Rather Be A Dick Than A Swallower: Welcome to New York von Abel Ferrara

Wie so oft war es im Fall von Welcome to New York von Abel Ferrara die richtige Entscheidung, mit der Betrachtung des Films so lange zu warten, bis die Polemiken und Diskussionen um Marketing, Inhalt und Authentizität des auf der Dominique Strauss-Kahn-Affäre beruhenden Films, nicht mehr wirklich präsent waren. So konnte ich mich auf den Film alleine einlassen. Und wie begeistert ich bin! Abel Ferrara genießt in bestimmten Kreisen ein sehr hohes Ansehen, dessen Herkunft mir immer etwas unklar schien. Zwar konnte ich Filmen wie King of New York, Bad Lieutenant oder The Addiction durchaus etwas abgewinnen, in Jubelstürme bin ich aber deshalb nie verfallen. Nach dem für mich eher enttäuschenden Pasolini im vergangenen Jahr bin ich also eher mit gedämpften Erwartungen in den Film, der letztes Jahr unter bizarren Umständen inoffiziell am Rande des Festivals in Cannes gezeigt wurde, gegangen.

Depardieu Strauss-Kahn

Ferrara wagt eine gewohnt vulgäre, direkte und freche Vermischung fiktionaler Erfindungen und möglichst detailgetreuer Darstellungen. Nach einigen Einordnungen und Erklärungen der Fiktionalität des Films und einer virtuosen Verbindung kapitalistischer, politischer, französischer und amerikanischer Symbole in der Anfangssequenz, folgen wir im Stil von La Grande Bouffe eine lange Zeit einer Orgie mit verschiedenen Prostituierten, die noch während der Arbeit beginnt und sich bis zum nächsten Morgen zieht. Dabei legt Ferrara den Fokus auf das Animalische seiner Figur Devereaux, die von einem wild grunzenden und nach Luft schnappenden Gérard Depardieu in einer großartigen Perfomance verkörpert wird und mal mehr und mal weniger deutlich auf Strauss-Kahn basiert. Er wirkt zugleich unbeholfen als auch absolut dominant und widerwärtig im Umgang mit den Frauen, die das, wohl letztlich aufgrund des Geldes, dennoch glücklich über sich ergehen lassen. Am nächsten Morgen kommt es zum weltberühmten Zwischenfall mit der Hotelangestellten. Ferrara zeigt diese Sekunden in einer Art und Weise, die sehr deutlich ist, aber dennoch Raum zur Spekulation lässt. Zumal Devereaux später seiner Frau ein Geständnis macht, das mehr impliziert als wir sehen konnten. Wie meist in diesem Film zeigt Ferrara genau das, was notwendig ist. Immer wieder gibt es kurze Schwenks oder Schnitte, die unser Bild des Geschehens aufs Neue hinterfragen. Randfiguren bekommen plötzlich Bedeutung und Ferrara interessiert sich auch für ihre Gleichgültigkeit oder Emotion. Eine tiefe Verletzung tritt zum Beispiel auf, als ein Schwenk im Gericht für eine kurze Sekunde plötzlich die Tochter von Devereaux im Bildhintergrund entdeckt. Es ist nur konsequent, dass viele Szenen zunächst Unbekannten oder Randfiguren folgen bis der Protagonist das Bild betritt. In der Folge kommt es zur Verhaftung am Flughafen und der einflussreiche Bankenchef, der sich um den Job als Präsident Frankreichs bemüht, wird in ein Gefängnis gebracht. Diesen Sequenzen folgt der Film mit einer derart minutiösen Detailtreue, die weder Absurditäten noch Alltäglichkeiten ausspart, dass Ferrara hier eine Intensität der laufenden Zeit erreicht, wie man sie derzeit häufig nur im rumänischen Kino wahrnehmen kann. Das Geld seiner Frau und das Schauspiel in der Öffentlichkeit sind für Ferrara der Grund, warum die Anklage schließlich fallengelassen wird. Bis dahin verbringt Devereaux sein Leben in einem äußerst teuren Appartement mit Fußfessel und einem unveränderten sexuellen Drang. Dabei zeigt Ferrara lange Streitgespräche zwischen dem Verbrecher und seiner Frau Simone. Wie schon in Pasolini muss sich Ferrara dabei fragen lassen, warum er die beiden Englisch sprechen lässt. So sehr man darin irgendwelchen versteckten Botschaften lesen mag, so bizarr sind diese sprachlichen Verirrungen doch im Angesicht der sonstigen fast dokumentarischen Detailtreue, die eben nicht nur für den Umgang mit den realen Vorbildern gilt, sondern auch für den Umgang mit den Darstellern, die in diesem Fall beide Franzosen sind.

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Mehrfach beschimpft Simone ihren Mann als Kind. Welcome to New York zeigt Macht als einen eigenständigen Charakter. Der reale Fall der Strauss-Kahn-Affäre ist nur eine Basis für moralisch-philosophische Überlegungen bezüglich kapitalistischer Macht und der Wirkung dieser Macht auf Menschen und Systeme. Je länger man Zeit mit dem zugleich bedrohlichen wie auch bemitleidenswerten Devereaux verbringt, desto mehr kommt man zum Schluss, dass dieser Mann von seiner eigenen Macht beherrscht wird. Das Perverse daran ist, dass ihm selbst das kaum schadet, sondern nur anderen Menschen. Gegen Ende verfällt er in einen existentialistischen Monolog, der eine Gleichgültigkeit gegenüber der Sinnlosigkeit der Existenz einfordert und damit einen nihilistischen Turn in die humanistischen Überlegungen eines Camus legt. Der Film zeigt den Traum und die Einsamkeit eines Don Juanismus, der nicht vom Willen eines einzelnen Mannes ausgeht, sondern von dessen egoistischer Gleichgültigkeit und Machtlosigkeit im Angesicht seiner eigenen Macht. In diesem Sinn ist Welcome to New York eine Parabel und die Blicke von Depardieu in die Kamera sowie der vieldeutige Schluss um Devereaux und sein Hausmädchen, das er begehrt und dann fürs erste davonkommen lässt, deuten auf einen größeren Zusammenhang von Macht, Geld und Öffentlichkeit.

Ferrara wählt eine aggressive filmische Form um diese Verbindungen zu verdeutlichen. Der Low-Budget Look und der Drang des Filmemachers, an den realen Orten der Ereignisse zu drehen, stellen Fragen an die Darstellbarkeit und Darstellung von Verbrechen als zeitgenössisches Spektakel für die Massen. Es gibt erhöhte Monologe, Found Footage und scheinbar mit versteckter Kamera gedrehte Szenen in einer Hotellobby. In mancher Hinsicht erinnert der Film tatsächlich an Laura Poitras Citizenfour nicht nur wegen des Settings und des kritischen Aktualitätsbewusstseins, sondern auch, weil Ferrara etwas Zufälliges konstruiert, das immer wieder so wirkt als würde er im Geheimen drehen müssen. Nicht, dass wir uns da falsch verstehen, das Ganze erzeugt keinen Suspense wie bei Poitras, aber eine Direktheit, die moralische Fragen aus der Handlung gewinnt und nicht Handlung als Grund moralischer Fragen erzeugt. Ferrara vermischt dabei alles und fragt damit ähnlich wie Cristi Puiu in dessen Aurora nach dem, was wir sehen, wenn wir einen Film sehen. Ferrara betreibt dieses Spiel in vielerlei Hinsicht deutlich vulgärer, direkter und naiver als Puiu, aber in der Doppelung mit dem medialen Skandal um die Affäre ergibt sich ein absolut überzeugendes Bild, das ständig so tut als würde es von Dichotomien erzählen, aber letztlich keine findet. Ein plötzlicher Verweis auf die französische Filmgeschichte mit Szene aus Domicile conjugal von François Truffaut, die Blicke in die Kamera, Handybilder und eine fast pornographische Darstellung der Sexszenen zu Beginn sind immer zugleich eine Kritik an dieser Darstellung als auch die Freude daran. Ferrara wirkt manchmal wie ein Teenager, der etwas gefunden hat und es möglichst provokativ unter die Leute bringen will, aber genau mit dieser Eigenschaft ist er der perfekte Regisseur für diesen Stoff.

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Das Besondere an Welcome to New York, zumal in einer Zeit, in der filmischer Realismus häufig mit einem Verschwinden des Autors gleichgesetzt wird, ist nicht nur die Ambivalenz des Dargestellten sondern auch die Ambivalenz der Darstellung. So kann man sich nie sicher sein, ob man gerade Ansichten von Strauss-Kahn, Devereaux, Depardieu oder Ferrara vernimmt. Der Film spielt äußerst versiert mit diesen verschiedenen Ebenen. Dabei schont sich Depardieu keine Sekunde. Sein Körper, seine Beziehung zu Frankreich („Vive la France“) und sein Alter werden schonungslos exponiert. Dabei erfährt die Figur eine filmische Gerechtigkeit dort wo die juristische Gerechtigkeit versagt. Der schockierende Umgang mit den Frauen zu Beginn des Films schlägt auf den Mann zurück, wenn die Kamera ihn beim Aus- und Anziehen im Gefängnis filmt. Die Kamera in Welcome to New York ist ein Täter, ein Vergewaltiger, die ebenfalls von ihrer eigenen Macht beherrscht wird. Trotz dieser nicht versteckten Eigenschaften, gelingt es Ferrara immer wieder sich selbst zu hinterfragen (mit den ganzen Erklärungen und dem vorangestellten Interview mit Depardieu, indem er seine schauspielerische Beziehung zu Monstern erklärt sogar etwas zu sehr für meinen Geschmack) und sich letztlich auf künstlerische Beobachtungen zu berufen, die sich Zeit lässt und die immer dann, wenn man glaubt eine politische oder moralische Tendenz in den Bildern zu erkennen, eine Kehrtwende macht. Nicht nur in diesem Sinn ist Welcome to New York ein aufregender Film, der wichtige moralische Fragen stellt, der etwas ehrlich und direkt hinstellt, von dem man nicht immer sagen kann, ob es eine Meinung oder eine Beschreibung ist und der es gerade dadurch für eine öffentliche und subjektive Debatte freigibt.

Die Zeit filmen

An einer dieser wundervollen Wiener Fassaden zeichnete sich ein Lichtspiel ab, als die untergehende Sonne manchmal und nur leicht von Wolken verdeckt wurde. Einige Menschen, darunter vermehrt Touristen zückten ihre Fotoapparate und Mobiltelefone, um das Schauspiel festzuhalten. Sie drückten verzweifelt auf ihre Knöpfe, um die Schönheit des Moments festzuhalten. Ich frage mich wie ihre Bilder schließlich aussehen, aber ich weiß mit Sicherheit, dass sie es nicht vermögen, das wirklich Atemberaubende an diesem Moment einzufangen, weil diese Schönheit an der Zeit hängt.

Das bedeutet aber nicht, dass es ganz einfach gewesen wäre, mit einer Filmkamera beziehungsweise mit der Videofunktion des Mobiltelefons jenes Wechselspiel in seiner zeitlichen Entfaltung einzufangen. Die Schönheit des Lichts war an diesem späten Nachmittag in Wien die Zeit selbst und es ist unheimlich schwer, die Zeit zu filmen. Beliebt ist die Annahme, dass die zeitliche Strukturierung beziehungsweise die filmische Fähigkeit, Zeit zu entblößen eng mit der Montage zusammenhängt. Das ist allerdings ziemlicher Schwachsinn. Zwei Filme, die ganz leicht das Gegenteil beweisen, sind zum einen Chris Markers (dieser Mann, der es wie Alain Resnais wie kaum ein zweiter vermochte, die Zeit zu filmen) La Jetée, ein Film der heftig an den Prinzipien der Montage hängt, aber seinen großen Moment der Nacktheit von Zeit gerade dann entfaltet, wenn er nicht schneidet, sondern Bewegung zeigt, begleitet von einem Vogelzwitschern für die Ewigkeit. Der andere Film ist Fish&Cat von Sharam Mokri, ein kleines Wunder, das letztes Jahr in Venedig Premiere feierte und seither völlig unterging. Der Film besteht aus einer einzigen langen Einstellung und zerstört jegliche Sicherheit und Empfinden für Zeit. Zeit ist eben auch eine Frage der Perspektive und des Raumes. Wen schaut man wann und wie an? Wie oft im Leben hat man sich schon gefragt wieso einem etwas in der Vergangenheit nicht aufgefallen ist? Wie oft erlebt man eine Vergangenheit neu, wenn man einen neuen Kontext zu ihr bekommt, eine neue Perspektive darauf?

Chris Marker La jetée

Daher wird es den Fotografen und Filmern vor den Fassaden in Wien äußerst schwerfallen diesen, Augenblick auf ihren Bildern zu finden. Denn was sich in ihren Augen manifestiert hat, ist in der Linse der Kamera schon etwas ganz anderes. Einen Film über die Zeit hat auch der deutsche Filmemacher Philipp Hartmann mit seinem Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe gemacht. Dabei vermag er es, die Zeit in ihrer Abwesenheit zu filmen. Bei ihm macht sich die physikalische Größe als philosophisches Konzept im Off-Screen bemerkbar. Etwas ist vergangen, das sehen wir. Fast verzweifelt und tragisch klammert sich der Film an die Möglichkeit, Zeit auf Film zu speichern. Man denkt an Jonas Mekas, der immer wieder für einen Gegenwärtigkeit der Bilder eintritt, die allerdings etwas anderes sind als Erinnerungen oder Vergangenheit. Bilder, die sich mit jeder Projektion neu in der Zeit verorten. Hartmann ist clever und sensibel genug, um nicht in einen Fehler zu tapsen, er richtet stattdessen einen Spiegel auf die Zeit und sich selbst und lässt beides verschmelzen. Insofern macht er einen Film über die Krise des Alterns, das natürlich an der Zeit, den Erinnerungen und der Gegenwart hängt. Die Gegenwärtigkeit von Bildern sind auch ein Grund warum man nicht einfach die Schönheit einer Fassade sieht, sie fotografiert und dann die Schönheit wiederfindet. Dies könnte jetzt natürlich ein Plädoyer für die große Kraft der Realität und der Erinnerung gegenüber von Filmen sein und tatsächlich erwische ich mich beim Gedanken der scheinbaren Unterlegenheit von Film gegenüber dem, was man als unsere Augen bezeichnen könnte. Aber dann fällt mir wieder ein, dass der Blick im Film uns erst erlaubt zu schauen. Damit meine ich, dass er uns konzentriert, aufmerksam macht und ja, ermöglicht Zeit wahrzunehmen. Gerade in der heutigen Welt, der wir kaum mehr Platz lassen für eine Leere und ein inspirierendes Nichts, eine Langeweile kann Film diese zeigen und geben. Film kann zeigen wie Zeit vergeht und das sollte in unserer Zeit fast einem außerirdischen Spektakel gleichkommen. Man denkt an Tsai Ming-liang und seine Walker-Filme. Die Bedeutung von Langsamkeit, was bedeutet es zu sehen? Man sieht jeden Tag so viel, dass man versucht ist, zu vergessen was es bedeutet. Inzwischen ist Zeit ein politisches Statement in der Kunst und Kultur. Bewegungen und Schlagworte werden erfunden, um die Bedeutung von Zeit zu unterstreichen. Zeit kann also auch eine rebellische Antwort auf den Mainstream sein, aber dann hat sie selten eine Bedeutung. Bei Tsai Ming-liang geht es auch um eine Wahrnehmungsveränderung, eine sinnliche und zugleich rhetorische. Wir betrachten zum Beispiel ein Gesicht, wir bekommen eine Information, wir gehen. So sind die meisten Filme konstruiert und so gehen sie meilenweit an ihren Möglichkeiten vorbei. Denn erst wenn wir eine längere Zeit bekommen, das Gesicht zu betrachten, wird etwas mit unserer Wahrnehmung passieren, etwas, dass uns in der Realität zumindest bei fremden Menschen gar nicht möglich ist. Wir werden es studieren, es fühlen, es wirklich sehen. Natürlich muss man dafür hinsehen und viele Menschen können das nicht/nicht mehr. Auch ermöglicht Film eine besondere Perspektive auf dieses Gesicht. Einen anderen Blick, der ganz automatisch von Zeit beseelt ist, weil er uns aufmerksam darauf macht, dass wir blicken. In diesem Sinn ist die Dynamisierung räumlicher Prozesse und die Strukturierung von Personenkonstellationen essentiell für unsere Wahrnehmung von Zeit im Film.

Post Tenebras Lux Reygadas

Man denke beispielsweise an die verunsicherte Swinger-Sauna Szene in Post Tenebras Lux von Carlos Reygadas. Zuerst zeigt Reygadas die Protagonistin und ihren Ehemann in einer amerikanischen Einstellung in den blau-roten Lichtern der Sauna. Sie entkleidet sich. Im Anschnitt am linken Bildrand beobachtet sie ein älterer, nackter Mann und im Bildhintergrund sitzt in einer Nische eine nackte Frau. Wir hören es vor Hitze tropfen. Plötzlich dynamisiert Reygadas unsere Raumvorstellung. Ein weiterer nackter Mann kommt von hinter der Kamera ins Bild gelaufen und nimmt unsere Protagonistin an der Hand. Der Mann im Bildvordergrund erhebt sich und hält die andere Hand der Frau. Zusammen gehen sie aus dem Bild, wobei sich Hinterteile und Geschlechtsteile noch prominent in der Bildmitte platzieren. Die Kamera bleibt stehen und zeigt den nervösen Ehemann, der das Handtuch seiner Frau hält und schwer schluckt. Hier spüren wir zum ersten Mal in dieser Szene den Druck der Zeit. Ein Mann beginnt Off-Screen, von der schönen Haut der Frau zu schwärmen während die Frau aus der Nische im Hintergrund aufsteht und auf die Kamera zugeht. Wieder dynamisiert Reygadas den Raum in der Zeit, denn plötzlich offenbart sich das in der Nische nicht eine nackte Frau war sondern gar zwei. Sie bleiben beide in der Türschwelle stehen und der Ehemann bemerkt die beiden nackten Frauen mit einem schüchternen Seitenblick, der immer deutlicher wird. Die Geräusche und Dialoge im Off-Screen deuten gleichzeitig darauf hin, dass die beiden Männer nun mit der Protagonistin schlafen. Reygadas schneidet in eine amerikanische Zweiereinstellung von einem nackten, sitzenden Paar. Sie beobachten offensichtlich das Geschehen und berühren sich dabei am unteren Bildrand. Reygadas hält diese Einstellung für circa 50 Sekunden. Off-Screen ist die besorgte Stimme der Protagonistin zu hören, die darum bittet, sanft behandelt zu werden. Die Frau im Bild bemerkt, dass die Protagonistin schön sei. Der Mann fordert sie auf, zu ihr zu gehen. Das Pärchen gibt sich einen flüchtigen, in dieser Umgebung fast surreal-süßen Kuss und die Frau verschwindet aus dem Bild. Reygadas bleibt mit der Kamera erneut auf dem verlassenen und beobachtenden Mann und erinnert damit zugleich an den Ehemann, der auch noch im Raum steht. Dadurch wird so etwas wie Gleichzeitigkeit manifestiert, also Zeit. In der nächsten Einstellung bewegt sich die Kamera ganz langsam in eine Nahe der Protagonistin während ein Mann wild in sie eindringt und die Frau aus der vorherigen Einstellung ihren Kopf auf den Schoß legt und die Protagonistin gleich einer Mutterfigur beruhigt und ihr Mut macht. Im Bildhintergrund sind allerhand nackte Körper zu sehen. Im Anschnitt am rechten Bildrand beobachtet ein Mann das Geschehen als wäre er bei der Arbeit an einem Fließband und im Hintergrund sind unter anderem die beiden Frauen aus der ersten beschriebenen Einstellung dieser Szene. In einer an Bruno Dumont erinnernden Weitwinkeleinstellung des Gesichts der Mutterfigur verzerrt Reygadas unsere Perspektive auf diese Figur und man kann sich nicht sicher sein, ob es sich dabei um einen Point-of-View unserer Protagonistin handelt oder nicht. Jedenfalls wird uns das Unwohlsein der Szene durch die Wahl des Objektivs noch deutlich bewusster. Reygadas hält auch diese Szene sehr lange (ca. 25s), aber im Dialog wird klar, dass die Protagonistin beginnt, sich wohl zu fühlen. Reygadas schneidet in eine fast symbolische Naheinstellung des Gesichts der Protagonistin, die kurz vor ihrem Orgasmus steht und der Brüste der Mutterfigur, die ihren Körper berühren während ihre Finger zärtlich über die Haare der Protagonistin streichen. Die Zeit, die hier vergeht, entspricht keineswegs jener Zeit, die der Akt in der Realität einnehmen würde, aber das Gefühl für die Zeit ist das gleiche, intensiviert und entfaltet durch die Wahl von Kamerapositionen, Ton, Licht, Maske, Schauspiel, Länge der Einstellungen und allem was dazugehört. Die Protagonistin kommt sehr leise zum Höhepunkt und wir glauben ihr. Reygadas bleibt mit der Kamera auf ihrem verschwitzten, leeren Ausdruck, die Mutterfigur sagt: They all want you because you are beautiful. Die Protagonistin bedankt sich. Wo ist ihr Ehemann? Wessen Perspektive haben wir hier tatsächlich?

Satantango Tarr

Nun ist es mit großer Sicherheit auch fatal zu glauben, dass man die Zeit filmt, indem man sich einfach Zeit lässt. Nein, denn die filmische Zeit hängt auch am Licht und der Illusion dahinter, die filmische Zeit braucht eine innere oder äußere Bewegung. Denn wenn ein Regisseur sich für eine lange Einstellung ohne ein solches Licht entscheidet, dann wird er die Zeit von der Leinwand verweisen und in den Zuschauerraum verbannen. Dort vergeht sie jedoch immer gleich. Die Möglichkeit von Film ist es jedoch, die Zeit zwischen Zuschauer und Bild spürbar zu machen, sie zu verschhärfen oder außer Kraft zu setzen. Genau das hat die Szene von Reygadas beschrieben und genau das unterscheidet auch die etwas stupide Wahrnehmung eines Kinos der Zeit als Slow-Cinema von jenem eines Kinos der intensivierten Realität. Man denke an die Filme von Béla Tarr, zum Beispiel Sátántangó oder A torinói ló. Dort ist die spürbare Zeit oft der Weg von einer Perspektive in die Nächste und zugleich ist es auch eine Frage der Geschwindigkeit dieser Bewegung. Wir sehen unserem Blick beim Wandern zu und dringen somit in die Zeit des Raumes und der Figuren ein. Ähnliches ist auch ohne Bewegung zu erreichen wie in Filmen wie Historia de la meva mort von Albert Serra (eigentlich alles von ihm), den Filmen von Jia Zhang-ke oder jenen von Lisandro Alonso klar wird. Die Frage nach der Zeit ist immer eine Frage nach unserer Aufmerksamkeit dafür. Ein Filmemacher wie Alonso bekommt diese womöglich aufgrund seiner deformierten Seltsamkeit, seiner überwältigenden Landschaften und seinen räumlichen Überraschungen, indem er uns auch Blicke und Informationen verweigert bis zu einem Grad, an dem wir unbedingt sehen wollen. Dagegen wird unsere Aufmerksamkeit bei Filmemachern wie Albert Serra oder auch Cristi Puiu dadurch erfasst, dass in der Zeit ein ironisches, ja absurdes Element liegt. Das bedeutet nicht, dass man die Zeit in ihren Filmen als besonders lustig wahrnimmt-ganz im Gegenteil-aber dass die Überlegung welche Schritte in einem Prozess wirklich nötig sind (zum Beispiel bei der Ermordung seiner Frau) nicht lediglich ein entdramatisierendes Potenzial beinhaltet, sondern dass das Dramatische gerade in dieser Zeit liegt.

Aurora Puiu

In Aurora beschäftigt sich Puiu eigentlich durchgehend mit dieser Zeit, aber wenn man einen Blick auf die unmittelbare Phase um einen Mord im Film legt, sieht man die manische Präzision und die Größe dieses Regisseurs im Umgang mit Raum und Zeit. Der Protagonist fährt mit dem Auto. Die Kamera hält ihn links am Steuer im Anschnitt und verschwindet sonst mit einem Phantom Ride durch das nächtliche Bukarest und in einen Tunnel. Wir hören das Rascheln der Kleider und das angespannte Atmen des Protagonisten. Die Schärfe verlagert sich vom Raum auf das Spiegelbild im Rückspiegel. Ein harter Schnitt und der Protagonist erscheint mit Mütze hinter einer Pfütze. Ein Schwenk begleitet seinen Weg über einen Parkplatz zum Auto. Er öffnet es. Ein lautes Motorrad ist zu hören und die Kamera beginnt etwas zu wackeln, als der Protagonist eine Tasche aus dem Kofferraum holt. Er geht zurück, die Kamera schwenkt wieder mit ihm. Aber auf halbem Weg fällt ihm etwas ein. Er dreht nochmal um, die Kamera geht wieder mit, aber es ist nur ein Schritt. Er drückt auf seinen Schlüssel, um das Auto zuzusperren und geht erst dann weiter. Nun geht er den Weg zurück und die Kamera schwenkt mit ihm. Warum denken so wenige Filmemacher daran wie oft man sich nicht sicher ist, ob man seine Tür zugesperrt hat? Ein solcher Augenblick ist ein Augenblick der reinen Zeit. Der Protagonist sucht seinen besten Weg durch die Pfütze und geht durch eine Gittertür nach hinten. Die Kamera bleibt stehen und folgt ihm aus einer beobachtenden Totale. Dies ist das wichtigste formale Gestaltungsprinzip der folgenden Minuten. Er macht die Tür hinter sich zu. Ein harter Schnitt und unser Protagonist taucht mit seiner Tasche in einer Halbtotale in einer Tiefgarage auf. Aus dem Off-Screen sind Schritte zu hören, er schaut angespannt. Die Kamera schwenkt mit seinem Blick (hier haben wir wieder eine Perspektive, die mit der Zeit entsteht) und wir sehen noch die Umrisse eines Mannes in der Tiefe des Bildes. Er verschwindet und unser Protagonist schaut etwas entspannter um sich. Er dreht um und blickt in eines der Autos, die auf einem Parkplatz stehen. Er schaut durch das Fahrerfenster. Ein weiterer harter Schnitt in eine Halbtotale. Unser Protagonist steht hinter einem Auto, wieder sind Schritte zu hören. Er bewegt sich langsam nach links und die Kamera schwenkt mit ihm mit bis er hinter einer Säule verschwindet. Nach einigen Sekunden kommt er auf der anderen Seite der Säule hervor und der Schwenk folgt ihm weiter. Nun bewegt er sich etwas schneller zwischen den geparkten Autos und folglich wird auch der Schwenk schneller. Plötzlich kommt eine Tür ins Bild, aus der zwei Männer treten. Wir sehen sie gleichzeitig wie der Protagonist, der daraufhin umdreht und seinen Kopf senkt. Der Schwenk folgt ihm wieder zwischen die Autos, er steht mit dem Rücken zu den Stimmen der Männer, auch ein Auto fährt vorbei. Er berührt einen Kettenzaun mit seiner Hand und schaut möglichst beiläufig um sich. Die Zeit in dieser Szene besteht nicht nur aus dem Nicht-Auslassen der Ereignisse, sondern auch aus der Antizipation einer Tat, man merkt, dass da etwas nicht stimmt und dadurch gewinnt der Ablauf eine Aufmerksamkeit. Diese ist keineswegs undramatisch, sondern hochspannend, obwohl Puiu einer der wenigen Regisseure ist, die es tatsächlich vermögen, ein Gefühl für Echtzeit zu vermitteln. Es ist wieder ruhig in der Tiefgarage. Der Protagonist setzt seinen Weg fort und tritt wieder heraus aus den Autos Richtung Tür. Die Kamera bleibt erneut stehen (das Schwenken und stehenbleiben immer mit einer Handkamera strukturiert hier die Szenen) und er verschwindet hinter der Tür, die laut Schild zu einer Hotellobby führt. Was macht er? In einer amerikanischen Einstellung schwenkt die Kamera mit ihm durch ein Treppenhaus. Wieder sind Stimmen zu hören, er nimmt seine Mütze herunter und dreht panisch um. Die Kamera schwenkt mit ihm. Er streift durch eine Nahaufnahme und versteckt sich unter den Treppen. Jetzt wechselt die Kamera ihre Perspektive ohne Schnitt und fokussiert auf einen Mann in Lederjacke, der die Treppen herunterkommt. Hier dynamisiert Puiu seine Perspektive, seinen Raum in der Zeit. Fast spielerisch folgt die Kamera dem Mann, aber nur so weit wie der Blick des Protagonisten es erlauben würde. Dann dreht sie um und aus dem POV wird wieder eine Verfolgerkamera, in die der Protagonist blickend tritt. Er geht die Treppen nach oben, wir folgen ihm mit einem Schwenk. Bewegung-Stehen Bleiben-Umkehren-Bewegung-Bewegung-Stehenbleiben-Umkehren…unsere Wahrnehmung für die Bewegung in der Zeit wird geschärft. Eine Halbtotale holt den Protagonisten in der Hotellobby ab. Im Hintergrund sind unscharfe Menschen, wir folgen ihm mit einem Schwenk durch die Loungemusik und bleiben oberhalb einer wendelförmigen Treppe stehen, die er mit schnellen Schritten nach unten geht. Dabei reagiert die Kamera auch auf seine Bewegungen, wenn sie ihn nur kurz aus der Topshot-Perspektive erkennen kann. Ein harter Schnitt in eine Totale. Der Protagonist erscheint wieder draußen auf dem Parkplatz vor dem Hotel. Ein 360 Grad-Schwenk zeigt uns wie das Hotel, die Tiefgarage und der Parkplatz räumlich zusammenhängen. Der Weg, den wir gegangen sind, wirkt trotz der Schnitte nun glaubwürdig. Der Protagonist rennt fast. Wieder schwenkt die Kamera und bleibt dann stehen. Wir sehen ihn aus einer totalen Einstellung durch dieselbe Gittertür wie am Anfang gehen. Hier spiegelt Puiu die kleinen Bewegungen der Szene in der großen Bewegung der Szene: Denn wie immer ist der Protagonist einen Weg gegangen, ist umgekehrt und geht ihn dann doch weiter. Also wieder zurück in die Tiefgarage. (UNGLAUBLICH!) In einer Halbtotale erahnen wir ihn hinter einem Auto auf dem Boden lauernd. Man hört wie er sein Gewehr zusammenbaut. Er steht auf, das Gewehr in seiner Hand, er hat ein paar Probleme damit und schaut gespannt Off-Screen. Er stößt mit seiner Waffe gegen ein parkendes Auto. Hier liegt das absurde Element, das nur in einer Entfaltung der Szene in Raum und Zeit überhaupt möglich ist. Wir schwenken mit ihm und bleiben dann stehen. Er positioniert sich schnell zwischen zwei Autos. Nun sind wieder Stimmen aus dem Off zu hören. Der Protagonist ist sehr angespannt, man glaubt, dass er gleich schießen wird, aber dann blickt er nochmal und entscheidet sich weiterzugehen. Er verschwindet hinter den Autos, die Kamera schwenkt mit ihm mit, obwohl wir ihn nicht immer sehen. Sie schwenkt soweit nach rechts bis im Bildzentrum sehr nah eine Säule auftaucht. Rechts von der Säule erscheinen ein Mann und eine Frau. Wieder dynamisiert Puiu unsere Perspektive und macht aus der Verfolgerkamera einen POV-Shot, nun sind wir wie der Mörder, versteckt lauernd hinter einer Säule. Die Kamera folgt den beiden. Sie sperren jenes Auto auf, das der Protagonist früher betrachtet hat. Sie haben offensichtlich einen Streit. Als sie einsteigen, springt der Protagonist hervor und erschießt beide mit jeweils einem lauten Schuss. Die Kamera bleibt in der Totale und reagiert mit atmenden Schwenks. Nun folgt sie wieder dem Protagonisten, der hektisch zurück zu seiner Tasche hinter dem Auto läuft. Er setzt sich wieder hin und packt das Gewehr ein. Die Kamera hat ihre Position nicht verlassen, Puiu demonstriert die zeitliche macht eines Schwenks. Er rennt nach hinten aus dem Bild und ein harter Schnitt führt uns wieder in das Auto, mit dem der Mann holprig flüchtet.

La libertad Alonso

Dieses Licht, das mit der Zeit korrespondiert, ist keine Frage eines glücklichen Moments wie dem einer spontanen Beobachtung einer Fassade. Deshalb hat man in einem Film von Terrence Malick auch kein Zeitgefühl sondern nur leere Schönheit, die erst mit einem Voice-Over- und Musikgedudel so etwas wie Zeit bekommt. Nein, es ist eine Frage von Wahrnehmung, dem Denken und Arbeit in der Zeit. Ein Fotograf, der das eingangs beschriebene Phänomen beobachtet und jeden Tag zur Fassade kommt, der den Raum kennt, der seinen Fotoapparat kennt, der das Licht kennt und sich selbst, der wird die Schönheit dieses Augenblicks auch einfangen können. Man denke an ein Gewitter bei John Ford in She wore a yellow ribbon. Ja, die Legende des Mannes pocht auf das Glück und die Spontanität dieses Augenblicks, aber wenn ich die Szene sehe, sehe ich Schnitte und sehe ich Perspektiven, die einen perfekten Blick auf das Naturschauspiel in der Zeit ermöglichen; eine Zeit, die aus dem Raum und aus dem filmischen Gewissen eines Künstlers hervorgeht. Die Zeit filmen ist zugleich Essenz als auch Meisterschaft des Filmemachens.