Betrachtungen zu Koepfer versus Federer, 05. Juni 2021

Seine auch mit 39 Jahren federleichte Erlauchtheit des Filzballsports gab sich trotz der beleidigend leeren Ränge zu später Stunde im nach dem zweifach verheirateten Gründer von Tennis de France benannten Stadions nahe des orchideenfreundlichen Jardin des serres d’Auteuil die Ehre, um, so wissen wir heute, ein Spiel zu spielen das nichts bedeutete. Zumindest nicht, wenn man es mit dem Fortgang des Turniers hält. Der Kontrahent des im gleichen Rot wie die Balljungen auflaufenden Roger F., dessen Trainer mit fragwürdiger, aber zumindest konsequenter Sponsorenkleidung auf der Tribüne platznahm, war der als Pit Bull (nicht der „Rapper“) verschriene Deutsche Dominik Koepfer. Dieser hatte vor wenigen Jahren noch parallel zum Studium am College in New Orleans in den gelben Ball gedroschen und zählt sicherlich zu den deutschen Spitzenspielern mit größerem Sympathiepotenzial. Aber wenn ein Mann mit einem solchen Nachnamen noch einen Spitznamen braucht, dann weiß man bescheid. Das amüsierte Kommentatorenduo Stach und Becker hatte seine Freude mit der Metaphorik beißender Hunde und so soll auch diese kläffende Geschmacklosigkeit, aus dem um solche nie verlegenen Sportuniversum, anerkannt werden.

Pit Bull also schlich auf den Platz, aber in den funkelnden Augen erkannte man bereits, dass er daran glaubte, dem großen Federer, der nach einem Jahr Zwangspause und Knieoperationen trotz erstaunlicher, weil altbekannter Eleganz noch nicht ganz so unwirklich über den sandigen Platz schweben konnte, den Zahn zu ziehen. Federer dagegen betrat den legendären und einschüchternden Tennisplatz mit der Aura eines Kunstwerks jenseits der technischen Reproduzierbarkeit. Bei Nadal sprechen sie von einem Wohnzimmer, aber ehrlichgesagt sieht der Spanier so aus, als wollte er alles aus diesem entfernen außer seiner dutzenden Ticks, die er wie ein Kellner in einem Nobelrestaurant rund um das von weißen Pelargonien umsäumte Staubfeld verteilt. Federer aber strahlt wahrhaftig die Ruhe des Wohnzimmers aus und dort, wo er im Sand schlafen würde, erstarren seine Gegner in panischer Ehrfurcht.

Die Geschichte des darauffolgenden Spiels ließe sich wie folgt zusammenfassen: Koepfer kämpfte mit Herz, aber sein Verstand setzte aus, als Federer mit Strohalmen warf, an die er sich klammerte. Ja, es war das Spiel eines alten Mannes, der es eigentlich nicht unbedingt nochmal wissen wollte an diesem Abend, aber es auch nicht auf sich sitzen lassen konnte, dass er mit so vielen ungezwungenen Fehlern abreisen würde. Koepfer spielte mit der Courage des Verlierers, immer wenn er begeisterte, riß wieder ein Faden und Federer, der stellenweise wirkte wie ein Schlafloser im nächtlichen Kampf mit einer Mücke, schien mehrfach das Handtuch zu werfen, ehe er es doch wieder fand irgendwo zwischen den Pelargonien, sich das Gesicht abwischte, die Finger anpustete und nochmal über seinen ersten Aufschlag nachdachte.

Als man bereits glaubte, dass der Pit Bull wirklich zubeißen würde, bekam Federer eine zweite Luft, die entweder seinem Ehrgeiz zuzuschreiben ist (warum sonst würde er sich solche Spiele noch antun?) oder einer taktischen Meisterleistung, die mit dem Haushalten der Kräfte zu tun hat. Federer agierte wie ein plötzlich zuschnappender Haifisch, wenn wir bei der Tiermetaphorik bleiben wollen. Aber ein Hai tänzelt nicht so über den Sand und ein Hai schiebt sich nicht nach jedem Biss die Locke aus dem Gesicht. Irgendwann schrie Koepfer dann in den Nachthimmel, was Becker und Stach, die nur allzu gerne über das sprechen, was die Spieler sagen und schreien, beunruhigte. Bis dahin hatte er den Schweizer in viele lange Ballwechsel verwickelt und des nicht zuletzt deshalb bis nach Mitternacht geschafft.

Koepfer hat erreicht, dass Federer mehr arbeiten musste, als er wollte, um dann doch zu gewinnen. Dass er heute die Konsequenzen daraus zog und das Turnier vorzeitig verließ, ist bitter für den Pitt Bull und bedauerlich für all jene, die sich solche Spiele ansehen, weil sie dem Realismus des Lebens entfliehen wollen. Für alle, die wissen, dass Federers eigentliches Wohnzimmer grasbewachsen ist, ist dieser Ausstieg nur ein weiterer Grund zu träumen.

Betrachtungen zu Thiem versus Zverev, 13. September 2020

Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, dem Stelldichein zwischen dem niederösterreichischen Werbegesicht der Bank Austria und dem oberkörperfrei durch die Coronazeit tanzenden „Sascha“ Zverev nicht beizuwohnen, eine innere körperliche Unruhe bewegte mich jedoch dazu, mich nachts nicht vom Bildschirm fortzubewegen, um diese, so wurde mir vom zwischen aufrechter Liebe zum Sport und beinahe schon parodistischer, wenn auch preisgekrönter Schlaumeierei („ein Grand-Slam-Finale ist kein Spiel wie jedes andere.“) wechselndem Kommentatorenduo Matthias Stach und Boris Becker vermittelt, magische Nacht deutscher (und österreichischer) Sportgeschichte zu erleben.

Das Setting freilich hätte trauriger nicht sein können. In einer in den 1930er Jahren trockengelegten Sumpflandschaft fanden sich in einem hässlichen, wenn auch beeindruckenden Konstrukt aus Metal und Werbebannern, das man für 254 Millionen US Dollar errichtete, einige recht steif im Abendlicht stehenden Gestalten mit Masken ein, um einmal mehr die heroischen Qualitäten jener, die Filzbälle mit einem Schläger durch die Luft fliegen lassen, zu überprüfen. Erst kürzlich war eine maskentragende Frau bei einem ähnlichen Anlass von einem solchen Filzball getroffen worden, was einmal mehr die Gefahr dieser Arbeit unterstrich und zum Ausschluss des designierten Gewinners des Turniers (ein Mann, der noch besser tanzen kann als Sascha) führte, was erst das Finale zwischen den beiden in solchen Angelegenheiten durchaus grünen Männer ermöglichte.

Die Schiedsrichterin saß bereit, ich meine etwas nervös, ob der Tragweite, die hinter der eigentlichen Leere des Ortes vermutet werden konnte und Becker, der sich unlängst in typischer Manier über die Schönheit einer ihrer Kolleginnen erfreute, betonte gleich eines gescholtenen Buben, das es doch toll sei wie sehr sich der Tennissport für die Gleichberechtigung einsetze. Aus der Anlage dröhnte trotz fehlender Zuhörer der gleiche ohrenbetäubende Lärm, der dieses Turnier seit Jahren zum einzigen macht, bei dem man froh ist, wenn die übertragenden TV-Sender bei den Seitenwechseln in eine Werbung schalten. Einem großen Tennisabend stand nichts mehr im Weg.

Zu den Protagonisten muss gesagt werden, dass ihre Beziehung eher antiklimatisch auf die potenziell dramatischen Konflikte eines Nachbarschaftsduells wirken. Domi und Sascha mögen sich, ja sie sind Freunde und Stach, dessen Aufgeregtheit die Qualität der ersten beiden Sätze bei Weitem übertraf, hatte wie so oft einige Geschichten parat über diese Freundschaft, das Leben und die Familien, denen sowieso Hauptrollen zukamen, da sich sowohl der übertragende Sender als auch das austragende Turnier dazu entschieden, die Brüder und Eltern per Interviewfragen und Videoschaltungen zum Thema zu machen; emotional und tränenreich im Fall von Zverev, etwas tollpatschig, aber doch nett im Fall von Thiem. Die Helden sind eben nichts mehr heute, ohne all das, was man sonst noch über sie wissen kann.

Das Tennisspiel war allerdings auch kein Spiel wie jedes andere, es war ein Grand-Slam-Finale und Domi und Sascha bemühten sich sehr darum, es nicht zu gewinnen. Nach einem Jahrzehnt der Dominanz eines Managers der Adria-Tour, eines exzellenten Trägers von Rolex-Uhren und eines grundsympathischen Patienten von Doktor Fuentes in Madrid hatten also zwei neue Gesichter die Chance, Geschichte zu schreiben. Wie Becker versicherte: Der Generationswechsel ist schon in vollem Gange. Aber zuerst wollte Thiem, der aufgrund seiner Leistungen und der größeren Erfahrung in Finals leicht favorisiert war, nicht mitspielen. In den ersten beiden Sätzen hielt er sich mitunter so weit hinter der Grundlinie auf, dass man ihn, wenn er eine Maske aufgezogen hätte, für einen Linienrichter hätte halten können, den Becker womöglich hübsch gefunden hätte, auch wenn der Österreicher mit seinen Frisurexperimenten haushoch gegen Zverev mit seiner Surferattitüde, der baumelnden Kette und dem nach jedem Ballwechsel entblößten Sixpack verlieren würde.

Als Thiem dann begann mitzuspielen, war Zverev schon kurz vor dem Ziel. Aber der Tennissport und ein solches Grand-Slam-Finale, das kein Spiel wie jedes andere sein konnte, wirkten mit ihren psychologischen oder unerklärlichen Entwicklungen derart auf die Kontrahenten ein, das nun alles kippte und Thiem dem wacker kämpfenden und erstaunlich entspannt spielenden Zverev die Bälle nur so um die Ohren schoß. Es entwickelte sich ein Duell auf höherem Niveau als man zunächst befürchten musste, was gut war, denn schließlich, so verlautbarte Becker, sahen wir die Zukunft. Nun verhält es sich mit der Zukunft aber so wie mit allem, was man zu äußerst später Stunde sieht (es war weit nach Mitternacht aufgrund der Zeitverschiebung zu New York): man sieht sie nicht mehr richtig. Meine eigene Müdigkeit schien sich mit jener der Spieler zu verbinden, denn mit jeder Chance, das Spiel zu beenden, verließen den jeweils Führenden die Kräfte. Beinahe glaubte ich, einem Märchen zu folgen, indem ein Fluch immer auf den fällt, der dem Triumph am nächsten ist. Nur ein sehr schlauer Ritter würde mit einer Lösung für das Problem auftauchen, zum Beispiel indem er wie in manchem Kartenspiel bis zur letzten Sekunde wartet, um seinen Konkurrenten auszustechen.

Im Tie-Break setzten die beiden diesen wogenden Vermeidungsreflexen dann die Krone auf. Thiem wurde mit einem Mal von Krämpfen und Schmerzen heimgesucht, er schleppte seinen Körper nur noch zu den Ballwechseln während Zverevs Aufschläge langsamer und langsamer wurden, sodass man Angst haben musste, dass ein über der Sumpflandschaft fliegendes Moorhuhn mit einem Flügelschlag die Richtung des Balles entscheidend verändern würde können. Am liebsten, so wirkte es, hätte die beiden Freunde sich auf ein Unentschieden geeinigt und vielleicht doch nochmal, der Tradition wegen Federer, Nadal oder Djokovic zum Sieger erklärt, aber, wie Becker versicherte, gäbe es im Tennis kein Unentschieden und wie so oft sollte er mit dieser brillanten Feststellung Recht behalten.

Einige applaudierten als Thiem erschöpft und lachend zusammenbrach während Zverev seinem Freund mit einer verbotenen Umarmung gratulierte. Die Bank Austria freute sich sehr auf Twitter und Zverev, so versichert man uns, gehört sowieso die Zukunft.