Il Cinema Ritrovato 2018: Spring in a Small Town von Fei Mu

Spring in a Small Town von Fei Mu

Andrey Arnold: Wie findest du dein Festival bis jetzt?

Sebastian Bobik: Es fällt mir schwer so früh schon wirklich Bilanz zu ziehen, aber alles in allem denke ich es war bisher ziemlich gut. Ich habe vieles gesehen, bin überrascht, enttäuscht und auch überwältigt worden von verschiedenen Filmen. Bei dir?

AA: So weit, so gut. Gestern haben wir einen Film gesehen, von dem du besonders begeistert warst. Willst du ein bisschen was dazu sagen?

SB: Definitiv! Gestern haben wir Spring in a Small Town von Fei Mu gesehen. Ein chinesischer Film aus dem Jahr 1948, also kurz nach dem Krieg. Der Film erzählt unter anderem über das Trauma des Krieges, aber tut es in einer Art Kammerspiel. Auf einem Grundstück und innerhalb einiger Tage werden die verschiedensten Emotionen von fünf Figuren durchlebt, die durch eine Wolke aus Sehnsucht und Entfremdung driften. Besonders stark fand ich die Kraft dieses unterdrückten Begehrens, aber auch die Ehrlichkeit, mit der schon damals Emotionen rund um einen möglichen Ehebruch dargestellt werden. Es wird nie platt moralisiert, wer Recht oder Unrecht hat, und die Tatsache, dass sich diese Figuren eigentlich alle sehr sympathisch sind und keiner dem anderen wehtun will macht das ganze ebenso schöner, wie auch schmerzvoller.

AA: Außergewöhnlich für einen Film dieser Zeit fand ich vor allem die Atmosphäre. Er spielt in einer völlig eigenen Welt. Eine Welt, die zugleich konkret und abstrakt ist und völlig aus der Zeit gefallen scheint (soweit ich mich erinnern kann, verzichtet der Film auf eine explizite historische Zeitangabe). Schauplatz ist ein Dorf oder Städtchen, das vom Krieg verwüstet wurde. Manche Häuser stehen noch, aber der Gesamteindruck ist der einer Ruinenlandschaft. Und zwar einer, die sich noch nicht entschieden hat, ob sie völlig in der Versenkung verschwinden (an den Mauern rankt sich schon der Efeu) oder doch eine Wiedergeburt wagen will (in den Außenaufnahmen spürt man die Frische des Frühlings). Hier lebt die Hauptfigur, eine unglücklich verheiratete Frau, in einem sonderbaren Schwebezustand, der sich auch in ihrem Habitus äußert. Ihre Bewegungen sind anmutig, aber auch müde und von einer somnambulen Langsamkeit. Man hat beinahe den Eindruck, ihre Wirklichkeit stünde unter Wasser. Hast du das ähnlich empfunden?

SB: Absolut! Ich glaube, was diese Atmosphäre unterstützt, ist, dass es nicht nur keinerlei zeitliche Angabe gibt, sondern auch, dass dieses „Dorf“ eigentlich kaum eines ist. Man sieht nie irgendwelche anderen Figuren, nicht einmal im Hintergrund, während unsere Hauptfiguren spazieren gehen. Es stimmt auch, dass jegliche Gesten und die Handlung allgemein sich beinahe in Zeitlupe bewegen. Auch das ab und zu auftretende Voice-Over, welches zwar von Yuwen (der Hauptfigur) gesprochen wird, aber auch von Dingen berichtet, die sie nicht wissen kann, trägt zu dieser absolut eigenen Atmosphäre bei. Der Film ist ungewöhnlich still. Man konnte in bestimmten Szenen jede Regung im Kinosaal vernehmen. Manchmal wurden Geräusche wie eine sich schließende Tür völlig ausgelassen.

Doch obwohl der Film eindrücklich und ehrlich von einer großen Einsamkeit erzählt, lebt er ja eigentlich von den Figurenkonstellationen. Oft werden ganze Szenen in langen weiten Einstellungen gezeigt (die Kamera bewegt sich trotzdem leicht mit, wird nie ganz statisch, sondern ist immer „flüssig“). Was dann besonders auffällt, ist der Raum zwischen Figuren. Zwar wird geredet und gesungen, doch man spürt vor allem die Blicke, die kurzen Berührungen von Händen, die zugleich wieder beschämt aufgehoben werden, und wie oft Figuren das Verhalten anderer sehnsüchtig beobachten. Es gibt eine wundervolle Szene im Film, wo die Figuren einen Ruderausflug machen. In mehreren Großaufnahmen sehen wir ihre glücklichen Gesichter. Doch unser heimliches Paar bekommt eine gemeinsame Einstellung. Eine Großaufnahme von ihr folgt ihrem Blick und endet in einer Großaufnahme von ihm. Innerhalb einer Einstellung werden zwei Figuren verbunden – fantastisch. Überhaupt ist es schön zu sehen, dass ein Film, der eigentlich eher in geschlossenen Räumen spielt und viele Dialoge beinhaltet, seine eigene filmische Sprache entwickelt, die nicht aufgedrückt „filmisch“ ist, indem sie sich über Montage hervorhebt, aber auch nicht mit völlig statischen Einstellungen arbeitet. Ist dir in der Hinsicht noch etwas aufgefallen?

AA: Der Film fließt ja generell eher, als dass er schneidet. Wir haben gestern kurz über Ozus Early Spring gesprochen – noch so ein trauriger Ehekrisen-Frühlingsfilm, der hier läuft. Unter anderem auch darüber, wie Ozu das Gefühl auf den Punkt bringt, wie ein neuer Morgen existenzielle Nöte wie von Zauberhand vergessen macht (oder verdrängen lässt). Er zeigt seine Figuren am tiefsten Punkt, in schmerzlicher, trostloser Verlorenheit. Einen Schnitt später ist die Nacht vergangen, die Vögel zwitschern, die Sonne lacht, und dieselben Menschen, die eben kurz davor waren, alles hinzuschmeißen, machen sich auf den Weg zur Arbeit. In Spring in a Small Town gibt es solche Schnitte nicht. Alles fließt unaufhörlich ineinander, Gefühle und Stimmungen, Innen und Außen(räume). Der Film wirkt wie eine einzige, unaufhörliche Überblendung, die sich erst ganz am Ende darauf festlegt, wohin sie eigentlich überblenden will.

Regisseur Fei Mu findet unterschiedliche Lösungen, um dieses Fließen zu vermitteln. Eine sind natürlich buchstäbliche Überblendungen, zum Teil erstaunlicherweise sogar innerhalb einer Szene, einer Bewegung. Eine andere ist die langsame, hin- und herwandernde Kamerabewegungen innerhalb einer Einstellung, die du beschrieben hast. Besonders eingeprägt hat sich mir diesbezüglich eine Szene am Anfang des Films. Der alte Freund des (seelen-)kranken Gatten der Hauptfigur, ein junger Arzt, ist bei den Eheleuten zu Gast. Einst waren er und die Frau Geliebte, was noch niemand außer ihnen weiß. Die kleine Schwester des Gatten, die einzige richtige Frohnatur im Ensemble der Eingeschlossenen, hat ein Auge auf ihn geworfen und singt ein Lied, um ihm zu imponieren, während die Frau im Vordergrund Hausarbeiten erledigt, Sachen hin- und herträgt. Die Kamera lässt sich indessen von Blicken leiten, von widersprüchlichen Aufmerksamkeiten und Begehrensvektoren, schwankt ruhig zwischen den Positionen, ohne Schnitt. Ich musste an Hou Hsiao-hsien denken. Generell dürfte der Film ziemlich einflussreich gewesen sein im chinesischsprachigen Raum. Im Katalog steht, dass Jia Zhang-ke ihm in I Wish I Knew Tribut gezollt hat. Du meintest gestern, er hätte bei dir Assoziationen zu In the Mood For Love geweckt. Könntest du das näher ausführen?

Spring in a Small Town von Fei Mu

SB: Die Assoziation ist wahrscheinlich die simpelste, aber auch die schnellste für mich gewesen. Ich rede dabei gar nicht so sehr von der Form und dem Stil des Filmes (obwohl beide Filme natürlich auf unterschiedliche Art und Weise die Zeit und einzelne Momente der Sehnsucht in absolut zerreißende Länge ziehen), aber einfach auf der Basis der Handlung und wie der Film damit umgeht. In beiden Filmen geht es um eine verbotene Liebe, ein Thema das oftmals in Melodramen behandelt wird. Doch die beiden Filme stechen eben dadurch heraus, dass diesem Begehren, diesen Gelüsten niemals nachgegeben wird. Die Figuren sind erstarrt in einem Widerspruch zwischen der Art und Weise, wie sie sich benehmen sollten, und dem, was sie eigentlich tun wollen. Es gibt in beiden Filmen keine Sexszenen, nicht einmal einen Kuss, glaube ich. Stattdessen erbebt das Universum des Filmes jedes Mal, wenn sich die Hände der Begehrenden kurz berühren, oder sie sich durch den Raum Blicke zuwerfen.

Was ich aber sehr spannend fand, ist das Fei Mus Film fast ehrlicher damit umgeht als Wongs. Bei In the Mood For Love spüren wir immer die Sehnsucht und Zärtlichkeit, aber er wird nie wirklich erotisch. Spring in a Small Town hingegen hat für mich in einigen Szenen eine wahnsinnig erotische Spannung aufgebaut. In den Momenten in denen die beiden sich nicht in Gesellschaft anderer befinden, flirten sie beinahe. Jede Bewegung, jeder Hüftschwung wird dabei so klar gesetzt, dass ich eine wahnsinnige Spannung zwischen den Beiden verspürt habe, die sich nicht davor geschämt hat auch das einfache sexuelle Begehren zu thematisieren. Ebenfalls mit großer Ehrlichkeit wird sogar der Gedanke in den Raum geworfen, dass es am einfachsten wäre, wenn der Ehemann einfach verschwinden würde. Ein Gedanke, den Yuwen, sobald sie ihn ausspricht, auch wieder bereut. Es sind solche Momente in denen der Film sehr modern wirkt und ehrlicher mit solchen Themen umgeht als die meisten Filme, die zu diesem Thema gemacht werden. Ich musste ebenso wie du oft an Hou denken. Der Film hat mich extrem beeindruckt, und mittlerweile habe ich das Gefühl, er hat sich auch in deinem Kopf festgesetzt. Trotzdem möchte ich dich fragen: Hat sich deine Meinung zum Film seit gestern verändert? Anfangs war ich definitiv begeisterter als du.

AA: Stimmt, aber das lag weniger am Film selbst als an der festivaltypischen Kollision unterschiedlicher Zeitlichkeiten. Ich war zum gegebenen Zeitpunkt einfach nicht eingestellt auf die, ohne das wertend zu meinen, Trägheit und Trübseligkeit des Films, und hatte daher stellenweise Schwierigkeiten, mich auf sie einzulassen. Aber Spring in a Small Town scheint mir ohnehin ein Sicker-Film zu sein, der seine Kraft nicht zuletzt im Weiterwirken entfaltet. Er hat fraglos Eindruck bei mir hinterlassen, wie ich auch jetzt in der Diskussion merke. Man könnte noch lange über ihn diskutieren. Interessant wäre etwa die Frage nach seiner Politik: Schließlich geht es auch um den Widerstreit zwischen Altem und Neuem, darum, wie das Alte (repräsentiert durch den wohlwollenden, aber buchstäblich introvertierten, depressiven Ehemann) dem Neuen oder der Möglichkeit des Neuen im Weg steht, wie schwer es auch moralisch ist, sich aus dem Sumpf der Nachwehen eines schweren (Kriegs-)Traumas herauszuziehen. Oder den gegebenen Verhältnissen zu entfliehen.

Eigentlich fast wie bei Ozu, um den Vergleich wieder aufzugreifen – Early Spring und Spring in a Small Town teilen sich, wenn ich mich nicht irre, sogar ähnliche Schlussbilder. Nur hat man bei Ozu ein Gefühl der Fruchtlosigkeit jeglichen Emanzipationsbestrebens, weil alles so hart und unerbittlich ist (das Schicksal, die Schnitte, die Architektur), und hier die mögliche Veränderlichkeit des Seins auch in der Form durchzuschimmern scheint. Oder wäre gerade die Härte weniger besänftigend? Spannend finde ich auch, wie der Film jemanden wie Antonioni vorzuzeichnen scheint, nur in weniger urbanem Kontext: Verfallende Mauerreste und zerschossene Anwesen als Psychogeografie einer orientierungslosen Bürgerlichkeit. Eine etwas abschüssigere Assoziation: Mario Bavas nebelversunkene Gruselschlösser, die gleichfalls von schwerlastender Vergangenheit in Abgründe gezogen werden. Hervorzuheben wäre auch der bereits von dir erwähnte, eigenartige Einsatz des Off-Kommentars, ein scheinbar allwissender innerer Monologs der Hauptfigur, bei dem ich mir nie sicher war, ob er überflüssig oder absolut essenziell für den Film ist. Schade nur, dass Spring in a Small Town (wie die meisten chinesischen Arbeiten hier) nicht auf Film gezeigt wurde: Passagenweise wirkte das Digitalisat doch recht klobig auf mich.

Il Cinema Ritrovato 2018: Čhapaev von Sergej und Georgij Vasilyev

Čhapaev von Sergej und Georgij Vasilyev

Das Il Cinema Ritrovato beginnt für mich mit Ohrensausen. Im Sala Scorsese der Cineteca di Bologna dröhnt und scheppert es von der Leinwand, als gäb’s kein Morgen mehr, das Trommelfell schlackert im Schallwellenbad. Meine Sitznachbarinnen sind im Begriff, sich notgedrungen Ohropax aus Papiertaschentüchern zurechtzupfen, als die Saalregie sich erbarmt und den Pegel runterschraubt. Vielleicht hätte sie ihn aber lassen sollen, wo er war. Vielleicht muss es laut sein, wenn Čhapaev kommt.

Čhapaev ist die Hauptfigur von Čhapaev, einem Film über den sowjetischen Bürgerkriegshelden Čhapaev. Der Ton und seine Kraft liegen ihm (dem Film) am Herzen. Denn Čhapaev entstammt der „Goldenen Ära des sowjetischen Tonfilms“: So heißt auch die Festivalprogrammschiene, in der er läuft. Und die widmet sich, um genau zu sein, dem Jahr 1934: Einem besonders fruchtbaren Kapitel in den Annalen der Sowjet-Filmgeschichte, wie Kurator Peter Bagrov in seiner Einführung betont – mythologisch in etwa Hollywoods annus mirabilis 1939 zu vergleichen.

Und Čhapaev ist selbst in diesem Kontext nicht irgendein Film, sondern der Film schlechthin. Sprich: Größer als die Beatles und Jesus zusammengenommen, legendär bis heute und darüber hinaus. Jeder Russe hat von ihm gehört, so gut wie jeder hat ihn gesehen. Dialogzeilen entwickelten sich zu geflügelten Worten, seine Protagonisten zu Archetypen, über die man ganz vortrefflich Witze reißen kann. Er bietet Action & Humor, Musik & Melodramatik, tolle Bilder und coole Sprüche: Ein White Sun of the Desert seiner Zeit.

Das alles nimmt kaum Wunder. Was an Čhapaev besonders erstaunt, ist seine Klarheit. Klar sind die Gesten und Dialoge: Jeder Satz will gehört werden, jede Bewegung greift mit Nachdruck Raum und gebietet Respektabstand, muss sich erst setzen, bis die nächste auf die Bühne darf. Klar sind die Figurentypen, klar auch Montage und Kameraführung, klar der Himmel über den kargen, strahlenden Landschaftskulissen. Der Film spielt an der Wolga, im Ural. Ob er auch dort gedreht wurde? Ich weiß nicht, aber ich kaufe es ihm ab.

Nur Čhapaev selbst ist nicht so klar, wie man vermuten könnte. Er ist zwar ein Volksheld vor dem Herrn, aber kein propagandistischer Pappkamerad – denn im Grunde schließt das eine das andere aus. Gespielt wird er vom Theaterschauspieler Boris Babočhkin, davor auf Schurkenrollen abonniert (und privat ein glühender Verächter des Sowjet-Regimes). Sein Red-Army-Kommandeur ist ein aufbrausender, roher Bursche, der keine Widerrede duldet. Aber auch ein gefühlvoller, zuweilen sogar g’schamiger Mann, der zu singen beginnt, wenn das Gemüt ihn drückt. Er macht Fehler und lernt aus ihnen, hat Humor und Heimweh, kurzum: ist ein Mensch.

Auf eindrucksvolle Weise vereinen sich in ihm die Ikonizität des überlebensgroßen Idols mit Nahbarkeit und Bodenständigkeit. Auf seinem treuen Rappen sitzend, den Feldherrenblick aufs Schlachtfeld gerichtet, wirkt er am Gipfel einer malerischen Totale wie ein russischer Napoleon; mit diesem vergleicht ihn auch sein junger Adjutant Pet’ka (die Diminutivform von Petja, d.h. Peter). Dabei erscheint sein gerühmtes strategisches Talent als eine Art Bauernschläue: Wie man sich als Anführer einer Armee-Division zu verhalten hat, erklärt er einem Untergebenen mithilfe von Kartoffeln und Zigaretten, weil diese gerade zur Hand sind – und mit einer Pfeife, die er dem aus Moskau angereisten Kommissar behände aus dem Mund zieht, nur um sie ihm kurz darauf mit resoluter Anmut wieder zwischen die Lippen zu stecken, als wäre nichts gewesen. Und von Alexander dem Großen hat der tapfere Krieger, zu seiner nicht unbeträchtlichen Verlegenheit, noch nie etwas gehört.

Auch besagter Kommissar hat die dramaturgische Funktion, Čhapaev zu vermenschlichen: Er repräsentiert sein Gewissen, fungiert als Stimme der Vernunft (sprich: der Partei), die den stolzen, übermütigen und ungebärdigen Lausebengel im Zaum halten soll. Dank ihm nimmt man Čhapaev nicht nur als Autorität wahr, sondern als jemanden, der selbst Objekt einer (höheren) Autorität ist. An einer Stelle kommt es zum ausgestellten Konflikt zwischen den Janusköpfen des Helden: Ein Offizier wird wegen Plünderei unter Arrest gestellt. Als Čhapaev das erfährt, wähnt er seine Befehlsgewalt unterminiert und regt sich auf. Doch dann stehen plötzlich Dorfbewohner vor der Tür, um sich für die Rückgabe des Diebesguts zu bedanken, und er sieht seine Vermessenheit ein.

Die Sequenz ist mit großer Sorgfalt geschnitten, jongliert virtuos mit Gesichtern (das Regieduo der Vasilyev-Brüder, in realitas gar keine Brüder, waren vor ihrem Durchbruch mit Čhapaev berühmt für ihre nahtlosen Zensurmontagen ausländischer Kinoproduktionen). Als Čhapaev das Licht der Erkenntnis aufgeht, lugt der böse Offizier, ganz personifiziertes Id, hoffnungsvoll durch einen Spalt in seiner Kerkertür. Doch sein Chef schickt ihn mit dem zerknirschten Blick eines auf frischer Missetat ertappten Lümmels zurück in die Dunkelheit. Der Zwist zwischen Altersweisheit und jugendlichem Übermut scheint aufgelöst. Auch äußerlich vereint Čhapaev beides: Die Jugend in seiner kantigen Statur und dem energischen Habitus (um seine Entschlossenheit zu demonstrieren, pflanzt er sich mit Vorliebe breitbeinig auf), das Alter im Schnurrbart und der gerunzelten Stirn.

Er war der Held, auf den die sowjetischen Kinozuschauer gewartet hatten. Buchstäblich: Seit 1931 war die Einfuhr ausländischer Filme vom Zentralkomitee drastisch eingeschränkt worden. Gleichzeitig geriet auch die heimische Laufbildproduktion zunehmend in die Kritik: Wegen Formalismus auf der einen und antirevolutionärem Unterhaltungsanspruch auf der anderen Seite. Gezeigt wurde hauptsächlich Agit-Prop über die Erfolge der Kollektivierung. Die Folge waren leere Kinosäle und -kassen (Quelle: Einführung und Katalogtext, beide von Peter Bagrov).

Čhapaev muss dieses Vakuum zur Implosion gebracht haben wie die Stecknadel einen Ballon. Der Film strotzt nur so vor Kinokraft, beherrscht alle Spielarten von Leinwandpathos aus dem Effeff, und ist zugleich mit allen Wassern der Montagetheorie gewaschen (eine von Bagrovs Einführungs-Anekdoten besagt, Eisenstein solle auf Kritik an seiner Theorieversessenheit gemeint haben, er sitze nur so viel am Schreibtisch, damit Filme wie Čhapaev das Licht der Welt erblicken können).

Čhapaev von Sergej und Georgij Vasilyev

Eine besondere Stärke des Films sind Abschiedsszenen, von denen er gleich zwei Prachtexemplare bereithält. In einer trennt sich Pet’ka von seiner Angebeteten Ko-Soldatin Anka, bevor er zu den Weißgardisten spähen geht. Noch sind die beiden keine Geliebten. Stolz und zugleich verschämt druckst Pet’ka rum, gibt Anka die Hand, während sein Blick schon zur Tür wandert, und verlässt dann ruckartig die Heimstatt Richtung Front. Sie besinnt sich, läuft ihm nach, doch er ist schon am Horizont, umflort vom Glanz der Abenddämmerung. Ankas zwischen Wohlwollen und Besorgnis oszillierender Gesichtsausdruck, die schummrig strahlende, überraschend natürliche Lichtstimmung, all das schafft den perfekten Spagat zwischen Kitsch und Poesie. Später spiegelt sich das Motiv in einer Trennung zweier Männer: Čhapaevs Abschied vom liebgewonnenen Kommissar, der nach Moskau zurückbeordert wurde, gerät nicht minder intensiv.

Diese Momente gehen fast wortlos vonstatten, die Stummfilmzeit liegt noch in greifbarer Nähe. Auch die womöglich stärkste Bilderfolge des ganzen Films bedarf keiner verbalen Erläuterungen – bloß der musikalischen Untermalung. Sie spielt in den Gemächern des weißen Erzgegners Oberst Borozdin (verkörpert von Illarion Pevtsov, dem einstigen Schauspiellehrer des Hauptdarstellers Babočhkin), einem für diese Art Film ungewöhnlich undämonsichen, besonnenen Bösewicht. Er sitzt am Klavier, die Melancholie von Beethovens Mondscheinsonate erfüllt den Raum. Im Hintergrund schunkelt sein alternder Diener und Offiziersbursche Potapov, eine treudoofe, traurige, in ihrer dumpfen Stämmigkeit fast schon Frankenstein-hafte Erscheinung, tranceartig hin und her, wie hypnotisiert von Musik, Kultur und der hochwohlgeborenen Aura seines Herrn und Meisters (sowie dessen gleißender Glatze). Ein paar Schnitte später erkennt man, dass Potapovs Tanz kein Tanz ist, sondern die rhythmischen Wischbewegungen einer Putzkraft. Da fällt sein Blick auf die Verurteilung zum Spießrutenlauf, die seinem geliebten Bruder das Leben kostete und dessen Ausführung Borozdin hätte verhindern können. Der Bann scheint für einen kurzen Moment gebrochen – und der Besenstiel stürzt mit lautem Knall zu Boden. Viel markiger kann man Kritik an der Klassengesellschaft filmisch nicht auf den Punkt bringen.

Musik spielt in Čhapaev eine bedeutende Rolle. Gesang blüht periodisch auf. Natürlich ging es hier nicht zuletzt um die Zurschau-(eher::Zurhör-)stellung der Vorzüge des Tonfilms, der sich in Russland etwas später durchsetzte als anderswo. Doch erst in den Liedern, die die Hauptfiguren an entscheidenden Stellen anstimmen, wird Čhapaev vollends zum Volkshelden, verschmilzt im Duett mit Pet’ka und im Chor der einfachen Soldaten mit der sprichwörtlichen „russischen Seele“. Meist handeln diese Lieder vom möglichen, wenn nicht schon drohenden Tod, sind eher wehmütig als heroisch.

Eine Wehmut, die sich im Übrigen problemlos mit gnadenloser Härte gegen jede Schwäche in den eigenen Reihen vereinbaren lässt. Natürlich ist Čhapaev ein Film, dessen Kultstatus auch bedenklich stimmt – auch und gerade weil er so gut ist in dem, was es tut. In einer der befremdlichsten Szenen, die nicht nur aus historisierender Außenperspektive selbstentlarvend wirkt, erschießt Čhapaev kaltblütig einen Soldaten, der zur Fahnenflucht aufruft. Kurz darauf melden sich zwei weitere. Was denn wäre, fragt der Kommandeur. Sie wollten nur bekanntgeben, antworten die beiden, dass da noch so ein Deserteur war, doch sie haben sich schon um ihn gekümmert. Schnitt auf die Leiche. Čhapaev nickt bloß zur Bestätigung. Fast meint man, Erstaunen in seinem Gesicht zu lesen ob der Schnelligkeit, mit der sich seine grausame Doktrin verselbständigt hat.

Später geht er dann mit gutem Beispiel voran in den Heldentod. Im Schutze der Nacht blasen die Weißen zum Angriff und überrumpeln die Roten im seligen Schlaf der Gerechten. „Say hello to my little friend“, brüllt Čhapaev und rammt das MG durchs Dachbodenfenster. Vergebens! Die Rache des Märtyrers folgt auf dem Fuße. Nicht zu knapp, sondern ganz alttestamentarisch, siebzigmal siebenmal. Borozdin wird von einem Säbelhieb aus dem Heu-Hinterhalt niedergestreckt, dann werden große Geschütze aufgefahren. Der Feind hat sich auf einer Klippe konzentriert, will gerade zurü-BUMM! Ende Gelände. Fun Fact: Stalin war ein großer Fan des Films, angeblich hat er ihn im Laufe eines einzigen Jahres 38 Mal gesehen. Und auch Putin brauchte, in einem Interview nach seinem Lieblingsfilm gefragt, nicht lange für seine Replik: „Čhapaev, natürlich“.

Il Cinema Ritrovato 2017: La nuit américaine von François Truffaut

La nuit américaine von François Truffaut

Rainer: Lass uns gleich ins kalte Wasser springen. Es gibt in La nuit américaine mehrere Szenen, in denen sich Cast und Crew in einen freien Nachmittag oder Abend verabschieden. Der Schauspieler Alphonse, der im Film von Jean-Pierre Léaud gespielt wird, sagt seinen Kollegen dabei jedes Mal ab und geht lieber allein ins Kino. Eigentlich ein running gag, aber als Kinobegeisterter findet man sich denke ich automatisch in dieser Figur wieder. Es ist prinzipiell sehr charmant von Truffaut die cinephile Schrulligkeit – hier, aber auch in anderen Szenen – zu würdigen, aber so sehr ich mich mit diesen Figuren und Momenten identifizieren kann, so sehr erschöpft sich diese Geste aber auch, wenn ich länger darüber nachdenke.

Sebastian: Du hast natürlich recht. So charmant dieser Witz ist, es wirkt manchmal fast so, als ob Truffaut versucht seine Cinephilie zu beweisen. Dass gerade Jean-Pierre Léaud, diesen Satz immer wieder sagt, ist auch auffallend. Obwohl Truffaut selbst in diesem Film spielt, erscheint Léaud immer noch wie eine Art Alter Ego. Aber irgendwie ist das Ganze sehr passend für den Film. Allgemein entwirft er ein Bild, das vor allem behauptet, dass alle Filmschaffenden absolut verrückt nach Kino sind. Es gibt ja auch die Szene, in der Truffaut selbst verschiedenste Bücher über große Filmemacher (Bunuel, Godard, Dreyer…) zeigt. In einer Szene in der nicht gedreht werden kann, und deshalb Hintergrundgeräusche für den Film gemacht werden, muss der Tonassistent darauf hinweisen, dass sich bitte niemand über Filme unterhalten soll. Ob das Bild realistisch ist, darüber kann man wohl streiten. Es scheint natürlich sehr utopisch, andererseits habe ich vor kurzem ein Interview von Kogonada gehört, in dem er erzählt, wie überrascht er war, dass Johnnie Cho ein riesiger Truffaut-Fan ist (wie passend), und das einer seiner Produzenten, der bei Twilight mitgewirkt hat, ein riesiger Ozu-Fan ist. Vielleicht ist die Darstellung der Filmlandschaft in La nuit américaine gar nicht so realitätsfern, wie man zuerst denken mag.

Außerdem passt das Ganze (auch wenn es schon sehr dick aufgetragen ist) ganz gut zu einem der Themen des Filmes. Truffaut scheint zu behaupten: Film ist gegenüber dem wahren Leben zu bevorzugen.

Rainer: Es geht mir da gar nicht um Realitätsnähe oder -ferne, und auch nicht darum, ob ein Filmemacher seine Vorbilder so offensiv nach außen tragen sollte, sondern darum, was er daraus macht. Er macht das ja zunächst sehr raffiniert: ein Film über das Filmemachen, der aber nicht den Anspruch erhebt, einen authentischen Blick hinter die Kulissen eines Filmdrehs zu werfen, sondern eine Art Parallelwelt konstruiert. Diese Welt setzt sich aus diversen anekdotenhaften Episoden zusammen, bei denen auch ohne viel Fantasie vorstellbar ist, dass sie sich tatsächlich hätten zutragen können. Die Frage, die ich mir stelle, ist nur, wo darin die Liebeserklärung an das Kino aufhört und wo eine narzisstische Liebeserklärung an sich selbst beginnt. Das ist jetzt gar nicht als rhetorische oder Suggestivfrage gemeint, sondern ich stelle sie mir tatsächlich. Ich mochte den Film auch, aber irgendetwas daran, lässt mich doch sauer aufstoßen.

Sebastian: Wenn man dem Film eines vorwerfen kann, dann wahrscheinlich das. Truffaut spielt selber den Filmregisseur und lässt seine Figur keine böse Tat vollbringen. Er ist oft gestresst, vielleicht sogar etwas überfordert (sein Kontakt mit den Schauspielern ist immer unbeholfen), dennoch immer gutmütig. Wenn man ihm etwas vorwerfen kann, dann nur, dass er einen schlechten Film macht. Auch die Tatsache, dass er die Figur zumindest scheinbar biographisch anlegt (die Episode mit dem Stehlen von Filmbildern in seiner Kindheit) lässt das ganze als verherrlichendes Selbstbild wirken.

Die Liebeserklärung an das Kino ist eine Liebeserklärung an den Filmschaffenden. Dieser wird von Truffaut gespielt. Ob der Film weniger selbstverherrlichend wirken würde, wenn Truffaut nicht die Rolle des Regisseurs selbst übernommen hätte?

La nuit américaine von François Truffaut

Rainer: Vielleicht hilft es, sich genauer anzusehen, welcher Film da eigentlich gedreht wird. Ein junges Ehepaar reist zur Familie des Mannes, um die Schwiegertochter vorzustellen. Die brennt aber schließlich mit dem Vater durch. Der Cast ist international, die Finanzierung ebenfalls und allgemein scheint der Film eher ein mittelgroßes Allerweltsprojekt eines Studios zu sein, als ein Autorenfilm. Truffaut dreht hier einen Film im Film, den er auf diese Weise so wohl nie gedreht hätte, aber in einem System und in einer Größenordnung, die den Hollywood-Produktionen nahekommt, die seine cinephile Generation in Frankreich sehr stark geprägt hat. Umso mehr ich darüber nachdenke, umso weniger sehe ich den Film vor lauter Verbeugungen.

Die Vermischungen zwischen tatsächlicher, imaginierter und vergangener Produktionsrealität, zwischen Parodie und Loblied, zwischen Verherrlichung des Autorengenies und seiner Dekonstruktion sehe ich dann doch etwas problematisch, denn sie verleihen dem Film keine Brüchigkeit, sondern nehmen ihm ganz einfach seine Transparenz, seine Ehrlichkeit. Mit Ehrlichkeit meine ich, wie gesagt, nicht eine vermeintliche Realitätsnähe, sondern die Frage, ob sich der Film seinem Publikum auf Augenhöhe annähert.

Sebastian: Ich verstehe schon, welche fehlende Ehrlichkeit du da ausmachst. Der Film scheint sich jeglicher Haltung zu entziehen. Als Godard Truffaut für diesen Film kritisierte, nannte er ihn einen Lügner. Vielleicht ist Truffaut gar nicht so sehr ein Lügner. Die Frage ist, ob der Film nur ein naives Loblied aufs Kino ist, oder ob mehr dahinter steckt. Allerdings ist das unmöglich auszumachen. Der Film hat im Endeffekt keine Haltung.

Das Einzige, was ich ausmachen kann, scheint die Behauptung zu sein, dass Filmemachen eine Tugend ist. Dabei ist egal, ob der Film gut, oder schlecht ist. Hauptsache man macht Filme. Gesund erscheint mir die Haltung nicht. Dennoch ist sie die einzige, die ich stützen kann. Truffaut selbst sagt im Film „Cinema is King“, alles andere ist irrelevant. Wenn Filme wirklich „wie Züge in der Nacht“ sind… Wohin fährt dieser Zug?

La nuit américaine von François Truffaut

Rainer: Ich würde glaub ich nicht ganz so weit gehen, wie Godard, aber gerade wenn man sich ansieht, wie konsequent Godard in seinen Filmen eine Haltung zur Welt artikuliert, dann lässt La nuit américaine so eine Haltung schon vermissen. Denn, wie du sagst, interessiert sich der Film weniger für die Welt, als für eine filmische Sphäre, die nach ihren eigenen Regeln abläuft und ganz gut ohne die Welt zurechtkommt. Diese Fantasie ist natürlich sehr schön und verführend – gerade für jemanden, der das Kino liebt –, aber sie ist auch gefährlich.

Es tut mir fast etwas leid, dass ich so hart mit dem Film ins Gericht gehe, weil es gibt ohne Zweifel viele, viele Filme, die in vielerlei Hinsicht problematischer sind. Der Film hat auch mich bis zu einem gewissen Grad verführt, aber in Retrospektive fällt es mir ein wenig schwer zu akzeptieren, dass diese Verführung kaum einer Reflektion standhält.

Sebastian: Man kann dem Film vielleicht zugutehalten, dass er selber Bescheid weiß. Darüber, wie sehr er sich der Welt verschließt. Er ist wie eine Einladung diese falsche Welt zu akzeptieren. Alles weist auf diese Falschheit hin. Der Titel „Die amerikanische Nacht“ weißt auf ein filmisches Verfahren hin, bei dem Nachtszenen untertags gedreht werden mit einem besonderen Filter. Es könnte also eine Einladung zu einer Abwendung von weltlichen Problemen sein. Genauso wie eine Filmcrew sich ein paar Wochen zusammen zurückzieht, um einen Film zu drehen (mit ihren eigenen Konflikten und Problemen), so ist dieser Film ein Rückzug für zwei Stunden.

Das ist natürlich legitim. Truffaut beschränkt sich in gewisser Weise in diesen zwei Stunden nichts anderes zu tun, als das Kino zu preisen. Es geht um Freude, um Emotionen und für Truffaut um einen Sinn fürs Leben.

Il Cinema Ritrovato 2017: Alexandre Promio in Ägypten

Les Pyramides (Vue Générale) von Alexandre Promio

Die ersten Gehversuche des Kinos würde ich als „acquired taste“ einordnen. Als ich zum ersten Mal Filme der Gebrüder Lumière und ihrer Operateure sah, maß ich ihnen eher historische als künstlerische Bedeutung bei. Die kurzen, ausschnitthaften Ansichten von öffentlichen Plätzen, Gebäuden und Sehenswürdigkeiten erscheinen recht willkürlich, außer dem einen oder anderen Blick eines Passanten in die Kamera fehlt das Spektakel. Dem Auge fehlt der rote Faden, dem es folgen kann, wie es das gewohnt ist.

Ein „acquired taste“

Kurz: Lange Zeit fand ich es eher mühsam und etwas langweilig mir eine halbe Stunde am Stück diese Filme anzusehen (und ich vermute, es ging nicht nur mir so). Es war hier in Bologna, wo ich in den letzten Jahren eine neue Wertschätzung für die vues Lumière entwickeln konnte. Das hat vielerlei Gründe: Zunächst bekommt man hier eine breite Auswahl an unterschiedlichem Material vorgesetzt, das über die paar dutzend anerkannten, und immer wieder gezeigten Lumière-Klassiker der ersten Stunde (von L’arrivée d’un train über La sortie de l’usine bis zu Repas de bébé), hinausgeht. Zudem sind die Programme exzellent zusammengestellt, ob nach ausführenden Operateuren, geographischen Begebenheiten oder wiederkehrenden Motiven. Und außerdem, und das ist vielleicht der gewichtigste Grund, wird die Präsentation den Filmen gerecht: ein dunkler Kinosaal, eine große Leinwand, Live-Begleitung am Klavier, ein lebendiges Publikum.

Die Seherfahrung in dieser Konstellation ist eine andere, als bei einem pixeligen Youtube-Video zuhause oder in einem zu hellen und technisch schlecht ausgestatteten Hörsaal. Diese Filme können sich am besten entfalten, wenn sie sich entfalten können, wenn das Auge eingeladen wird über die Leinwand zu schweifen, sich in Details zu verlieren, die gemäldeartigen Ansichten zu betrachten wie ein Gemälde – der fehlende rote Faden, die ungewohnte Bildstruktur werden dann zum herausstechenden Merkmal. Ich erkennen meinen Blick wieder, mit dem ich Lumière-Filme sehe, er ist verwandt mit der Art, wie ich Loznitsa sehe, wie ich Akerman sehe, wie ich Tsai Ming-liang sehe, man könnte diese Liste weiter fortsetzen.

Rue Sayeda-Zeinab von Alexandre Promio (Vue N° 374)

Rue Sayeda-Zeinab von Alexandre Promio (Vue N° 374)

Kino des Vermessens

Die vues Lumière laden zum Vermessen des Bildraums ein. Das unterscheidet sie vom Kino des Eintauchens, des Akzentuierens, des Vorbetens. Die Ansichten – und nicht nur jene, die mit der Exotik ferner Plätze kokettieren – faszinieren zunächst als Seh- und dann als Zeitkapseln. Es ist, denke ich, nötig hinzuweisen, dass sich diese Filme nicht in ihrer Funktion als historische Aufzeichnungen erschöpfen. Selbstverständlich hat die Faszination mit den Filmen auch damit zu tun, dass sie einen Blick auf die Vergangenheit freigeben, die Möglichkeit bieten mit den Augen eines Menschen von vor einhundertzwanzig Jahren zu sehen, den Vergleich zwischen Damals und Heute nahelegen. Zu gleichen Teilen sind sie aber Beispiele für eine filmgeschichtlich vernachlässigte Form des Sehens, und für das Öffnen des Bilds für den Zufall, wenn Passanten die Kamera blockieren oder wenn Pferde scheuen (ich habe bereits letztes Jahr kurz darüber geschrieben, wie die Unreinheiten diese Filme bereichern).

Stummfilme sind selbst in den meisten Programmkinos und Cinematheken nur selten zu sehen, auch ihre Restaurierung hat keinen hohen Stellenwert. Was historischen Wert hat wird gerne (wie auch Wochenschauen) als Materialsammlung veröffentlicht, auf DVD oder gar in einer Online-Mediathek. Die Vermittlung dieser Filme wird aus dem Kinosaal ausgelagert auf die eigenen vier Wände des Publikums. Obwohl gerade diese Filme von einer lebendigen Auseinandersetzung profitieren. Hier in Bologna sprach Aboubakar Sanogo über die Ägypten-Filme des produktivsten Lumière-Operateurs Alexandre Promio.

Für mehr Lumière in den Kinos!

Sanogos Kommentare waren augenöffnend. Da ging es weniger um die Entstehungsgeschichte der Filme oder um ihre genaue Verortung und Verzeitlichung, sondern um allgemeine Fragen des Filmischen. Er problematisierte die Besonderheit der Seherfahrung, den dokumentarischen Gehalt dieser Bilder und wie sie sich von anderen unterscheiden – von anderen Bildern aus der gleichen Zeit, die an anderen Orten aufgenommen wurden, und von nachfolgenden Bildern, die andere Politisierungen der Orte und Menschen zum Ziel haben (die Filme der Lumières waren Produkte des Kolonialismus).

Es scheint, kaum eine Filminstitution fühlt sich heute mehr verpflichtet diese Filme zu zeigen, die wunderbar katalogisiert, in passablem Zustand und recht gut verfügbar sind. Das ist ein Versäumnis, denn nicht nur wer nach Bologna reist, sollte Gelegenheit dazu bekommen sich diesen „acquired taste“ anzueignen.

Il Cinema Ritrovato 2015: Ruggles of Red Gap von Leo McCarey

Charles Laughton als Ruggles

Ruggles bleibt gerne im Hintergrund. Er ist der Diener des Earl of Burnstead und in dieser Funktion sind Mitglieder seiner Familie schon seit Generationen im Einsatz. Ruggles ist pflichtbewusst und loyal und weiß um die Wünsche seines Herrn, noch bevor dieser sie äußert. Kurzum, Ruggles ist ein Meister seines Metiers und fühlt sich sehr wohl in seiner Rolle als Mensch zweiter Klasse. Die Qualitäten des britischen Butlers sind auch der neureichen Amerikanerin Effie Floud nicht verborgen geblieben, die während ihrer Kulturreise in Paris mit dem Earl of Burnstead Freundschaft geschlossen hat. Effie, an finanziellen Mitteln mangelt es ihr nicht, möchte die sagenumwobenen Früchte des „besseren“ Lebens naschen, doch ihre formale Bildung lässt zu wünschen übrig und ihr Mann Egbert, der sich eher für die Bier- und Weinkultur interessiert, ist auch keine große Hilfe. In einer Pokerrunde unter Freunden bringt sie den Earl of Burnstead schließlich dazu seinen Diener als Wetteinsatz zu bieten – Mrs. Floud schlägt zu und ergattert ihren Gewinn, der freilich erst am nächsten Morgen beim Frühstück von seinen geänderten Lebensverhältnissen erfährt. Der Earl, noch arg verkatert von der durchzechten Nacht, versucht Ruggles die Neuigkeiten schonend beizubringen, versagt dabei allerdings auf voller Länge. Als dieser aus den kryptischen Formulierungen seines Herrn endlich die richtigen Schlüsse zieht, nimmt er das Urteil trotz alledem mit Fassung – dass er wie ein Leibeigener einfach so als Wetteinsatz verloren und gewonnen werden kann, scheint ihn gar nicht weiter zu stören, sondern eine Selbstverständlichkeit zu sein.

Charles Laughton als Ruggles

Die Prämisse von Ruggles of Red Gap klingt simpel: vornehmer Brite kommt in amerikanisches Provinznest und stellt die dortigen Verhältnisse auf den Kopf. Filme dieser Art sind keine Seltenheit und werden mit unterschiedlicher Qualität und Würde seit Anbeginn des Mediums filmisch verarbeitet, in Theater und Literatur hat das Sujet ebenfalls lange Tradition – Ruggles of Red Gap basiert auf einem Roman aus den 1910er Jahren. Trotz der bekannten Motive und Figuren ist Ruggles of Red Gap ein ungewöhnlicher Film und das ist dem kongenialen Zusammenspiel von Hauptdarsteller Charles Laughton und seinem Regisseur Leo McCarey geschuldet. McCarey seines Zeichens im Produktionsstudio von Hal Roach groß geworden, hat in den zehn Jahren vor Ruggles of Red Gap mit dem who-is-who der Slapstickkomödie gearbeitet. Er war es, der Stan Laurel und Oliver Hardy erstmals als Duo auftreten ließ. Nebenbei realisierte er Filme mit Harold Lloyd, Charley Chase und Max Davidson. Anfang der 30er Jahre wechselte er zum Langfilm und dirigierte die Marx Brothers im grandios-genialen Chaos von Duck Soup, dem heute wohl bekanntesten Film der Truppe.

Charles Laughton hingegen war kein Filmkomiker. Ganz im Gegenteil, der korpulente Brite war und ist berühmt für seine Rollen in Kostümfilmen und Shakespeare-Stücken. Ein distinguierter Gentleman, Oscarpreisträger und einer der meistgeschätzten Akteure seiner Zeit. Im Jahr 1935 war er neben seiner Rolle als Ruggles auch als Captain William Bligh in Mutiny on the Bounty und als Inspector Javert in Les Misérables zu sehen. Das sind große Rollen, aber ist das auch die große Kunst? Die kleine Burleske, in der Laughton einen vornehmen aber warmherzigen Butler spielt, läuft all diesen großen Produktionen den Rang ab. Hier ist nicht das rezitieren großer Monologe gefragt und auch die großen Emotionen sind in Ruggles of Red Gap fehl am Platz. Dafür sind feine Nuancen gefragt, vor allem zu Beginn wenn der stocksteife Ruggles auf das unangemessene Verhalten der Amerikaner zu reagieren hat, aber seiner Abneigung keinen Ausdruck verleihen darf. Mit einem leichten Zucken der Gesichtsmuskeln vermag es Laughton das irritierte Innenleben des Dieners nach außen zu kehren, ohne dabei Haltung zu verlieren und aus der Rolle zu fallen (im doppelten Sinne). In McCarey fand er den idealen Partner für dieses thespische Kunststück, denn dieser vereitelt nicht die große Wirkung von Laughtons kleinen Gesten, indem er sie mittels Großaufnahme oder anderer inszenatorischer Tricks zum Zentrum des Geschehens macht. Ganz im Gegenteil, wie McCarey es im Stummfilm gelernt hat, findet Laughtons Spiel in der Halbtotalen, und wie es sich für einen Diener gehört, im Hintergrund, statt. Er inszeniert Laughton, wie die großen Komiker, mit denen er seine Lehrjahre verbracht hat und vertraut auf sein dort erworbenes Gespür für das richtige Timing eines Gags.

Charles Laughton in Ruggles of Red Gap

Mit Fortdauer des Films wandelt sich Ruggles jedoch, anders als in den Klassikern der Slapstickkomödie scheitert er nicht an den Herausforderungen, mit denen er sich konfrontiert sieht, sondern erkennt im Land der unbegrenzten Möglichkeiten, dass er sein Dienerdasein aufgeben möchte, um fortan sein eigener Herr zu sein. Die lockere Burleske wandelt sich zum recht plumpen Lehrstück in Sachen Demokratie und Menschenrecht. Das große Understatement, dass Laughton zu Beginn an den Tag legte wird durch großen Pathos ersetzt: er rezitiert die Gettysburg-Rede von Abraham Lincoln und wirft zum Abschluss einen der „besseren Herren“ aus dem Restaurant, mit dem er seinen Lebensunterhalt zu verdienen gedenkt. Ab und an blitzt noch das komische Talent des Gespanns durch, doch die komischen Momente erster Güte wurden der Entwicklung der Figur geopfert. Doch das verzeiht man diesem Film nur zu gern, denn anders als so viele Filme, die ähnliche Dramaturgien vorweisen, bleibt Ruggles of Red Gap seiner Linie treu, ist vergnüglich und erhebend und passt sich somit nahtlos in die Reihe der McCarey-Filme der großen Herzen ein.

Il Cinema Ritrovato: Festivaldialog

Das Il Cinema Ritrovato schickt gerade letzte Lichtstrahlen auf seine Leinwände. Kurz nach ihrer Abreise aus Bologna unterhalten sich Andrey und Rainer über ihr Bild dieses einzigartigen Festivals.

Rainer: Waren Ingrid Bergmans Augen wohl wirklich so blau, wie es uns das Festivalsujet weismachen will?

Andrey: Bestimmt für alle, die ihr in selbige geblickt haben. Aber ich habe hier bislang keinen einzigen Film aus dem Bergman-Tribute gesehen – nicht etwa aus Desinteresse, sondern weil mich das Alternativprogramm stets mehr reizte. Bologna besteht eigentlich nur aus Alternativprogrammen, findest du nicht? Egal, in welchem Film man sitzt, zumindest für einen kurzen Moment juckt einen das Bewusstsein, einen anderen zu versäumen, der womöglich ebenso spannend (und ebenso rar ist).

Rainer: Ich empfinde das ehrlich gesagt ganz anders. Natürlich kann man hier, wie auch bei anderen Festivals, von einem Screening zum nächsten hetzen, aber die besondere Qualität des Il Cinema Ritrovato ist für mich, dass hier keine so gespannte Atmosphäre, sondern eher Urlaubsstimmung herrscht. Da finde ich es dann auch nicht so schlimm, wenn ich mal etwas verpasse. Was soll es überhaupt bringen, den raren und überraren Filmen und Kopien nachzurennen?

Andrey: Nun, die offensichtliche Antwort wäre: Um die Zeit, die einem in diesem cinephilen Schlaraffenland beschieden ist, voll auszuschöpfen, um seinen Horizont zu erweitern und sich filmhistorisch auf den Gebieten weiterzubilden, zu denen einem der Zutritt für gewöhnlich mangels Verfügbarkeit der hier gezeigten Artefakte verwehrt bleibt, damit es einen später nicht reut, dass man einst den verlorenen Schlüssel zum Werk eines geschätzten Regisseurs oder einer faszinierenden Periode in Händen hielt und ihn achtlos beiseite geworfen hat.

Rainer: Das ist ein sehr nobles Anliegen, aber mich darauf zu Lasten persönlicher Vorlieben zu konzentrieren, würde denke ich erst recht meine cinephile Energie erschöpfen, sodass ich womöglich nach einiger Zeit gar nichts mehr mit diesem Schlaraffenland anfangen können würde. Da folge ich im Zweifelsfall doch lieber meinen Leidenschaften und verzichte auf einen Film, den ich vielleicht nie mehr wiedersehen kann (wenn er wirklich so rar ist, dass er zu meinen Lebzeiten nicht mehr gezeigt wird, liegt das womöglich eh daran, dass er nicht allzu gut ist, aber das ist eine andere Frage). Kino soll doch auch Freude machen, oder? Diese Grundeinstellung spüre ich hier in Bologna sehr stark.

Filmvorführung auf der Piazza Maggiore

Andrey: Das resultiert wohl auch aus der zuvor genannten „Urlaubsstimmung“ – das Wetter ist schön, das Essen gut und relativ preiswert, das Programm im schlimmsten Fall „bloß“ interessant, die Atmosphäre entspannt (in der Hinsicht, dass man nicht von seiner Umgebung gestresst wird, wenn man sich nicht stresst – das Gegenteil von Cannes), ebenso die Menschen, die eigentlich alle im Geiste Vertraute zu sein scheinen. Und die alte Universitätsstadt mit ihrem warmen, rötlichen Fassadenkleid macht den Eindruck eines offenen Campusgeländes, auf dem jeder immerzu Freigang hat. Soweit der idealisierende Touristenblick, aber ein bisschen frage ich mich schon, inwieweit die steigende Popularität dieses „Genussfestivals“ (das ich durchaus genieße) nicht symptomatisch ist für die Verlagerung erlebter Filmgeschichte in exklusive Domänen, wo die seltenen Kopien den Status erlesener Rebsorten annehmen und die Projektion zur Degustation wird.

Rainer: Und inwiefern ist das ein Problem? Es ist doch schön, wenn Film als Genussware wahrgenommen wird und wann in der Geschichte gab es denn einen Ort an dem Filmgeschichte bewusster erlebt und als Selbstverständlichkeit wahrgenommen wurde als hier? Es ist mir nicht klar, welches Alternativprogramm du bevorzugen würdest – geht es dir um die Kinoerfahrung vergangener Jahrzehnte, wo man einfach mehrmals die Woche zur Unterhaltung ins Kino ging? Damals war das Bewusstsein für Filmgeschichte und Film als Kunst aber weit weniger vorhanden. Man konnte viele Filme sehen, aber fast ausschließlich aktuelle. Die zunehmende Marginalisierung dieser Kinokultur darf und kann man betrauern, aber ich sehe in dieser Spezialisierung eigentlich eine große Chance für die Filmkultur, auch wenn sie natürlich eine zunehmende Elitenbildung mit sich bringt, die man bekämpfen müsste (allgemein würde ich das Il Cinema Ritrovato aber ohnehin niederschwelliger einstufen als zum Beispiel das Österreichische Filmmuseum).

Andrey: „Exklusiv“ war vielleicht das falsche Wort, aber dieses Festival hat schon etwas von einer Enklave, und Enklaven neigen immer ein bisschen dazu, den Rest der Welt zu vergessen. Andererseits wird ja viel von dem, was hier gezeigt wird, später nach außen getragen und findet seinen Weg in die Cinematheken. Gibt es eigentlich etwas aus dem hiesigen Programm, das du besonders gerne wieder- und anderen zugänglich gemacht sehen würdest?

Rainer: Interessanterweise sind meine Favoriten alle ohnehin Werke relativ bekannter Filmemacher und nicht allzu schwer zu sehen. So zum Beispiel Otto Premingers Bunny Lake Is Missing, Anthony Manns The Heroes of Telemark oder Roberto Rossellinis Europa ’51. Nichtsdestotrotz waren auch die spezielleren Programme wertvolle Erfahrungen, vor allem die Vorläufer des Iranischen Neuen Kinos hätten sich mehr Präsenz verdient – und German Concentration Camps Factual Survey, nach nunmehr siebzig Jahren durch die Arbeit des Imperial War Museums das erste Mal in seiner endgültigen Form zu sehen, sollte zu einem Pflichtfilm für Mittelschüler werden.

„The Heroes of Telemark“ von Anthony Mann

Andrey: Viele der Filme, die du genannt hast, sind digital restauriert worden und wurden hier als DCP gezeigt. Rossellini und (soweit ich weiß) auch Preminger sind schon seit Längerem auf Bluray erhältlich. Ich mache mir dann doch eher Sorgen, dass es so etwas wie die Renato-Castellani-Schau nie über die Grenzen Italiens schafft. Obwohl das jetzt nicht alles Meisterwerke waren, ergänzen sie das neorealistische Universum um einen interessanten Aspekt. Und bei den ganzen Technicolor-Vintage-Prints sowie den japanischen und sowjetischen Farbfilmen würde ich mich auch freuen, diese filmspezifische Visualpracht anderswo strahlen zu sehen. Andererseits fand meine intensivste Kinoerfahrung hier im Rahmen einer Digitalprojektion (und außerhalb eines Kinos) statt, beim Screening der restaurierten Fassung von Rocco e i suoi fratelli auf der Piazza Maggiore.

Rainer: Wenn man es von dieser Warte aus betrachtet, kann ich mich dir nur anschließen: mehr Technicolor-Vintage-Prints braucht das Land. The Heroes of Telemark war allein durch die absurd hohe Qualität der Kopie eine außergewöhnliche Kinoerfahrung. Leider wurde die Vorführung dieses Films, wie auch viele andere durch inkompetente Projektionisten gestört. Wahrscheinlich zeigen sie deshalb Jahr für Jahr mehr digitale Kopien…

Andrey: Die wenigen Digitalprojektionen, die ich besucht habe, wurden auch nicht wesentlich professioneller gehandhabt. Wenn ich mich recht entsinne, habe ich hier überhaupt keine einzige Vorführung erlebt, die nicht von irgendwelchen Störungen, Defekten oder anderen Irritationen geplagt war – der plötzliche Wettersturz während des Screenings von Louis Malles Ascenseur pour l‘échafaud am Tag unserer Ankunft war offenbar ein Menetekel, seiner sommerwilden Schönheit zum Trotz. Auch mit den Beginnzeiten nahm man es nie so genau, ausufernde Einführungen mit hinkenden Übersetzungen führten periodisch zu Verzögerungen, ich hörte sogar von einer 40-minütigen Verspätung. Eigentlich ist diese organisatorische Schludrigkeit absurd bei einem derart ostentativ cinephilen Festival, aber bezeichnend für Bologna ist auch, dass es diesbezüglich kaum böses Blut gibt, gerade mal ein leises Raunzen. Am Ende ist man immer noch froh, hier zu sein.

Il Cinema Ritrovato 2015: Filmkultur alla bolognese

Tagliatelle alla Bolognese

Seit mehreren Tagen bin ich nun in Bologna in einer ständigen Ekstase zwischen Raritäten, Klassikern und großartigem italienischen Essen. Als Neuling hier bin ich mit all den Sensationen konfrontiert, die für die regulären Festivalgänger schon längst zur Gewohnheit geworden sind. Bologna, das ist nicht Arbeit, das ist kein Hetzen von Premiere zu Premiere, sondern entspannte Cinephilie, nur unterbrochen von ebenso entspannten Essenspausen. Die Mehrzahl der Menschen, die mir hier begegnen bezeichnet sich selbst als Urlauber, selbst wenn sie nebenher für das ein oder andere Medium über das Festival berichten. Man nimmt sich Zeit für Bologna und das wirkt sich auf mehreren Ebenen auf die Atmosphäre aus. Einerseits hat man mehr Zeit zum Plaudern, zum gemeinsamen dinieren und weintrinken und andererseits ergeben sich viel substantiellere Gespräche über Film und Filmkultur als man es von Festivals gewohnt ist. Es treffen sich alte Freunde und solche die es noch werden wollen, in einer Art Paralleluniversum, während der Rest der Stadt höchstens von den Open-Air-Screenings am Piazza Maggiore Kenntnis nimmt. Anders als bei den prestigereichen Premierefestivals steht in Bologna keineswegs die Stadt still, wenn das Il Cinema Ritrovata Einzug hält – es ist ein Randphänomen, ein Paradies für Spezialisten. Dennoch laufen mir auch immer wieder Menschen über den Weg, die ganz ohne berufliche Obligationen das Festival besuchen. Sie sind keine Kritiker, keine Archivare, keine Filmwissenschaftler, keine Studenten, sondern pure Cinephile. Sie sind die kritische Masse, deren Liebe zum Kino so vielen großartigen DVD-Labels, Filmmagazinen und Cinematheken, das Überleben sichert. Sie sind Buchhalter und Bibliothekare, Männer und Frauen, die ihren Urlaub damit verbringen ihrer Leidenschaft fürs Kino zu frönen und nebenher Sonne und Tagliatelle (die berühmte Pasta alla bolognese isst man hierzulande nämlich nicht mit Spaghetti) zu tanken.

Sujet Il Cinema Ritrovato 2015

Intellektuell beflügelnd ist die intensive Auseinandersetzung mit der Filmgeschichte ebenfalls. Die vielen kleinen aber sorgsam kuratierten Programme wirken wie Appetithäppchen, die Lust auf mehr machen sollen. Ein bisschen Ingrid Bergman hier (ihre leuchtend blauen Augen zieren das Festivalsujet), ein wenig frühes japanisches Farbkino da, meisterhafte Slapstickkomödien als Zuckerguss und zum Abschluss des Tages ein paar ultrarare sowjetische Filme aus der Tauwetter-Ära. Jeder Tag hält ein anderes Menü bereit, und die Auswahl (427 Titel!) ist so überwältigend, dass man schon nach kurzer Zeit bemerkt, dass es keinen Sinn macht den raren Filmen und nie gezeigten Archivkopien hinterherzujagen und ganz ohne schlechtes Gewissen stattdessen gemütlich auszuwählen, wonach man Lust und Laune hat. Hier ist man nicht in Gefahr den einen Film zu verpassen, der in den nächsten paar Wochen den Diskurs beherrschen wird. Zwar kann man Filme verpassen, die vielleicht Jahrzehnte nicht mehr öffentlich gezeigt werden, aber die Gefahr eine besonders exquisite Pizza zu verpassen, wiegt oft schwerer. Solche Worte aus meinem Mund – das kann nur Bologna!