Top Girl von Tatjana Turanskyj

Top Girl von Tatjana Turanskyj

Berlin, Januar 1919. In den Straßen wüten Aufstände. Seit Ende des Großen Kriegs durch den Waffenstillstand von Compiègne am 11. November kämpfen kommunistische Organisationen um die Etablierung einer Räterepublik. Was Anfang Januar mit Arbeiterstreiks begonnen hat, entwickelt sich zu einem bewaffneten Konflikt, der Aufstand der Arbeiter wird von KPD und Spartakusbund unterstützt. Karl Liebknecht hat sich für diese militante Vorgehensweise entschieden – Rosa Luxemburg setzte sich für eine gewaltfreie Lösung ein. Gegen 12. Januar marschieren regierungstreue Truppen in Berlin ein und schlagen den Aufstand brutal nieder. Der Aufenthaltsort von Liebknecht und Luxemburg wird ausgeforscht, die beiden werden festgenommen und erschossen. Genau 96 Jahre nach der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs, am 15. Januar 2015 feiert Tatjana Turanskyjs neuer Film Top Girl in der Volksbühne Berlin Kinopremiere. Die Berliner Volksbühne steht am Rosa-Luxemburg-Platz schräg vis-à-vis vom Karl-Liebknecht-Haus, dem Parteisitz der Parlamentspartei Die Linke. Am Nordwestrand des Platzes steht seit 2010 das L40, ein markanter schwarzer Klotz, ein Musterstück moderner Städtearchitektur, mit eindrucksvollem Blick auf die imposante Fassade der Volksbühne. In diesem Wohn- und Bürogebäude ist die Escort-Agentur untergebracht, der Helena, die Protagonistin von Top Girl, angehört. Ein Zufall? Wohl kaum, denn Top Girl versucht nicht bloß die Geschichte einer Endzwanzigerin zu erzählen, sondern auch ein Statement zur Lage der Nation abzugeben – das gelingt mäßig.

Julia Hummer in Top Girl

Julia Hummer ist Helena, in Teenagerjahren als Schauspielerin halbwegs erfolgreich, mittlerweile nur mehr gelegentlich bei Castings zu finden. Ihre Brötchen verdient die Alleinerzieherin als Escort-Dame. Das erlaubt Turanskyj einen Blick auf die Sexarbeit-Branche, und wie man es aus Filmen dieser Art kennt, darf auch hier die Montagesequenz der seltsamen Gestalten mit noch seltsameren sexuellen Vorlieben nicht fehlen – ein Schaulaufen der Freaks, die sich bei Fräulein Helena ihre perversen Wünsche erfüllen lassen. Das klingt rassig und sexy, ist es aber nicht. Selten hat man in einem Film über Sexarbeit so wenig Sex zu sehen bekommen, und tatsächlich gehören die Szenen, wo am meisten Haut zu sehen ist Helenas Mutter Lotte, die in einem total irrelevanten Subplot eine Affäre mit einem jüngeren Gesangsschüler beginnt. Lotte soll uns wohl etwas über die Rolle der Frau sagen, und dass es auch voll okay ist, wenn sich ältere Frauen jüngere Liebhaber nehmen und ihre Sexualität ausleben. Zur Sicherheit schiebt Turanskyj noch eine Szene ein, in der Mutter und Tochter einen Workshop zu genau diesem Thema besuchen – doppelt hält besser, Subtilität wird ohnehin überbewertet. Deshalb reicht es auch nicht, dass der Herr Gesangsschüler leicht zerrauft von Helena und ihrer Tochter in der Wohnung der Mutter vorgefunden wird, in einer voyeuristischen Einstellung durch einen Türspalt wird der „geheime“ Abschiedskuss gezeigt – doppelt hält besser.

Top Girl von Tatjana Turanskyj

Stichwort voyeuristisch: Mit der Vermeidung von expliziten Sexszenen umgeht der Film immerhin eine Art von Blickinszenierung, die die feministische Filmkritik gern „male gaze“ nennt. Dieser männliche Blick hat in einem Film, der so entschieden für die Ideale der feministischen Theorie eintritt (und auch das wiederum wenig subtil, durch seltsam eingeschobene Rezitationspartien à la Straub-Huillet) natürlich nichts verloren, womöglich fehlte aber schlicht die Befähigung eine Sexszene zu drehen, die ohne Pornokonventionen auskommt. Ein Blick auf die Arbeiten von Turanskyjs Kollegen und Kolleginnen der boomenden Feminist-Porn-Schiene hätte nicht geschadet. So wirkt das Ganze einfach zahnlos, ein weiterer Fall von „ich will, aber ich kann nicht“, wie man ihn in der deutschsprachigen Filmlandschaft nur zu oft findet. Eine Feminismus-Lehrstunde am Fallbeispiel der Helena, in der so offensichtlich keiner der Charaktere mit seiner Sexualität umgehen kann, dass es am Ende gar nicht mehr irritiert, wenn der Film so aufhört, wie er beginnt – mit nackten Frauen im Wald. Von  dieser exotisch-erotischen Rahmung darf man sich aber nicht täuschen lassen, denn so sehr der Film auch versucht eine Variation des Jeanne-Dielman-Effekts zu erzeugen, so wenig können diese entfremdet-distanzierten Gestalten und die platte, aufgesetzte Inszenierung irgendeine Art von emotionaler Reaktion hervorrufen.

Al doilea joc von Corneliu Porumboiu

Wenn einer der besten Filme des Kinojahres ohne Kameramann und Drehbuchautor entsteht, dann sollte man darüber nachdenken. In Corneliu Porumboius Al doilea joc sehen wir ein Fußballspiel zwischen Steaua Bukarest und Dinamo Bukarest. Es ist dies die Aufnahme einer alten VHS-Kassette aus dem Jahr 1988, die Bildqualität zergeht in den Informationen einer ausgeleierten Optik, aber man erkennt eine ungeahnte Schönheit im beständigen und unwirklichen Schneetreiben der rumänischen Hauptstadt. Zu hören ist-und hier kommt tatsächlich die Arbeit eines Cutters mit ins Spiel-ein die Bilder kommentierender Dialog zwischen Corneliu Porumboiu und seinem Vater Adrian, der die Partie vor 26 Jahren als Schiedsrichter leitete. Dieser Dialog, so gestand der Regisseur, wurde aus mehreren Takes zusammengeflickt. Außer dem Einlaufen der Spieler und einem tatsächlich mit hinzugefügter Musik unterlegten Ende des Spiels hat der Film also tatsächlich exakt die Länge eines Fußballspiels: 90 Minuten +/- Nachspielzeit.

Zwar sind und waren Paarungen zwischen Steaua und Dinamo immer von besonderem Charakter, zumal in der Ära von Ceaușescu somit das Team der Armee gegen jenes der Geheimpolizei antrat, aber ansonsten ist diese Partie wohl abgesehen vom heftigen Schneetreiben keinem Fußballfan in Rumänien in besonderer Erinnerung, ein normales Spiel, ein alltägliches Spiel aus einer großen Zeit des rumänischen Fußballs (Sport wurde besonders und mit allen Mitteln gefördert, weil er ein bestimmtes Bild des Kommunismus vermittelte, damit ist eines der zahlreichen Themen, über die Vater und Sohn hier sprechen auch ganz automatisch der Verfall des rumänischen Fußballs). Schon zu Beginn stellt sich natürlich die Frage, inwiefern ein solches Unterfangen überhaupt von einer filmischen Qualität sein kann, denn schließlich stehen weder Technik noch Inhalt für das Kino. Aber in der Kombination von Bild und Ton und vor allem ihrem Auseinander- und Zueinanderdriften entwickelt sich eine Ebene, die man schlichtweg als großes Kino bezeichnen kann. Hinzu kommt, dass Herr Porumboiu wie bereits in seinem grandiosen Debut A fost sau n-a fost? die zeitliche Geschlossenheit einer TV-Übertragung als rhythmisch-dramatisches Element für seinen Film benutzt. Und wie in seinem vorletzten Film Când se lasa seara peste Bucuresti sau metabolism legt er gleichzeitig einen selbstreflexiven Spiegel auf sein eigenes Schaffen und jenes des Mediums, das er dafür benutzt. Der Schnee, der mit den zum Teil absurden Zensurschnitten des staatlichen Fernsehens, die bei körperlichen Auseinandersetzungen auf dem Spielfeld auf die starren vereisten Zuseher schneiden, eine betonendes Element bekommt, gibt dem Spiel eine ästhetische Qualität, die man so nicht erwartet hätte. Ein VHS-Baum ist mehrfach im Bild, im Hintergrund stehen kaltgefrorene Polizisten und das weiße Rauschen legt sich über das Spiel wie die Zeit selbst, ein sinnlicher, spürbarer Genuss, der auch die Bewegungen von Ball und Spielern in einer Art entfremdet, die man im professionellen Fußball selten sieht.

Porumboiu Steaua Bukarest

Vielleicht ist es aber sowieso der Fußball selbst, der einiges an künstlerischem Potenzial aufweist, was meist unter dem Zirkusspektakel und Gejohle von Fans begraben wird. Herr Porumboiu besitzt den sensiblen Filter, der auf jene ästhetischen und philosophischen Aspekte des Spiels eingeht. Damit steht er sicherlich nicht alleine. So hat die Cahiers du Cinéma im Sommer anlässlich der Fußballweltmeisterschaften die unterschiedlichen Regisseure der TV-Übertragungen nach auteuristischen Merkmalen untersucht und die jeweiligen Übertragungen nach formalen Gesichtspunkten wie der Länge von Einstellungen und der Häufigkeit von Zwischenschnitten untersucht. Ich habe mich darin versucht, den Freeze-Frame zwischen Fußball und Kino zu betrachten. Auch erinnerte mich Al doilea joc an eine legendäre TV-Übertragung einer Partie zwischen Bayern München und Borussia Dortmund im Pay-TV (damals noch: Premiere). Man konnte bei diesem Spiel zwischen zwei unterschiedlichen Tonspuren wählen. Auf einer kommentierte Marcel Reif das Geschehen und auf der anderen das Duo Michael Bully Herbig und Stefan Raab. In der ersten Hälfte kommentierten die beiden Komiker noch das Geschehen, sie rissen ihre Witze und hatten einen großen Spaß bei einem ziemlich unvergesslichen Spiel. In der Halbzeit entschieden sie sich dann, eine Pizza zu bestellen und verweigerten zu großen Teilen der zweiten Hälfte jeglichen Kommentar des durchaus dramatischen Geschehens. Auch das war gewissermaßen Kino. Wie bei Herrn Porumboiu entfaltete sich eine Dynamik, die auch jenseits des Spiels hätte stattfinden können, aber nur mit den Augen auf dieses Spiel so stattgefunden hat. Zwar ist in Al doilea joc der Kommentar des tatsächlich sichtbaren Bilds deutlich relevanter, aber die von merkwürdigen Schweigepassagen und zärtlichem Humor bestimmte Vater-Sohn Beziehung, die hier im Rahmen des Spiels entsteht, gibt zu denken. Zum einen, weil man hier einen Sohn hat, der seinen Beruf ausübt und sich während seiner Tätigkeit mit dem Beruf seines Vaters auseinandersetzt. Dadurch werden Parallelen zwischen beiden Berufen offengelegt und Denkweisen verglichen. Hier wäre die ausgiebige Diskussion der Vorteilsregel nennenswert, die Adrian bis zur Schmerzgrenze sehr konsequent anwendete. Es ging ihm dabei um den Fluss des Spiels, das Weitergehen, also wie die Zeit, wie das Kino. Statt einer Unterbrechung der Welt geht die Zeit weiter. Die Dinge verändern sich, aber sie laufen weiter. Inwiefern sich also die Aufgaben eines Regisseurs und eines Schiedsrichters ähneln,, ist eine der Fragen des Films. Wenn man Zeit-und so macht man das vernünftigerweise-als einen Motor des Kinos betrachtet, ist klar, dass die Bedeutung ihres Kontinuums eine große Rolle spielen muss und gerade im zeitgenössischen rumänischen Kino und im Schaffen von Porumboiu spielt die Idee einer zeitlichen Geschlossenheit und Kontinuität eine herausragende Rolle.

Zum anderen ist das private Gespräch abseits jeglicher Kameras von einer Natürlichkeit und Alltäglichkeit geprägt, die tatsächlich in das Leben zwischen diesen beiden Menschen blicken kann. Der Blick auf ein drittes Bild, das in Relation zu diesen beiden Menschen steht, ist dabei von entscheidender Bedeutung, denn das Fußballspiel ist Grund für den Film und Vergangenheit des Vaters zugleich. Neben den unterschiedlichen Welten und Perspektiven treffen hier also auch unterschiedliche Zeiten von Vater und Sohn aufeinander. Natürlich ist man versucht sofort die politische Karte zu spielen, sicherlich wählt Porumboiu auch nicht nur wegen des Schneefalls ein Spiel aus dem Jahr 1988 aus. Aber seine Angst als Kind, von der er einmal spricht und die professionelle Nüchternheit seines Vaters gegenüber dieser Vergangenheit bewegen sich auf einer Rasierklinge des Unaussprechbaren (der Vater erzählt wie es lief und was er tat, Emotionen scheinen damit nicht verbunden zu sein.). Damit ist Al doilea joc ein zutiefst trauriger Film. Er erzählt davon, wie schwer es ist, mit unseren Söhnen und unseren Vätern zu kommunizieren. In Juventude em marcha von Pedro Costa gibt es diese Szene zwischen Vanda und Ventura, in der die beiden minutenlang nebeneinander auf einem Bett sitzen und liegen und in einen Fernsehschirm Off-Screen blicken. Ihre Kommunikation reduziert sich auf die Bilder. Herr Porumboiu dreht dieses Bild um, er zeigt uns nur den Fernsehbildschirm, aber die Kommunikation ist dieselbe. Selbstverständlich wirkt dies zunächst anders, da der Regisseur mit einigen konkreten Fragen versucht, seinen Vater aus der Reserve zu locken. Aber gerade in der zweiten Halbzeit werden die Passagen des Schweigens länger und eine triste Leere legt sich über die Gegenwärtigkeit des Spiels. Hier reduziert sich der Dialog oft auf kurze Bemerkungen zum Spiel, kritische Seitenhiebe bezüglich einer Schiedsrichterentscheidung und einer gewissen Bewunderung der Geschwindigkeit des Spiels. Damit ist es das dritte Bild einer verzehrten und irgendwie unterschiedlichen Vergangenheit das Vater und Sohn hier fast gewaltvoll, in Form eines Films zusammenbringt.

Al doilea joc

Al doilea joc ist auch ein Film über die Möglichkeit eines Films. Vor dem Gespräch besteht einzig das Potenzial eines Films, der erst im Gespräch zur Realität werden kann. Damit macht Herr Porumboiu die Zeit schon in der Herstellung seines Films zu einem Hauptcharakter. Gerade in einer Zeit, in der Originalität und Individualität als unhaltbar hohe Werte im Filmschaffen hochgehalten werden, zeigt Herr Porumboiu bereits zum vermehrten Mal, dass die Absurdität des Alltags das ganze Kino umarmen kann. Er geht nur insofern einen Schritt weiter, indem er beweist, dass er dafür keine Kamera braucht. Ein Found Footage-Beckett sozusagen. Wenn Herr Porumboiu an einer Stelle das laufende Spiel mit einem seiner Filme vergleicht, weil da genauso wenig passiert, dann sieht man ihn fast schelmisch grinsend hinter dem Mikrofon. Dieser hors champs der Stimmen, die wir da hören, ist auch deshalb so bemerkenswert, weil wir das jüngere Abbild eines Mannes sehen während wir von seiner Gegenwart nur noch eine Stimme haben, als Echo einer verdrängten Vergangenheit, die politisch oder persönlich oder beides sein kann. Welches Bild setzt sich in einem Kopf fest? Der Fußball ist deshalb so ein geeignetes Ereignis für diese Fragen, weil er zugleich ein flüchtiger Sport ist, in dem die Helden von heute in einer Woche vielleicht nur noch Ersatzspieler sind und er trotzdem so unheimlich auf Legendenbildung und Historizität baut. Dies wird auch an einer Stelle im Film thematisiert. Das Bild dieses Mannes sehen wir, aber nur das vergangene Bild. Dieses Bild wird aber wieder gegenwärtig im Film, damit belebt der Sohn die Vergangenheit des Vaters und wir erleben den Prozess dieser Wiederbelebung. In diesem Sinn ist Al doilea joc ein schöner, zärtlicher Film.

Anmerkungen: Vor längerer Zeit habe ich einen kurzen Text zum Schaffen von Porumboiu verfasst. Hier der Link

Feuerwerk am helllichten Tage von Diao Yinan

Es gehört normalerweise zur Politik von „Jugend ohne Film“, Filme mit ihrem Originaltitel zu benennen beziehungsweise, bei Sprachen, die nicht westliche Schriftzeichen verwenden, den englischen Verleihtitel. Im Fall des Berlinale-Gewinners „Feuerwerk am helllichten Tage“ müssen wir aber eine Ausnahme machen, da der deutsche Titel hier zum einen deutlich näher an der Übersetzung des Originaltitels ist und zum anderen deutlich näher am Film. Denn zum einen prasselt ein regelrechtes Feuerwerk der Wendungen und Überraschungen auf den aufmerksamen Zuschauer ein und zum anderen steht das Feuerwerk am helllichten Tage für Orte und Ereignisse im Film und vor allem für dieses andauernde Gefühl, dass da etwas ist, was man sieht, aber nicht völlig erkennen kann. Das politische Potenzial dieses chinesischen Films ist auf ein ungutes Gefühl verlagert. Damit manövriert sich Diao Yinan so gut es eben geht vorbei an der Zensur seines Landes und macht einen Film, indem es immer noch einen doppelten Boden zu geben scheint bis wir von unserem Verhältnis zu den Bildern selbst sprechen können, das nie ganz sicher ist.

Black Coal, Thin Ice

Der Film erzählt von einer Mordserie in einer trostlosen Arbeitsgegend im Norden Chinas. Es gibt die Neonlichter, die wir aus chinesischen Filmen kennen, aber sie sind spärlich und sie stehen oft als trostlose Dekorationen in den Ecken der grauen Innenräume. Die Handlung beginnt im Jahr 1999 mit der Entdeckung einer zerstückelten Leiche und führt mit fünf Jahren Verspätung auf die Spur einer Frau, die in einem Reinigungsgeschäft arbeitet. Zuvor erlitt Polizist Zhang Zili ein Trauma, da bei der versuchten Verhaftung eines Verdächtigen zwei Kollegen erschossen wurden. Ganz im Stil alter Noir-Klassiker, versucht er seine Sorgen zunächst mit Alkohol in den Griff zu bekommen. In einer beeindruckenden Szene entdecken wir den zerstörten Mann im Jahr 2004 wieder. Wir verlassen einen Tunnel mit einer POV-Einstellung von einem Moped. Wir wissen nicht, wessen POV wir sehen. Plötzlich liegt da Schnee auf der Straße, ein kleiner Schock. Rechts taucht ein Mann am Straßenrand auf. Er liegt völlig betrunken neben seinem Motorrad. Unser POV fährt an ihm vorbei, verlangsamt dabei sein Tempo und dreht langsam um. Erst jetzt erfahren wir, dass es sich um das Jahr 2004 handelt, eine Grafik zeigt es uns an. Wir fahren noch kurz im Kreis und halten dann. Der POV ist jener eines Unbekannten, der das Motorrad des Mannes am Straßenrand stehlen wird und ihm dafür sein Moped überlässt. Wie wir inzwischen erwartet haben, ist der Mann am Straßenrand unser Protagonist. In der Folge rutscht er wieder in die düsteren Welten der Verbrechensbekämpfung und lernt eine gerade durch ihr scheinbare Unscheinbarkeit unberechenbare Femme Fatale kennen: Wu Zhizhen. Sie ist die Hauptverdächtige.

Immer wieder fließen die Übergänge kaum merklich, aber doch fatal durch den Film. Die Zeit ist eine Frage bei Diao Yinan. Nacht und Tag verschwimmen. Der Winter droht, eine ewige Jahreszeit zu werden. Auch der Zeitsprung von 1999 auf 2004 ist ein in sich gekehrtes Gefängnis. Durch den neuen Präsidenten und die damit einhergehenden politischen Veränderungen hat Diao Yinan sicherlich eine bewusste Entscheidung für einen solchen Zeitsprung gewählt, aber er verkehrt sich in einen nostalgischen Existentialismus und ein Überdauern der Zeit, denn unter dem Schutt verbergen sich noch Verbrechen genau wie unter den Bäumen und in den Erinnerungen. Der Film steckt voller vergrabener Dinge, die zwar von der Zeit gezeichnet werden, aber dennoch nie ganz an ihr vorbeihuschen können. Ganz so wie das Moped schon an dem Mann vorbeigefahren ist, aber dann doch noch einmal umdreht. Die Handlungen selbst ereignen sich oft als Zufälle. So geschieht der Mord an den beiden Polizisten zu Beginn nur durch einen Zufall, da die Pistole des Verbrechers aus seiner Jacke vor seine Füße fällt und auch die Ermittlungsarbeit von Zhang ist geprägt von intuitiven Aktionen und spontanen Einfällen und Beobachtungen. Sämtliche Nebenfiguren und Schauplätze sind derart deformiert, dass man irgendwann dem eigenen Blick nicht mehr traut. In einer Dusche bei Arbeitern der Kohlefabrik duscht ein Mann mit T-Shirt über den Kopf gezogen, ein anderer liegt nackt mitten im Raum. So blicken wir auch immer wieder durch angelaufene Fenster, Spiegel oder in Dutch-Angle Perspektiven (ein weiterer Noir-Verweis) auf das Geschehen. Die Wäschereinigung selbst wird nie in derselben Einstellung zweimal gezeigt. Jeder Establishing-Shot des Gebäudes liefert eine neue Perspektive und vielleicht auch eine neue Wahrheit. Wahrscheinlich geht es zu weit das eindrücklichste Mordinstrument des Films, nämlich Kufen von Schlittschuhen, als eine solche neue Perspektive zu betrachten. Schließlich ist es nicht nur eine Zweckentfremdung eines Gegenstandes, sondern dieser Gegenstand befindet sich gewöhnlich unter unseren Füßen, jenseits unserer Blicke. Einmal sehen wir dann, was ein Kollege von Zhang nicht sieht. Ein klassischer Suspense-Moment als ein potenzieller Mörder sich hinter dem Rücken des Polizisten auf einen Angriff vorbereitet in einer rot-beleuchteten Ecke am Rand der Welt.Die Einstellung ist wie so oft im Film eine tableauartige 2er-Einstellung in einer Halbtotale. Handlungen vollziehen sich immer im Raum, nie nur für die Kamera.

Black Coal, Thin Ice3

„Feuerwerk am helllichten Tage“ entfaltet eine Sogwirkung als Fest des Neo(n)-Noir-Thrillers. Fast in jede Szene packt der Regisseur einen kleinen oder großen Twist und vor allem seine Raumsprache ist beeindruckend. So offenbart fast jeder Raum im Film noch ein Geheimnis. Dieses wird manchmal durch Blicke aufgelöst, beispielsweise als Zhang und Wu in einem Riesenrad sitzen und erst nach einiger Zeit klar wird, was man von dort sehen kann und warum sie überhaupt dort sitzen. Zum anderen natürlich durch Bewegung der Figuren wie als sich plötzlich ein kleiner Weg abseits der Eislauffläche offenbart oder durch die Flucht aus einem Restaurant in einen Tanzkeller. Schließlich werden die Räume auch durch Montage und die effektiven Kamerabewegungen, die oft der Logik des Blicks (= Logik des Kinos) folgen, dynamisiert. Immer wenn man glaubt, dass man einen Raum wahrgenommen hat, gibt es einen Schnitt oder eine Bewegung, die einen alles anders sehen lässt. Das fesselnde Ende des Films steckt voller solcher Momente bis man nur noch festhalten kann, dass man nie alles sehen wird. Oder? Sinnbildlich dafür steht eine bemerkenswerte Einstellung in einem Zug. In der Tiefe des Bildes ist durch den Übergang zwischen zwei Wägen, der hintere Wagen zu sehen, der sich aufgrund der kurvigen Gleise immerzu dreht und somit immer wieder unseren Blick auf den Raum verändert. Ähnlich verhält es sich auch auf dramaturgischer Ebene mit den Figuren und ihren Relationen. Die Neigung des Films zu absurden Situationen (man hat das Gefühl, dass frühe Coen-Filme hier Pate standen) und Over-the-Top Momenten hilft dabei, die Unberechenbarkeit aufrecht zu erhalten. Wer hätte gedacht, dass es im Riesenrad zu einer Sexszene kommen würde? Wer hätte gedacht, dass Zhang einen Denis Lavant-Gedächtnis-Tanz hinlegt? Schwarzer Humor dringt immer in das größte Drama und plötzliche Spannung in eigentlich entspannte Szenen. Erwartungen werden in fulminanter Art pulverisiert und alles was einem bleibt, ist dabei zu sein.

Dabei setzt Diao Yinan im Casting und beim Setting auf eine sozialrealistische Alltäglichkeit, die seine Figuren zu irrelevanten Geistern werden lässt. Gefesselt an den Schnee, der heftig vom Himmel kommt, sind sie nicht strahlend, sie bekommen keine Highlights, sie stehen in der Landschaft, die immer ein wenig größer ist als sie selbst. Vielleicht geht dabei ein wenig Noir-Glamour verloren, weil die Faszination an der geheimnisvollen Frau eher aus einer Langeweile und Frustration geschieht, aber vielleicht liegt genau darin auch eine weitere große Qualität des Films. Ein Noir, der außer in einer Szene fast komplett auf Augen verzichtet, der die Zeit nicht mit dem Rauch aus den Mundwinkeln verlangsamt und der nicht schön sein will, sondern es einfach ist. Bei allter Nüchternheit dringt Poesie und ästhetische Schönheit trotzdem durch jedes Bild. Bei aller Kritik, der sich die Berlinale immer wieder stellen muss, sei gesagt, dass sie in diesem Jahrzehnt bei fünf Goldenen Bären, viermal große Filme ausgezeichnet haben, die einen solchen Preis auch absolut verdienen: „Bal“ von Semih Semih Kaplanoğlu, „Nader and Simin, A Separation“ von Asghar Farhadi, „Poziția Copilului“ von Călin Peter Netzer und 2014 „Feuerwerk am helllichten Tage“ von Diao Yinan. Cannes und Venedig scheinen mir keine solche Quote zu haben. Aber so richtig wird man das erst in 50 Jahren wissen.