Nahe Ferne: Mythos und Mystik im Kino bei Music von Angela Schanelec

Auftreten: Manchmal geht man ins Kino und denkt sich nicht viel dabei. Ein andermal vielleicht, weil man gerade sehr viel nachdenkt und vergessen will. Oder aber auch, weil man nicht weiterkommt und dringend eine Antwort benötigt. Wahrscheinlich kann ein Film all das hergeben, aber am Ende auch nur unter der Bedingung, das Gezeigte wieder zurückzunehmen und vergessen zu lassen. Demgegenüber haben womöglich Angela Schanelecs Filme deshalb eine so unwirkliche Bedeutung, weil sie die Sehnsucht, die das Kino verspricht einzulösen, auf Distanz halten. Nicht weil Bilder oder Worte im Kino automatisch darauf hindrängen würden, leicht verträgliche Antworten nach den Bedürfnissen des Publikums zu vergeben, sondern eher, weil die Menschen, für die sich Schanelec interessiert, zwischen Hoffnungsschimmer und Schicksalsergebenheit zerrissen sind. So bewegen sich ihre Figuren durch urbane und rurale Landschaften, als zöge sie etwas Unbestimmtes an. Kaum setzen sie einen Fuß auf den Boden, erfahren sie durch ihr Eigengewicht von der Schwerkraft ihres Tuns. Willkür oder Wahlfreiheit scheinen kaum zu existieren, stattdessen überwiegen Stetigkeit und Komplexität. Bei Schanelecs Filmen handelt es sich um konsequente Filme im doppelten Sinne. Tugendhaft bescheiden sie sich auf wenige filmische Mittel, doch anstatt zu verstummen, dringt eine Stimme hervor, die tonangebend nach dem »Weil« in der Welt mit dem Blick des Kinos fragt.

Setzen: Schanelecs Film Music führt diesen eingeschlagenen Weg weiter und verengt ihn durch außergewöhnliche Präzision. Der Film beginnt mit einer Gewitterwolke, die grollend über einen Bergrücken zieht. Wenig später wird ein Kind gefunden. Als wäre nur ein Augenblick vergangen, folgt der Film dem erwachsen gewordenen Waisenkind Jon. Ein Unfall, ein Selbstmord und ein erneuter Unfall reihen sich aneinander, dazwischen zärtliche Blicke im Gefängnis. Während Jon seine Strafe für das Unglück absitzt, lernt er die Aufseherin Iro kennen. Sie kommen sich näher. Doch Iro wird herausfinden, dass sie sich schon vor ihrer Liebe zueinander nah standen. Nachdem sich Iro dessen klar wird und sich ihr Leben nimmt, findet sich der Film in Berlin wieder. Zwar müssen Jahre vergangen sein, aber die Vergangenheit scheint immer noch an Jon zu haften. Das Geschehen des Films löst sich in einzelnen, kraftvollen, monolithischen Bildern auf. Meistens sind es Hände oder Füße, die vom Blick der Kamera umschlossen, nicht nur dem Eigensinn des Films folgen, sondern auf etwas darüber hinaus liegendes verweisen. Fugenhaft zersprengt fügen sie sich aber trotzdem frei von effekthaschendem Erzählen zu einem Ganzen zusammen. Nimmt man beim Sehen die Perspektive ein, gleichzeitig nach vorn und zurückblicken zu können, ließe sich erkennen, wie jedes Bild aus dem anderen hervorgeht. Wie vom fließenden Wasser getragen, führt ein Bild des wunden Kinderfußes, zum wunden Fuß des erwachsenen Jon am Meer, hin zum wunden Fuß in der Gefängnisdusche. Schanelec entwirft so eine großangelegte Bewegung, die detailversessen in jedem Blick die Richtung aufsucht, ausweist und jener unhintergehbar folgt.

Binden: Mit dem Gewitter, den Unfällen und dem Aufeinandertreffen zweier Menschen, die sich nicht kennen, obwohl sie einander nicht fremd sind, geht Music vom Zufall aus. Doch anstatt sich über das Eintreten der unerwarteten Möglichkeit zu wundern, erkennt der Film die Ereignisse nur nüchtern an. Vielleicht macht sich der Film gerade dadurch die Unabwendbarkeit des Geschehens stoisch bewusst. Dass sich Schanelec am Ödipus-Mythos bedient, indem sie unverkennbare Motive und Figuren in ätiologischer Weise, aufgreift, wie etwa Jons wunden Fuß, macht den Film aufschlussreich, aber nicht unbedingt einleuchtend. Insofern muss der Film vielleicht eher als eine Meditation verstanden werden, deren Inhalt sich nicht nur auf antike, sondern ebenso christlich-abendländische Mystik bezieht. Beides verbindet sich in der Suche nach dem Auskommen mit einer zugeführten Wunde. Sie lässt sich verbinden, doch ihre Ursache kann dadurch nicht verschwinden. Was Schein und was wirklich ist, gerät allerdings zunehmend durcheinander. So sitzt Jon auf einer Berliner Polizeiwache, als er plötzlich blitzartig von einer Erkenntnis getroffen wird. Worauf seine Eingebung zielt, lässt sich nicht versprachlichen. Ob es sich um einer Vision oder eine Einsicht handelt, wird der Film nicht beantworten, weil es das Kino nicht beantworten kann. Schanelecs Kino eröffnet hierbei konzentriert den unverstellten Blick auf die eigenen Wunden, die sich einerseits unmittelbar auf der Haut, und andererseits weit in der Vergangenheit befinden. Dass sich die Ursache der Wunden nicht restlos verstehen lässt, muss erst zur Bedingung werden, um mit ihnen leben zu können.

Sehen: Eine Sache lange zu betrachten, hat seine Tücken, denn irgendwann bildet man sich ein, die Dinge könnten zu einem sprechen. Oftmals verharren Schanelecs Einstellungen so, als würde ein Gedanke stehen bleiben, so wie man selbst manchmal mit starrem Blick innehält. Folgt man Ödipus ins Kino, müsste man jedoch mit dem zwanghaften Versuch, klarer sehen zu wollen, paradoxerweise erblinden. Das Kino kann aber nicht blind machen. Vielmehr verspricht es, sogar dann etwas sehen zu können, wenn es eigentlich nichts mehr zu sehen gibt. Wie in Schanelecs Bildern stellt sich so eine Aporie ein: Nach einem Bild zu suchen, das nichts zeigt, klingt absurd, und trotzdem ist diese Suche nicht zwecklos – Wenn wir die Augen verschließen, verdrehen oder uns abwenden. In diesem Fall sind es Momente, in denen die persönliche Verbindung zum Kino klarer wird. – Wenn wir etwas gesehen haben, was uns gefiel oder verärgerte, das aber niemand sonst bemerkte. Beim Kino handelt es sich zwar um einen Raum, der Platz für eigene Gedanken bietet, sie lassen sich aber dort nicht aufbewahren. So wie man seinen eigenen Kopf mitbringt, muss man auch denselben wieder mit nach Hause nehmen. In dieser Hinsicht mag die Vorstellung, vom Kino erleuchtet zu werden, indem man nur noch ganz Auge ist und seinen Kopf verliert, erleichternd und befreiend sein. Aber die Geschichte der Mystik lehrt, dass sich dieses Ziel allein mit größter Entsagung verwirklicht. Diese Absicht ließe sich Music vielleicht unterstellen. Der Mythos spricht dafür ebenso wie die Armut an Ornament. Doch dem Film schwebt dabei nichts unmittelbar Kosmisches oder Schicksalhaftes vor, denn genauso wenig, wie sich etwas aus dem Nichts für Jon ergab, führte er eine Änderung herbei. Der Film versucht vielmehr den Blick auf das »Weil« – die Verkettung des Geschehens – einzuüben, ohne gegen seinen Widerstand – die Willkür – anzuarbeiten. So verhält sich gerade die Musik im Film weder als klanglicher Teppich noch als Kontrapunkt. Vielmehr verleiht sie dem wortkargen Film seine Stimme, sie stößt ihn an. Vielleicht gibt sie ihm sogar sein Licht. Und wahrscheinlich wird erst mit dem Verklingen des letzten Bildes wirklich begreifbar, was die ganze Zeit zwar sichtbar war, aber sich nicht sehen ließ. Es gibt eine spürbare Parallele zwischen Film und Musik, in der Weise wie am Ende die Kamera in einer langen Parallelbewegung den singenden und tanzenden Menschen auf der anderen Seite des Flusses folgt.

Man könnte denken und hoffen, der Film würde eine greifbare Antwort bereithalten, worin diese Parallelität besteht. Dabei müsste man sie sich aber vielleicht gerade in der Uneindeutigkeit und Unschärfe einer nahen Ferne vorstellen: Was Parallelität bedeutet, lässt sich zwar einfach erklären, aber dass sich zwei Sachen wirklich nie treffen werden, weil sie immer gleich nah und fern sind, traut man sich nicht vorstellen. Gleichsam ermüdend ist es, immer nur zu benennen, was unsichtbar oder unerklärlich – kurz: abwesend – blieb. Film und Musik können helfen, sich daran anzunähern, aber auch nichts ungeschehen machen. Das wäre Hybris.