Notiz zu Unsichtbare Tage oder Die Legende von den weißen Krokodilen von Eva Hiller

Ob sich in der Nacht Unvorhergesehenes, Ungeahntes, aber doch Ersehntes zu erkennen gibt, wird sich erst erfahren lassen, wenn sie vorüber gegangen ist. Dies könnte sowohl für Eva Hillers einzigartigen Film Unsichtbare Tage oder Die Legende von den weißen Krokodilen gelten als auch für die Retrospektive der diesjährigen Berlinale. In erste Linie ist es die Bildsprache dieses Films, dank der Kameraarbeit Thomas Mauchs, in der sich seine Besonderheit auszeichnet. Es handelt sich dabei jedoch nicht nur um die konzentriert-heimliche Komposition oder präzise Belichtung des Filmmaterials bei Nacht, sondern dass etwas in den Bildern entsteht, was sie gewissermaßen selbst verfolgt, indem die innerste Entsprechung des Kinos ausgelebt werden darf: Nächtliche Lichter und Schatten in urbanen Räumen zerstreuen die Aufmerksamkeit. Plätze, denen untertags keine Bedeutung zuteilwird, entwickeln plötzlich sonderbare Existenzen, sie erwachen und lösen sich von der umgebenden Welt ab. Ihre Erscheinungen fallen aus den dunklen Ecken auf die weiße Leinwand. Dem entgegen beschäftigte sich Eva Hiller, bevor sie die Arbeit am Film begann, mit den grellen Oberflächen der Alltagswelt: Fahrkartenschalter, Telefonzellen, Geldautomaten, Reklamen – leuchtende Virtualität, deren Abläufe nicht mehr nachvollziehbar sind. Nur dem Anschein nach steckt darin das Gegenteil der schmutzigen Grautöne in Berlin oder Frankfurt nach Sonnenuntergang, wenn sich der unbescholtene Blick enthebt, sei es aus Gewöhnung oder Angst. Jedenfalls will der nächtliche Blick übersehen, er zerteilt und überbrückt, er hält sich fest am Display, nur noch 14 Prozent, oder der Betrachtung einer Abfahrtsanzeige, immer noch 2 Minuten. So heißt es im Film einleitend, dass gerade die jüngeren Kulturen die Nacht am allermeisten fürchten. Für Hiller besitzt jener Macht, der über das Licht verfügt: Wer im mittelalterlichen England ohne Fackel anzutreffen war, musste mit dem Kerker rechnen, denn man verschafft sich einen Vorteil zu sehen, ohne gesehen zu werden. Der Film atmet insofern nicht nur die verführerische Luft der Nacht, sondern begegnet ihr mit einer kulturkritischen Perspektive, einer modernen Furcht, die ausgehend vom Kino wieder zu diesem zurückkehrt. Es heißt, dass der Kapitalismus die Nacht zum Verschwinden gebracht hätte, er verlängert den Arbeitstag und gräbt dem Traum das Wasser ab. Oder anders: Schlaf dient zur Erholung des Realitätsprinzips – Schlaflosigkeit verlebendigt die Alpträume. Einsamkeit ist das Produkt der Moderne. In diesem Sinne wird Unsichtbare Tage oder Die Legende von den weißen Krokodilen von der Erzählung einer Frau in einer fremden Wohnung begleitet, die auf einen Mann wartet, nicht ihr Ehemann. Stunden mit kreisenden Gedanken vergehen, deren Hoffnungen von einer Dämmerung zur nächsten ins Nichts gleiten. Hier erinnert Hillers Film, dem seit 1991 beachtlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, an Chantal Akermans zehn Jahre älteren Toute une nuit. Während Akermans Nächte in ihrer eigenen Dynamik und Geschwindigkeit verlaufen, sieht Hiller in ihnen einen monoton-treibenden, stampfenden Rhythmus, der von Fritz Langs Metropolis’ Moloch in die Technokeller des wiedervereinigten Landes hallt. Diese Entfremdungserfahrung saugt die Montage in einer Weise auf, die für das Gesprochene keine Entsprechungen oder Entgegnungen findet, eher Entgleisungen wählt, suchend und ahnend. Die postmoderne Nacht hat unter dem unbeirrbaren Druck hydraulischer Zylinder alles Abseitige, von Wünschen bestimmte, durch vorgegaukelte Authentizität, wie in der Pornografie, überformt. So bliebe für Hiller nichts am überstrahlten Schattendasein der Nacht übrig, wenn es nicht die Legende der weißen Krokodile gäbe, die ungesehen in den Abwässern New Yorks aber auch andernorts leben. Nur in den Fundamenten der Moderne könnte der Mythos überdauern oder neu entstehen. Was bedeutet das für die Retrospektive? Auch wenn die Kritik an der mangelhaften Programmierung aufgrund des gestrichenen Geldes ihre Berechtigung hat, ignoriert sie die Filme, die immerhin zu sehen sind. Eher müsste man fragen, warum ein Programm damit beworben und unwidersprochen bemessen werden muss, wie sehr es sich im Bereich des Abseitigen bewegt. Es spricht daraus ein aufgeregter Drang nach Entdeckungen, die sich vor lauter Verheißung gar nicht einlösen können. Hätte es unvorstellbarer sein sollen oder authentischer? Als stünde man noch tief in der Nacht, eher sinnierend als träumend, will man die Enttäuschung kaum fahrenlassen, dass bereits der nächste Tag begonnen hat. Zeit lässt sich auch in Retrospektiven nicht zurückdrehen: Sie sind weniger kollektive Träume als deren einsame Wiederkehr und notwendige Reflexion.

Ein Mann ist keine Nacht: Verbrannte Erde von Thomas Arslan

Contra ius interea solum nocte, gegen das Gesetz, aber nur bei Nacht: dieser von Anne Carson so niedergeschriebene und von sprachlicher wie seelischer Dunkelheit durchzogene Beispielsatz für das lateinische Adverb interea beschreibt auch das Kino, zumindest ein bestimmtes Kino, beispielsweise den Gangsterfilm, nach seiner Schwärze in bestimmten Ausprägungen auch Noir getauft, den, der sich den zerbrechlichen Verbrechern statt den mit ihrer eigenen Moral hadernden Polizisten (Cops) widmet, den, der wie Nicholas Ray einmal feststellte, von den sensibelsten Menschen handelt, jenen, die es nicht mehr aushalten und die sich deshalb am Rand, im Schatten (so der Titel des ersten Films von Thomas Arslan über den Verbrecher Trojan), außerhalb der Norm bewegen, von denjenigen also, die nicht anders zu leben wissen oder getrieben sind, von denjenigen, die in den guten Filmen (Melville, Mann, Ray) immer ein Rätsel bleiben, nicht weil sie etwas verbergen, sondern weil etwas in ihnen stumm bleibt, ein Schmerz vielleicht, eine Ahnung, eine Einsamkeit, Verlorenheit, man weiß es nicht, aber was auch immer es ist, es lässt sie handeln, wie sie eben handeln.

Verbrannte Erde ist ein solcher Film, ein Film der Nacht gewidmet und auch den einzigen Fragen, die sich in dieser Zwischenzeit des Seins, der Nicht-Zeit (Arslan findet seine Berliner Nicht-Orte nicht nur in der sich zunehmend von sich selbst entfernenden Geographie der deutschen Hauptstadt sondern auch in den Zeiten, an denen sich diese Orte in ein Nichts verwandeln und so ihren eigentlichen Sinn erst bekommen) stellen, nämlich: Kann ich dir trauen? Wohin gehst du? Was ist dein Preis? Alles andere ist unnötiges oder sehnsüchtiges Zwischenspiel wie ein kurzes Gespräch zwischen Trojan (schmallippig, mit der durch die Muskeln fließenden Anspannung eines vom Leben Geschundenen gespielt von Mišel Matičević) und Diana (Marie Leuenberger), in dem das „andere Leben“, das, was diese Nachtkreaturen umtreibt, wenn mal Tageslicht herrscht, seltsam verpufft, mit einem Augenfunkeln vielleicht, aber das bleibt Interpretationssache, denn wer hier zu viel von sich verrät, macht sich verletzbar.

Dieser Verbrecher, der hier mit einer undurchsichtigen Bande ein Gemälde Caspar David Friedrichs stehlen soll, so viel ist klar, ist ein klassischer Verbrecher (in dem Sinn, dass er einem Kino entspringt, das sich nicht erklären muss), einer, den es vermutlich nicht mehr gibt in der Wirklichkeit, vermutlich gar nie gab, eine Erfindung des Kinos ist er, aber im Kino gibt es ihn auch nicht mehr. Er ist der Verbrecher, der gerechter ist als die Ungerechten, die ihn umgeben, der moralischer ist als die Unmoral der Gesellschaft. Aber auch nur vielleicht, viel wissen wir auch nach zwei Filmen nicht über ihn. Er, der gleich in den ersten Bildern einer Autofahrt wie aus der Nacht geboren zu werden scheint, ist jedenfalls der, dem man Erfolg wünscht, sei es, weil man sich in seiner Einsamkeit wiederfindet oder weil er einmal ein gutes Herz zu zeigen scheint oder weil die, die ihn bedrohen, noch viel schrecklicher sind als er oder weil diese Stadt nicht mehr die gleiche ist, weil alles verendet, aber er an etwas festhält, was einmal intakt schien. In diesem Sinn ist Verbrannte Erde, obwohl er aufgrund seines simplen, stringenten Plots auch Adrenalin zuführt, ein von in die Nacht kippender Musik begleiteter Meta-Film, ein Film über etwas Geisterhaftes, eine kleine Erinnerung an das, was das Kino einmal getan hat. Wer hierin Nostalgie findet, muss sich bewusst machen, dass in der Nacht alles Vergangene näher rückt und alles Gegenwärtige einer Verformung anheimfällt, die es als das entlarvt, was es ist … anders formuliert: Die Schweigsamen herrschen dann, wenn die Redenden schlafen, die Toten leben länger (wie anders ist die scheinbare Unversehrtheit des niedergeschossenen Trojan gegen Ende des Films zu erklären?) und die Gesetze werden lächerlich im Angesicht der Gerechtigkeit. Das ist Kino, ruft einer an der Straßenecke, aber seine Worte werden von der ignoranten Nacht verschluckt.

Die vielen Gesichter des Jean Coletti. Wo ist Coletti? von Max Mack

Eine Menschenmasse zieht sich zusammen. Aus allen Richtungen eilen Passant*innen herbei, umzingeln dicht gedrängt eine Litfaßsäule mitten auf der Straße. Im Hintergrund ragt das Brandenburger Tor empor, doch dessen Pfeiler wirken unbedeutend hinter der meterhohen Werbefläche, restlos zugekleistert mit den unterschiedlichsten Anzeigen. „Löwen“ steht dort in riesigen Lettern, oder „Püppchen“; vor allem aber zieht die Menschen ein bestimmter Schriftzug an: „100.000 Mark Belohnung!“ Darunter das Konterfei eines Mannes und auf Augenhöhe: „Wo ist Colletti?“ Wo ist Coletti?, der Name ist Programm, egal, ob er mit einem, oder wie hier fälschlicherweise mit zwei „L“ geschrieben wird. Es macht wohl kaum einen Unterschied bei einer Figur wie Jean Coletti, dessen Name ohnehin eine merkwürdige Vermengung aus Italienisch und Französisch ist, der einen englischen Schnurrbart trägt und doch berühmter Detektiv der deutschen Hauptstadt sein soll. So zusammengewürfelt seine Identitätsmerkmale scheinen, so einfach können sie neu arrangiert werden. Mit grenzenloser Ruhe lässt Coletti daher im Studio sein Porträt aufnehmen und die eigenen Körpermaße durch das Bertillon-System festhalten, bevor er die Jagd auf sich selbst eröffnet. 

Wenn Jean Coletti der Berliner Bevölkerung auf derselben Anzeige sowohl als „Coletti“ als auch „Colletti“ vorgestellt wird, dann nimmt diese doppelte Namensgebung nur die verschiedenen Täuschungsmanöver und Verkleidungsspiele vorweg, mit denen sich der Detektiv wieder und wieder seiner Festsetzung entziehen wird. Jede Fährte führt in die falsche Richtung, jede Hilfestellung verbirgt einen doppelten Boden. Das gilt bereits für die vermeintlich objektiven Angaben des Steckbriefs, die sich auf subtile Weise gegenseitig unterlaufen. Die anthropometrische Bertillonage, der sich Coletti unterzieht, etablierte sich Ende des 19. Jahrhunderts als systematische Methode zur objektiven Erfassung von Kriminellen. Ihr Namensgeber Alphonse Bertillon entwickelte sie als Hilfsschreiber der Pariser Polizei zur besseren Strukturierung der zunehmend unübersichtlichen Menge an Personendaten. Neben einer akribischen Vermessung des Körpers sind auch zwei streng genormte Fotografien Teil der Prozedur, die berühmten mug shots. Colettis Selbstbild ignoriert jedoch deren formale Vorgaben und orientiert sich stattdessen an den Konventionen des bürgerlichen Porträts. Im Dreiviertelprofil aufgenommen steht es genau zwischen den polizeilichen Frontal- und Profilaufnahmen, ohne die Funktion von der einen oder der anderen Seite zu erfüllen. Kein Wunder also, dass zur Qualitätskontrolle nur die Negativplatte gezeigt wird, ein weiterer Doppelgänger dieses angeblich so eindeutigen Identifikationsmittels der Fotografie.

Bertillons Systematik reagierte nicht zuletzt auf die rasante Bevölkerungsentwicklung der modernen Großstadt. Paris zählte zum Zeitpunkt ihrer Entstehung bereits über zwei Millionen Einwohner*innen – das Berlin von 1913, in dem sich Coletti versteckt, hat sogar schon die Schwelle von vier Millionen Menschen überschritten. Auf diese Statistik verlässt sich Coletti, wenn er wettet, dass niemand in der Lage sein wird, ihn innerhalb von 48 Stunden zu fassen. Die moderne Metropole ist die Grundbedingung der Frage Wo ist Coletti? und die eigentliche Hauptattraktion des Films.

Vom Brandenburger Tor spaltet sich die Suche in zwei Richtungen auf. Der Großteil der Schaulustigen jagt „Coletti“ hinterher, den der Zwischentitel mit Anführungsstrichen als dessen Komplizen Anton in Verkleidung entlarvt. Mit hohem Zylinder fährt er für alle Welt sichtbar auf dem offenen Oberdeck eines Busses an der Menge vorbei. Ein idealer Sitzplatz, exponiert wie auf einer Bühne und zugleich perfekter Aussichtspunkt für die Kamera, um die hinterherrennende Meute in Szene zu setzen. Unterwegs passiert die Verfolgungsjagd die Sehenswürdigkeiten der Stadt, verläuft über die Friedrichstraße und Unter den Linden – durch Straßen, auf denen Automobile noch mit Kutschen und Fahrrädern um die Wette eilen. Eine wilde Verkettung moderner Verkehrsmittel, die ihren Höhepunkt in einem Zeppelinflug über die Stadt findet. Bei kaum einem anderen Fahrzeug verbindet sich mit solcher Leichtigkeit die Attraktion der eigenen Fortbewegung mit dem Schauwert der Ansichten, die es ermöglicht.

Die zweite Spur bleibt dem Filmpublikum vorbehalten. Sie verweilt am Ausgangspunkt der Verfolgung, der Litfaßsäule, wo der echte Coletti unentdeckt in der Menge untergetaucht war. Als Straßenkehrer getarnt, posiert er für die Kamera vor seinem Steckbrief und dem leergefegten Brandenburger Tor. Dieser Coletti bedient sich nicht der Geschwindigkeit der neuen Fortbewegungsmittel, sondern nutzt die jungen Massenmedien zur Mobilisierung. Sie sind das andere Gesicht der Moderne in Wo ist Coletti? So lässt Coletti seine Fotografie nicht nur auf den Werbeflächen der Stadt verteilen, sondern vervielfältigt sie auch durch die Druckerpressen der B.Z. am Mittag, der ersten deutschen Boulevardzeitung seit 1904.

Beide Handlungsstränge treffen nicht zufällig am Ende des Films im Kinosaal wieder zusammen. Coletti hat in einer neuen Verkleidung als elegante Dame im Dunkel des Zuschauer*innenraums ein weiteres Versteck gefunden. Als sich der Vorhang öffnet und den Blick auf die Leinwand freigibt, spielen sich dort dieselben Szenen der Verfolgungsjagd „Colettis“ erneut ab, die wenige Minuten zuvor noch selbst Teil des Films waren. Coletti wird Zuschauer seiner eigenen Verfolgung, als Teil eines Publikums, auf das die Bewegtheit der Aufnahmen nahtlos übergreift. Der Film präsentiert sich hier als Schnittstelle ebenjener beiden Entwicklungen, die er als charakteristisch für das Leben der Moderne ausweist. Einerseits kann er die Beschleunigung durch die neuen Fortbewegungsmittel genauso wie die Kommunikationsmittel der neuen Massenmedien abbilden, andererseits ist er selbst mit ihnen identisch: auf dem Weg zum effektvollsten Massenmedium seiner Zeit und dabei wesentlich Bewegungs-Bild. Wo ist Coletti? führt diese Entwicklungen der Moderne wie schon die Bertillonage auf subversive Weise vor, verkehrt scherzhaft ihren Sinn oder spielt sie lustvoll gegeneinander aus. Ein Jahr später werden dieselben Mittel für die Mobilisierung zum Großen Krieg ein weiteres Mal zusammengebracht.

33 Jahre später: Berlin 10/90 und Dear Doc von Robert Kramer

»My father sat there in the browns and beiges and the television was one of his few pleasures.«1

Ich sitze in der Kinemathek und schaue auf den Potsdamer Platz. Es ist nur ein kleiner Fußweg zu den Orten, an denen Robert Kramer gefilmt hat, um seinen Film, die Plan-séquence Berlin 10/90, zu realisieren: der Gropiusbau, die Topographie des Terrors, das Brandenburger Tor. Der gut einstündige Beitrag für den französischen Fernsehsender La Sept endet mit einer Geste, bei der die Hand Kramers Wasser aus der Badewanne schöpft. Man hört, wie er sich wäscht, vielleicht das Gesicht. Eine Geste des Aufwachens.

Berlin 25 Octobre 1990 15h15-16h15 Plan-séquence

Berlin 10/90 durchschreitet einen Trancezustand, einen Traum. Über eine Stunde entfaltet sich ein Gefühl, das sich langsam mit Kramers gedämpftem Monolog einschleicht. Dieses Gefühl haftet an den Worten, aber die Worte sind nicht in der Lage, es zu benennen. Es ist nicht sicher, ob die persönlichen Details – die Geschichten über seinen Vater und seine Mutter, die Linien, die er durch seine Erinnerungen zieht, die Beschreibungen, die er mit seiner Gestik untermalt – tatsächliche Erinnerungen sind oder vage Verbindungen zwischen einzelnen Fragmenten. Etwas Nebeliges umgibt seine Schilderungen.

Berlin, 1930. Kramers Vater lebt in Berlin. Berlin Alexanderplatz. Drei Jahre später kehrt er nach New York zurück. Seine Mutter flieht ebenfalls nach New York. Sie war Studentin am Bauhaus. Sie heiraten.

Das sind die Fakten, die wir haben. Robert Kramer weiß auch nicht mehr. Es ist, als ob er sich eines Berlins erinnern möchte – ein Berlin, das durch die Erinnerungen seines Vaters durchschimmert. Erinnerungen, die er nie erzählt bekommen hat. Als ob man durch Nebel blick. Das Opake des Nebels erlaubt Schemen zu erkennen, deren Umrisse Kramer mit eigenen Wünschen füllt. Bilder von Berlin, wie sein Vater es wohl durchschritt, durchwoben von Geschichte, nach dem Fall der Mauer. Wie in Trance vermischen sich Bilder von Erinnerung und Gegenwart. Es tropft der Wasserhahn.

»J’embrasse les fantômes même sur la bouche. Je nage dedans. Ma manière d’avancer est le zoom. Le zoom avant. Je voyage dans la matière, dans un détail, vers un fond d’ambiguïté solide comme mes mains.«2

Der Zoom ist die Geste einer Fortbewegung. Die spärlichen Spuren, wreckage, kaum handfeste Orientierungspunkte der Erinnerung, machen die extreme Konzentration notwendig, die der Zoom gewährt. Eine Bewegung, um im Nebel mehr zu sehen als Schemen. Das Gefühl der Klaustrophobie und gleichzeitigen Verlorenheit, das sich in dieser Verdichtung manifestiert, ist bilder- und wörterlos, es ist so ephemer wie die Geister, die Phantome, die Kramer versucht zu berühren. Die Einschusslöcher, die er in Berlin filmt, auf die er zoomt, an den Fassaden der Gebäude – sind es die unsichtbaren Einschusslöcher in Kramers Körper? Wundkanal: eine Schussverletzung, wenn die Kugel durch den Körper einen Durchgang hinterlässt. Eine Wunde, ein wunder Punkt, ein Kanal, ein Fernsehkanal, ein Medium, ein Durchgang, durch dem mach sich der Wunde gewahr wird, der selber eine Wunde ist, durch den man zur Verletzung gelangt.

»There is a kind of sadness. It has to do with subdued light, thick, expensive textures, fabrics in shades of browns and beige, drapes for the windows and rugs covering out to the walls. Everything turned inward, away from the harsh world outside, a secret space. […] There was something suffocating, something unsaid, something almost murderous, and there was comforting, there was this … couple.«3

Der Zoom ist ein Medium. Der Zoom macht sichtbar, wie Kramer sich den Erinnerungen nähert, durch die Distanz hinweg, er ist Durchgang und Mittel zugleich. Bilder im Fernsehbildschirm, der auf den Fliesen steht. Es ist ein Gerät, das den Vater heraufbeschwört. Die Figur des Vaters, der vor dem Fernseher sitzt, so wie Kramer vor seinem Fernseher »almost ›channelling‹ his father«4. Die suchende Bewegung der Kamera. Sie bewegt sich stets, entzieht sich schnell dem Gezeigten. Flüchtige Bilder, die man im Fernseher sieht, und flüchtige Bilder, die den Fernseher zeigen. Die Rastlosigkeit ist Schutz, der Nebel auch Barriere, der Fernseher eine Distanzierung.

»That I liked these acrobatics, these adjustments of distance, and trying to find the right way to see it, the right distance, the right angle, was very helpful, for in the next period we were going to be dragged out of the familiar waters and taken to places were there were no charts to navigate with. You were going to have to find your own way.«5

Der Weg, die lange Reise. Von Europa nach Amerika, von Amerika zurück nach Europa. Es gibt keine eindeutige Richtung mehr, in die man geht, in die man blickt. »I thought I would use this as sort of a locus, a focus, a center, another crossroads like Berlin for my plan-séquence.«6 Kramer beschreibt sein Vorgehen. Er nimmt die Bilder, die man im Fernseher sieht, als Angelpunkt, als Ausgangspunkt, als einen Ort, den er nutzt, um in verschiedene Richtungen zu blicken. Die Bilder im Fernseher gleichen einem »memory tape«, es zeigt die Bilder, wie Kramer sie sieht – zufällig, assoziativ, fragmentiert.


Seine Subjektivität ist das Unerkennbare beim Blicken, die Linse, durch die er auf die Dinge blickt. Sein Körper, seine Erinnerungen, seine Worte – er selbst ist bereits Medium, und zugleich blickt er auf ein Medium: auf die Überlagerung der verschiedenen Bildebenen, die Verschiebung der Erinnerungen, das Sichtbarwerden des Filmens. Kramer setzt sich vor die Fliesen in seinem Badezimmer. Auf engstem Raum, mit dem Rücken zur Wand, wird hier an diesem Ort in einer Stunde konzentriert, kanalisiert, verdichtet, heran gezoomt, wodurch die Überlagerungen seiner Perspektiven sichtbar werden. Zusammengedrückte Augenlider, um durch den Nebel hindurch zu erkennen. Und zugleich drängt Kramers Bedürfnis nach Distanz zur Vergangenheit gegen das Erinnern. Ich spüre ebenfalls meinen Widerstand gegen die Bilder. Es ist mir unangenehm den Ausschnitt seiner Frau Erica zu sehen, in den er reinzoomt. Es ist mir unangenehm, seinen monotonen, assoziativen Monologen zu lauschen, in denen er sich verliert. Einem Albtraum gleich, dem ich mich verwehren möchte. Das Tropfen geht weiter.

Dear Doc – ein Post-Scriptum oder eine Dokumentation der Post-Produktion?

Dear Doc hat im Französischen den Titel Lettre à Paul. Ist es ein Brief für Paul oder Doc? Wer ist Doc? Kramer ist sich nicht sicher. Doc ist eine Figur – wieder eine Kreuzung: »Doc is a synthesis, one expression of our generation and of the creative tension between two very different people.«7 Doc ist die Figur, die mit Kramer in seinen Filmen auf Reisen geht, eine Figur, die von Paul McIsaac verkörpert wird. In Lettre à Paul ist ein Timecode sichtbar im Bild, eine ständige Erinnerung, dass wir auf einen Bildschirm blicken. Die Unmöglichkeit einer genauen Zuordnung, das ist das Thema dieses Films. Zu Beginn zoomt die Kamera – ein Fernsehbild, da für das Fernsehen produziert – in das Bild des Fernsehers im Tonstudio. Was ist Fernsehbild erster Ordnung? Was ist Fernsehbild zweiter Ordnung? Robert und Paul, ich kann sie nicht auseinanderhalten. Ihre wettergegerbten und der Zeit gestandenen Gesichter, ihre weichen, tiefen und an die Ostküste erinnernden Stimmen. Im Treiben der Musik und der Bilder verlieren sich die Grenzen.

»It is difficult to distinguish between the way one is formed by the life around one, and the form one gives to things just by thinking about them with the specific means one has at ones disposal.«8

Fernseher, Paul und Doc, sie gewähren Distanz, um zu sehen: »Always looking. Sometimes just looking away.«9 Wie Perseus den Spiegel nimmt, um das Unanschaubare zu betrachten, so bewegen sich Kramers Bilder zwischen Schauen und Wegschauen. Er filmt nicht direkt, er befindet sich in ständiger Bewegung, in endlosem Suchen der richtigen Perspektive. Vielleicht ist es Angst, die ihn, wie auch die mythologische Figur, davon abhält ins Direkte zu schauen. Vielleicht ist diese Form des Schauens die Manifestation der Unmöglichkeit einer direkten Konfrontation, die Personifikation der Unmöglichkeit anhand von Doc. Die Rastlosigkeit, die Kramer beschreibt, ist die Bewegung des Wegschauens. Das Exil, die Reise: »He has some disease… a virus, alcohol, isolation?«10 Es gibt viele Gründe für die Distanz, viele Mittel, um sie herzustellen. Sie beschreiben die Schwierigkeit, die Unmöglichkeit des Bleibens, des direkten Schauens.

Kramer meidet das Wort filming, looking muss als Ersatz herhalten.11 Doc ist die Möglichkeit, Paul die Verkörperung. »Movies are the means by which one packs one’s bag and walks away from everything that the room and habit and society and family represent.«12 Es überlagern sich Paul, Kramer und Doc, Bilder und Bildschirme mit weiteren Bildern von Bildschirmen auf meinem Bildschirm.

»Making movies is about moving towards and moving away, about arriving and departing. Or about the very distance necessary to make them.«13 Das Filmemachen ist für Kramer eine Form des Rückzugs, oder es bedarf der Distanz einer Beobachterposition, wie Kramer sie einnimmt – auch in Wundkanal und Notre Nazi.14 Kramer zeigt uns auch die Rückseite des Fernsehers. Das Making of, das Postscriptum, die Hintergründe, die sichtbar gemacht werden können aus dieser Perspektive. Die Vorderseite ist der Bildschirm, auf dem die Bilder sind. Und doch umkreist die Kamera den Fernseher, entzieht sich den Bildern, die er zeigt. Der Fernseher und seine Umkreisung, die Annäherung über die Rückseite ist ebenfalls die Annäherung durch das Spiegelbild.

Traumhaft sind die Bilder, die Kramer kreiert. Durch sie wird eine Barriere erkennbar, die er fühlt und denkt, er findet keinen Zugang zu ihnen und so ist das Filmemachen ein Heraustreten aus der eigenen Position und die Hoffnung eines Zugangs, eines Kanals in das Wesentliche. In Dear Doc will Doc einen kurzen Nap halten, es folgen Bilder aus einem Krematorium. Flammen und ein Sarg. Ich will mich mit meinen Worten nicht dem Albtraum weiter nähern, auf den Kramer mit diesen Bildern verweist, ohne ihn anzusprechen. Ich spüre wieder die Beklemmung, den Widerstand.

Zwischen die Aufnahmen von Route One sind Einstellungen aus dem Studio geschnitten, Bilder der Vertonung von Route One. Dort steht ein Fernseher auf einem Podest. Alle sehen ihn und improvisieren die Musik zu den Bildern. Der Fernseher führt Familien zusammen, und hier im Studio ist sie eine, die nicht, wie Kramer sagt, durch den Zufall zusammengeführt wurde. Das Filmemachen stiftet Familie, sie sammelt sich vor dem Bildschirm. Im Gespräch mit Paul, oder dem Doc, sagt Kramer, es gehe ihm nicht darum, dass er eine Familie habe. Es gehe ihm um die Verbindung. Vielleicht auch deshalb endet Dear Doc mit Bildern von seiner Tochter Keja und Erica, so wie er begonnen hat: Der Editing Room ist ein Zuhause. Man glaubt beinahe, im Studio sitze der Vater schemenhaft in seinem Sessel stumm vor dem Fernseher. Die Familie versammelt sich, ordnet, vertont und betrachtet die Bilder, die man darin sieht. Der Fernseher als fixer Punkt, ein Objekt, ein Lokus, zu dem man sich in ständiger Bewegung, in konstanter Aushandlung befindet. Zu dem, was gezeigt wird, zu jenen, die er versammelt, zu den Bildern, die überlagert werden, denen man sich verweigert, die man im Fernseher sieht.

scavage

Die Fragmente und Reste, die ich aufhebe und betrachte. Die Bewegung der Distanzierung und das Zusammensetzen der Trümmer, der Erinnerungen, die einem wortlos hinterlassen werden, in den 1950ern und 1960ern in Amerika, in Kramers Kindheit und Jugend. Eine Fluchtbewegung, die eigentlich keine Flucht ist, sondern eine Ablehnungshaltung, eine Abstandsgestus, die aber immer wieder zurückführt in die Erinnerungen der Kindheit und der Trauer des Vergangenen, die nicht wieder herstellbar sind. Man muss weiterziehen, versuchen mit den Resten, Sinn zu stiften.

1975 in Cannes spricht Kramer in einem Interview von »reclaim«, vom reclaiming der eigenen Geschichte und jener Amerikas. Das, wovon er sich in seiner politischen Arbeit distanziert hatte, der persönlichen Geschichte, einer Familiengeschichte, einer Geschichte der Migration. Kramer spricht in dem Interview von einer Frau, einer Immigrantin, deren Geschichte im Film erzählt wird und die weder fiktiv noch dokumentarisch sei. Bilder aus ihrem Leben passen nicht zu den Anekdoten und ihrer Person. Es ist ein Prozess des scavaging, reclaiming. Im Interview spricht Kramer von einem Ordner, der abtrünnige, nebensächliche und spontane Ideen versammelt, um daraus einen Film zu machen. Diese Ideen sind noch kleiner, noch fragmentarischer, noch disparater als Identitäten.15 Die Bilder im Fernseher sind nicht einer Person oder Perspektive zugeschrieben, die Bilder formen die Möglichkeit einer Perspektive.

»It’s like one of the characteristics of how we end up defining filmmaking for ourselves, which is that the scope of the film is the scope of our concerns. It’s not like a product. We mine what we’re living through.«16

1990 – das Ende der Hoffnung für Kramer auf eine Zukunft, eine Möglichkeit, für die er sich eingesetzt hatte. Es ist das Jahr, in dem die beiden Filme Berlin 10/90 und Dear Doc entstehen. Noch eine Kreuzung. Vielleicht ein Zeitpunkt, an dem die beiden Filme in Erinnerungen eine Möglichkeit suchen, einen Moment der Retrospektive bilden.

Es ist nicht einfach nachzuvollziehen, was Kramer in Berlin 10/90 und Dear Doc macht. Seine Filme sind in ständiger Bewegung, die Stimmen in ihnen schwer voneinander zu trennen, die Bilder in mehrfacher Überlagerung, die Ideen und Gegenstände in höchster Konzentration, und doch so verschwommen, unerkenntlich und entfernt. Diese extremen Mittel – die Fragmentierung, das assoziative Sprechen, die Überlagerung der Bilder – sie ermöglichen ihm das Finden neuer Perspektiven, aber es sind auch genau diese Mittel, die es so schwer machen, diesen Spuren zu folgen und die mich wieder in das Weite stoßen. Ich blicke auf den Potsdamer Platz, in die Leere einer endlosen Baustelle. Kramers Filme gleichen nicht der Konkretion der neuen Gebäude, die dort heute stehen. Diese Bewegung des Suchens, des Scavagings, des Reclaimings, der Wiederanordung funktionieren in Berlin 10/90 und Dear Doc rein auf der zweiten Ebene. Er filmt das Filmen, den Ort zweiter Ordnung, das Schauen zweiter Ordnung, das Fernsehbild als Perspektive unendlicher Möglichkeiten oder Assoziationen. Der Fernseher ist der Ort, das Objekt, an dem all das zusammenkommen kann und durch den es erlebbar wird.

Die Fragmente der Erinnerungen sind nicht notwendigerweise Kramers, vielleicht sind sie erdacht, erträumt, wie das Berlin der 1930er, vielleicht sind sie Kompilationen, Überlagerungen verschiedener Personen, vielleicht sind sie in Annäherung, von hinten, über die Schulter erschlichen. Das Filmen schafft eine Vielzahl an möglichen Erzählungen, Sichtweisen, Gemeinschaften.

Paul McIsaac schreibt vor Kramers Tod von einer möglichen Fortführung, einer Wiederbelebung der Figur Docs: »How would we do that? We’d walk and talk. Robert would write, we’d talk some more, he’d rewrite. We’d share books, films and audio tapes and tales and secrets from the past. We open to each other’s paranoia and dreams. We’d drink, get high, share long meals. Doc and his relationship to certain ideas and places would begin to emerge. The process of discovering could begin again.«17

Diese Form und Methode der Arbeit, der endlosen Möglichkeiten neuer Perspektivierungen, gewähren eine immer fortwährende Suche nach Fragmenten, nach Mitteln und nach der richtigen Verortung, für die Kramer und McIsaac offenbleiben. Sie finden eine Art der Arbeit, die sich immer wieder aktualisieren lassen und weitergeführt werden kann. Es stellt sich mir aber auch die Frage, ob eine Fortführung, ein Anhang nach Anhang nach Anhang, vonnöten wäre. Es gibt sicherlich viele dieser Figuren in Filmen: Männer, die nach dem Sinn des Lebens suchen, rastlos, gequält, mit denen sich andere identifizieren dürfen. Genau so wie die Familien, die Gemeinschaften, die sich um den Fernseher versammeln, nicht frei von hierarchischen und patriarchalen Strukturen sind, so suchen, finden und reproduzieren Kramer und McIsaac vor allem Perspektiven, die den beiden Männern am nächsten sind. Der Fernseher und der Vater sind der Lokus, der Ausgangspunkt, aber die sich wiederholende Rückkehr und Rückbesinnung auf die familiäre Ordnung der Gemeinschaft eröffnet nicht neue Sichtweisen, sondern scheint allein Faszination zu bleiben. Das Utopische in dieser Arbeitsform begeistert mich, aber mit der Zeit wächst ein Unbehagen, mich diesen Worten und Einstellungen auszusetzen, und ich möchte nun aufhören und wieder aufwachen.

1 Robert Kramer: »Snap Shots«, in: Vincent Vatrican und Cédric Venail (Hg.): trajets à travers le cinéma de Robert Kramer. Aix-en-Provence 2001, S. 7–23.

2 Robert Kramer.: »Prologue d’une guerre«, in: id., Cyril Beghin und Cécile Wajsbrot (Hg.): Notes de la forteresse (1967-1999). Paris 2019, S. 253–255, hier S. 253. Übersetzung: »Ich küsse die Geister sogar auf den Mund. Ich schwimme in ihnen. Meine Art, mich fortzubewegen, ist der Zoom. Der Zoom-in. Ich reise in die Materie, in ein Detail, zu einem Grund der Zweideutigkeit, der so fest ist wie meine Hände.«

3 Kramer: »Snap Shots«.

4 Hironobu Baba: »Robert Kramer and the Jewish- German Question«, in: rouge 9 (2006).

5 Kramer: »Snap Shots«.

6 Berlin 10/90 (Robert Kramer, FR 1991), 63 min.

7 Paul McIsaac: »Creating Doc«, in: http://www.windwalk.net/writing/rk_mci.htm 1998.

8 Kramer: »Snap Shots«.

9 Dear Doc (Robert Kramer, FR/US 1990), 35 min.

10 McIsaac: »Creating Doc«.

11 Dear Doc.

12 Kramer: »Snap Shots«.

13 Dear Doc.

14 Der Film Notre Nazi (BRD/FR 1984) von Robert Kramer wurde parallel zu von Wundkanal (BRD/FR 1984) von Thomas Harlan gedreht und beleuchtet die Dreharbeiten und Harlans Arbeit während des Drehs.

15 Robert Kramer und John Douglas: »Reclaiming our past, reclaiming our beginning«, in: Jump Cut 10-11 (1976), S. 6–8.

16 Kramer und Douglas: »Reclaiming our past, reclaiming our beginning«, S. 6.

17 McIsaac: »Creating Doc«.

Gegenstandloses Sehen: Die Mörder sind unter uns von Wolfgang Staudte

I

Die Bilder sind bereits bekannt. Sie sind wie aus dem Gedächtnis entsprungen. Sobald man sie sieht, fängt man an, sich an ähnliche Bilder, die man bereits gesehen hat, zu erinnern, statt die Bilder, die auf der Leinwand erscheinen, neu zu entdecken.

Berlin 1945 nach der Kapitulation. Eine Trümmerstadt. Zerbröckelte Gebäude, zerstörte Straßen und Wege, steinerne Korridore des Elends: eine leblose Landschaft, die zugleich als neuer Spielplatz für die Kinder dient. (In der rechten Ecke der ersten Einstellung sind drei Jungen zu sehen, die im Schutt hocken und mit Spieleimern hantieren, als ob die ganze Stadt zu einem großen Sandkasten erweitert wurde – der Traum jedes Kindes.) Ein Mann bewegt sich ratlos durch die Einöde. Der finstere, unruhige Blick, die dunklen, zerknitterten Kleider, der Zigarettenstummel im Mund, der verlorene Gang: alles gehört zusammen. Eine unbestimmte Gestalt, die sich im nächsten Augenblick auflösen wird. Er geistert ohne Halt durch die abgründige Gegenwart. Aber dann, so wie es immer passiert (oder so wie es passieren muss), stolpert er in einer Handlung hinein, die auch seine Rettung bedeuten wird.

II

Wohl ist auch bekannt, dass diese Berlin-Bilder aus Wolfgang Staudtes 1946 DEFA-Film, Die Mörder sind unter uns, als die ersten Bilder des (ost)deutschen Nachkriegskinos gelten. Die Stadt in Ruinen ist keine konstruierte Filmkulisse, sondern die wirkliche Stadt, wie sie zur Zeit des Filmdrehs tatsächlich vor der Kamera existierte. Das heißt, bevor solche Trümmerbilder zum Klischee der Filmindustrie wurden, bevor man ein bombardiertes Berlin in Babelsberg oder in Polen wiederherstellen musste, wie Christian Petzold es in seinem Film Phoenix vor einigen Jahren getan hat. Hier verlieren sich die Grenzen zwischen dem Dokumentarischen und Erfundenem; das eine fließt in das andere hinein, genauso wie der Mann in den ersten Bildern des Films von der erdfesten Realität der kriegszerstörten Stadt in eine reine Fiktion wandert. Und wie so viele Geschichten des Kinos (man könnte sogar sagen, wie die erste Geschichte des Kinos) fängt diese mit einer Zugeinfahrt in einem Bahnhof an.

III

So fängt die Lüge an. Aber das ist ja nichts Besonderes. Das Kino lügt. Der Zug gleitet durch die zerbombte Stadt. Mit einem Schwenk der Kamera sieht man, wie der überfüllte Zug im Berlin Stettiner Bahnhof einfährt. Die nächste Einstellung zeigt, wie sich der Bahnsteig mit den jenen füllt, die aus dem Zug aussteigen. Aus dem Strom der Flüchtlinge und lebensmüder Greisinnen, erscheint eine schöne jungen Frau. Sie trägt einen hellen Mantel. Um ihren Kopf hat sie ein graues Tuch gebunden, dunkle Schatten unter den Augen, als ob sie eine schlaflose Nacht (oder einige Jahre) hinter sich hat. Ihr Gang ist unsicher, sowie ihr Blick, der verdutzt herumirrt. Das Innere des Bahnhofs, die Menschen, die verstreut auf dem Boden herumliegen- lungern, – träumen. Kinder und Alte, die Wangen in ihren Händen gestützt; gekünstelte Posen, wie Menschen in einer Religionsszene, die sich nach der endgültigen Erlösung sehnen. Ein Kriegsgefangener (auf dem Rücken seines Mantels sind die Buchstaben PW mit Kreide geschrieben), der mit Krücken durch den Raum hinkt. Danach die Wolken, die unbekümmert über die Trümmer ziehen; die Sonne, die ganz selbstverständlich das traurige Leben beleuchtet. Sogar in den grausamsten Zuständen kann man solche Dinge noch SEHEN.

IV

Doch nach diesem langsamen Auftakt, der einen lang angehaltenen Atem gleicht und diesen Mann und dieser Frau in einer nebeligen Namenlosigkeit eintaucht, beschleunigt sich der Lauf der Ereignisse. Der Plot entwickelt sich unvermeidlich. Die Katastrophe der Geschichte donnert durch das Leben. Machtlos mitgerissen vom Sog der Vergangenheit, werden die Figuren zu von den Innenräumen der Stadt zerdrückten Filmfiguren: die KZ-Überlebende, der Kriegsveteran, der Kriegsverbrecher. Es wird viel über das Leben gesprochen, aber nichts davon gezeigt. Oder doch: für einige Momente sind Aufnahmen von den sogenannten Trümmerfrauen zu sehen, wie sie unter der Sonne schuften.

V

Und dann in einer anderen Szene kann man sehen, wie es schneit. Und obwohl die Schneeflocken deutlich als Federn, als Requisit erkennbar sind, ist ihr Fallen das Wahrste und Schönste, was es in der Welt dieses Films zu sehen gibt. Mehrere Gegenstände, die mit dem Sehen verbunden sind, fallen den Menschen in die Hände: Brillen, Fotoapparate, Lupen. Doch statt sie als solche zu verwenden, um das Sehen zu erweitern, bleiben sie leere Gegenstände, die ahnungslos in der Hand gehalten werden. Der Mann findet eine Kamera in einer Schublade, steckt sie in seine Manteltasche, nimmt sie aber sofort wieder raus, legt sie auf dem Tisch und geht aus dem Bild – als ob die Kamera ihre Bedeutung endgültig verloren hätte.

VI

Am Ende ist dann, wie so oft im Kino, alles anders. Das Paar verliebt sich, ein Mord wird verhindert, der wahre Verbrecher sitzt im Gefängnis. Die Stadt liegt noch in Trümmern, aber auch das wird sich in wenigen Jahren ändern. Was aber bestehen bleibt: der Wind, der durch die glaslosen Fenster weht; die am Himmel vorbeiziehenden Wolken, und die würdevolle Namenlosigkeit der unzähligen Menschen, die unter ihnen fortleben.

 

 

 

 

Glimpses at PATHWAYS TO CINEMA

PATRICK HOLZAPFEL: Es geht dich nichts an, woher ich komme, wenn ich da bin, bin ich da. Heute wollen alle wissen, woher man kommt, aber mich interessiert mehr, wohin man geht. Wenn ich im Kino bin, komme ich von Nirgendwo, ich könnte überall herkommen und so soll es auch sein. Nur über das Kino habe ich genug gelogen, vielleicht auch, weil ich dort niemand erklären musste, woher ich komme. Ich war ganz einfach da, ganz so wie der Film, den wir sahen und das war alles, was zählte. So würde ich gern leben: als ob ich ins Kino ginge. Ich würde nicht handeln, nur wachsen. Es macht einen Unterschied, woher man kommt, werden alle sagen und obwohl ich ihnen nicht widerspreche, möchte ich meinen Weg für mich behalten. Du kannst selbst beurteilen, ob es geregnet hat, wo ich herkomme, oder ob die Sonne schien.

ANNA BABOS: After a day spent writing on my laptop, I want to use the walk to the cinema to look around, to see what surrounds me, not on the screen but in the world. Yet, I can’t help the bad habit of looking to the ground, looking at my feet as I put them one after another. It is quite understandable, my eyes got used to looking at a shorter distance, the 50 cm between my eyes and the laptop’s screen. So, I need a little bit of time to get used to the meters and kilometers of distance you can see when looking down the street. I also flirt with the idea that it’s maybe necessary for my brain, that it’s my body’s self-defense mechanism, since looking at the sidewalks and this monotone movement of mine is just a kind of brainwash, which helps me keep a distance from the work and the concerns of the day. It may be good for meditation but it’s sad to miss out on the vividness of one’s environment. In the end, the day’s highlight is coming out of the cinema, setting my eyes free.

ANDREW CHRISTOPHER GREEN: I rarely ever watch films at the cinema, but the past week on account of my being in Berlin I’ve taken a taxi from work to go to the Arsenal. They’ve programmed a series of films written by Yoko Mizuki and Sumie Tanaka and directed by Mikio Naruse. My job entails preparing a set of previews and checklists for upcoming fairs and exhibitions. The days have grown into twelve-hour stints. My boss sits next to me and tells me to shrink this image, move that one, make this one bigger, find a detail of this work… it’s like my spine has fused with the desktop I’m working on and his commands are also controlling the expansion and contraction of my stomach muscles. I don’t have any more thoughts by the time I get into the taxi. My mind is totally blank and I can experience it all without my thinking getting in the way. Thankfully my passivity doesn’t get taken advantage of; Naruse is a generous director. He’s neither manipulative nor calling attention to himself or the techniques he’s employing. Everything about his films and the sad stories they tell is incredibly subdued. And so, in the mornings, when I sit in the garden cafe at the Literaturhaus and journal what happened in the film the night before, it’s like I’m recalling a dream, surprised to discover that what has cast a mood over the day was all a product of the imagination.

DAVID PERRIN: Waren es nicht eher die langsamen hinausgezögerten Heimwege, nach dem Erlebnis eines Films, die mich aufatmen ließen, als die Wege ins Kino? Wenigstens war das fast immer meine Erfahrung und es war nicht so sehr ein Ins-Kino-Gehen, als ein Ins-Kino-Flüchten. Flüchten wovor? Vor allem möglichen: dem Lärm der Stadt; dem stumpfsinnigen Ich-Gefühl, das man überall mit sich herumtragen muss und den täglichen Fehlern, die man begeht; dem formlosen Wirrwarr der Gesten, in denen jeder Griff nach einem Gegenstand (einem Bleistift, einer Kaffeetasse) ins Dunkel geriet, wo jeder Schritt mit einem Stolpern ins Nichts bedroht ist.

Wie schön und selbstverständlich die Welt einem schließlich erscheint, wenn man mit neugeborenen Augen zuschauen kann wie ungeschickt und unbeholfen der James Stewart in The Man Who Shot Liberty Valance als Kellner herumhantiert und fummelt und man spürt, wie die im Körper angesammelte Spannung sich endlich auflöst. Man tritt aus dem Kino und ist einverstanden mit seinem Dasein, spürt eine Empfindung des Getragen-Werdens, des Auf- und Anblickens der Welt, während man sich langsam auf dem Heimweg macht.

Doch es gab auch Wege ins Kino, die mich beflügelten und mir mein Lebensgefühl zurückgaben. Zum Beispiel, dieser Septembertag vor drei Jahren auf dem Weg ins Filmmuseum in Wien und mein kurzer Spaziergang davor im Burggarten: das warme Licht des Sonnenuntergangs; die auf den Grasflächen spielenden Kindern und die Erinnerung an die längst aus den Augen verlorenen Freuden der Kindheit; das Rauschen der Bäume und das Zwitschern der unsichtbaren Spatzen in den Ästen; das Flugzeug im Himmel und die dünnen hingehauchten Wolken; der wehende Wind zwischen meinen ausgespreizten Fingern und schließlich das Herbstgefühl, das sich einstellte und das mit jedem neuen Blick bestärkt wurde und wo ich dann dachte: Ja, das ist das wirkliche Kino. 

Und dann auch in einer anderen Stadt, zu einer anderen Jahreszeit, das Aufleuchten der Glühwürmchen im Friedhof gegenüber des Anthology Film Archives. Kleine Lichtpunkte, die in der Dämmerung vom Boden senkrecht in der Luft schwebten und bei diesem Anblick, das Gefühl, das der Tag, trotz der späten Zeit, erst jetzt wirklich anfing. Ein Bild, das ich mit ins Kino hineinbrachte. 

Und dann auch, schon wieder in einer anderen Stadt, das Leuchten des Schnees auf dem Asphalt, die wirbelnden Flocken in der Abendluft, die Kreischen der Vorortzüge in der Bahnsenke da unten und das allein stehende Kind, das auch ich einst war, vor dem Kino, dessen Türen noch geschlossen sind.

RONNY GÜNLGegenüber den architektonisch beeindruckenden Filmpalästen haben mich immer jene abseitigen Kinos angezogen, die sich etwas schüchtern in den schmuddeligen Nebengassen versteckten. Sie erscheinen erst auf den zweiten oder dritten Blick, während man durch eine noch fremde Stadt schlendert. Man durchstreift die Straßen in einem fiebrigen Gemisch aus Überforderung und Gelassenheit und plötzlich funkeln sie unversehens auf. Ihre schweigsame Präsenz erweckt den Anschein, als könnten sie den ganzen Trubel um sich herum aufsaugen.

Kinos anderer Städte zu besuchen, besitzt den anrüchigen Geschmack, ein Geheimnis zu entdecken. Das, mit dem man zu Hause so vertraut zu sein scheint. So sehr, dass sich sein magischer Schleier zu einem Nebel des Alltäglichen verwandelt hat. Zuhause ins Kino zu gehen geschieht selten spontan und noch weniger beiläufig. Zu oft ähnelt der Gang dem belanglosen Charakter einer alltäglichen Besorgung. Er verflüchtigt sich erst in dem Augenblick des Innehaltens, während man, angekommen am Kino, die vorübergehenden Menschen betrachtet.

Der Weg zum Kino ebnet sich, als warte man darauf, dass endlich irgendetwas passiert.

Ich trauere diesen verlorenen Gelegenheiten reumütig hinterher, als ich selbst ein fremdes Kino passiere. „Hätte ich denn etwas Besseres zu tun gehabt als ins Kino zu gehen?“, frage ich mich. Das Kino ist geschlossen, stelle ich mit einem Blick ins dunkle Innere durch die Fenster enttäuscht fest.

SEBASTIAN BOBIK: In the 1980s my mother lived in a small apartment in Santiago de Chile, right above a cinema called “Cine Arte Normandie”. She often tells me about her life then and the neon sign on the building across the street that would illuminate her bedroom at night. She loved to go downstairs at midnight or even 2 in the morning and take a seat in the theatre to watch films. The cinema itself was considered an arthouse theatre and she can recall experiences like seeing the films of Ingmar Bergman or Blue Velvet there for the first time. Whenever she tells me these stories of the small apartment and Cinema Normandy I can’t help but romanticise it and imagine what it would be like if I could live right above that cinema. I envision a warm summer night with an open window and the noise of traffic. My way to the cinema is the shortest I could wish for. I close the window of my bedroom and head through the kitchen and out of the door. I make sure I lock it and leave. Then all it takes is two flights of stairs that I rush down. Sometimes I meet neighbours on my way. They might be returning from a dinner they had in a restaurant or going out to a discotheque. I head past them and to the ground floor. There is a small ticket counter there. The young woman selling tickets already knows me. I come here all the time. I buy a ticket and immediately head into one of the small screening rooms. Except for me there are three or four, sometimes even five more people there, who are also curious spectators of the night. The room is rather small, the chairs have a leather cover that is already worn off in some places. During the summer it occasionally gets too hot, but in the evenings, it cools down again. We take our seats; the lights dim and the screen begins to shine. I dream of this being my personal way to the cinema, but I will probably never live this dream. These days the Cinema Normandy does not exist in the same building in which my mother lived anymore. It has moved to another location in Santiago. They still show films there.

IVANA MILOŠ: Sometimes I wonder what I enjoyed more – the path or the arrival. Racing on my bike through Vienna’s first district or towards Zagreb’s Tuškanac forest, almost falling over myself more often than not, another welcome addition to the gallery of screwball comedy characters I tend to keep close to heart. Always, always, a coil of unique energy unraveling in me, something close to a high, all just because I am about to meet the cinema. Something akin to that rapturous sensation of nurturing an age-long unrequited love in the very last moment of hope that it may be returned. Swift delight suffused with a sense of jubilation because I will meet those who will not talk back, where I myself will be able to remain silent while they enter my bloodstream. What makes up the shimmering embers of anticipation? What turns me into a firefly about to glow in the dark? None of these thoughts are present in the moment, they rear their heads only upon reflection. The moment itself is free, full of unknowing, and perhaps that is its saving grace. It is a gentle kind of craving about to be transformed by whatever emerges from the darkness. It is a secret, and my last footsteps towards the cinema are of the secretive sort. After the race, a moment of calm settles in. I got here early; I have ten minutes to spare. Depending on the fickle nature of my infatuation for what is to come, I will spend them lingering, loitering, and shuffling my feet awkwardly, or staring at objects, clouds, the sun or the rain. What I will never do is seek out attention or company. This is my own journey, and it does not end with the arrival to the cinema. Even if I meet someone I know inside and we end up seeing the film together, I have already set sail for what will live on in me a long time ago. Back when I started hurriedly throwing on clothes and urging my bike on as if it were a mythical horse of inexhaustible energy, back when leaves were flying in my wake as the first autumnal screenings filled up the first film theaters, back when the spring put a spring in my step as I breathed in the blossoms on my route over the Ringstraße, back when I fostered the kind of memories ready to disappear the moment I enter the darkness enveloped.

SIMON PETRI: There is no time to go home and detach the trailer carrying 20-30 kilograms of posters yet to be distributed or hanged on fences. Moreover, how could I lock the bicycle in a way that also protects the trailer and the posters? Maybe I can push it into the dumpster storage of the Film Museum’s café? The staff will surely be over the moon when I tell them the idea. And would the posters soak up the smell? It would be the 4D revolution of advertisement. On the other hand, imagine that weight behind me and how it accelerates my ride down Mariahilfer Straße. People would have to jump away in fright from the unhinged cyclist, pacing down with a psychotic look on his face, hoping to get to the cinema punctually. After a certain tempo, most of the posters would fly out of the trailer anyway. The kindly pedant citizens of Vienna would pick up the posters and put them on the fences, surrounding the ugly construction sites on Mariahilfer Straße. And everything would be fine in the end.

SIMON WIENERAuf dem Weg ins Kino geht mir durch den Kopf, was im Kino alles schief gehen könnte. Man hört von Menschen, die vom einen Moment auf den anderen ohne Fremdeinwirkung erblinden. Daran denke ich fast immer, wenn ich den Saal betrete, und meine schon leise ein Säuseln in den Augen zu vernehmen, ärgere mich ob der Schlieren, die mein Blickfeld durchziehen und langsam nach unten wandern. Skeptisch begutachte ich sie und warte fingertrommelnd darauf, dass sie sich konzentrisch ausbreiten, das Blickfeld in einen Nebel verwandeln. Auch eine Migräne beginnt mit Sehstörungen. Obwohl ich nur selten daran leide, glaube ich sie oft während des Vorspannes sich ankündigen zu sehen und blinzle abwechselnd mit den Augen, um zu kontrollieren, ob da nicht eine Unschärfe, ein blinder Fleck die Leinwand befallen hat. Was, wenn mich mitten in der Vorstellung ein Schwindel befiele, vom vielen ungewohnten Hochschauen vielleicht, oder von der Konzentriertheit dieser Farben, die mich unsanft überschwemmen; wenn ich das Bewusstsein verlöre, einen Herzanfall bekäme, und matt zur Seite sackte? Ein Zuschauer hinter mir vernähme wohl nichts Ungewöhnliches an meinem Absacken und glaubte viel eher, ich wäre eben zur Seite gerückt, um so angenehmer oder andächtiger die Leinwand beobachten zu können; staunte vielleicht gar anerkennend, dass jemand diesem Schrottfilm eine solche Andächtigkeit entgegenbrachte. Selbst ein stundenlanges Verharren in dieser Schräglage fiele nicht auf, und nach dem Film, nach dem Wiedereinschalten der Lichter, meinte der Zuschauer, ich wolle eben auch den Abspann nicht verpassen, wolle meinen Gedanken zum Film eben nachhängen, nicht gestört werden, die Augen geschlossen, den Mund schräg geöffnet; sei halt dem Film gänzlich verfallen, hätte mich ihm mit Inbrunst gewidmet, und müsse ihn nun, so wie sich das eben gehöre, erst einmal verarbeiten.

JAMES WATERS: 23.05.21 – On this day, I watched the new restoration of Chun gwong cha sit for the expressed purpose of hearing its final needle drop in a cinema setting. I remember driving with my Mum to see it, arriving 10 minutes late and in the wrong cinema.I wasn’t sure, upon arriving home, if the cinema setting benefitted the song in any way. The desire for the big screen when watching it at home was stronger than any feelings from the cinema itself. I only remember the before – rushing up the stairs in a way that makes me shudder when thinking about it – and after. It’s the type of running one does when they’re about to miss a train, its cinematic equivalent an exasperated self-deception that “the ads surely must still be playing”, only to resignedly sink into a cinema seat realising that 15 minutes have already gone by.

Then afterwards, there was the disappointment at not having The Turtles’ eponymous song ringing in my ears. After this point I made three strict rules for myself:

  • When watching a film for the first time, always watch it in the cinema
  • Don’t sit and watch a film whose first 10 minutes you’ve missed, it’s like being dragged from a runaway train
  • When watching something at home on a repeat viewing, don’t get up from the film

28.08.2021 – As of today, I haven’t followed these rules, and even when I have, the dividing line between a “cinematic” and “living” space is non-existent. But were they ever? Here are two photos where – given the time of day – the befores and afters of each film (watched for the first time and not in a cinema) felt unaffected by the same, relatively unchanged daylight. Or is it that the daylight felt unaffected by the film’s end? The screen, in these and many other cases, appeared darker than ever. 

(20.08, watching Das Mädchen und die Spinne by Ramon and Silvan Zürcher)
(26.08, watching One Plus One 2 by C.W. Winter and Anders Edström)

 

Woche der Kritik: Wenn Bilder sich gegenseitig verschlingen

Nakorn-Sawan von Puangsoi Rose

Woche der Kritik Tag 2 – Donnerstag, der 7. Februar 2019

Am zweiten Abend hat die Woche der Kritik ein Double Feature mit zwei Werken junger FilmemacherInnen gezeigt. Zunächst wurde Nakorn-Sawan von der in Deutschland tätigen thailändischen Regisseurin Puangsoi Rose Aksornsawang gezeigt, im Anschluss Gulyabani von Gürcan Keltek aus der Türkei. Die beiden Filme sowie das nachfolgende Gespräch (dem ich leider nicht beiwohnen konnte) wurden unter dem vielversprechenden Titel „Widerstand gegen das Verschwinden“ angekündigt. Ist das nicht die Kernaufgabe eines jeden Künstlers, um so mehr eines Filmemachers? Ist seine Arbeit nichts anderes, als Bilder vor dem Auslöschen und dem Vergessen zu retten? Und gilt es nicht in einem noch wichtigeren Maß für uns Zuschauer, die in der künstlich erzeugten Dämmerung des Kinosaals nur danach streben, dem einen Bild zu begegnen? Dem kleinen Irrlicht, das wir, alsbald auf der Leinwand nichts mehr zu sehen ist, bei uns, in den Tiefen unseres Gedächtnisses, wach zu halten versuchen? In einem vielleicht konkreteren Sinne ging es in den zwei Filmen um das große Thema „Verschwinden“, sei es auf der Ebene einer Familiengeschichte (Roses Film) oder auf einer abstrakteren, fabelhafteren und zugleich politischeren Stufe (genau das, was Keltek in den gelungensten Momenten seines Filmes in Bilder fasst).

In Nakorn-Sawan inszeniert Puangsoi Rose ihre Rückkehr nach Thailand, zu ihrer Familie und deren Kautschukplantage. Sie hat einen längeren Aufenthalt in Deutschland hinter sich, wo sie gelebt und Kunst studiert hat. Die ersten Bilder sind – absichtlich, wie es sich später herausstellt – in etwas mittelmäßiger Video-Qualität gedreht. Die ersten Minuten, ruhig, wortkarg, mal rätselhaft, zeigen den Alltag der Eltern im Wald, als Zuschauer könnte ich mich damit zufriedenstellen, doch kommt plötzlich der Bruch, der alles zerstört, ja, der alles Vergnügen, allen Spaß am Beobachten verdirbt. Auf einmal wird das Bild sauberer, der Einstellungsrahmen sorgsamer eingerichtet, die Eltern, der Wald, die Eltern im Wald sind verschwunden, durch andere Figuren ersetzt, von denen man sofort begreift, dass sie Darsteller sind. Weg mit dem Wirklichen, mit dem Dokumentarischen, mitten hinein in die Fiktion, scheint uns die Filmemacherin damit zu treiben. Durch diese zweite narrative Ader, die viel statischer ist als die erste, findet sich Rose in der Figur einer jungen Frau und ehrgeizigen Filmstudentin wieder, die anscheinend eine besonders starke Beziehung zu ihrer Mutter pflegt. Einen Bezug zwischen den zwei erzählerischen Linien gibt es schon, nur ist es legitim, zu fragen, was genau sich aus diesem Kollidieren zwischen Fiktion und Dokumentarfilm ergibt. Denn schnell hat man den Eindruck, vor einem überaus willkürlichen, wenig ausgedachten Zusammengesetztem zu sitzen. Die dokumentarischen Stellen scheinen das nie wirklich zur Durchführung kommende Versprechen echten visuellen Funkelns in sich zu bergen, dahingegen fühlt sich die Fiktion sehr kalt, fast leblos, an.

Mit ihrem letzten Film, No Home Movie, war es Chantal Akerman gelungen, eine ganze Welt von Erinnerungen, Filmbildern, Geisterbildern, Fiktionen, ausschließlich mittels einer kleinen HD-Kamera aufzutun. Wie bei Roses Nakorn-Sawan ging es in Akermans Film um die leidenschaftliche, nie richtig zu entschlüsselnde Verbindung zur Mutterfigur. Doch wo die belgische Filmemacherin eine ganze Flut an Bildmaterial – nicht zuletzt einen pixeligen Laptopschirm während einer Skype-Unterhaltung – für ihre Erzählung nutzte, bleibt Rose bei einem überraschungsarmen theoretischen Ansatz stehen. Im Abspann („in memory of my mother“) versteht man, dass diese Mutter verschwunden ist, dass der Film sie wiederbeleben möchte. Dass ich an keiner Stelle richtig berührt worden bin, kann ich nur dadurch erklären, dass dieser Mutter stets eine konkrete, räumliche Anwesenheit verweigert wird. In einer Szene zum Beispiel, filmt Rose – man hört ihre Stimme im Off – ihre Eltern als sie dabei sind, sich einen ihre Kurzfilme auf dem Laptop anzuschauen. Der Screen wird uns aber nie gezeigt. In einer anderen Szene, im letzten Teil des Filmes, wirft die Mutter einen emotionalen Blick auf alte Familienfotos, sagt der ihr gegenüber sitzenden Tochter bei jedem Bild, das sie in ihrer Hand festhält: „Erinnerst du dich?“ Ab und zu fängt sie sogar an, ihr ein Foto zu reichen, doch jedes Mal unterbricht sie plötzlich diese Bewegung des Reichens in dem Moment, in dem die Vorderseite des Fotos sichtbar werden könnte, als wäre sie dazu aufgefordert, diese Bilder auf keinen Fall zu zeigen.

Man könnte sich wohl denken, dass dieses Ausweichen vorm Bildhaften ganz bewusst erzeugte Lücken sind, die zu einer Ästhetik des Unsichtbarmachens, der Verfremdung, beitragen. Diese Hypothese ist jedoch, angesichts des dürftigen, viel zu psychologischen fiktiven Teils, überhaupt nicht haltbar – man denke zum Beispiel an eine der letzten Szenen der „Fiktion“, in der die junge Frau sich mit einem ehemaligen Liebhaber im Hotelzimmer, irgendwo in einer unbenannten Stadt, trifft. Bedeutungsschweres Schweigen und etwas faule Nahaufnahmen sorgen für ein sofortiges Verständnis der Situation: die wachsende Reue, dass die große Liebe gescheitert ist. Gut, und weiter? Nakorn-Sawan ist also ein Film, der sich durch eine Welt, ja, einen Makrokosmos an Bildern durchwühlen möchte, der sich dabei aber leider selber im Wege steht, weil er sich an fast keiner Stelle die Zeit nimmt, diesen Bildern zu folgen. Paradoxerweise wird das Retten vorm Verschwinden langsam zum unausweichlichen Verschwinden aller Visionen. Eine Zusammenstückelung von verstreuten Vignetten, deren Verstreuung einfach zu nichts führt.

Gulyabani von Gürcan Keltek

Gulyabani von Gürcan Keltek

In Gulyabani von Gürcan Keltek wird eine andere Art von Verschwinden inszeniert, zudem in einer viel experimentelleren Herangehensweise. Der Film beginnt mit sehr körnigen, in grauen und brauen Farbtönen gehaltenen Aufnahmen. Laub ist zu sehen, ruhig auf dem kalten Wasser treibende Baumblätter. Stellenweise bricht ein schwaches Licht durch die Baumkrone, während auf der Tonspur die herrliche Ruhe und die wilde Polyphonie der Umgebung die Bilder sanft ins Schwanken bringt. Gleichzeitig beginnt im Off eine ebenso sanfte weibliche Stimme, eine Geschichte zu erzählen. Eine Mischung aus einer historischen Chronik der modernen Türkei, archaischer Mythologie und Sci-Fi-artigen Zügen, das ein Gegengewicht zu den konkreten, bodenverhafteten Bildern darstellt. Es folgen langsame Aufnahmen der Naturelemente – Regen, der in dicken Tropfen vom Dach herabfällt, der Schmutz auf Wandflächen –, die sich in eine „wässrige Dichte“ zusammenflechten. Ein Vergleich mit den Filmen von Andrei Tarkovsky drängt sich auf. Eine Filmerinnerung, die jedoch niemals störend oder akademisch wirkt, da der Schnitt diesem feinen Geflecht eine sehr nüchterne Zerbrechlichkeit verleiht. Gerade diese teils durchsichtige, nicht aufzubewahrende visuelle Dichte ist es, die uns der Film in seinen schönsten Momenten anbietet – eine Konkretion der Elemente, die auch im Bruch zwischen den zwei Teilen der Erzählung ziemlich geschickt ins Spiel gebracht wird. Diese mündet bald in eine viel mineralischere, trockenere und buntere Welt, während die Stimme im Off an politischem Ärger gewinnt. Doch die Überanwesenheit der Off-Stimme ist schon vor ein paar Minuten zum störenden Trick geworden, genauso wie das Sounddesign, das den Film zum Ende hin immer stärker mit elektronischen Tönen durchdringt.

Ich spüre einen in mir wachsenden Ärger, dass ich mir diese kryptische Tongestaltung anhören muss, während die Bilder allmählich einen faszinierenden Schwindel von Farben und Lichteffekten aufbauen. Wo die Bilder sich wie von allein auf den Weg zu Neuem, Unerwarteten machen, so blickt der Ton einfallslos in die Vergangenheit des Kinos, indem er versucht, Filme wie Chris Markers Sans soleil nachzumachen (eben diese elektronischen Tönen, verbunden mit der im Off erzählten Geschichte eines Mannes, der quer durch die Epochen und durch die Zeit, bis weit in die Zukunft hinein reist, auf der Suche nach seinen Erinnerungen). Für ein paar Minuten, kurz vor Ende des Filmes, verstummt die Stimme stellenweise und Gulyabani wird zu einem hypnotischen Erlebnis. Durch Emulsionen auf Film, das Auge durchstechende Cuts auf schwarzweiße Straßenaufnahmen und einen sehr schönen epileptischen „Splitscreen“. Nach der Vorführung bin ich ganz wach, der schläfrige Zuschauer vom Beginn hat sich gewandelt, ist komplett verschwunden. Das Screening ist zu Ende. Nun ist es an der Zeit, dass ich verschwinde, obwohl der Abend und die Diskussion noch nicht vorüber sind.

Woche der Kritik 2019: Schlachtfelder politischer/parodistischer Wut

Das deutsche Kettensägenmassaker von Christoph Schlingensief

Woche der Kritik 2019 – Erster Tag – Mittwoch, der 6. Februar 2019

Um knapp 16:30, als ich den großen Saal der Volkbsühne erreiche, komme ich mir vor wie ein Tourist. Ich weiß nicht mal, worum es eigentlich geht, ob ein Film gezeigt wird, oder ob es sich einfach um ein Eröffnungsgespräch handelt. Bald erscheint die Antwort auf der riesigen Leinwand: Das deutsche Kettensägenmassaker von Christoph Schlingensief wird vorgeführt, dann gibt es eine Diskussion. Mit Horrorfilmen kenne ich mich nicht besonders gut aus, auch der Name Schlingensiefs sagt mir wenig. Trotzdem kein Anlass zur Entmutigung, denn der Tourist, der ich bin, freut sich über Fremdes und Neuartiges sehr. Zumal Schlingensief ja wahrlich kein Unbekannter ist. Sein Film erweist sich schnell als rücksichtsloses Werk ganz im Sinn der B-, C- oder gar Z-Film-Ästhetik, an die er sich anlehnt.

Deutschland, gleich nach der Wende. Ehemalige DDR-Bürger ziehen massenhaft in den Westen und dienen den seit der Vereinigung in den Irrsinn herabgestürzten Wessis als Frischfleisch. Fast die ganze Handlung beschränkt sich darauf, die wilde Jagd einer vierköpfigen Gruppe durchgeknallter Westdeutschen in öden, unbewohnten Landschaften, zu inszenieren. Das Ganze bringt eine gewisse Idiotie mit sich, gerade die Grobheit der Charaktere (was ihr Aussehen genauso wie ihr Verhalten betrifft) scheint den Schnitt und die Einstellungen zu durchbohren, als käme es Schlingensief gar nicht darauf an, dem Publikum einen schönen Film zu schenken. Obwohl der Filmemacher sich nicht vor blutigen Momenten scheut, taucht an mehreren Stellen dieselbe Aufnahme auf, nämlich das gewaltvolle Fallen eines Fleischerbeils auf ein Stück Tierfleisch; eine Art billiger Ersatz, der es dem Regisseur erspart, „in Echt“ zu morden.

Das Publikum zu erschrecken scheint auch nicht das Ziel Schlingensiefs zu sein. Diese wiederkehrende Einstellung, so unscheinbar sie auch sein mag, ist vielleicht doch diejenige, die am aufschlußreichsten ist, um das ästhetische Ziel dieser verwirrend unordentlichen Menschenjagd nachzuvollziehen. Womöglich sogar mehr als die paar Fernsehaufnahmen, die im Vorspann die große Vereinigungsfeier am 3. Oktober 1990 auf dem Potsdamer Platz in Berlin zeigen. Denn es ist genau hier, nach diesem unschönen, rohen, plötzlichen „Cut“, dass Schlingensief den wirksamsten Ausdruck für das schmerzhafte, in mancher Hinsicht unvorstellbare Verschwimmen der Grenzen zwischen den „zwei“ Deutschlands findet.

Der erste Teil des anschlißeneden Gesprächs („Vom Spaß, die Moral zu torpedieren“) drehte sich fast ausschließlich um die Frage wie politisch unkorrekt das „engagierte Kino“ sein sollte. Trotz einer feinen Auswahl an Ausschnitten von Schlingensiefs anderen Werken in restaurierten Fassungen sowie aus TV-Ausstrahlungen, war es zu bedauern, dass die Teilnehmer sich nicht wirklich – beziehungsweise nicht richtig dazu eingeladen wurden – auf diese zuvor vorgeführten „Highlights“ bezogen haben. Im Endeffekt klang alles etwas zu allgemein, fernab von einem genauen Blick auf die Filmkunst von Schlingensief, den ich an diesem Abend für mich entdecken durfte. Vielleicht beginnt Kritik nicht unbedingt dort, wo es schon einen Diskurs gibt. Für einen jungen Zuseher wie mich geht es zuerst einmal darum, bestimmte Positionen des engagierten Kinos kennenzulernen.