of love, you’re sharing another’s charms…
With a sad lament my dreams have faded like a broken melody
While the gods of love look down and laugh at what romantic fools we mortals be…
And now I know my love was not for you
And so I take it back with a sigh, perfidious one,
Goodbye…

Arabian Nights set2

Die Träume, die wie eine gebrochene Melodie ausklingen. Und im dritten Teil setzt Gomes auch seine Scheherazade in eine Krise. Eine wunderschöne Krise im Rausch einer Schönheit am Meeresufer und in Riesenrädern. Hier geht es auch um das Privileg des Geschichtenerzählers und die Lücke zwischen der Erzählerin und ihrem Stoff. Es ist eine Ermüdung, das Verschwinden der Inspiration, eine Verkrampfung ganz ähnlich zu jener, die Gomes selbst im ersten Teil heimgesucht hat. Scheherazade, die im vollen Leben steht, kann keine Geschichten mehr erzählen. Die Traurigkeit des Kinos, die Kamera muss immerzu weinen bei all dem Leiden, das sie fotografieren kann, das Stocken bevor man wieder und wieder vom Grauen erzählt. Gomes scheint hier zu sagen, dass es keinen Eskapismus in die Geschichten geben kann, sondern nur eine Flucht vor den Geschichten. Und daher ist Arabian Nights auch eher ein Liebesbrief an das, was die Amerikaner eine Story nennen, als an Portugal. Aber Portugal ist auch eine Fiktion und die Fiktion ist auch eine Realität, Realität des Kinos, das hier im Moment seiner Geburt ein Zeuge ist und uns zu Zeugen macht, wie das Echo in deinen Augen.

Was also zunächst bleibt ist ein Gefühl, dass mehr bleiben wird. Darüber hinaus aber befindet man sich mit diesem Film in einer Welt, die sich im Moment ihrer Krise selbst betrachtet, die sich selbst vergisst, die es selbst nicht schafft. Wir befinden uns in einer Unmöglichkeit der Fiktion und der Realität zugleich. Gomes hat einen Film gemacht, indem sich alles aufgehoben hat und genau in diesem Vakuum hat er wieder das Kino gefunden. Er findet dort unter anderem die Frage nach dem Geschichtenerzählen selbst. Die Bedeutung von Geschichten, aber auch ihre Ästhetik, ihre Möglichkeiten und Limitierungen. Was ist die Ästhetik einer Geschichte, warum ist es wichtig, ob etwas wahr oder erfunden ist? Wir, die im Kino noch nach dem Kino suchen, fragen uns an einer solchen Stelle viele Dinge. Und genau das wollen wir.