Gegenstandloses Sehen: Die Mörder sind unter uns von Wolfgang Staudte

I

Die Bilder sind bereits bekannt. Sie sind wie aus dem Gedächtnis entsprungen. Sobald man sie sieht, fängt man an, sich an ähnliche Bilder, die man bereits gesehen hat, zu erinnern, statt die Bilder, die auf der Leinwand erscheinen, neu zu entdecken.

Berlin 1945 nach der Kapitulation. Eine Trümmerstadt. Zerbröckelte Gebäude, zerstörte Straßen und Wege, steinerne Korridore des Elends: eine leblose Landschaft, die zugleich als neuer Spielplatz für die Kinder dient. (In der rechten Ecke der ersten Einstellung sind drei Jungen zu sehen, die im Schutt hocken und mit Spieleimern hantieren, als ob die ganze Stadt zu einem großen Sandkasten erweitert wurde – der Traum jedes Kindes.) Ein Mann bewegt sich ratlos durch die Einöde. Der finstere, unruhige Blick, die dunklen, zerknitterten Kleider, der Zigarettenstummel im Mund, der verlorene Gang: alles gehört zusammen. Eine unbestimmte Gestalt, die sich im nächsten Augenblick auflösen wird. Er geistert ohne Halt durch die abgründige Gegenwart. Aber dann, so wie es immer passiert (oder so wie es passieren muss), stolpert er in einer Handlung hinein, die auch seine Rettung bedeuten wird.

II

Wohl ist auch bekannt, dass diese Berlin-Bilder aus Wolfgang Staudtes 1946 DEFA-Film, Die Mörder sind unter uns, als die ersten Bilder des (ost)deutschen Nachkriegskinos gelten. Die Stadt in Ruinen ist keine konstruierte Filmkulisse, sondern die wirkliche Stadt, wie sie zur Zeit des Filmdrehs tatsächlich vor der Kamera existierte. Das heißt, bevor solche Trümmerbilder zum Klischee der Filmindustrie wurden, bevor man ein bombardiertes Berlin in Babelsberg oder in Polen wiederherstellen musste, wie Christian Petzold es in seinem Film Phoenix vor einigen Jahren getan hat. Hier verlieren sich die Grenzen zwischen dem Dokumentarischen und Erfundenem; das eine fließt in das andere hinein, genauso wie der Mann in den ersten Bildern des Films von der erdfesten Realität der kriegszerstörten Stadt in eine reine Fiktion wandert. Und wie so viele Geschichten des Kinos (man könnte sogar sagen, wie die erste Geschichte des Kinos) fängt diese mit einer Zugeinfahrt in einem Bahnhof an.

III

So fängt die Lüge an. Aber das ist ja nichts Besonderes. Das Kino lügt. Der Zug gleitet durch die zerbombte Stadt. Mit einem Schwenk der Kamera sieht man, wie der überfüllte Zug im Berlin Stettiner Bahnhof einfährt. Die nächste Einstellung zeigt, wie sich der Bahnsteig mit den jenen füllt, die aus dem Zug aussteigen. Aus dem Strom der Flüchtlinge und lebensmüder Greisinnen, erscheint eine schöne jungen Frau. Sie trägt einen hellen Mantel. Um ihren Kopf hat sie ein graues Tuch gebunden, dunkle Schatten unter den Augen, als ob sie eine schlaflose Nacht (oder einige Jahre) hinter sich hat. Ihr Gang ist unsicher, sowie ihr Blick, der verdutzt herumirrt. Das Innere des Bahnhofs, die Menschen, die verstreut auf dem Boden herumliegen- lungern, – träumen. Kinder und Alte, die Wangen in ihren Händen gestützt; gekünstelte Posen, wie Menschen in einer Religionsszene, die sich nach der endgültigen Erlösung sehnen. Ein Kriegsgefangener (auf dem Rücken seines Mantels sind die Buchstaben PW mit Kreide geschrieben), der mit Krücken durch den Raum hinkt. Danach die Wolken, die unbekümmert über die Trümmer ziehen; die Sonne, die ganz selbstverständlich das traurige Leben beleuchtet. Sogar in den grausamsten Zuständen kann man solche Dinge noch SEHEN.

IV

Doch nach diesem langsamen Auftakt, der einen lang angehaltenen Atem gleicht und diesen Mann und dieser Frau in einer nebeligen Namenlosigkeit eintaucht, beschleunigt sich der Lauf der Ereignisse. Der Plot entwickelt sich unvermeidlich. Die Katastrophe der Geschichte donnert durch das Leben. Machtlos mitgerissen vom Sog der Vergangenheit, werden die Figuren zu von den Innenräumen der Stadt zerdrückten Filmfiguren: die KZ-Überlebende, der Kriegsveteran, der Kriegsverbrecher. Es wird viel über das Leben gesprochen, aber nichts davon gezeigt. Oder doch: für einige Momente sind Aufnahmen von den sogenannten Trümmerfrauen zu sehen, wie sie unter der Sonne schuften.

V

Und dann in einer anderen Szene kann man sehen, wie es schneit. Und obwohl die Schneeflocken deutlich als Federn, als Requisit erkennbar sind, ist ihr Fallen das Wahrste und Schönste, was es in der Welt dieses Films zu sehen gibt. Mehrere Gegenstände, die mit dem Sehen verbunden sind, fallen den Menschen in die Hände: Brillen, Fotoapparate, Lupen. Doch statt sie als solche zu verwenden, um das Sehen zu erweitern, bleiben sie leere Gegenstände, die ahnungslos in der Hand gehalten werden. Der Mann findet eine Kamera in einer Schublade, steckt sie in seine Manteltasche, nimmt sie aber sofort wieder raus, legt sie auf dem Tisch und geht aus dem Bild – als ob die Kamera ihre Bedeutung endgültig verloren hätte.

VI

Am Ende ist dann, wie so oft im Kino, alles anders. Das Paar verliebt sich, ein Mord wird verhindert, der wahre Verbrecher sitzt im Gefängnis. Die Stadt liegt noch in Trümmern, aber auch das wird sich in wenigen Jahren ändern. Was aber bestehen bleibt: der Wind, der durch die glaslosen Fenster weht; die am Himmel vorbeiziehenden Wolken, und die würdevolle Namenlosigkeit der unzähligen Menschen, die unter ihnen fortleben.

 

 

 

 

Glimpses at PATHWAYS TO CINEMA

PATRICK HOLZAPFEL: Es geht dich nichts an, woher ich komme, wenn ich da bin, bin ich da. Heute wollen alle wissen, woher man kommt, aber mich interessiert mehr, wohin man geht. Wenn ich im Kino bin, komme ich von Nirgendwo, ich könnte überall herkommen und so soll es auch sein. Nur über das Kino habe ich genug gelogen, vielleicht auch, weil ich dort niemand erklären musste, woher ich komme. Ich war ganz einfach da, ganz so wie der Film, den wir sahen und das war alles, was zählte. So würde ich gern leben: als ob ich ins Kino ginge. Ich würde nicht handeln, nur wachsen. Es macht einen Unterschied, woher man kommt, werden alle sagen und obwohl ich ihnen nicht widerspreche, möchte ich meinen Weg für mich behalten. Du kannst selbst beurteilen, ob es geregnet hat, wo ich herkomme, oder ob die Sonne schien.

ANNA BABOS: After a day spent writing on my laptop, I want to use the walk to the cinema to look around, to see what surrounds me, not on the screen but in the world. Yet, I can’t help the bad habit of looking to the ground, looking at my feet as I put them one after another. It is quite understandable, my eyes got used to looking at a shorter distance, the 50 cm between my eyes and the laptop’s screen. So, I need a little bit of time to get used to the meters and kilometers of distance you can see when looking down the street. I also flirt with the idea that it’s maybe necessary for my brain, that it’s my body’s self-defense mechanism, since looking at the sidewalks and this monotone movement of mine is just a kind of brainwash, which helps me keep a distance from the work and the concerns of the day. It may be good for meditation but it’s sad to miss out on the vividness of one’s environment. In the end, the day’s highlight is coming out of the cinema, setting my eyes free.

ANDREW CHRISTOPHER GREEN: I rarely ever watch films at the cinema, but the past week on account of my being in Berlin I’ve taken a taxi from work to go to the Arsenal. They’ve programmed a series of films written by Yoko Mizuki and Sumie Tanaka and directed by Mikio Naruse. My job entails preparing a set of previews and checklists for upcoming fairs and exhibitions. The days have grown into twelve-hour stints. My boss sits next to me and tells me to shrink this image, move that one, make this one bigger, find a detail of this work… it’s like my spine has fused with the desktop I’m working on and his commands are also controlling the expansion and contraction of my stomach muscles. I don’t have any more thoughts by the time I get into the taxi. My mind is totally blank and I can experience it all without my thinking getting in the way. Thankfully my passivity doesn’t get taken advantage of; Naruse is a generous director. He’s neither manipulative nor calling attention to himself or the techniques he’s employing. Everything about his films and the sad stories they tell is incredibly subdued. And so, in the mornings, when I sit in the garden cafe at the Literaturhaus and journal what happened in the film the night before, it’s like I’m recalling a dream, surprised to discover that what has cast a mood over the day was all a product of the imagination.

DAVID PERRIN: Waren es nicht eher die langsamen hinausgezögerten Heimwege, nach dem Erlebnis eines Films, die mich aufatmen ließen, als die Wege ins Kino? Wenigstens war das fast immer meine Erfahrung und es war nicht so sehr ein Ins-Kino-Gehen, als ein Ins-Kino-Flüchten. Flüchten wovor? Vor allem möglichen: dem Lärm der Stadt; dem stumpfsinnigen Ich-Gefühl, das man überall mit sich herumtragen muss und den täglichen Fehlern, die man begeht; dem formlosen Wirrwarr der Gesten, in denen jeder Griff nach einem Gegenstand (einem Bleistift, einer Kaffeetasse) ins Dunkel geriet, wo jeder Schritt mit einem Stolpern ins Nichts bedroht ist.

Wie schön und selbstverständlich die Welt einem schließlich erscheint, wenn man mit neugeborenen Augen zuschauen kann wie ungeschickt und unbeholfen der James Stewart in The Man Who Shot Liberty Valance als Kellner herumhantiert und fummelt und man spürt, wie die im Körper angesammelte Spannung sich endlich auflöst. Man tritt aus dem Kino und ist einverstanden mit seinem Dasein, spürt eine Empfindung des Getragen-Werdens, des Auf- und Anblickens der Welt, während man sich langsam auf dem Heimweg macht.

Doch es gab auch Wege ins Kino, die mich beflügelten und mir mein Lebensgefühl zurückgaben. Zum Beispiel, dieser Septembertag vor drei Jahren auf dem Weg ins Filmmuseum in Wien und mein kurzer Spaziergang davor im Burggarten: das warme Licht des Sonnenuntergangs; die auf den Grasflächen spielenden Kindern und die Erinnerung an die längst aus den Augen verlorenen Freuden der Kindheit; das Rauschen der Bäume und das Zwitschern der unsichtbaren Spatzen in den Ästen; das Flugzeug im Himmel und die dünnen hingehauchten Wolken; der wehende Wind zwischen meinen ausgespreizten Fingern und schließlich das Herbstgefühl, das sich einstellte und das mit jedem neuen Blick bestärkt wurde und wo ich dann dachte: Ja, das ist das wirkliche Kino. 

Und dann auch in einer anderen Stadt, zu einer anderen Jahreszeit, das Aufleuchten der Glühwürmchen im Friedhof gegenüber des Anthology Film Archives. Kleine Lichtpunkte, die in der Dämmerung vom Boden senkrecht in der Luft schwebten und bei diesem Anblick, das Gefühl, das der Tag, trotz der späten Zeit, erst jetzt wirklich anfing. Ein Bild, das ich mit ins Kino hineinbrachte. 

Und dann auch, schon wieder in einer anderen Stadt, das Leuchten des Schnees auf dem Asphalt, die wirbelnden Flocken in der Abendluft, die Kreischen der Vorortzüge in der Bahnsenke da unten und das allein stehende Kind, das auch ich einst war, vor dem Kino, dessen Türen noch geschlossen sind.

RONNY GÜNLGegenüber den architektonisch beeindruckenden Filmpalästen haben mich immer jene abseitigen Kinos angezogen, die sich etwas schüchtern in den schmuddeligen Nebengassen versteckten. Sie erscheinen erst auf den zweiten oder dritten Blick, während man durch eine noch fremde Stadt schlendert. Man durchstreift die Straßen in einem fiebrigen Gemisch aus Überforderung und Gelassenheit und plötzlich funkeln sie unversehens auf. Ihre schweigsame Präsenz erweckt den Anschein, als könnten sie den ganzen Trubel um sich herum aufsaugen.

Kinos anderer Städte zu besuchen, besitzt den anrüchigen Geschmack, ein Geheimnis zu entdecken. Das, mit dem man zu Hause so vertraut zu sein scheint. So sehr, dass sich sein magischer Schleier zu einem Nebel des Alltäglichen verwandelt hat. Zuhause ins Kino zu gehen geschieht selten spontan und noch weniger beiläufig. Zu oft ähnelt der Gang dem belanglosen Charakter einer alltäglichen Besorgung. Er verflüchtigt sich erst in dem Augenblick des Innehaltens, während man, angekommen am Kino, die vorübergehenden Menschen betrachtet.

Der Weg zum Kino ebnet sich, als warte man darauf, dass endlich irgendetwas passiert.

Ich trauere diesen verlorenen Gelegenheiten reumütig hinterher, als ich selbst ein fremdes Kino passiere. „Hätte ich denn etwas Besseres zu tun gehabt als ins Kino zu gehen?“, frage ich mich. Das Kino ist geschlossen, stelle ich mit einem Blick ins dunkle Innere durch die Fenster enttäuscht fest.

SEBASTIAN BOBIK: In the 1980s my mother lived in a small apartment in Santiago de Chile, right above a cinema called “Cine Arte Normandie”. She often tells me about her life then and the neon sign on the building across the street that would illuminate her bedroom at night. She loved to go downstairs at midnight or even 2 in the morning and take a seat in the theatre to watch films. The cinema itself was considered an arthouse theatre and she can recall experiences like seeing the films of Ingmar Bergman or Blue Velvet there for the first time. Whenever she tells me these stories of the small apartment and Cinema Normandy I can’t help but romanticise it and imagine what it would be like if I could live right above that cinema. I envision a warm summer night with an open window and the noise of traffic. My way to the cinema is the shortest I could wish for. I close the window of my bedroom and head through the kitchen and out of the door. I make sure I lock it and leave. Then all it takes is two flights of stairs that I rush down. Sometimes I meet neighbours on my way. They might be returning from a dinner they had in a restaurant or going out to a discotheque. I head past them and to the ground floor. There is a small ticket counter there. The young woman selling tickets already knows me. I come here all the time. I buy a ticket and immediately head into one of the small screening rooms. Except for me there are three or four, sometimes even five more people there, who are also curious spectators of the night. The room is rather small, the chairs have a leather cover that is already worn off in some places. During the summer it occasionally gets too hot, but in the evenings, it cools down again. We take our seats; the lights dim and the screen begins to shine. I dream of this being my personal way to the cinema, but I will probably never live this dream. These days the Cinema Normandy does not exist in the same building in which my mother lived anymore. It has moved to another location in Santiago. They still show films there.

IVANA MILOŠ: Sometimes I wonder what I enjoyed more – the path or the arrival. Racing on my bike through Vienna’s first district or towards Zagreb’s Tuškanac forest, almost falling over myself more often than not, another welcome addition to the gallery of screwball comedy characters I tend to keep close to heart. Always, always, a coil of unique energy unraveling in me, something close to a high, all just because I am about to meet the cinema. Something akin to that rapturous sensation of nurturing an age-long unrequited love in the very last moment of hope that it may be returned. Swift delight suffused with a sense of jubilation because I will meet those who will not talk back, where I myself will be able to remain silent while they enter my bloodstream. What makes up the shimmering embers of anticipation? What turns me into a firefly about to glow in the dark? None of these thoughts are present in the moment, they rear their heads only upon reflection. The moment itself is free, full of unknowing, and perhaps that is its saving grace. It is a gentle kind of craving about to be transformed by whatever emerges from the darkness. It is a secret, and my last footsteps towards the cinema are of the secretive sort. After the race, a moment of calm settles in. I got here early; I have ten minutes to spare. Depending on the fickle nature of my infatuation for what is to come, I will spend them lingering, loitering, and shuffling my feet awkwardly, or staring at objects, clouds, the sun or the rain. What I will never do is seek out attention or company. This is my own journey, and it does not end with the arrival to the cinema. Even if I meet someone I know inside and we end up seeing the film together, I have already set sail for what will live on in me a long time ago. Back when I started hurriedly throwing on clothes and urging my bike on as if it were a mythical horse of inexhaustible energy, back when leaves were flying in my wake as the first autumnal screenings filled up the first film theaters, back when the spring put a spring in my step as I breathed in the blossoms on my route over the Ringstraße, back when I fostered the kind of memories ready to disappear the moment I enter the darkness enveloped.

SIMON PETRI: There is no time to go home and detach the trailer carrying 20-30 kilograms of posters yet to be distributed or hanged on fences. Moreover, how could I lock the bicycle in a way that also protects the trailer and the posters? Maybe I can push it into the dumpster storage of the Film Museum’s café? The staff will surely be over the moon when I tell them the idea. And would the posters soak up the smell? It would be the 4D revolution of advertisement. On the other hand, imagine that weight behind me and how it accelerates my ride down Mariahilfer Straße. People would have to jump away in fright from the unhinged cyclist, pacing down with a psychotic look on his face, hoping to get to the cinema punctually. After a certain tempo, most of the posters would fly out of the trailer anyway. The kindly pedant citizens of Vienna would pick up the posters and put them on the fences, surrounding the ugly construction sites on Mariahilfer Straße. And everything would be fine in the end.

SIMON WIENERAuf dem Weg ins Kino geht mir durch den Kopf, was im Kino alles schief gehen könnte. Man hört von Menschen, die vom einen Moment auf den anderen ohne Fremdeinwirkung erblinden. Daran denke ich fast immer, wenn ich den Saal betrete, und meine schon leise ein Säuseln in den Augen zu vernehmen, ärgere mich ob der Schlieren, die mein Blickfeld durchziehen und langsam nach unten wandern. Skeptisch begutachte ich sie und warte fingertrommelnd darauf, dass sie sich konzentrisch ausbreiten, das Blickfeld in einen Nebel verwandeln. Auch eine Migräne beginnt mit Sehstörungen. Obwohl ich nur selten daran leide, glaube ich sie oft während des Vorspannes sich ankündigen zu sehen und blinzle abwechselnd mit den Augen, um zu kontrollieren, ob da nicht eine Unschärfe, ein blinder Fleck die Leinwand befallen hat. Was, wenn mich mitten in der Vorstellung ein Schwindel befiele, vom vielen ungewohnten Hochschauen vielleicht, oder von der Konzentriertheit dieser Farben, die mich unsanft überschwemmen; wenn ich das Bewusstsein verlöre, einen Herzanfall bekäme, und matt zur Seite sackte? Ein Zuschauer hinter mir vernähme wohl nichts Ungewöhnliches an meinem Absacken und glaubte viel eher, ich wäre eben zur Seite gerückt, um so angenehmer oder andächtiger die Leinwand beobachten zu können; staunte vielleicht gar anerkennend, dass jemand diesem Schrottfilm eine solche Andächtigkeit entgegenbrachte. Selbst ein stundenlanges Verharren in dieser Schräglage fiele nicht auf, und nach dem Film, nach dem Wiedereinschalten der Lichter, meinte der Zuschauer, ich wolle eben auch den Abspann nicht verpassen, wolle meinen Gedanken zum Film eben nachhängen, nicht gestört werden, die Augen geschlossen, den Mund schräg geöffnet; sei halt dem Film gänzlich verfallen, hätte mich ihm mit Inbrunst gewidmet, und müsse ihn nun, so wie sich das eben gehöre, erst einmal verarbeiten.

JAMES WATERS: 23.05.21 – On this day, I watched the new restoration of Chun gwong cha sit for the expressed purpose of hearing its final needle drop in a cinema setting. I remember driving with my Mum to see it, arriving 10 minutes late and in the wrong cinema.I wasn’t sure, upon arriving home, if the cinema setting benefitted the song in any way. The desire for the big screen when watching it at home was stronger than any feelings from the cinema itself. I only remember the before – rushing up the stairs in a way that makes me shudder when thinking about it – and after. It’s the type of running one does when they’re about to miss a train, its cinematic equivalent an exasperated self-deception that “the ads surely must still be playing”, only to resignedly sink into a cinema seat realising that 15 minutes have already gone by.

Then afterwards, there was the disappointment at not having The Turtles’ eponymous song ringing in my ears. After this point I made three strict rules for myself:

  • When watching a film for the first time, always watch it in the cinema
  • Don’t sit and watch a film whose first 10 minutes you’ve missed, it’s like being dragged from a runaway train
  • When watching something at home on a repeat viewing, don’t get up from the film

28.08.2021 – As of today, I haven’t followed these rules, and even when I have, the dividing line between a “cinematic” and “living” space is non-existent. But were they ever? Here are two photos where – given the time of day – the befores and afters of each film (watched for the first time and not in a cinema) felt unaffected by the same, relatively unchanged daylight. Or is it that the daylight felt unaffected by the film’s end? The screen, in these and many other cases, appeared darker than ever. 

(20.08, watching Das Mädchen und die Spinne by Ramon and Silvan Zürcher)
(26.08, watching One Plus One 2 by C.W. Winter and Anders Edström)

 

Woche der Kritik: Wenn Bilder sich gegenseitig verschlingen

Nakorn-Sawan von Puangsoi Rose

Woche der Kritik Tag 2 – Donnerstag, der 7. Februar 2019

Am zweiten Abend hat die Woche der Kritik ein Double Feature mit zwei Werken junger FilmemacherInnen gezeigt. Zunächst wurde Nakorn-Sawan von der in Deutschland tätigen thailändischen Regisseurin Puangsoi Rose Aksornsawang gezeigt, im Anschluss Gulyabani von Gürcan Keltek aus der Türkei. Die beiden Filme sowie das nachfolgende Gespräch (dem ich leider nicht beiwohnen konnte) wurden unter dem vielversprechenden Titel „Widerstand gegen das Verschwinden“ angekündigt. Ist das nicht die Kernaufgabe eines jeden Künstlers, um so mehr eines Filmemachers? Ist seine Arbeit nichts anderes, als Bilder vor dem Auslöschen und dem Vergessen zu retten? Und gilt es nicht in einem noch wichtigeren Maß für uns Zuschauer, die in der künstlich erzeugten Dämmerung des Kinosaals nur danach streben, dem einen Bild zu begegnen? Dem kleinen Irrlicht, das wir, alsbald auf der Leinwand nichts mehr zu sehen ist, bei uns, in den Tiefen unseres Gedächtnisses, wach zu halten versuchen? In einem vielleicht konkreteren Sinne ging es in den zwei Filmen um das große Thema „Verschwinden“, sei es auf der Ebene einer Familiengeschichte (Roses Film) oder auf einer abstrakteren, fabelhafteren und zugleich politischeren Stufe (genau das, was Keltek in den gelungensten Momenten seines Filmes in Bilder fasst).

In Nakorn-Sawan inszeniert Puangsoi Rose ihre Rückkehr nach Thailand, zu ihrer Familie und deren Kautschukplantage. Sie hat einen längeren Aufenthalt in Deutschland hinter sich, wo sie gelebt und Kunst studiert hat. Die ersten Bilder sind – absichtlich, wie es sich später herausstellt – in etwas mittelmäßiger Video-Qualität gedreht. Die ersten Minuten, ruhig, wortkarg, mal rätselhaft, zeigen den Alltag der Eltern im Wald, als Zuschauer könnte ich mich damit zufriedenstellen, doch kommt plötzlich der Bruch, der alles zerstört, ja, der alles Vergnügen, allen Spaß am Beobachten verdirbt. Auf einmal wird das Bild sauberer, der Einstellungsrahmen sorgsamer eingerichtet, die Eltern, der Wald, die Eltern im Wald sind verschwunden, durch andere Figuren ersetzt, von denen man sofort begreift, dass sie Darsteller sind. Weg mit dem Wirklichen, mit dem Dokumentarischen, mitten hinein in die Fiktion, scheint uns die Filmemacherin damit zu treiben. Durch diese zweite narrative Ader, die viel statischer ist als die erste, findet sich Rose in der Figur einer jungen Frau und ehrgeizigen Filmstudentin wieder, die anscheinend eine besonders starke Beziehung zu ihrer Mutter pflegt. Einen Bezug zwischen den zwei erzählerischen Linien gibt es schon, nur ist es legitim, zu fragen, was genau sich aus diesem Kollidieren zwischen Fiktion und Dokumentarfilm ergibt. Denn schnell hat man den Eindruck, vor einem überaus willkürlichen, wenig ausgedachten Zusammengesetztem zu sitzen. Die dokumentarischen Stellen scheinen das nie wirklich zur Durchführung kommende Versprechen echten visuellen Funkelns in sich zu bergen, dahingegen fühlt sich die Fiktion sehr kalt, fast leblos, an.

Mit ihrem letzten Film, No Home Movie, war es Chantal Akerman gelungen, eine ganze Welt von Erinnerungen, Filmbildern, Geisterbildern, Fiktionen, ausschließlich mittels einer kleinen HD-Kamera aufzutun. Wie bei Roses Nakorn-Sawan ging es in Akermans Film um die leidenschaftliche, nie richtig zu entschlüsselnde Verbindung zur Mutterfigur. Doch wo die belgische Filmemacherin eine ganze Flut an Bildmaterial – nicht zuletzt einen pixeligen Laptopschirm während einer Skype-Unterhaltung – für ihre Erzählung nutzte, bleibt Rose bei einem überraschungsarmen theoretischen Ansatz stehen. Im Abspann („in memory of my mother“) versteht man, dass diese Mutter verschwunden ist, dass der Film sie wiederbeleben möchte. Dass ich an keiner Stelle richtig berührt worden bin, kann ich nur dadurch erklären, dass dieser Mutter stets eine konkrete, räumliche Anwesenheit verweigert wird. In einer Szene zum Beispiel, filmt Rose – man hört ihre Stimme im Off – ihre Eltern als sie dabei sind, sich einen ihre Kurzfilme auf dem Laptop anzuschauen. Der Screen wird uns aber nie gezeigt. In einer anderen Szene, im letzten Teil des Filmes, wirft die Mutter einen emotionalen Blick auf alte Familienfotos, sagt der ihr gegenüber sitzenden Tochter bei jedem Bild, das sie in ihrer Hand festhält: „Erinnerst du dich?“ Ab und zu fängt sie sogar an, ihr ein Foto zu reichen, doch jedes Mal unterbricht sie plötzlich diese Bewegung des Reichens in dem Moment, in dem die Vorderseite des Fotos sichtbar werden könnte, als wäre sie dazu aufgefordert, diese Bilder auf keinen Fall zu zeigen.

Man könnte sich wohl denken, dass dieses Ausweichen vorm Bildhaften ganz bewusst erzeugte Lücken sind, die zu einer Ästhetik des Unsichtbarmachens, der Verfremdung, beitragen. Diese Hypothese ist jedoch, angesichts des dürftigen, viel zu psychologischen fiktiven Teils, überhaupt nicht haltbar – man denke zum Beispiel an eine der letzten Szenen der „Fiktion“, in der die junge Frau sich mit einem ehemaligen Liebhaber im Hotelzimmer, irgendwo in einer unbenannten Stadt, trifft. Bedeutungsschweres Schweigen und etwas faule Nahaufnahmen sorgen für ein sofortiges Verständnis der Situation: die wachsende Reue, dass die große Liebe gescheitert ist. Gut, und weiter? Nakorn-Sawan ist also ein Film, der sich durch eine Welt, ja, einen Makrokosmos an Bildern durchwühlen möchte, der sich dabei aber leider selber im Wege steht, weil er sich an fast keiner Stelle die Zeit nimmt, diesen Bildern zu folgen. Paradoxerweise wird das Retten vorm Verschwinden langsam zum unausweichlichen Verschwinden aller Visionen. Eine Zusammenstückelung von verstreuten Vignetten, deren Verstreuung einfach zu nichts führt.

Gulyabani von Gürcan Keltek

Gulyabani von Gürcan Keltek

In Gulyabani von Gürcan Keltek wird eine andere Art von Verschwinden inszeniert, zudem in einer viel experimentelleren Herangehensweise. Der Film beginnt mit sehr körnigen, in grauen und brauen Farbtönen gehaltenen Aufnahmen. Laub ist zu sehen, ruhig auf dem kalten Wasser treibende Baumblätter. Stellenweise bricht ein schwaches Licht durch die Baumkrone, während auf der Tonspur die herrliche Ruhe und die wilde Polyphonie der Umgebung die Bilder sanft ins Schwanken bringt. Gleichzeitig beginnt im Off eine ebenso sanfte weibliche Stimme, eine Geschichte zu erzählen. Eine Mischung aus einer historischen Chronik der modernen Türkei, archaischer Mythologie und Sci-Fi-artigen Zügen, das ein Gegengewicht zu den konkreten, bodenverhafteten Bildern darstellt. Es folgen langsame Aufnahmen der Naturelemente – Regen, der in dicken Tropfen vom Dach herabfällt, der Schmutz auf Wandflächen –, die sich in eine „wässrige Dichte“ zusammenflechten. Ein Vergleich mit den Filmen von Andrei Tarkovsky drängt sich auf. Eine Filmerinnerung, die jedoch niemals störend oder akademisch wirkt, da der Schnitt diesem feinen Geflecht eine sehr nüchterne Zerbrechlichkeit verleiht. Gerade diese teils durchsichtige, nicht aufzubewahrende visuelle Dichte ist es, die uns der Film in seinen schönsten Momenten anbietet – eine Konkretion der Elemente, die auch im Bruch zwischen den zwei Teilen der Erzählung ziemlich geschickt ins Spiel gebracht wird. Diese mündet bald in eine viel mineralischere, trockenere und buntere Welt, während die Stimme im Off an politischem Ärger gewinnt. Doch die Überanwesenheit der Off-Stimme ist schon vor ein paar Minuten zum störenden Trick geworden, genauso wie das Sounddesign, das den Film zum Ende hin immer stärker mit elektronischen Tönen durchdringt.

Ich spüre einen in mir wachsenden Ärger, dass ich mir diese kryptische Tongestaltung anhören muss, während die Bilder allmählich einen faszinierenden Schwindel von Farben und Lichteffekten aufbauen. Wo die Bilder sich wie von allein auf den Weg zu Neuem, Unerwarteten machen, so blickt der Ton einfallslos in die Vergangenheit des Kinos, indem er versucht, Filme wie Chris Markers Sans soleil nachzumachen (eben diese elektronischen Tönen, verbunden mit der im Off erzählten Geschichte eines Mannes, der quer durch die Epochen und durch die Zeit, bis weit in die Zukunft hinein reist, auf der Suche nach seinen Erinnerungen). Für ein paar Minuten, kurz vor Ende des Filmes, verstummt die Stimme stellenweise und Gulyabani wird zu einem hypnotischen Erlebnis. Durch Emulsionen auf Film, das Auge durchstechende Cuts auf schwarzweiße Straßenaufnahmen und einen sehr schönen epileptischen „Splitscreen“. Nach der Vorführung bin ich ganz wach, der schläfrige Zuschauer vom Beginn hat sich gewandelt, ist komplett verschwunden. Das Screening ist zu Ende. Nun ist es an der Zeit, dass ich verschwinde, obwohl der Abend und die Diskussion noch nicht vorüber sind.