Architekturen der Seele und Krokodile der Apokalypse: Tár von Todd Field

Holz und Beton umschließen das Leben der erfolgreichen und ehrgeizigen Komponistin und Dirigentin Lydia Tár, die mit Privatjets nach New York und ihrem Porsche durch Berlin fliegt. Diese gut isolierenden Baustoffe und Verkehrsmittel können sie jedoch nur bedingt abschotten von einer digitalen Außenwelt voller Smartphones, vermeintlichen Fake News und verheerenden Social-Media-Posts, denen sie sich vehement zu erwehren versucht. Auch wenn sich ihre Assistentin Francesca um ihren Terminkalender kümmert, Flüge bucht, und Mails checkt – die anonymisierte Macht der ‚Roboter‘, wie Tár die meisten Menschen bezeichnet, scheint letztlich auch keinen Halt vor den Festen dieser Person und ihrer Leidenschaft, der klassischen Musik, zu machen. Ihre Kritik an der massenhaften Entfremdung durch die moderne Technik sowie an verengten identitätspolitischen Debatten trifft jedenfalls einen Nerv und findet dabei keine eindeutigen Antworten, sondern spielt mit den Widersprüchen unserer Zeit – sowie mit der signifikatorischen Offenheit von Gustav Mahlers 5. Symphonie.  

Der nach seiner Hauptfigur benannte Film von Todd Field überträgt den architektonischen Gegensatz aus eleganter Wärme und glatter Kälte auf das Innenleben seiner fiktiven Figur, die als erste weibliche Dirigentin der Berliner Philharmoniker vorsteht. Dass deren merkwürdig gelb-strahlende Fassade mit ihrer asymmetrisch-modernen Anordnung im Inneren sowie den aus der Zeit fallenden grünen und grauen Teppichböden nicht wirklich in dieses Bild passt, gab Anlass, die Orchester-Szenen in der berühmten Dresdner Philharmonie mit ihrer klassischen symmetrisch-frontalen Ausrichtung zu drehen. Mal in betonierten, mal in vertäfelten Räumen mimt Cate Blanchett den vermeintlichen Prototyp einer Antifeministin, die in ihrem Karriereweg und Privatleben als Lesbin keinerlei Gender Bias erkennen mag und sich dem patriarchalen Erfolgsweg ohne Zweifel hingegeben hat. Die Bedeutung der räumlichen Inszenierung offenbart jedoch die Zwiespältigkeit dieses Verhältnisses, in der jede noch so ehrenwert-künstlerische Ambition bereits eingebettet ist in hierarchisierende (Selbst)Vermarktungsstrategien. Müssen und können wir uns überhaupt noch den eigenen Begehren widersetzen, die dieses System für uns produziert, in dem Gefühle wie Beziehungen längst zu Ware geworden sind? 

Um erfolgreich zu sein, scheint es ja gar nicht anders zu gehen; je höher die Leiter der Macht erklommen, desto korrumpierter die, die sie erklimmen. Soweit die bekannte Logik des Kapitalismus. Dass der Größenwahn und die Überzeugung dieser Künstlerin-Persönlichkeit, sie umso anziehender werden lässt, ist dabei die andere, ebenso bekannte Seite dieser Machtmedaille. Während Tár auf offener Bühne bei einem Interview mit einem Journalisten des New Yorker über verschiedene Zeitverständnisse philosophiert und das Dirigieren eines Orchesters mit dem Dirigieren von Zeit vergleicht, ist da bei mir zunächst vor allem Faszination. Die Mehrdeutigkeit des englischen Wortes conducting weist dabei ebenso auf das Verhalten/Benehmen einer Person, wie ihren Führungs- und Leitungsstil, auf administrative Verwaltung sowie Leitung elektrischer Ströme. Letzteres korrespondiert mit der elektrisierenden Performance von Blanchett, die so einzigartig virtuos in das Metier der Komposition einzutauchen vermag. Dirigieren heißt für die Protagonistin vor allem interpretieren; fühlen, was sich mit Worten nicht sagen lässt. In einer Welt in der scheinbar alles gesagt wurde, in der beschuldigt werden bedeutet schon schuldig zu sein, wie es im Film heißt, ist diese Parteinahme für das Gefühl doch trügerisch. Die darin liegende Aufforderung zum Streben nach Sublimierung, nach der Aufhebung des Egos im Erhabenen, sprich das Unsichtbar-Werden des eigenen Körpers, ist in dieser Welt jedoch nur wenigen ‚Genies‘ vorbehalten. Den anderen wird es meist zum Verhängnis.

Während die Professorin intellektuell-emotionale Transferleistungen bei ihren Studierenden bemängelt, scheint es in ihrem Privatleben nur noch transaktionale Beziehungen zu geben, wie ihr ihre Ehefrau Sharon (Nina Hoss) zum schwerwiegenden Vorwurf macht. So scheint Tár blind für die eigene Korrumpiertheit, aber gewitzt in der Entlarvung der anderen. Dabei prallen verschiedene Wirklichkeiten mal ostentativ aufeinander, umgarnen sich oder blicken sich ohne Mitgefühl und voller Ekel an. Etwa im einschüchternden Hörsaal des Elite-Konservatoriums Juilliard, in dem sie die Seelen-Architektur einer ihrer Studierenden mit Social Media vergleicht, oder vor einer Neuköllner Hausruine, in dem die neue und junge Cellistin wohnt, von der sie gleichzeitig angezogen wie abgestoßen scheint. Besonders kontrastiert wird das Luxusleben von Lydia durch ihre betagte Nachbarin und ihrer sie pflegenden Tochter in der Charlottenburger Altbau-Zweitwohnung, die der Komponistin als Arbeitsort dient. Auch der kritische Song auf den Ausverkauf der Wohnung nach ihrem Tod und die Einweisung der Nachbarstochter in eine Pflegeanstalt, machen das gewaltförmige Eindringen dieser Lebensrealitäten nicht wett. 

Doch als ihr eigenes Leben ins Wanken gerät und in die Brüche geht, können Geld und soziales Kapital zumindest vor äußerer Verwahrlosung schützen. Rückzug und Niederlage bedeuten hier, sich auf den Philippinen niederzulassen, wo die Verflechtung von Hollywood und US-amerikanischem Imperialismus ganz beiläufig von Field eingewoben wird: der Fluss, in dem sich nicht mehr schwimmen lässt, aufgrund der Krokodile, die beim Dreh von diesem „Marlon-Brando-Film“ entflohen sind und sich dort vermehrt haben. Die Rede ist von Apocalypse Now, und referiert auf das (New-)Hollywood der 1970er Jahre, das unter dem Eindruck des Vietnam-Krieges gegen bürgerliche Vorstellungen einer heilen und geschlossenen Welt aufbegehrte. Der Verweis auf das amerikanische Autorenkino scheint jedoch keine industrieinterne Kritik am Eindringen der filmischen Welt in dessen vorfilmische Umwelt zu sein, sondern lediglich ein ironisch-zynischer Kommentar auf die Verflochtenheit unserer Welt. Eine Referenz, die in ihrer provokanten Leichtfertigkeit, genauso wie die Filme der Epoche, doch etwas Zerstörerisches an sich hat. 

Dem einzigen sozialen Aufbegehren, das in Form der abstrakten Medienwelt im Leben von Tár bahnbricht, wird jedoch vom Film keinerlei Beachtung geschenkt. Könnte dies als einseitiger, konservativer Backlash auf eine Prä-Internet-Zeit erscheinen, finde ich doch, dass der Film damit spielt, in dem er uns einen sensiblen, wenn auch elitär-intellektuellen Blick auf diese ‚Hochkultur‘ liefert. Obwohl ich mit der überbordenden und humorvollen Art vor Tár sympathisieren kann, selbst als sich die Anschuldigungen über Übergriffe verdichten, gibt der Film bereits zu Beginn die kritische und doch involvierte Perspektive frei: der Blick auf das Smartphone von Francesca, die aufgrund des toxischen Umganges kündigt, der ihre ehemalige Kollegin in den Selbstmord trieb, öffnet den Raum für Interpretation. Der Film scheint damit gleichermaßen ein Exempel virulenten Machtmissbrauchs zu statuieren, sowie eine Kritik an gesellschaftlichen Verleumdungs- und sich verschärfenden Entfremdungstendenzen zu liefern, die in dieser Komplexität selten zum Ausdruck kommen. Selbst beim Ausblick auf den scheinbaren Horror des immersiven Orchester-Erlebnisses, samt begleitender Erzählstimme und Kostümierung des Publikums, bleibt der Wert dieser Erfahrung erst einmal offen dahingestellt. Ob der Bedrohung apokalyptischer Krokodile – ein Plädoyer für die verbindende Erfahrung von Musik ist es allemal. 

Linksammlung Architektur & Neoliberalismus

Privater öffentlicher Raum

Kathrin Wilder und Hilke Berger: Das Prinzip des öffentlichen Raums

https://www.bpb.de/politik/innenpolitik/stadt-und-gesellschaft/216873/prinzip-des-oeffentlichen-raums

Die beiden Autor*innen diskutieren die Geschichte des öffentlichen Raums und die zunehmend unklare Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum.

„Im Prinzip taucht die Frage nach dem öffentlichen Raum mit der Feststellung seines Verschwindens auf. Im Zuge der konstatierten Krise der Städte in den 1980er Jahren wird vor allem auch der Verlust des öffentlichen Raumes beklagt. Mit Bezug auf Privatisierungen, Suburbanisierung, vernachlässigte innerstädtische Wohnquartiere, Segregation und Leerstand ist vom Verfall der Großstädte oder gar von der zweckentfremdeten Stadt die Rede. Denn heute ist zunehmend nicht mehr unterscheidbar, was privater und was öffentlicher Raum ist: sowohl die Formen als auch die Funktionen mischen sich. Der Bahnhof – ein paradigmatischer öffentlicher Verkehrsraum – wird zur privatisierten Shopping Mall mit Hausrecht. Das private Einkaufszentrum wird von Architekten im Stil italienischer Plätze gestaltet, mit Springbrunnen und Parkbänken, und suggeriert so die Freiheit eines vermeintlich öffentlichen Raums. Der öffentliche Raum verschwimmt und entzieht sich.“

Architektur als Luxus-Marke

Johan Popelard: Late capitalism’s theme park

https://mondediplo.com/2015/08/10vuitton

Eine ästhetische Analyse der Louis Vuitton Foundation von Frank Gehry.

„If the building is an emblem, as the reception it got suggests, it is to the client’s power rather than his generosity, to spectacular consumption rather than democracy, to a luxurious manifestation of the values of financial liberalism rather than art for all. At this point of liquid utopias and dream architectures, we can only hope that public cultural institutions can recover their autonomy, that artists will organise themselves on a cooperative model where democratised commissioning replaces the monopoly of patrons, so that there are alternatives for art that don’t lead to capitalism’s theme park.“

Sozialer Wohnungsbau

Uli Krug: Es geht auch ohne Wohnungsnot

https://jungle.world/artikel/2019/32/es-geht-auch-ohne-wohnungsnot?page=all

Ein Überblick über die Geschichte und den Niedergang des sozialen Wohnungsbaus in der BRD am Beispiel des gemeinnützigen Bauunternehmen Neue Heimat des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

„1985/1986 verkündete die Bundesregierung das Ende der staatlichen Förderung des Mietwohnungsbaus. Man begründete das mit alles andere als verlässlichen Prognosen über den Rückgang der Bevölkerung, zeigte ansonsten mit dem Finger auf den 1982 pleite gegangenen gewerkschaftseigenen und gemeinnützigen Baukonzern Neue Heimat und verkündete, von der ‚Objektförderung‘ zur ‚Subjektförderung‘ übergehen zu wollen. Statt günstige Wohnungen zu bauen oder die Höhe der Mieten zu regulieren, wurden durch Wohngeldzahlungen und Kostenübernahmen private Mieteinkünfte aus öffentlichen Mitteln subventioniert.“

Aus Neu mach Alt: Simulation von Altstadt

Philipp Oswalt: Vorbild Frankfurt – Restaurative Schizophrenie

Architekturkolumne. Vorbild Frankfurt: Restaurative Schizophrenie

Der Artikel geht anhand der Neuen Altstadt in Frankfurt der Frage nach, wie die Privatisierung von Wohnungsbau einher geht mit historischen Rekonstruktionsprojekten.

„Es ist eine Medienarchitektur, die aus technischen Bildern generiert nun vor allem der Erzeugung neuer medialer Bilder dient. Auch sonst ist die Architektur keineswegs so traditionell, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. (…) Nicht nur für die Bewohner, auch für die zeitknappen Ferntouristen aus Asien und Übersee ist die neue Altstadt die moderne Alternative, und so wird sie auch beworben. Anstatt historische Fachwerkstädte wie Fritzlar oder Michelstadt aufsuchen zu müssen, können sie innerhalb von zwanzig Minuten vom Frankfurter Flughafen eine deutsche Altstadt mit U-Bahn-Station und Autobahnanschluss erreichen.“ Dabei sei es „kein Zufall, dass Dresden als Ursprungsort der neuen Rekonstruktionswelle fast den gesamten städtischen Wohnungsbaubestand privatisiert hat; die Stadt Braunschweig finanzierte mit der Privatisierung städtischen Bodens den staatlichen Bau der Schlossfassade; und in Frankfurt wurde parallel zur Altstadtrekonstruktion das zuvor öffentliche Bauland des knapp 90 Hektar großen Europaviertels privatisiert und dann von einem globalen Immobilienfonds für etwa 40 000 Wohn- und Arbeitsplätze entwickelt, mit der üblichen Mischung aus konventionellem Städtebau, mediokrer Architektur, hohen Wohnungspreisen und großen Gewinnmargen für die Kapitalanleger.“

Business Improvement Districts

WDR: Unternehmen Stadt – Kommunale Aufgaben in privaten Händen

Sendung: https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-dok5-das-feature/audio-unternehmen-stadt—kommunale-aufgaben-in-privaten-haenden-100.html
Transkript als pdf: https://www1.wdr.de/radio/wdr5/sendungen/dok5/unternehmen-stadt-104.pdf

Das Radiofeature des WDR untersucht die private Verwaltung von Stadtplanung und kommunalen Aufgaben durch „Business Improvement Districts“ und redet mit Akteur*innen in Remscheid, Solingen-Ohligs (beides in NRW) und Hamburg-St. Pauli.

„Immer mehr deutsche Städte folgen dem US-amerikanischen Vorbild und führen ihr Gemeinwesen wie ein Unternehmen. In Sonderbezirken gehen sie gesetzlich geregelte Partnerschaften mit Grundeigentümern und Gewerbetreibenden ein. Wie verändern sich die Städte dadurch?“

Eric Töpfer, Volker Eick, Jens Sambale: Business Improvement Districts – neues Instrument für Containment und Ausgrenzung? Erfahrungen aus Nordamerika und Großbritannien

http://www.policing-crowds.org/uploads/media/Toepfer-Eick-Sambale-Business-Improvement-Districts.pdf
Alternativ verfügbar hier: http://www.prokla.de/index.php/PROKLA/article/view/496

„Business Improvement Districts“ zwischen Ausgrenzung, privatisierter Polizeiarbeit und Charity als Imagepflege: Der Artikel untersucht die Auswirkungen unterschiedlicher BID in Kanada, den USA und Grossbritannien auf die Sicherheitspolitik.

„Mit der wachsenden Bedeutung von Business Improvement Districts wächst auch ihr Einfluss auf die Gestaltung städtischer Sicherheitspolitik und entsprechend auf die raumstrategischen Prioritäten staatlicher Polizei. Gleichzeitig entziehen sich diese Praktiken in den unübersichtlichen Netzwerken öffentlich-privater Entscheidungsfindung weitgehend demokratischer Kontrolle mit der Folge, dass – ähnlich wie die Installierung von BIDs einem äußerst beschränkten Verständnis von ‚öffentlichem‘ Interesse entspricht – sich eine neue exklusive Version von ‚öffentlichem‘ Raum in den Zentren der Städte und darüber hinaus institutionalisiert. Für die Betroffenen heißt das in der Regel Vertreibung, kann (selten) territoriale Kompromisse umfassen oder das Gegenteil bedeuten: das Beispiel Los Angeles jedenfalls zeigt die Containment-Variante.“

Gentrifizierung

Susannah Jacob: What Happened to the West Village?

What Happened to the West Village?

Was passiert wenn ein Viertel immer teurer wird? Susannah Jacob spricht für ihre Reportage mit den alten Mieter*innen im New Yorker West Village darüber, wie es ist, mit einem bezahlbaren Mietvertrag in einer unbezahlbaren Gegend zu wohnen.

“At first glance, its increasing emptiness – vacant commercial spaces blighted by skyrocketing rents, shells of brownstones, and luxury apartments unoccupied for fifty weeks a year – suggested a place on the precipice of becoming something else. In time, I understood that the neighborhood’s emptiness is simply its deepening condition. (…) Today, late-stage gentrification has isolated the longest-lasting, often elderly, residents; the wealthy West Village newcomers don’t rely on local services to fill their needs. ‚When a mixed-income neighborhood becomes entirely wealthy, the last people standing find that everything they need is gone. All they have is their un-renovated apartment and no place to eat,‘ Schulman told me.“

Zum Beispiel Berlin: Zwischen Geldanlage, Wohnungsnot und Creative City

Barbara Nolte: Bestürzende Neubauten

https://www.tagesspiegel.de/berlin/stadtplanung-berlin-bestuerzende-neubauten/12650718-all.html

Was wird neu gebaut in Berlin? Der Artikel wirft einen Blick auf luxuriöse Retro-Neubauten und bietet einen Ausblick auf Siedlungen, die nach jahrelanger Pause von den Berliner Wohnungsbaugesellschaften erneut gebaut werden.

„‚Wer sich in Berlin eine Wohnung kauft, will offenbar in einem Château oder Palais leben‘, sagt Jan Kleihues, Mitglied des Baukollegiums (…) ‚Es ist die Sehnsucht nach der alten Ordnung der europäischen Stadt, weshalb Menschen von auswärts den historisierenden Baustil bevorzugen‘, glaubt Lüscher. Wer sich dagegen in Schanghai seinen Zweitwohnsitz einrichte, wohne lieber in einem gläsernen Hochhaus. Berlin wird zum Schauplatz von Geschmäckern aus der ganzen Welt, die hier etwas diffus Europäisches suchen, und staffiert sich entsprechend aus. (…) Fassaden, mit Gesimsen versehen wie vor hundert Jahren, Hauseingänge, die von griechischen Säulen umstanden sind. Die Fenster haben mitunter Holzläden wie die Stadthäuser in Nizza, ihre Brüstungen sind eisern und verziert. In den Foyers hängen Kristallleuchter, zum Hof hin stapeln sich Loggien. Aus den Ornamenten und Bauelementen aller Epochen taucht hier auf, was gefühlig wirkt und repräsentativ. Zugleich sollen die Häuser in ihrer nagelneuen Anmutung als solide Geldanlagen etwas Grundvernünftiges ausstrahlen. Zu viel Ornament soll es deshalb auch nicht sein. Ein internationaler Fantasiestil schreibt sich ins Berliner Stadtbild ein.“

Silke Hohmann im Interview mit Anh-Linh Ngo: „Arm, aber sexy“ war ein politisches Programm – Berlin als Kreativort

https://www.monopol-magazin.de/arm-aber-sexy-war-ein-politisches-programm

Ein Interview mit dem Kurator Anh Link Ngo anlässlich der Ausstellung 1989-2019: Politik des Raums im Neuen Berlin im Neuen Berliner Kunstverein (n.b.k.): Berlin nach 1989 zwischen Retro, Privatisierung und Vermarktung als kreative Stadt.
Weitere Informationen zur Ausstellung: https://www.archplus.net/home/projekte/1989-2019-politik-des-raums-im-neuen-berlin/338,0,1,0.html

„Statt öffentliche Daseinsvorsorge trat eine vordergründige Dienstleistungsmentalität an den Tag, die alles, was nicht dem neoliberalen Zeitgeist des schlanken Staates entsprach, dem Sparzwang unterwarf. Budget, Kennziffer, Output, Controlling und Wettbewerb waren die Schlagworte. Das kurzsichtige Primat der unternehmerischen Stadt hat jedoch zu einer Vernachlässigung der öffentlichen Infrastrukturen geführt, unter deren Folgen die Stadtgesellschaft heute in Form von Wohnungskrise, Lehrermangel, unterbesetzte Verwaltungen u.v.m. leidet. Begründet wurde der politische Reformwille in Berlin auch mit der Notwendigkeit, auf globaler Ebene mit anderen Metropolen konkurrieren zu können. Ein Baustein in dieser Strategie war die Instrumentalisierung des Kultur- und Kreativsektors. (…) Was in der Subkultur Berlins vor der Wende noch eine avantgardistische Prämisse war, hat sich heute zu einer ökonomischen Größe entwickelt. Kaum ein Treffen von Wirtschaft und Politik geht heute zu Ende, ohne dass Kreativität als funktionale Variable beschworen wird. Es ist die Rede von der Kreativindustrie, von der Creative Class, von der Creative City. Ursprünglich als Mittel zur Überwindung der funktionalistischen Gesellschaftsform gedacht, ist sie selbst funktionalisiert worden und hat ihren kritischen Gehalt längst verloren.“

Disney’s Städte

Michael Pollan: Town Building is no Mickey Mouse Operation

Eine Reportage über die von der Disney Corporation geplante Stadt Celebration, FL. Michael Pollen spricht mit den Bewohner*innen über Community und Konflikte rund um die Organisation der Schule.

„The town of Celebration represents the Disney Company’s ambitious answer to the perceived lack of community in American life, but it is an answer that raises a couple of difficult questions. To what extent can redesigning the physical world we inhabit – the streets, public spaces and buildings – foster a greater sense of community? And what exactly does ‚a sense of‘ mean here? – for the word community hardly ever goes abroad in Celebration without that dubious prefix.“

“For Roger Burton, a successful small-business owner who had moved his family to Celebration from Chicago largely because of the school, the episode was disillusioning. ‚Sure it was a public school, but we figured if Disney was behind it, it would be as fabulous as everything else they do,‘ he said. ‚I knew Celebration was going to be a very controlled situation, but controlled in a good way. But as soon as you run into a problem, you find there is no mechanism to change things. The only person you can call is a corporate vice president, but he’s not interested in the school, not really. He’s interested in selling real estate.‘“

 

Über Filme

Dene wos guet geit (Regie: Cyril Schäublin, 2017)

Lukas Foerster: Kontrollkapitalistisches Wunderland

https://www.perlentaucher.de/im-kino/filmkritiken-zu-jon-favreaus-koenig-der-loewen-und-zu-cyril-schaeublins-dene-wos-guet-geit.html

Johannes Binotto: Dene wos gut geit

https://www.filmbulletin.ch/full/filmkritik/2018-1-9_dene-wos-guet-geit/

Film und Baukunst: Zu einigen Filmen von Manoel de Oliveira

Visita ou Memórias e Confissões von Manoel de Oliveira

Ein sichtlich betrunkener Nachtwächter torkelt durch die Gassen eines heruntergekommenen Viertels in Lissabon. Mit jedem Schritt über die grob gepflasterten Treppen, meint man ihn Fallen zu sehen. Jedes Mal hält er aber die Balance, bekommt eine Mauer, ein Geländer zu greifen. Er kramt in seiner Tasche, holt einen Flachmann hervor, genehmigt sich einen weiteren Schluck, während es langsam hell wird. Dieser Nachtwächter tritt zu Beginn von Manoel de Oliveiras A Caixa auf, einem schwierig einzuordnenden Film, zwischen Schmierenkomödie, Milieustudie und griechischer Tragödie. Im weiteren Verlauf des Films spielt der Nachtwächter keine Rolle mehr, doch abgesehen davon, dass diese Anfangsszene brillante Slapstick-Einlagen zeigt, hat sie noch eine andere wichtige Funktion. Sie vermisst den Ort des Geschehens, durchwandert die engen, ansteigenden Gassen dieses Viertels, dass der Film nie verlassen wird. Die hohen, aber schmalen Häuser, der Handlauf in der Mitte des gepflasterten Wegs, die Torbögen und Durchgänge, die das Ende der Gasse darstellen und sich hin zu einem anderen Lissabon öffnen, das der Film vollkommen ausschließt.

Oliveira und die Orte

Es kommt nicht von ungefähr, dass ein Film von Manoel de Oliveira mit so einer filmischen Kartographie eines bestimmten Ortes beginnt. Orte sind für Oliveira sehr wichtig, das können Häuser, Stadtviertel oder ganze Städte sein, allen voran natürlich seine Heimatstadt Porto, in der die meisten seiner Filme spielen und der er mit Porto da minha infância einen eigenen Film gewidmet hat. Aber mehr noch als das Aufspüren, das Kennenlernen und das Auswählen eines Ortes, haben Oliveiras Filme eine unbestimmte Qualität diese Orte in Szene zu setzen. Entscheidender noch, als der Umstand, dass A Caixa mit einer Vorstellung eines Ortes beginnt, ist die Art und Weise, wie Oliveira ihn vorstellt: Das leichte Schwanken der Kamera, die dem Nachtwächter folgt, das langsame Durchtasten des engen Raums der Häuserschlucht, die Menschenleere, die langsam der morgendlichen Hast weicht, der die leicht heruntergekommenen Häuserfassaden trotzen.

Die Art der Inszenierung wiederum hat mit Oliveiras Verbindung zur Architektur zu tun. Orte, Bauwerke, Architektur, Filme: Patrick hat einmal einen Vortrag zu diesem Themenkomplex in den Filmen von Oliveira am Beispiel von Visita ou Memórias e Confissões gehalten. An anderer Stelle hat er nochmal über denselben Film geschrieben. Ich möchte seine beiden Texte als Grundstock nutzen, um auf andere Stellen in Oliveiras Filmographie hinweisen, in denen Architektur eine bedeutende Rolle spielt.

Es gibt viele Meinungen darüber, wie sich das Kino zur Architektur verhält. Helmut Färber hat vor Jahren einmal ein Buch darüber geschrieben, was sie verbindet (und trennt). Peter Kubelka spricht oftmals über Architektur, dass sie eigentlich nur in der Bewegung wahrgenommen werden kann und dass deshalb ein Film, um Architektur fassbar zu machen, das Umherschweifen des Blicks nur durch eine rasche Abfolge von Einzelbildern simulieren kann. Konträr dazu funktionieren manche Filme aus dem Genre des Architekturfilms, wie etwa die Architekturstudien von Heinz Emigholz, die lange, statische Einstellungen aneinanderreihen. Andere Architekturfilme wiederum, beispielsweise jene von Lotte Schreiber oder Sasha Pirker, bemühen sich eher darum die Atmosphäre eines Bauwerks einzufangen, als seine äußere Erscheinung filmisch zu reproduzieren.

Architektur, Filme

Manoel de Oliveira macht keine Architekturfilme. Aber es fällt ins Auge, wie prominent manche Bauwerke in seinen Filmen in Szene gesetzt werden, und wie anders das bei ihm aussieht, als bei anderen Filmemachern, immer scheint er genau die richtigen Punkte eines Gebäudes und die richtige Perspektive darauf zu finden, um seinen Geist zu erschließen. Im Fall von Visita ou Memórias e Confissões funktioniert beinahe der ganze Film nach diesem Muster. Das langsame Annähern von außen, schweifende Blicke durch die Innenräume. Oliveira kannte dieses Haus sehr gut, er hatte fast vierzig Jahre darin gelebt, und er wusste, wo er die Kamera positionieren muss, um den richtigen Eindruck davon zu vermitteln.

Chafariz das Virtudes von Manoel de Oliveira

Chafariz das Virtudes von Manoel de Oliveira

Für den Viennale-Trailer 2014 filmte er den Brunnen Chafariz das Virtudes in Porto. In einer einzigen Einstellung zeigt er nur die beiden wasserspeienden Köpfe am Fuß des barocken Brunnens, der einige Meter hoch ist. Eine Detailaufnahme eines Bauwerks, die keiner Ergänzung bedarf.

Großartig auch die Szene am Grabmal des Schriftstellers Camilo Castelo Branco am Ende von O dia dos desespero. Mit nur wenigen Einstellungen rahmt Oliveira hier den Film über den Schriftsteller, dessen Roman Amor de Perdição er einige Jahre zuvor verfilmt hatte. Das Grabmal als Monument, das einerseits die sterblichen Überreste des Autors beherbergt, und andererseits den Film abschließt.

In der Bovary-Variation Vale Abraão spielen gleich drei Häuser eine zentrale Rolle. Romesal ist das Geburtshaus von Ema, auf dessen Terrasse die Protagonistin als 14-Jährige den vorbeifahrenden Autolenkern den Kopf verdreht und Unfälle verursacht; nach ihrer Hochzeit zieht sie nach Vale Abraão, dem Herrenhaus der Familie ihres Ehemanns; nachdem die Ehe sie langweilt und frustiert, flüchtet sie sich schließlich nach Vesúvio, dem Wohnsitz von Fernando Osorio, einem Freund der Familie und Emas halbgeheimen Liebhaber. Während der Film Romesal und Vale Abraão zumeist von innen zeigt, bekommt Vesúvio seinen ersten Auftritt in einer großzügigen Totale. Freistehend, am Ufer des Douro ist es minutenlang in einer statischen Einstellung zu sehen, während eine Stimme aus dem Off die Vorkommnisse im Inneren schildert. Ein starker erster Eindruck für einen Ort, der anders als die beiden vorangegangenen Häuser kein Ort der Ruhe, der Heimeligkeit, der Familie ist, sondern einer des Abenteuers, des Geheimen, das ausgespäht werden will.

Alle diese Momente haben kein einendes Element, anhand dessen man die Beziehung von Oliveira zur Architektur kurz und knapp charakterisieren könnte. Jedes Gebäude, so scheint es, verlangt seine eigene Inszenierungsstrategie: das bewundernswerte ist aber – Oliveira scheint immer die richtige zu finden, scheint immer den richtigen Sinnzusammenhang zu finden, in dem er die Bauwerke präsentiert. Diese Sinnzusammenhänge entstehen durch eine bunte Mischung von Motiven aus anderen Künsten für die Oliveira im Laufe der Jahre eine ausgefeilte Kombinatorik gefunden hat.

Es gibt wenige Filmemacher (Straub-Huillet zählen sicher dazu), die so präzise und souverän mit den Ideen anderer umgehen, Material aus anderen Künsten in ihre Filme einfließen lassen, und daraus einen eigenen Stil entwickeln. So wie sich ein Text über Oliveiras Verhältnis zur Architektur verfassen lässt, so könnte man auch darüber schreiben, wie er literarische Stoffe umsetzt, etwa die langen Voice-over-Passagen in Vale Abraão, O dia dos desespero, oder Amor de Perdição, einem Film, der wie wenige das Gefühl des Romanlesens evoziert und dabei trotzdem dem Filmischen total verhaftet bleibt. Oder aber man könnte über den auffälligen Einsatz von (klassischer) Musik schreiben, am prominentesten vielleicht jene von Felix Mendelssohn in O Passado e o Presente. Interessant ist auch die Beziehung von Oliveiras Filmen zum Theater, etwa die Operettenszene in Porto da minha infância, in der Oliveira selbst einen portugiesischen Operettenstar seiner Jugend verkörpert oder seine Adaption von José Regios gleichnamigem Theaterstück in Benilde ou A Virgem Mãe – Luís Miguel Cintra, der selbst in einigen von Oliveiras Filmen mitgespielt hat, hat dieses Themenfeld für Cinema Comparat/ive abgedeckt.

Der große „Borger“

Cintra spielt in A Caixa die Rolle des blinden Mannes, dem die namensgebende Büchse gehört, mit der er Almosen sammelt. Er sitzt vor einem der Häuser, die die enge Gasse säumen, die Oliveira so unnachahmlich in Szene setzt. Eine Häuserschlucht in einem Armenviertel, der er mit ebenso viel Respekt begegnet wie den majestätischen Villen im Dourotal. Die Bälle, die in diesen Herrenhäusern für die Oberen Zehntausend abgehalten werden, finden ihre Entsprechung in der surrealistischen Ballettsequenz in A Caixa, in denen die heruntergekommenen Gassen zur Theaterbühne werden. Auch hier gilt: die Architektur entfaltet sich durch die Zusammenführung mit „geborgten“ Elementen anderer Künste.

Oliveira ist der große „Borger“ der Filmgeschichte. Film als Kunst gestaltet sich bei ihm als eine (keineswegs willkürliches) Sammelsurium aus äußeren Einflüssen, die er zu einem feinen Muster verwebt. Tanz, Theater, Literatur und eben Architektur sind seine Referenzpunkte. Die mediale Vermittlung über den Film nimmt er sehr ernst, so ernst, dass sich daraus ein ganz eigener Stil entwickelt, der sehr viel mit intellektueller Überforderung zu tun hat. In Filmen, die scheinbar stringent einer Erzählung folgen, tut sich ein Meer aus Bezügen auf – und genau darin liegt die filmische Qualität Oliveiras: das Vermögen des Films andere Künste in sich aufzunehmen und zusammen mit ihnen zu wachsen.