“In other words, this morning, I went to church alone”

Forum Expanded Gruppenausstellung: An Atypical Orbit

von Florian Weigl

Der Eingang ist ein Abstieg. Ich scanne mein Ticket und gehe im sanften Gefälle einen Schacht hinunter, der mich tiefer unter die Erde des ehemaligen Krematoriums im silent green trägt. Der Tod ist hier längst Event geworden, nahtlos eingefädelt in die Pragmatik eines Kulturquartiers. So wie das silent green mit seiner Kuppelhalle seit seiner Einweihung in 2013 ein fester Spielort des Forum Expanded ist, ist auch die Betonhalle — ein unterirdischer Hallenkomplex unter dem silent green — seit ihrer Fertigstellung in 2019 fester Ort für die Gruppenausstellung. Das Forum Expanded hat sich mit seiner Gründung 2006 vor allem den Spielweisen des Films verschrieben, die dessen Zwischenräume ausloten. Dies meinte immer auch Installationen, Videoarbeiten und eine allgemeine Nähe zu den Galerien als Orte, die sich mit dem Kino überschneiden. Dieses Jahr steht die Ausstellung unter dem Titel An Atypical Orbit und beschäftigt sich mit „künstlerische Positionen, die sich mit zeitlichen und räumlichen Gräben konfrontiert sehen, die überbrückt oder ausgehalten werden müssen.“

Die erste Installation ist am Ende des Schachts über den Eingang zu der Halle projiziert. Man sieht ein mittelaltes vietnamesischen Paar, auf einer Matratze träumen. Es sind langsame, schlafsichere Bilder, die einen beruhigen, aber in der Weite des Gangs etwas verloren gehen. (Es handelt sich wie ich auf dem Rückweg herausfinde um Dreams – der ersten von fünf Arbeiten Tenzin Phuntsongs.) Etwas versteckt in der Ecke und nicht offiziell Teil des Programms wartet zuerst eine Installation von Michael Snow, Puccini Conservato, die als eine posthume Würdigung für den kürzlich verstorbenen Filmemacher und Künstler ausgestellt ist. Das Werk wird hier tonlos auf einem alten 4:3 Röhrenfernseher gezeigt. In dem Film spielt Snow etwas Puccini auf einem PANASONIC-CD-Spieler und versucht, den Rhythmus der Musik mit seiner handgeführten Kamera nachzuahmen, ehe er Versatzstücke von Naturaufnahmen zwischenschneidet: eine Blumenwiese, Brennholz im Kamin. Nimmt man diesem Konzept jedoch die Musik, bleibt nur eine schnelle Abnutzung von Oberflächen, die sich nur begrenzt von selbst poetisieren.

Im Foyer mit seiner verlassenen Bar ist ein Tribut für den 2022 verstorbenen Takahiko Iimuras aufgebaut. Eine Sechs-Kanal-Videoinstallation versucht, das erste vom Arsenal aufgeführte Programm seiner Werke zu rekonstruieren. Iimura war einer der Pioniere der Videotechnik, das Arsenal aber damals noch nicht in der Lage, diese auf eine Leinwand zu projizieren. So wurden kurzerhand sechs Röhrenfernseher angeschafft und miteinander verbunden, um die Werke zeigen zu können. Eine Anordnung, die auch im silent green reproduziert wird. Gezeigt werden vier Arbeiten – A Chair, Blinking, Time Tunnel und I Am (Not) Takahiko Iimura, I Am (Not) Akiko Iimura – von denen ich Blinking, einen zweiminütigen Flickerfilm, der die üblichen Fernsehtestbilder in seine Frequenz einarbeitet, am besten finde. I Am / I Am (Not) ist die Art von struktureller Arbeit, die in der Formstrenge ihrer Konzeption ihre Schönheit und Schwäche hat. Die Kamera rotiert um Takahiko und Akiko Iimura, während jede Einstellung mit einem Sprechakt gleichgesetzt wird, der die Identität entweder negiert, auffängt, spiegelt, oder auf den Zuschauer abschiebt. Der Witz ist, dass es keine lineare Korrelation zwischen der Einstellung und der Einschreibung gibt, sondern jede Perspektive einmal durchgespielt wird, was das Endergebnis aber auch wortwörtlich um sich selbst kreisen lässt. Time Tunnel, der mit 32 Minuten längste Film im Programm, verfolgt einen ähnlichen strukturellen Ansatz. Als Zeitreisefilm mit Licht und Countdown, entfaltet er schnell einen hypnotischen Sog. Es sind die Verstolperer, die Ungereimtheiten in denen sich der Rhythmus zurücksetzt und neu formatiert, die mich einnehmen. Menschen kommen, setzen sich, gehen wieder. Erst nach etwa zwanzig Minuten löse ich mich, gehe weiter in den Hauptraum und bin überfordert.

Time Tunnel: Takahiko Iimura at Kino Arsenal, 18. April 1973

Der Ton ist ein Zusammenprall aller Werke. Er schwimmt von einer Installation zur anderen, mischt sich ein, zieht dann auch wieder ab, nur um an anderen Orten erneut überraschend aufzutauchen. Es ist diese Gleichzeitigkeit an Gefühlen und Eindrücken, die es auszuhalten und einzuordnen gilt. Die Werke sind jeweils auf einer der drei Wände verlagert. Links Eduardo Williams A Very Long Gif, mittig Wali Raads Comrade leader, comrade leader, how nice to see you und rechts die verbleibenden Arbeiten von Tenzin Phuntsong; eine Zwei-Kanal-Videoinstallation namens Father Mother und drei Einzelkanalinstallationen (Summer Grass, Dancing Boy und Achala). Williams Werk ist mit Abstand das bekannteste der drei Künstler und mit 72 Minuten auch das längste Werk der Ausstellung. Es ist entgegen des Titels kein .gif, sondern eine Videoinstallation mit drei teilweise changierenden Kreisen. Der größte, mittlere Kreis zeigt Aufnahmen einer pillenförmigen Kamera, die Williams geschluckt hat und die ihren Weg durch seinen Verdauungstrakt macht. Die beiden kleineren Kreise sind Loops von Alltagsszenen, aufgenommen mit einem Teleobjektiv. Ein Wechselspiel der Intimitäten. Die Aufnahmen haben einen Grad der Abstraktheit, der die Verortung unmöglich macht, ohne komplett die Körperlichkeit aufzugeben. Hier wird das Bild im wörtlichsten Sinne produziert.

A Very Long Gif

Die Arbeit wurde wegen der abstrakten Qualität der Körperaufnahmen mit Lucien Castaing-Taylors und Véréna Paravels De Humani Corporis Fabrica verglichen, findet im Kontext der Ausstellung aber seine natürliche Spannung im Dialog mit Phuntsongs Einzelinstallationen, zu denen ich nach einer Weile hinüberwandere. Braucht Williams für seinen Intimitätsentwurf die Größe der Galerie, bleibt Phuntsong bei den Smartphones. Durch das einjährige Verbot von WeChat in den USA, das die Kommunikation zwischen Phuntsong und seiner Familie abschnitt, wird das Alltägliche hier zum Schatz erhoben und die Kästen teilweise mit Jade verziert. Die Aufnahmen haben eine Unmittelbarkeit, die seinen Videoarbeiten durch ihre Bildgröße schlicht fehlt. Meine liebste dieser Aufnahmen ist Summer Grass. Man sieht Eindrücke aus der Mongolei, das Weideland, die Schafe, die Herdenhunde, die Arbeit. Einmal gibt es einen Cut und wir sehen eine handgehaltene Einstellung, während die Kamera auf dem Pferd mitreitet. Das Kernproblem in der Rezeption ethnographischer Arbeiten ist oft, dass man tendenziell mehr in den Bildern lesen will, als was sie eigentlich zeigen wollen oder können. Ich lächle und schaue zurück zu A Very Long Gif, wo der Körper nun dem Ozean gewichen ist, in einer noch größeren Bewegung aufgeht. Die beiden äußeren Kreise wechseln Positionen, entfernen sich langsam aus dem Frame, doch die Wellen bleiben beständig. Dann wird der Bildschirm schwarz. Der Film startet von vorne. Ich sehe einen Raum in einem Krankenhaus, Williams und seinen Partner, ein Doktor. Die pillenförmige Kamera wird dem Filmemacher gereicht, ein kurzes Lächeln, dann ist sie geschluckt und die Körperwelten beginnen von vorne. Ich frage mich, wo die Grenzen dieses „Aushaltens“ sind, wo die Arbeiten sich erlauben zusammenzubrechen und nicht mehr von vorne beginnen, aber finde keine Antworten.

Zwischen den Arbeiten Williams und Phuntsong, spielt Wali Raads Comrade leader, comrade leader, how nice to see you ein einminütiger Zwei-Kanal Loop. Raad projiziert Wasserfälle an die Wand, die von der Decke zum Boden fließen und wegen ihrer Größe bereits aus der Vorhalle erkennbar sind. Nähert man sich ihnen, erkennt man kleine Pappstatuen ehemaliger Anführer, die am Boden positioniert sind und von der Wassermenge erschlagen wirken. Die Tafel auf der Seite erklärt, dass die zahlreichen Milizen, die sich während den libanesischen Kriegen formten, die Wasserfälle nach den politischen Anführern der Länder benannten, die sie unterstützen. Als sich die Allianzen änderten, wurden die Wasserfälle schlicht umbenannt. Wieder und wieder und wieder. Heute sind die Wasserfälle im Lebanon als „Fickle Falls“ bekannt. Raad versucht bewusst nicht Bedeutungshoheit zurückzugewinnen, sondern die Ironie dieses Unterfangens aufzuzeigen. Eine kleine, große Arbeit.

Comrade leader, comrade leader, how nice to see you

Etwas abgeschirmt am Ende des Rundgangs wird Tamer El Saids Borrowing A Family Album gezeigt. El Said arbeitet dabei mit Erinnerungsformationen, versucht das Persönliche im Familienarchiv einer griechischen Familie zu finden. El Said hatte eine Schwester, Eman, die, als sie vier oder fünf Jahre alt war, verschwand. Spielzeug, Bilder, Name. El Said war sich ihrer Existenz deswegen lange Zeit unsicher, erfand neue Erinnerungen und Projektionsflächen, um sie am Leben zu halten. Als er 14 wird, erwähnt ein Verwandter versehentlich ihren Tod. Borrowing A Family Album spielt mit diesen Ersatzerinnerungen, in denen die eigene Geschichte in den Dokumenten anderer fortgeschrieben wird.

Die Installation selbst ist raumgreifend und komplex. Es ist eine Sechs-Kanal-Videoinstallation von Super8-Aufnahmen des Familienarchivs. (Ein Kind lernt laufen. Der Vater lächelt breit und führt es an den Händen.) Ein Fototisch mit Aufnahmen aus dem Familienalbum und zwei kleinere Loops. Darauf ebenfalls zwei Fotoalben mit Abzügen aus dem Familienalbum und die Bitte an die Besucher, ihre Assoziationen zu den Bildern zu teilen. Die Fotoalben sind fast bis zum Ende hin gefüllt. In Chinesisch, Koreanisch, Deutsch, Spanisch, Italienisch und mehr oder weniger festem Englisch. Manche beschreiben nur die Bilder, andere schreiben aus der Perspektive der griechischen Familie, viele werden persönlich. Ich will diesen Beitrag, darum auch mit fremden Worten schließen. Sie gehören einem roten Buntstift, der circa fünf Einträge in dem Fotobuch hinterlassen hat. In Chinesisch und Englisch. Manchmal sogar in Ergänzung oder als Kommentar zu fremden Einträgen. Die Perspektive ist hier grammatikalisch nie so klar: es wird sowohl fantasiert als auch projiziert. Erzählt und erfunden. Der Eintrag und dessen Schlusszeile, die auch den Titel dieses Beitrags ausmacht, ist zu einem der bemerkenswertesten Bilder geschrieben worden. Ein Kind balanciert auf der Stange einer Brücke. Der Schritt ist gelangweilt, die Hände sacht an den Seiten gehalten. So selbstverständlich, als könnte es nie stolpern oder fallen. Der Text erzählt romantisch von der Freiheit und der Einsamkeit, beschreibt sie als allumfassend und uns strukturierend. “I find breath, I catch air. I see myself fully. Each silent moment. – ”

Borrowing A Family Album

Ohne Spiegel (oder Pille)

The Man Who Envied Women von Yvonne Rainer

Woher weiß ich, wie alt ich bin, wenn ich keinen Spiegel oder gar Kalender habe? Wenn mir keine Falte oder Jahreszahl sagt, wo ich mich in meinem Leben befinde?

Wie stellt sich ein Gefühl für Zeit her, das keine solche Repräsentation benötigt? Und was bedeutet die Abwesenheit dieser visuellen Determination im Film?

Was passiert, wenn ich das erzählende Gegenüber nicht sehen, sondern nur hören kann? Wenn ich kein Raster habe, in das ich es bildlich einordnen, unterordnen kann?

Yvonne Rainer konfrontiert uns mit dem Potential dieser Leerstelle in ihrem Film The Man Who Envied Women, indem sie ihre Sprecherinnen überwiegend körperlos erscheinen lässt. Abwechselnd kreisen deren Stimmen dabei um Alltägliches (Beziehungen, Wohnungskrise, politisches Geschehen) wie um Abstraktes (Macht, Begehren, Sprache). Die meist körperlosen Frauen* üben Kritik an der Bestimmtheit männlich-dominierter Diskurse. Es entsteht ein polyphoner Gedankenstrom als eine essayistisch-performative Reflexion über verschiedene Wissensformen, die Möglichkeiten von Körperlichkeit und Kommunikation sowie deren Widersprüche.

Die Erzählerin ist Trisha (Trisha Brown), die auf ungewöhnliche, kluge Weise mit einem Mann abrechnet, mit dem sie fünf Jahre zusammen war. Dieser Mann, Jack, wird gleich von zwei Männern verkörpert. Sie laufen mit Kopfhörern durch die Gegend und hören nicht, was die Menschen auf den New Yorker Straßen zu sagen haben. Die kritisch-beiläufigen Gesprächsfetzen gliedern das Geschehen, das sich aus verschiedenen Figuren und Textformen speist.

Während Trisha angenehm unbestimmt bleibt, verstrickt sich der titelgebende Mann, Akademiker und selbst ernannter „Womanizer“ zusehends in seinen Worten und gibt dabei vor allem die wortgewaltige Lächerlichkeit seines Selbstbewusstseins Preis. Dabei wird er mit seinem eigenen Referenzsystem geschlagen; Psychoanalyse und (Post)Strukturalismus sind die großen Denksysteme, die hier, ganz zweideutig, im Sinne feministischer Filmtheorie vorgeführt werden. Diese war von Beginn an besonders an Fragen von Blick- und Machtstrukturen, von Subjektwerdung und Positionierungen interessiert, die im Film durch die Überlagerung verschiedener Bild- und Tonebenen zum Ausdruck kommen.

Dass sich die Frauen dabei vermehrt der Leinwand entziehen, ist ein außerordentlicher und doch so simpler Kniff, der mich begeistert; als Verweigerung der visuellen (Über)Repräsentation und Determination des Weiblich-Körperlichen. Sind akusmatische, also bildlich-abwesend sprechende Wesen, meist männlich, wird hier diese machtvolle Position gekonnt eingenommen. Die körperliche Ungebundenheit eines Sprachaktes korrespondiert mit einer bestimmten Vorstellung von Allmacht und -Wissen, von der das Weibliche aus der (Film)geschichte überwiegend ausgeschlossen wurde. Der kaum unterbrochene Rede- und Gedankenfluss kommentiert diesen Tatbestand und entlarvt dabei humorvoll paternalistisches Redeverhalten.

Identität wird dabei dekliniert durch eine Collage aus Zitaten, die aus Gesprächen, Monologen und Büchern stammen, deren Zuordnung wir scheinbar nicht bedürfen. Denn Dekonstruktion von Macht heißt hier, auf die Herkunft von Gedanken zu verzichten und sie, um ihres Zusammenspiels willen, zu benutzen. So scheint in dieser Auffassung der einzelne Gedanke als bescheidend, festlegend, kurz: defizitär. Demgegenüber steht ein Schauspiel des Denkens, das sich immer wieder neu konfiguriert.

An der Wand ändert sich die Konstellation der Bilder, Zeitungsartikel und Plakate, die das Netz des Filmes aufspannen. Ein anderes Layout ergibt einen anderen Ausschnitt; von sexistischem Journalismus und Werbung für Hormontherapie in der Menopause, über die brutalen US-amerikanischen Interventionen in Mittelamerika bis zur future-feministischen Antwort in Lizzy Bordens Sci-Fi-Film Born in Flames. Es ist ein parataktisches Denken, das nicht unterordnet, sondern sucht, nach Verbindungen und Komplizinnenschaft; nach einer „Awomenliness“, wie es am Schluss heißt.

Nicht nur Rainer selbst beschreibt ihr Vorhaben, eine Art Zeitgeist der späten 1970er und frühen 1980er-Jahre einzufangen, als ambitioniert. Dass die Fragen, die da gestellt werden, 2023 jedoch nicht obsolet sind, muss ich gar nicht schreiben. Und was mit Frauen vor und nach der Menopause passiert, sollte keine Frage des Alters sein. Genauso wenig wie die Frage danach, wie wir leben wollen, von unserem Einkommen abhängig sein sollte.

Über Werden und Geworden-sein im Coming-of-Age-Film

Coming-of-Age-Filme, denen die Berlinale ihre diesjährige Retrospektive gewidmet hat, sind Filme über das Werden. Sie werfen ihren Blick auf den bedeutsamen wie flüchtigen Übergangszustand des Heranwachsens, für den das Auge der Kamera wie gemacht zu sein scheint. Doch nur die wenigsten dieser Filme setzen sich der Fragilität und Ambivalenz der Alterungsprozesse in dieser Zeitspanne wirklich aus. In den meisten Fällen wird das Werden vielmehr aus der allzu sicheren Distanz eines Geworden-seins betrachtet. So wie nahezu jeder Coming-of-Age-Film durchweg von Erwachsenen geschrieben, gedreht und geschnitten wurde, so spielt der Prozess des Heranwachsens in der Regel erst dann eine Rolle, wenn die Schwelle des Erwachsenseins überschritten ist. Der Veränderung wird ihre Bedeutung erst retrospektiv verliehen, wenn sie sich in der Erzählung der gelernten Lektion, des gereiften Lebens weiß. Es verwundert nicht, dass sich das Genre im Wesentlichen in den USA ausdifferenzierte, wo jeder Drehbuchratgeber vom Mythos der linearen Charakterentwicklung fabuliert. Der auf den ersten Blick in der Berlinale-Retrospektive deplatziert wirkende Groundhog Day steht in diesem Sinne emblematisch für die konventionelle Logik des Genres ein. Das Werden selbst, das Fortlaufen des Tages, stellt sich für Phil Connors (Bill Murray) als Albtraum einer endlosen Dauerschleife dar. Jeder Morgen bietet einen schier unendlichen Spielraum möglicher Entwicklungen, die doch alle ins selbe Nichts münden. Eine Erlösung bietet sich dem zum ewigen Werden Verdammten erst, als er einen bleibenden Sinn für sein Leben findet. Erst nach seiner Transformation vom nihilistischen Zyniker zum geläuterten Liebenden darf er wieder am gewöhnlichen Leben der Gesellschaft teilnehmen. Die zunächst noch unbestimmte Verlaufsform „coming“ wird auf das zu erreichende „age“ hin begradigt.

Unter den zu erreichenden Meilensteinen des Coming-of-Age gehört das Überschreiten der Schwelle zur Sexualität zu den wichtigsten. Kaum ein Moment der Lebensgeschichte wird ähnlich stark mystifiziert wie das „Erste Mal“. Schon der Name verkürzt einen oft mehrjährigen und widersprüchlichen Entwicklungsprozess auf einen einzigen Moment, mit dem ein ganzer Lebensabschnitt enden und ein neuer beginnen soll. Die Figuren in The Last Picture Show von Peter Bogdanovich kreisen um diesen Augenblick, der ihre Bewegungen lenkt wie ein Gravitationsfeld. Dabei ist der eigentliche Vorgang weniger von Bedeutung als die Ausrichtung auf ihn, seine Antizipation in den Fantasien der Adoleszenz auf der einen, wie sein Nachhallen in der Erinnerung der Eltern auf der anderen Seite. Als das große Ereignis für Duane (Jeff Bridges) und Jacy (Cybill Shepherd) endlich bevorsteht, erweist es sich als Traumgebilde. Sie finden an einem abgelegenen Motel zusammen, weit entfernt von der Enge ihrer Kleinstadt. Die Kamera wartet mit ihm vor der Tür auf ihre Erlaubnis, die Schwelle übertreten zu dürfen. Zweimal enthüllt sich der Blick auf sie aus seinem Point-of-View – erst mit dem Öffnen der Tür, dann beim Aufknöpfen ihres Nachthemdes. Beide Male wird ein das Bild verdeckender Vordergrund wie ein Vorhang beiseitegeschoben. Der dahinter verborgene Körper erscheint sowohl wie ein verbotener Anblick, wie auch als zur Schau gestelltes Objekt der Begierde. Auch sie versucht eher der Realität zu entfliehen in diesem Moment, der ihr eigentlich eine neue Wirklichkeit offenbaren sollte. Eins, zwei, drei Mal schließt sie die Augen, jedes Mal ein wenig stärker, als würde der große Moment dadurch schneller in Erfüllung gehen. Doch es passiert nichts. „I don’t know what happened“, stammelt er wieder und wieder, während sie bereits um Schadensbegrenzung der gescheiterten Initiation bemüht ist: „Don’t go out there! We haven’t had time to do it. They’d know! I don’t want one soul to know. You’d better not tell one soul! Just pretend it was wonderful!“ Beim Weg nach draußen wird sie tatsächlich von zwei Klassenkameradinnen erwartet, die alles über den geheimen Vorgang wissen wollen, der nicht stattgefunden hat. Jacy rettet sich aus der Situation, indem sie behauptet, ihre Erfahrung nicht in Worte fassen zu können. Sie vertieft damit den Eindruck einer absoluten Grenze zwischen sich und den anderen, obwohl sie durch ein Nichts voneinander getrennt sind.

Die Bewegung des Coming-of-Age besteht in diesem ständigen Aufstellen und Überschreiten von Grenzen, die nie einfach gegeben und immer brüchig sind. The Last Picture Show erzählt davon, wie konstruiert jede Vorstellung einer absoluten Grenze ist, die allein über innerhalb oder außerhalb der Sexualität entscheiden soll. Der Film entfaltet ein ganzes Panorama wirklicher und imaginärer Grenzverletzungen, die mal diesseits, mal jenseits des „Ersten Mals“ liegen, aber in ihren Auswirkungen nur selten vorhersehbar sind. Jacys und Duanes Erfahrungswelten finden beim zweiten, erfolgreichen „Ersten Mal“ nicht etwa zusammen, sondern brechen endgültig entzwei: Er sieht sich bloß in der eigenen Potenz bestätigt, für sie scheint der Geschlechtsakt nur noch der Form halber vollzogen worden sein. Ein eigenes Bild bekommt Sex für sie erst im One-Night-Stand mit einem älteren Mann, durch das sie schlagartig in die Desillusionierung geworfen wird, die ihre Mutter schon lange auf sie projiziert hatte. Alles ändert sich, doch kann die Veränderung nie im Vollzug erfasst werden. Zu Bewusstsein kommen sie und ihre Bedeutungen erst im Nachhinein, mit der Schwere einer überwältigenden Melancholie über all die verpassten Möglichkeiten des Lebens. Immer schiebt sich ein resignatives Zu-spät oder ein verfrühtes Noch-nicht vor den Blick auf das Werden selbst.

Umso bemerkenswerter ist ein Film wie À nos amours von Maurice Pialat, der sich der Offenheit und Unbestimmtheit des Werdens völlig ausliefert. Auch das Leben von Suzanne (Sandrine Bonnaire) dreht sich um Sexualität, doch lässt sich ihr Handeln unmöglich in eine Entwicklungslogik zwängen. Ihre sexuelle Erweckung liegt bereits in unbestimmter Vergangenheit, von Beginn an navigiert sie sich durch ein verworrenes Beziehungsgeflecht mehrerer Liebhaber. In ihren Interaktionen mit den verschiedenen Männern können Momente der Unabhängigkeit kaum von solchen toxischer Manipulation unterschieden werden. Im Umgang mit dem eigenen Körper schwankt sie zwischen Selbstbestimmtheit und kindlicher Naivität. Unmöglich zu entscheiden, wann sie sich noch diesseits, wo schon jenseits des gesellschaftlich Erlaubten bewegt. Ein klares Bild ihrer Identität versuchen höchstens die Anderen von ihr zu gewinnen. Die Mutter, die sie als Sünderin verteufelt – der Bruder, der ihr seine Autorität aufzwingen will – die Liebhaber, die sie idealisieren – und all die anderen Männer, die sie permanent umzingeln wie ein Insektenschwarm. Jeder dieser Projektionen übt Gewalt auf sie aus und scheitert doch an der sturen Unbestimmbarkeit von Suzannes eigenem Verhalten. Die Reaktionen ihres Umfelds verkehren sich ständig in ihr Gegenteil, Gesten der Zuneigung schlagen blitzartig um in exzessive Gewalt. Auch Pialat selbst scheint unfähig – oder unwillig – eine Haltung zu dem Geschehen zu entwickeln, die richtig von falsch, gut von schlecht zu trennen wüsste. Das gilt sowohl für seine Funktionen als Regisseur und Ko-Autor des Films als auch für seine Rolle innerhalb der Handlung als Vater Suzannes. Als einziges Familienmitglied ist er in der Lage zu einem vertrauten Zwiegespräch mit ihr, doch führen diese nicht zu Einsicht oder Umlenken. Von ihm geht der erste und letzte Akt häuslicher Gewalt aus. Überhaupt ist der familiäre Raum immer anfällig für plötzliche Eskalationen. Türen stehen offen, Arbeitsfläche und Privaträume gehen nahtlos ineinander über, Menschen gehen beliebig ein und aus. Am Ende kann der Vater nach monatelanger Abwesenheit problemlos mit dem alten Schlüssel durch die Eingangstür hereinspazieren, weil sich niemand die Mühe gemacht hat, eine neue Grenze zu ziehen. Die permanenten Kollisionen sind hier kaum mehr als eine unausweichliche Konsequenz eines Zusammenlebens, in dem es keinen sicheren Rückzugsort gibt, wo die einzige Möglichkeit zur Abgrenzung in der Konfrontation liegt.

Dieses radikale Werden, in dem jeder Zustand prekär bleibt, jede Entwicklung ins Ungewisse führt und kein Ziel in Aussicht gestellt werden kann, macht À nos amours zu einer oft unerträglich schmerzhaften Erfahrung. Suzannes unermüdliches Aufbegehren gegen ihre Umgebung wird begleitet von einer tiefen Depression, die sie fast taub macht für das eigene Erleben. Der Film behauptet bis zum Schluss – und ohne die Illusion seiner Idealisierung – den Zustand permanenter Grenzüberschreitung, von dem alle Coming-of-Age-Filme handeln, obwohl die meisten von ihnen vor allem an seiner Überwindung interessiert sind. Denn am Ende liegt der größte Grenzübertritt des Genres im Erwachsenwerden selbst, mit dem der transgressive Akt selbst hinter sich gelassen werden soll.

Hin und wieder, Vergessen im Kino

Wann beginnt man, über einen gesehenen Film nachzudenken? Zumeist legen sich schon während des Abspanns andere Gedanken über die abflachende Konzentration. Weniges stiftet dazu an, unmittelbar nach dem Verlassen des Kinos, etwas zu notieren und festzuhalten. Der Film bleibt an seinem Ort, während ich mich von ihm entferne. Das Gespräch mit einem Freund im Anschluss mag vielleicht eher ein gegenseitiges Versichern sein, dass nun etwas aufgehört hat und etwas anderes beginnt. Oftmals wird dabei gerade das Ende des Films zum Thema gemacht. Etwas persönliches über die verbrachte Zeit mit dem Film zu sagen, fällt in diesem Moment alles andere als leicht. Doch irgendwann kommt der Film zurück, vielleicht aus Schuldbewusstsein, oder weil man erst etwas verstehen musste, bevor die richtigen Worte dafür gefunden waren. Das kann erst in einem anderen Film passieren, vor dem Schlafen oder im Zug nach Hause.

Versucht man sich an etwas Bestimmtes zu erinnern, will es meist nicht gelingen. So beginnt Unutma Biçimleri, Burak Çeviks Film auf der Berlinale 2023. Ein Fischer steht vor einem schmalen Eisloch. Nichts außer das bodenlose Schwarz umringt von schimmerndem Weiß ist zu sehen. Auf der Wasseroberfläche tänzelt eine Pose, an der ein Netz hängt. Fische sollen gefangen werden, doch gemeint sind Träume – die Erinnerung an Träume. Um die Flüchtigkeit des Traums zu bewahren, muss man ihn beredt werden lassen. Man muss Worte wählen, die geeigneter und weniger geeignet erscheinen. So tastet man sich an etwas heran, das man eigentlich nicht wirklich gesehen hat. Einiges ist restlos verloren, aber ein trübes Nachbild – manchmal eher Nachhall – blieb noch haften. Was der Film hier von Beginn an womöglich selbstreflexiv exponiert, entspringt dem Gespräch zwischen Nesrin und Erdem – einem Paar, das versucht sich an seine Beziehung und Trennung zu erinnern. Ihr Austausch wird ungeahnt intim, nicht wegen ausgesprochener Geheimnisse, sondern wegen ihrer Ungereimtheiten. Beide Menschen haben gänzlich verschiedene Erinnerungen an dieselben Begebenheiten. Erst in dem das Paar eine gemeinsame Sprache dafür findet, treten diese gegensätzlichen Erinnerungen zueinander in Beziehung. Vor allem für diese Suche im Dunkeln interessiert sich Çeviks Film. Ebenso könnte sich das Paar über einen Film unterhalten, den sie gesehen haben. Dort, wo ihre Erinnerungen an das Gesehene auseinanderklaffen, würden sie womöglich erkennen, dass beide einen anderen Film gesehen haben. Jeder für sich einen Film im Verborgenen mit anderen verschwiegenen Sehnsüchten und Ängsten. Es wäre nicht weniger intim.

Vielleicht hätte der Film hier stehen bleiben können, doch er zieht weiter und schichtet Material auf Material. Ganz so wie die Stadt – Istanbul, um die Unutma Biçimleri unaufhörlich kreist. Die Kamera verliert sich im Hafen, sucht dort nach der Geschichte des Ortes und findet lediglich Überreste statt Relikte. Es sind kleine Beobachtungen, wie der Rost an einem Schiff oder Arbeiter bei ihrer Pause an der Kaimauer. Alles Bilder, wie leere Hüllen, die nicht für sich selbst sprechen können, sondern erst lebendig werden müssen. Von Marc Augés Vorstellung (Les Formes de l’oubli), Erinnerungen seien wie Pflanzen, die sich immer höher überwuchern und verdecken, will auch der Film etwas über sich selbst erfahren. Kann sich ein Film erinnern oder vergessen? Filme, die mit einer essayistischen Form sprechen, wagen sich gern zu dieser Selbstüberschätzung hinaus. Sie laufen Gefahr, sich mit ihrem eigenen Interesse zu verwechseln. Also ist es Selbstvergessenheit? Weder kann sich ein Film erinnern noch vergessen, eher noch nachahmen beziehungsweise dazu anstiften. Dazu braucht er sein Gegenüber. Das Publikum, das Unutma Biçimleri erst gegen Ende wieder anspricht. Es drängt sich die Frage auf, wem Erinnerungen überhaupt gehören, was umgekehrt auch bedeuten könnte, ob Vergessen notgedrungen ein Verlust sein muss.

Spürbar wird das Erinnerte oder Vergessene erst, wenn es sein Gegenüber findet, beziehungsweise verfehlt. Vielleicht lässt sich das nur im Kino begreifen, und doch reicht es auch darüber hinaus. In Tatsunari Otas Film Ishi ga aru begegnen sich eine Frau und ein Mann ohne Namen in einem Flussbett. Ohne dass etwas Wichtiges passiert oder viele Worte gewechselt werden, wirkt es, als seien beide plötzlich aufeinander angewiesen. Das Warum muss nicht beantwortet werden, es genügt die Gewissheit des anwesenden Gegenübers. Sie teilen einen Nachmittag bis zur Dämmerung, während sie gemeinsam die karge Landschaft auf eine spielerische, naive Weise erkunden und immer wieder flussaufwärts oder -abwärts wandern. So selbstlos aber doch selbstzweckhaft, wie diese Beziehung zweier fremder Menschen entsteht, geht sie auch wieder auseinander. Irgendetwas bleibt, denn ihre Trennung, wenngleich ohne Abschiedsworte, fällt nicht leicht. Einige Momente später zeigt der Film den Mann in seinem Haus am Schreibtisch; er versucht, das Erlebte in seinem Tagebuch festzuhalten und zögert lang. So lang, als könnte man in dieser Pause seine eigenen Erinnerungen und Wünsche verstecken. Im gleichen Moment findet die Frau ohne Namen einen Ort, an dem sie den Akku ihres leeren Telefons aufladen kann. (Kaum etwas könnte gegenwärtig greifbarer beschreiben, wie man in einer Welt verlorengehen kann, die selbiges nicht mehr zulässt.) Die Frau schläft ein und erwacht am nächsten Morgen. Aus dem Zug zurück nach Tokio erhascht sie mit einem flüchtigen Blick den Mann erneut im Flussbett, wo er nach einem verlorenen Stein vom Vortag sucht. Was danach passiert, bleibt der Sehnsucht überlassen.

Beide Filme handeln von zwei Menschen, die sich begegnen und zurückschauen. Sowohl Ishi ga aru als auch Unutma Biçimleri wollen zwar vom Altern nicht viel wissen, doch es lässt sich unaufhörlich in ihnen wiederfinden. Unaufgeregt, in regelmäßigen Rhythmen reihen sich Bilder aneinander, so als blieben sie vom Lauf der Zeit außerhalb des Kinos unberührt. Doch anstatt weiterzugehen, besinnen sie sich vielmehr darauf, an einen verlassenen Ort zurückzukehren, um dort etwas Verlorenes aufzusuchen. So als würde man zum zweiten Mal in ein Gesicht blicken und erkennen, es hätte vorher anders ausgesehen. Dabei besteht die Intimität des Alterns vielleicht weniger darin, die Spuren der Veränderung zu entdecken, sondern etwas zu erahnen, das eigentlich dahinter liegt. Erkennt man, um was es sich handelt, gerät die Suche ins Stocken. Es breitet sich eine seltsame Beklemmung aus, über das Gesehene zu sprechen. So steht man nach Ende eines Films wieder vor dem Kino und stellt sich für einen Augenblick die absurde Frage: Was habe ich überhaupt gesehen? Aber ich schweige oder spreche von etwas Unbedeutendem.

*

Neulich begegnete ich auf einer Straße einer Frau, die für eine Umfrage von mir wissen wollte, ab wann man alt und wie lang man jung sei. Erst musste ich schmunzeln, da ich mir diese Frage selbst hin und wieder stelle, mich also ertappt fühlte. Meine Antwort schien sie wohl ebenfalls zu amüsieren, vielleicht nicht, weil es ihr ähnlich erging, sondern weil wir wohl gänzlich unterschiedlicher Auffassung waren. Im Kino kann man etwas sehen, das nicht der eigenen Wahrnehmung oder Erfahrung entspricht. Trotzdem ist es möglich, sie für eine bestimmte Zeit verstehen zu lernen. Auch wenn sich das Kino mit seinem Publikum immer wieder erneuern und Zurückliegendes vergessen will, gehört das Altern – also Suchen – dazu.

Altern und Spielberg widersprechen

It is only that youth is still able to believe
It will get away with anything, while age
Knows only too well that it has got away with nothing

(aus The Sea and the Mirror von W.H. Auden)

Ich möchte Steven Spielberg widersprechen. Das heißt, ich möchte ihm begegnen, entgegnen. Ich möchte etwas zu seinen mich nachhaltig störenden Filmen sagen, was nicht gesagt wurde oder etwas verneinen, widerlegen, anzweifeln, auflösen. Ich kann und möchte nicht, seine Bedeutung für das Kino hinterfragen. Ebensowenig soll sich das hier wie eine Kritik an seinem Schaffen lesen, dafür fehlen mir die Instrumente und die Laune. Vielmehr möchte ich über ihn verstehen, was mich am Kino stört. Sein neuer Film The Fabelmans bietet sich als perfektes Beispiel für diese Unternehmung an, schließlich liefert er eine selbstmythologisierende, irgendwie alles zusammenfassende Genese seiner durch die Filme schimmernden Persona, seiner überlappenden Vision eines Kinos und der durch das Kino verformten Welt. Wann immer hier also von The Fabelmans geschrieben wird, ist eigentlich und unbedingt das Werk Spielbergs an sich gemeint.

Ich kann mich noch genau erinnern, ich muss fünf Jahre alt gewesen sein, als ich den Namen Spielberg zum ersten Mal bewusst hörte. Bei einem Abendessen im Nachbarhaus erzählten sich die allesamt älteren Kinder von weißen Haien und Dinosauriern und in meinem Kopf entstand neben manch furchterregender Phantasie ziemlich schnell eine Verbindung zwischen Namen und Beruf. Spielberg und Regisseur. Ein bisschen so wie Becker und Tennisspieler, Matthäus und Fußballspieler, Clinton und Präsident. Meine erste Begegnung mit einem Film Spielbergs habe ich vergessen, da muss ich ihm also gleich widersprechen, da er in The Fabelmans doch allzu dick aufgetragen von bestimmten Filmen erzählt, die ihn geprägt hätten. So ganz stimmt das natürlich nicht, denn auch ich hatte solche Erlebnisse im Kino. Die aber kann ich kaum mit weit aufgerissenen Augen und Lichtstrahlen verknüpfen. Vielmehr erlebte ich sie, zum Beispiel bei meiner ersten Begegnung mit Antoine Doinel ganz bei mir selbst, gar nicht so stark auf die Leinwand fixiert, sondern mehr von ihr durchdrungen, das, was sie zeigte, durch mich fließend erspürend. Ich entdeckte das Kino weniger im Kino als in dem, was von ihm in mir fortlebte. Für mich hängt das Altern an den geheimsten Momenten, dann, wenn ich alleine bei mir erahnte, dass es etwas gab, was ich nicht kannte.    

Spielberg aber zeigt Erkenntnisgewinn in penetrant lichtdurchfluteten Nahaufnahmen, er behauptet, dass man (ich, du, die Kamera und vor allem ein ominöses Wir) sieht und deshalb empfindet. Das war immer anders für mich. Gerade weil ich dem Sehen so viel Bedeutung beimesse und stets beigemessen habe, empfinde ich stärker in der Erblindung, dann also, wenn sich etwas über das Sehen stülpt, sei es eine Berührung, ein Geräusch oder ein körperliches Erinnern (die leichten Zuckungen, mit denen ich einschlafe, der Phantomschmerz, der sich gegen das innere Vergessen sträubt, ein plötzlicher, verlorengeglaubter Geruch, der mich am Leben hält). Wenn je etwas in mir gereift ist, dann geschah dies in der Dunkelheit, eben dort, wo mich niemand sehen konnte, am wenigstens ich selbst, in einem Zustand entblößter Intimität, geborgener Vertrautheit, mich umgebender Sicherheit. In diese Dunkelheit, die es bei Spielberg schlicht nicht gibt, weil er alles ausschließt, was sich nicht erzählen lässt, zerre ich bis heute meine Ängste und Begehren. Diese Dunkelheit ist paradoxerweise das Kino für mich. Ich weiß aber nicht, ob das so widersprüchlich ist. Es spielt auch keine Rolle, es führt nur letztlich dazu, dass mir die Formen des Erinnerns, des Konstruierens eines Lebens in The Fabelmans unerträglich falsch vorkommen, ein bisschen so, als hätte Proust geschrieben: Ich sah den Sandteig und alles war klar. Spielberg filmt immer nur die Blüten und behauptet, dass sie Samen wären. Warum? Wahrscheinlich weil die Blüten den größeren gemeinsamen Nenner erzeugen, sie lösen die Emotion aus, die er einfangen will, während die Samen viel zu unberechenbar und ehrlich wären für dieses Kino der Gefühlskontrolle. 

Nun mag man mir entgegnen (ich kann mir keinen Dialog mit Spielberg vorstellen, weil ich tief in mir überzeugt bin, dass ihm das alles egal ist), dass dieser Mann nun mal filmt und wenn man filmt, dann geht es ums Sichtbare und dann kann ich nicht erwarten, dass er das filmt, was man nicht sieht. Das ist wiederum mir egal. Mal abgesehen davon, dass ich glaube, dass es Filme über das Heranwachsen gab, die diese Dunkelheit erahnt haben (zum Beispiel von Maurice Pialat), behaupte ich im Gegensatz zu diesem Regisseur keineswegs, dass meine Form des Älterwerdens kollektive Gültigkeit hat; ich bin nicht dazu in der Lage und ich bin nicht dazu bereit, mich selbst so sehr zu entleeren, dass andere sich auf mich, in mich projizieren sollen. Diese Form der Projektion (in diesem Wort werden jene, die Spielberg zusprechen, die gewünschte Doppeldeutigkeit finden) beseelt beziehungsweise pervertiert jede Sekunde in The Fabelmans, einem Film, der angeblich aus Kindheit und Jugend seines Machers berichtet, während man dazu eingeladen wird, in jedem Bild sich selbst zu entdecken. Man blickt in den großen, alles überblendenden Spiegel der westlichen Mittelklasse. Die daraus folgende Rührung ist lediglich narzisstische Flucht in überladene und schlichtweg falsche Bedeutungen von Familie, Mutter, Vater, erste Liebe, die auch deshalb so anwidernd effektiv arbeiten, weil diese limitierte, auf eine bestimmte Bildungsschicht zielende Art des Fühlens längst den Ereignissen vorausgeht. Wie ich bereits erwähnte, kannte ich Spielberg bevor ich mich in eine Klassenkameradin verliebte und bevor ich mich ins Meer wagte. Sein larger than life Kino erzeugt Erwartungen an das eigene Leben. Bis zur Verwechslung. Spielberg würde mir, so denke ich, ohne mit der Wimper zu zucken, sagen, was es bedeutet, meinen Vater zu lieben. Aber er kennt meinen Vater nicht und das macht mich stutzig.

Das Älterwerden in The Fabelmans ist ein sentimentales Unterfangen. Dagegen habe ich nichts einzuwenden, auch wenn die im Film vorherrschende Sentimentalität eher der überhöhten Erinnerung an die Jugend, als dem tatsächlichen Durchleben selbiger geschuldet scheint. Das Sentimentale, Glorreiche, Überwältigende der Jugend äußert sich auch nicht stilistisch, wie das zum Beispiel in den Kindheitserinnerungen von Danilo Kiš geschieht, dafür ist Spielberg viel zu industriell, brav. Er behauptet (und viele folgen ihm), dass man in diesem industriellen, von bekannten Grammatiken beherrschten System persönlich erzählen kann. Das muss man sich erstmal trauen. Aber seis drum. Spielberg behauptet auch, dass man entlang einer nachträglich nachvollziehbaren Linie altert, dass sich das, was zählt, aufeinander schichtet und ergänzt, dass es einen Ariadnefaden gibt, entlang dessen man sich irgendwann zurück durch das eigene Leben bewegen kann. Eine Begegnung hier, ein Scheitern dort, ein Trauma, eine Erfahrung, ein Erfolg und schon ist man wer und kann davon erzählen. Mein Älterwerden dagegen bestach stets dadurch, dass das, was mir eben noch wichtig schien, kurz darauf bereits wieder vergessen war. Das ist auch heute noch so, schließlich werde ich noch immer älter und möchte mich auch weigern, je so alt zu werden, dass ich zurückblicke auf etwas, das ich als abgeschlossen erzählen möchte. Wenn ich unter Einfluss von unerwünschten Gefühlsregungen doch einen Blick zurückwerfe, dann empfinde ich meist Entfremdung. Meine Ich-Erzählungen lassen keine Fäden erkennen, sie verirren sich ununterbrochen, enden in Sackgassen und ja, es sind diese Sackgassen, in denen ich vielleicht etwas von mir erkenne. Eine Begegnung mit meinem jüngeren Ich würde nicht diese von Hollywood propagierte Lebensweisheit auslösen, sondern schlicht Irritation. Jedes Jahr ist letztlich eine Aneinanderreihung genuiner Fehler, die mich ein bisschen mehr verstehen lassen, dass ich nicht bin, wer ich glaubte zu sein. Es mag ein Bild geben, das dadurch entsteht, aber ich könnte dieses Bild nie selbst erzeugen, empfinde mich vielmehr im ständigen Widerspruch zu diesem Bild. Ich muss ständig Rollen aus meiner Vergangenheit spielen, die mir keineswegs entsprechen. Spielberg dagegen bedient sein eigenes Bild, er erschafft es gleich mit, weil er weiß, dass die Mythenbildung Teil der Filmwelt ist. Es lässt sich bestimmt auch besser leben, wenn man sich selbst narrativeren kann. Wer nun sagt, dass es nun mal zum Kino gehört, ein Leben in Plot-Points und derlei Stumpfsinn einzuteilen, hat nie Filme gesehen. Und irgendwann muss auch ernsthaft darüber diskutiert werden, dass Filme enden, das Älterwerden aber nicht. Es fällt auf, dass kaum ein Film je über die dust to dust Religiosität hinweggegangen ist, um wirklich zu zeigen, was passiert, wenn man immer weiter altert, selbst wenn man schon tot ist. Körper scheinen ohnehin nicht so wichtig für das Kino-Altern, zumindest bei Spielberg, bei dem nie wer müde wird oder lasch, bei dem es nie das Gefühl gibt, dass vor drei Jahren noch schmerzfrei war, was heute höllisch wehtut. Auch das ist vergeistigt, spirituelle Blicke in den hell strahlenden Himmel. Das wahre geistige Symptom des Alterns jedoch, das sich an sich selbst berauschende Selbstmitleid, spart er aus. Es ist zu wenig tröstlich für seine Art des Kinos. Er überlässt es den Zuschauern, die unterstützt von penetranter Musik weinen sollen. Diese Musik entspricht selten dem Raum des Geschehens, sie kommt aus dem Raum des Betrachtens. Spielberg zeigt wiederholt sein Alter Ego beim Setzen von Musik auf bereits existierende Bilder, man könnte es musikalische Untermalung nennen, nur dass die Bilder hier eher die Musik untermalen; hier verrät er sich, denn sein Erinnern ist nicht subjektiv, es sucht nach einem allgemeingültigen Effekt. Und was ist daran schlimm? Gar nichts, nur dass eben nichts gezeigt und gesagt wird. The Fabelmans ist reines Suggestivkino, eine leere Samthülle, in die sich jene (vor allem Männer) einkuscheln können, die ihren eigenen Bezug zur Kindheit verloren haben. Kind sind ohnehin alle geblieben, nur die Jugend verliert man zu schnell (auch dieser Satz lässt mich schneller altern). Es ist nicht wirklich traurig, dass sich die Eltern des jungen Fabelmans oder Spielbergs trennen, traurig ist, dass ein Gefühl der Geborgenheit nicht haltbar ist, und das haben letztlich alle schon, aber alle anders erlebt. Würde einer schreiben: Wir alle verlieren das Gefühl der Geborgenheit, würde man ihn als Schriftsteller kaum ernst nehmen. Im Kino dagegen scheint dieser Allgemeinplatz auszureichen, weil das Kino nur allzu gern die Wahrheit betrügt, für ein egal wie billiges Gefühl kollektiver Erinnerung.

Zum Spielberg-Mythos gehört beispielsweise, dass er als kleiner Junge gerne Züge kollidieren ließ und weil er das immer wiederholen wollte, zum Kino gekommen ist. Ist es nicht spannend, dass ein destruktiver, auf die reine Freude an der unvorhersehbaren, zerstörerischen Bewegung gerichteter Impuls zu einem Kino führte, das für sich beansprucht, alles fügen, in runde Formen gießen zu können? Was ist aus diesem Jungen geworden, der angeblich einen Zug in die Luft sprengen wollte für das Kino? Jemand, der glaubt rückwirkend alles zusammenfügen zu können, einer, der schwelgerisch lügt über das, was angeblich irgendwann alles Sinn ergibt, statt einfach weiter zu erkennen, dass das mit dem so innig geliebten Licht am schönsten ist, wenn es durch die Risse und Narben dringt. Einer, der klebt, statt sprengt. Spielbergs angeblich jüngeres Ich hat viel mehr über mein Älterwerden verstanden als dieser alte Mann, der darüber Filme macht. Am Ende steht dann auch in The Fabelmans eine Art offene Erkenntnis, etwas Erbauliches, mit dem man weiter altern kann. Ich muss nicht betonen, dass mir Derartiges noch nie widerfahren ist. Je älter ich werde, desto unabgeschlossener jede Erkenntnis. Jeder Abschluss führt nur zu weiteren Verästelungen. Kann man darüber nicht erzählen? Ist es so viel wichtiger, das Gegenteil zu behaupten? Für jede letzte Einstellung, in der wer auf einen wie auch immer kadrierten Horizont zusteuert, stirbt jemand, weil von rechts oder links zufällig genau dann ein Auto kommt. Es war John Ford, der in seinem Young Mr Lincoln verstanden hat, wie man eine solche, dem Horizont zugeneigte Schlusserkenntnis zeigen könnte: in einem Gewitter, in dem klar wird, dass das, was kommt, alles was war, wegwischen wird.

Alterserscheinungen

Es gibt Filme, die wir an irgendeinem Punkt im Laufe unseres Lebens ins Herz geschlossen und in den Kammern „schönes Erlebnis“, „wichtiger Film“ oder „formal spannend“ verwahrt haben. Diese Bilder und Töne trafen zu einer bestimmten Zeit einen Nerv, der eine drängende Nähe zu unserem persönlichen Befinden, brisanten gesellschaftlichen Themen oder einer gerade erst aufblühenden Entdeckung von filmischen Herangehensweisen hergestellt hat. Die besondere Beziehung zu diesen Filmen entstand zu einem Zeitpunkt, der kurz darauf – das Grundprinzip der Zeit liegt schließlich in ihrem Vergehen – schon immer bereits unseren vergangenen Ichs angehörte. Dieser Film und das Ich haben eine prägende Zeit miteinander erlebt, sie sind quasi lebensabschnittsverpartnert. Aber woran ist uns am meisten gelegen – an einer Aussage, an einem Bild, an einer Emotion – was hat uns damals begeistert, erregt, aufgeregt? Eine Begegnung Jahre oder gar Jahrzehnte nach dem letzten Aufeinandertreffen kann wie das Wiedersehen einer alten Liebe sein: herzerwärmend, voller Sehnsucht, ernüchternd oder enttäuschend.

Weil viele Kulturkritiker*innen ihre romantische Ader (und damit meine ich auch die Liebe zu einzelnen Momenten und spezifischen Formen von Filmen) selten zur Schau stellen, fragen sie bei einer solchen Wieder-Begegnung mit filmischen Vertrauten vielleicht „Und, ist der gut gealtert?“ Unter Filmrestaurator*innen mag diese Frage passionierte Diskussionen über den Zustand des Materials hervorrufen, aber im Falle der Kritiker*innen entsteht oft eine vernunftorientierte Spannung zwischen Ratio und Emotion. Die Seherfahrung wird nüchtern in Worte gepackt und die kulturelle Prägung urteilt über die ästhetische Erfahrung mit. In dem Moment, in dem ein Film gesellschaftliche Kontexte sichtbar werden lässt, wird die Altersfrage lauter. Die Entscheidung bei der Frage zwischen gutem und schlechtem Altern – alles zwischen diesen beiden Polen wirkt eher uninteressant – fällt meist zugunsten der Ratio aus, die persönlichen Emotionen schweben als Faktor vielleicht mit, sollten sich aber lieber in inoffiziellen Gefilden bewegen. Als gut gealtert erkläre ich einen Film, weil ich ihn selbst noch so spüre wie früher, sondern viel mehr, wenn ich seine gesellschaftspolitisch offene Haltung erkennen kann, die die Relevanz seines Hineinreichens in die Gegenwart unterstützt. Lese ich auf der erzählerischen Ebene stark konservative Werthaltungen heraus, mögen diese zwar als Indikator einer bestimmen Zeit und politischen Richtung für den historischen Blick interessant werden, aber nicht mit dem liberalen Fortschrittsblick meiner gesellschaftsoptimistischen Seele einhergehen. Die Feststellung eines guten Alterns bezieht sich also viel weniger auf eine messbare Distanz zum Zeitpunkt der Entstehung, sondern erweist sich als Spiegel gegenwärtiger Themen, die in der Vergangenheit schon einmal auf eine ähnliche Weise erfahrbar waren. Nicht die Filme verändern sich, sondern die Welt und unsere persönlichen Mikrokosmen, in denen wir sie erleben. Aber wohin gelangen die Emotionen, mit denen wir noch einmal den Geschmack von Nostalgie auf der Zunge spüren? Sammeln sie sich mit dem Prozess des Alterns an, um heimlich die Herzkammern zu befüllen und in ungeahnten (Film-)Momenten plötzlich hervorzuquellen? Gerade Filme, mit denen wir aufgewachsen sind und die uns besonders geprägt haben, konfrontieren wir oft vorsichtig mit der Altersfrage. Es besteht die Gefahr, sich von diesem Teil unseres alten Ichs mit Trennungsschmerz zu lösen, denn das Ich ist nicht mehr, wie es mal war. Doch wohin mit diesen Filmen, die einmal Teil von uns selbst waren, von denen wir uns eigentlich nicht ganz trennen wollen, die wir aber auch nicht mehr so schätzen und lieben wie einst? Wie verändert sich unser Umgang mit Emotionen mit fortschreitendem Alter? Wie begegnen wir unseren Lieblingen von damals? Ich schreibe von einem wir, weil ich recht sicher bin, mit meiner Erfahrung nicht alleine zu sein.

Für die Retrospektive „Young at heart – Coming of Age at the Movies“ der diesjährigen Berlinale wählten 26 Filmschaffende ihre „persönlichen Lieblinge“ unter den Coming-of-Age-Filmen aus. Viele von ihnen mögen hier ihrem vergangenen Ich wiederbegegnet, erneut berührt worden oder enttäuscht gewesen sein. Eine andere Emotion, die uns beim Wiedersehen mit Filmen begleiten kann, sind Wut oder Frustration. Wut, weil wir so viel Zeit mit diesen Filmen verbracht haben, deren Werthaltungen, die wir längst ablehnen, uns persönlich beeinflusst haben. Frustration, weil wir in diesen Filmen unserem alten Ich begegnen und es am liebsten mit anderen Filmen, die wir jetzt ästhetisch oder inhaltlich weit mehr schätzen, konfrontieren würden, von denen wir damals aber einfach nicht wussten oder zu denen wir keinen Zugang hatten.

Céline Sciamma entschied sich im Rahmen der Retrospektive für Martha Coolidges Not A Pretty Picture aus dem Jahr 1976. Sie begründete, dass sie das Werk der US-Amerikanerin als Teenagerin selbst gern gesehen hätte. Kristen Stewarts Entscheidung beispielsweise fiel auf eine Filmerzählung, die sie als Mädchen tatsächlich verehrte: Now and Then von Lesli Linka Glatter, der knapp zwanzig Jahre später erschien. Ich habe beide Filme erst im letzten Jahr gesehen und wäre ihnen, genau wie die beiden Filmemacherinnen, auch gern früher, mit meinem alten Ich begegnet. Doch hätten mich Not A Pretty Picture und Now and Then im Teenagerinnen-Alter ebenso nachhaltig beeindruckt, sodass ich sie als „wichtige Filme“ oder „schöne Erlebnisse“ abgespeichert hätte? Gibt es Filme, für die wir den Moment verpasst haben? Können wir Filme zu spät sehen? Mein gealtertes Ich wird niemals eine Antwort auf diese Frage geben, sondern lediglich Bedauern fühlen können.

Die Aussagekraft von Not A Pretty Picture vermittelt sich für mich heute durch seine dokumentarisch angelegte Form, die ihn an eine nicht abgerissene Dringlichkeit – hier mischen sich Bedauern und Wut angesichts des fehlenden Alterns so mancher darin verarbeiteter Problematik – an feministische Diskurse bindet. Coolidge dokumentiert, wie sie als erwachsene Frau ihre eigene Vergewaltigungserfahrung als High-School-Schülerin filmisch zu erzählen versucht. Indem sie Situationen mit jugendlichen Darsteller*innen inszeniert, teilt sie sich als Opfer mit, kreist um den Hergang der Tat und dekonstruiert seine Bedeutung auf gesellschaftspolitischer Ebene. Die Szenenarbeit wechselt Not A Pretty Picture mit Gesprächen zwischen Coolidge und den Darsteller*innen ab. Darin treffen Ansichten, indirekte Haltungen und Verhaltensweisen der Mädchen und Jungen aufeinander. Coolidge misstraut dem illustrativen Kino, macht ihre Interventionen zum Gegenstand des Films selbst. Es ist der Versuch, Bilder und Worte für etwas zu finden, was tiefe Narben hinterlassen hat. Das reinszenierte individuelle Erleben von Coolidge schlägt die Brücke zu einem schmerzvollen Empfinden der Seele, das die Aussagekraft der Momente emotional und rational aufnimmt. Immer wieder stelle ich mir die Frage, ob ich diese Bedeutungsebenen damals, als Feminismus mehrheitlich als Beleidigung eingesetzt wurde und Feministinnen am Schulhof für unattraktiv erklärt wurden, überhaupt greifen hätte können. Ob ich über die Form des Films, die sich in Handkameraaufnahmen von längeren Gesprächen niederschlägt, einen Zugang gefunden hätte? Ist dieser Film in meinen Augen deshalb gut gealtert, weil ich die Intentionen und Gedanken der Filmemacherin jetzt viel mehr zu verstehen glaube, als ich es damals getan hätte? Wie gut ein Film in unseren Augen gealtert ist, hängt vom persönlichen Umgang mit Diskursen ab, genauso wie von unserer Wahrnehmung seiner formalen Einzigartigkeit. Hier treffen sich Emotion und Ratio. Wenn gewisse Themen, die selten filmisch verarbeitet wurden, durch einzelne Werke Sichtbarkeit erfahren, dann können sie schnell einen Platz im Herzen erobern. Denn im Herzen findet sich mit dem Altern, basierend auf den Erfahrungen, auch die Sehnsucht nach Themen und Diskursen. Genauso aber macht sich die Sehnsucht nach einer Bereicherung durch die Form breit, je häufiger wir, die wir im Kino auch die Kunst suchen und nicht nur den Konsum, sie schmerzlich vermissen müssen. Mit dem Prozess des Alterns mag sich schlicht verändern, wofür wir brennen, was uns frustriert und in welchen Kinoerlebnissen wir uns besonders genüsslich verlieren. Insofern wohnen einem Rückblick, alleine in den eigenen vier Wänden oder im Rahmen einer Retrospektive, stets Freude oder Frust, Genuss oder Mühsal, Wiedersehenseuphorie oder endgültige Trennung bei. Im Fall von Not A Pretty Picture vermag ich mir dieses Wiedersehen nur vorzustellen. Aber selbst in der Vorstellung spüre ich das in mir, was man Altern nennt.