The Spirit New Sensation Takes Hold: Be tartib ya bedun-e tartib? von Abbas Kiarostami

Bevor Abbas Kiarostami mit Khane-ye dust kojast zu einer festen Größe im internationalen Festivalkino aufstieg, drehte er für das Institute for the Intellectual Development of Youth (eine offizielle deutsche Übersetzung gibt es nicht) Filme für die Bildung und Erziehung von Kindern. 

Die dort entstandenen Filme haben oft einen erkennbar erzieherischen Impetus. Didaktische Konzepte werden mit einfachen Erzählmustern aufgelöst. Warum ist es besser, einen Streit mit Worten zu schlichten als mit Fäusten? Weil bei der zweiten Variante so viel kaputt geht! 

Be tartib ya bedun-e tartib? arbeitet ähnlich. Doch in diesem Film schleicht sich ein widerständiger Geist ein, der immer enormer wird und schließlich die Prämisse des Filmes selbst offenlegt und widerlegt.

Der Film zeigt uns einige Szenen in zwei Variationen. Einerseits sehen wir geordnete Abläufe. Dann sehen wir dieselben Momente wieder, aber diesmal in ungeordneter Manier. Es handelt sich um ganz einfache Situationen, die Kiarostami zeigt: Kinder verlassen das Klassenzimmer und das Schulgebäude. Sie gehen zum Wasserspender im Pausenhof. Sie steigen in den Schulbus. Immerzu sehen wir: geordnet läuft alles gut ab, ohne Ordnung dauert alles länger und geht kaputt. Auf der Metaebene jedoch stellt der Film diese Struktur in Frage. Das erste Bild zeigt eine Filmklappe. Sie enthält folgende Information: “Geordnet, Einstellung/Szene 1, Take 1”.  Direkt vor dem ersten Bild sagt eine Stimme zu Schwarzbild: “Ton. Kamera”. Es ist die Stimme Kiarostamis, welche die üblichen Kommandos eines Filmsets verlautbart, um die Filmaufnahme zu starten. Einstellung und Stimme kehren im Laufe des Filmes wiederholt zurück. Vor jeder neuen Szene gibt es eine Klappe, die uns sagt ob wir als nächstes eine “geordnete” oder eine “ungeordnete” Szene sehen werden. 

Nach der zweiten Szene, die einen geordneten Ablauf zeigt, hören wir Kiarostamis Stimme: “Gut, Cut!”. Diese Stimme erhält im Laufe des Filmes eine immer stärker werdende Präsenz. Bald sind es nicht mehr nur Anweisungen, die Kiarostami ausspricht, sondern auch ein Kommentar zu den Bildern selbst. Nachdem die Kinder geordnet nur ungefähr eine Minute brauchen um einen Schulbus zu betreten, brauchen sie in der ungeordneten Einstellung viel länger. Nach zweieinhalb Minuten gibt der am linken unteren Bildrand mitlaufende Timer auf. Doch Kiarostami versichert, dass dies gut sei. Je länger sie brauchen, desto besser. Schließich ist das doch die ganze Idee hinter dem Film. 

Kiarostamis Filme sind geprägt von “sanfter” Subversion und Manipulation. Seinen “Lügen” wird oft eine gewisse Verspieltheit oder Weisheit zugesprochen. Wenn Kiarostami lügt, dann um eine Wahrheit auszusprechen. In Be tartib ya bedun-e tartib? wird gelogen. Gleich in der ersten Einstellung ist vermutlich eine Lüge zu finden: “Geordnet, Einstellung/Szene 1, Take 1.” Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir hier den ersten Take sehen? Sehr gering. Es ist nicht viel weniger wahrscheinlich, dass wir auch in der ersten Einstellung/Szene von Unordnung und in den weiteren Einstellungen/Szenen von Ordnung und Unordnung bis zur fünften Einstellung jeweils den ersten Take sehen. Nein, das kann gar nicht sein. Stattdessen wird diese Lüge als narratives Mittel verwendet. Alles läuft einwandfrei und geplant, bis es zur fünften Szene kommt. Bis hierhin bestärkt oder erlügt der Film seine These: Man kann der Welt eine geordnete und eine chaotische Einstellung zugleich abringen.

Wie kommt es dazu, dass in dieser fünften Szene das System des Films in sich zusammenstürzt? Mit der vierten Szene begibt sich der Film heraus aus der Welt des Schulalltags. In der geordneten Sequenz sehen wir Kinder, die brav die Straße überqueren, und auf die Verkehrszeichen achten. Der Film selbst quert hier aus der Welt der Kinder in jene der Erwachsenen. Hierin liegt der (erzählte) Kontrollverlust Kiarostamis. In der unordentlichen vierten Sequenz sehen wir wieder das Überqueren der Straße an der viel befahrenen Kreuzung. Die Menschen halten sich nicht an die Regeln des Straßenverkehrs. Menschen gehen wann sie wollen, Autos hupen. Dennoch scheint diese Unordnung gut zu funktionieren. Im Chaos missachteter Regeln liegt eine eigene Ordnung.

Nun springt der Film gleich zu einer sechsten Szene, und enthält uns die fünfte vor. Wieso das der Fall ist, verstehen wir erst wirklich, sobald wir die fünfte Sequenz sehen. Sie ist die letzte Szene des Filmes. In ihr versuchen Kiarostami und sein Kameramann wieder eine Kreuzung zu zeigen. Sie wird von oben auf die Straße herunter gefilmt (wahrscheinlich ist die Kamera auf einem Gebäude). Zuerst zeigen sie uns wieder die Einstellung unter der Bezeichnung “geordnet”. Doch die Menschen im Bild halten sich nicht an die Ordnung, die der Film von ihnen verlangt. Die Straße wird stattdessen ungeordnet von Passanten überquert. Ein Motorradfahrer rollt bei Rot über die Kreuzung. Die Aufnahme wird abgebrochen. Nun sehen wir zum ersten Mal einen zweiten Take in der Narration des Films. Das ist natürlich schwer zu glauben. Wir werden uns der bisherigen Lüge bewusst. Dieses Stilmittel, das vorgab, uns hinter die Kulissen der Fiktion blicken zu lassen, wird selbst als Fiktion entlarvt. Auch der zweite Anlauf scheitert, sowie ein dritter und vierter. Nicht einmal ein Straßenpolizist, den Kiarostami und sein Kameramann erspähen, schafft Ordnung. Die beiden Filmemacher beraten sich und geben auf. Schnell drehen sie stattdessen die “ungeordnete” Variante der Szene. Diese klappt natürlich auf Anhieb. Für eine ungeordnete Szene ist es perfekt, meint Kiarostami. Doch wo könnte man eine geordnete Kreuzung drehen? Es ist doch überall das Gleiche.