Viennale 2017: L’Atelier von Laurent Cantet

L'Atelier von Laurent Cantet

Die Dardenne-Brüder haben den Höhepunkt ihres Schaffens allem Anschein nach bereits hinter sich. Ein seltsamer Zeitpunkt also, um einen Text mit einer positiven Bemerkung über die Belgier zu beginnen. Es hat sich aber ergeben, dass ich mit L’Atelier von Laurent Cantet einen Film gesehen habe, der mich besser begreifen hat lassen, was die Brüder Dardenne zu ihren Hochzeiten (und mit Abstrichen auch noch heute) ausgezeichnet hat. Sie stehen für die Popularisierung eines Filmstils, der „aus dem Leben gegriffen“ erscheint. Ihre einflussreiche Form der Inszenierung mit Handkamera und extremer Nähe zu den Protagonisten ist gleichermaßen ein Fluch, denn ihr Stil hat unzählige weniger talentierte Nachahmer gefunden. Die Nachahmer (und zum Teil auch die Dardennes selbst) haben die Form vulgarisiert, haben die Ästhetik der beweglichen, hektischen, „dokumentarischen“ Kamera zweckentfremdet und auf alle möglichen und unmöglichen Szenarien angewendet. Nähe wird dann oft hergestellt, wo sie eigentlich gar nicht ist. Eines haben die Dardennes in ihren besten Filmen nämlich beherzigt: dass der Realismuseindruck, den sie anstreben im Widerspruch zum Mythos steht. Das soll heißen, der Konflikt, der ihre Filme antreibt, kann eigentlich nicht in ihrer Ästhetik dargestellt werden, ohne fehl am Platz zu wirken. Die „suspension of disbelief“, die dafür notwendig ist, steht von Natur aus im Gegensatz zu jedem Versprechen einer authentischen Beobachtung des Lebens, die der Stil der Dardennes verspricht. Um dieses Dilemma zu lösen, geht der Konflikt ihren Filmen voran beziehungsweise er steht als Exposition ganz am Anfang: es ist jemand getötet, zurückgelassen oder arbeitslos geworden – die Prämisse steht fest bevor die Handlung des Films einsetzt. Was im Film gezeigt wird, sind die Folgen und Dynamiken, die sich aus diesem Ursprungskonflikt ergeben – das Ganze funktioniert in etwa nach der Struktur eines Whodunit.

L’Atelier zählt wie bereits Cantets Entre les murs ohne Zweifel zu den Filmen, die einen an die Filme der Dardenne-Brüder denken lässt – die Handkamera bleibt immer nah an den Figuren, regelmäßige dokumentarische Wackler sollen „Authentizität“ vermitteln. Am Anfang: eine Gruppe Jugendlicher und eine etwa 40-jährige Frau. Sie sammeln Ideen für einen Roman. Die Jugendlichen sind Teilnehmer eines Workshops für Arbeitssuchende, die Frau ist erfolgreiche Romanautorin. Statt den Sommer über in Aushilfsjobs zu arbeiten, sollen die Teilnehmer des Workshops ihre sozialen Kompetenzen und ihre Kreativität trainieren. Die Zusammensetzung der Gruppe scheint einem Leitfaden für Diversität zu folgen: da sind unter anderem zwei blonde Jungen, ein Schwarzer, zwei Araber. Selbst für ungeübte Ohren, klingt das Französisch der Jugendlichen aus dem französischen Süden deutlich anders, als der Pariser Intellektuellensprech der Schriftstellerin. Der Schauplatz des Films ist La Ciotat an der französischen Mittelmeerküste (seit den Lumières eine Stadt, die unweigerlich mit der Geschichte des Kinos verbunden ist). Gekonnt und nicht zu aufdringlich stellt Cantet die einzelnen Figuren vor und zeigt uns ihr Verhältnis zueinander. Besonders Augenmerk legt er auf Antoine, einen der zwei Workshop-Teilnehmer ohne Migrationshintergrund. Antoine verbringt seine Nachmittage schwimmend und sonnenbadend am Meer, seine Abende vor dem Laptop, wo er sich Promovideos der französischen Armee und eines rechtsextremen Demagogen ansieht, und seine Nächte mit seinem Cousin und dessen Freunden mit Alkohol, einer Pistole und Gewaltfantasien. Einen Protagonisten wie Antoine sieht man nicht allzu oft im Kino, zumal er nicht bloß als dummer, gewaltverherrlichender Psychopath dargestellt wird, sondern von Cantet mit Ambivalenz und charakterlicher Tiefe bedacht ist. Die ersten rund dreißig Minuten des Films lassen darauf hoffen, dass auf diese präzise und dichte Figurenbeschreibung mehr folgt.

L'Atelier von Laurent Cantet

Doch dann implodiert der Film und das hat mit dem zu tun, was ich eingangs über die Dardennes geschrieben habe. Die volatile Natur Antoines und seine kruden politischen Ansichten sorgen für Reibungen innerhalb der Gruppe. Dadurch gerät er in Konflikt mit den anderen Workshop-Teilnehmern und mit der Kursleiterin Olivia. Obwohl sie seine politische Haltung ablehnt, findet Olivia Gefallen an der rohen Energie, die in Antoine steckt und die sich auch in seiner Prosa äußert – es entwickelt sich eine beinahe erotische Spannung. Diese Spannung stilisiert Cantet zu einem monumentalen Konflikt hoch. Der Film zerbricht daran, die Form, die vermitteln will, dass es sich bei diesen Figuren und ihrer Umwelt, um einen Ausschnitt aus dem „echten Leben“ handelt, zerschellt an der filmischen Klimax, als Antoine mit Pistole im Anschlag vor Olivias Haus erscheint und sie wie in einem mittelmäßigen B-Western in die Wildnis führt. Der Film wirft die feine Psychologisierung und Figurenzeichnung des ersten Drittels des Films einfach über Bord, opfert sie einem Showdown, der in diesem Film eigentlich gar keinen Platz hat. Es scheint, als ob es diese Zuspitzung nur gibt, um die Spannung zu entladen, um überhaupt zu rechtfertigen, dass sich im Laufe des Films ein dramatischer Konflikt abgezeichnet hat.

L’Atelier steht und fällt mit seinem Höhepunkt. Der Film lässt die mühsam erarbeitete Tiefe und Ambivalenz einfach zugunsten einer Spannungsentladung verpuffen. Das ist sicherlich nicht das einzige Problem des Films – bereits an anderen Stellen folgt die Gruppendynamik eher dramaturgischen Vorgaben als einer genauen Beobachtung der Realität, wenn sich die Workshop-Teilnehmer, obwohl sie beinahe handgreiflich werden, trotzdem noch immer artig gegenseitig aussprechen lassen – die Gesprächskultur dieser „Problemteenager“ ist wahrlich beachtlich, ebenso ihr unumstößliches und stringentes Artikulieren gefestigter Weltbilder. An diesen Stellen spürt man ebenfalls schmerzhaft, wie das Drehbuch die Inszenierung erdrückt – genau das wussten die Dardennes in ihren besten Filmen stets zu vermeiden.

Lose Räder: Zur Frage des Realismus in Ladri di biciclette

Eines vorab: Die Stellung der Fahrraddiebe als Zentralmassiv im Pantheon der Filmgeschichte ist mir bewusst – es wurde schon so vieles über diesen Film gesagt und geschrieben; Cinephile, Filmemacher, Kritiker und Künstler, Zeitgenossen und Nachgeborene haben ihn mit Lob überhäuft, akribisch analysiert und unwiderruflich dem Kanon überantwortet. Diese Heiligsprechung hat vielleicht sogar den Blick auf das übrige Schaffen seiner Urheber verstellt, insbesondere jenes Vittorio De Sicas, der oft darauf reduziert wird, mit diesem Film dem Neorealismus die Krone aufgesetzt zu haben, obwohl sein Oeuvre als Schauspieler und Regisseur eine weitaus größere Bandbreite an Genres, Stilen und Stimmungen bereithält. Und es wäre doch wohl die Aufgabe einer engagierten Cinephilie, mit solchen Gemeinplätzen aufzuräumen, eine Gegenhistorie zu proponieren, ein Schlaglicht auf vernachlässigte Facetten ikonischer Figuren und Strömungen zu werfen, um das eindimensionale, harmonische Filmgeschichts-Bild, das unser Kollektivbewusstsein besetzt hält, aufzubrechen und auszuweiten. Im Übrigen ist es müßig, sich weiter mit Ladri di biciclette zu beschäftigen.

Sprechen wir also über Ladri di biciclette.

Man stelle sich vor, man erkundigt sich als ahnungsloser Außenstehender bei einem Kinokenner, was es denn nun eigentlich mit diesem „Neorealismus“ auf sich habe, und er zeigt einem als Antwort diesen Film. Welche Schlüsse könnte man daraus ziehen, was würde einem auffallen im Vergleich zu gewohntem Gegenwartskino, was steckt hinter den Floskeln von den „echten Menschen“, die man „draußen auf den Straßen“ gefilmt hat, was ist damit gemeint?

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Tatsächlich zeigt die erste Einstellung des Films eine Straße, genauer gesagt einen Linienbus, der langsam ein leichtes Gefälle heruntertuckert und an einer Haltestelle abbremst. Die Passagiere steigen aus, einer von ihnen wird von einer größeren Gruppe Umstehender bedrängt, ein Pulk entsteht und setzt sich in Richtung eines noch unbestimmten Ziels in Bewegung. Die Kamera bleibt in der Totale, schwenkt erst mit dem Bus mit und folgt dann der Menschenmenge, alldieweil läuft der Vorspann unbekümmert über das Geschehen. Es ist eine Szene, wie sie gewöhnlicher nicht sein könnte, aufgenommen aus der Perspektive eines teilnahmslosen Beobachters, der etwas abseits seine Zeit vertrödelt. Noch deutet abgesehen vom wehmütigen Soundtrack Alessandro Cicogninis nichts auf eine Inszenierung hin, so oder so ähnlich könnten sich vergleichbare Non-Ereignisse auch vor unseren eigenen halb-interessierten Augen abspielen, wären wir vor Ort zugegen. Und es ist ein richtiger Ort, der auch ohne Film einer wäre: Im Hintergrund weisen Häuserblöcke in die Tiefe, aus manchen Fenstern lugen Laken und flattern im Wind, das Mauerwerk wirkt alt und mitgenommen. Das relativ tiefenscharfe Bild wird von peripher aufgepflanzten Figuren punktiert, vereinzelte Passanten laufen umher. Überdies ist nicht nur an den Schatten klar erkennbar, dass die Sonne für Beleuchtung sorgt und nicht etwa ein Scheinwerfer. Für eine derart unscheinbare Aufnahme wäre dies ein enorm aufwändiges Studio-Set. Man ist bereits in dieser ersten Minute geneigt, von einer „realistischen“ Atmosphäre zu sprechen, und zwar in dem Sinne, dass hier gewisse Dinge vor der Linse existieren und passieren, die sich nicht um selbige scheren, sich in ihrem Wesen und in ihrer Erscheinung nicht erst für das Kino herausbilden – oder zumindest den Eindruck erwecken, als ob es so wäre, indem sie besagten Dingen ähneln, die im Regelfall keiner Aufmerksamkeit für würdig erachtet werden, da sie zu trivial anmuten: Ansichten und Vorgänge, die gerade ihre Alltäglichkeit, ihre Verankerung in einer geteilten und vermeintlich vertrauten Realität einer Wahrnehmungs-Inflation unterwirft.

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Oberflächlich verbleibt Ladri di biciclette seine gesamte Spielzeit über in diesem dokumentarischen Modus. Oberflächlich, weil es um die Oberflächen geht: Die Straßen (die zwar einen zentralen, aber keineswegs den exklusiven Schauplatz des Films bilden), die Gebäude, die Interieurs, das Mobiliar, die Kleidung, die Körper, die Gesichter, und bis zu einem gewissen Grad auch die Situationen sind darauf geeicht, den genannten Realitätseffekt zu erzeugen. Es geht nicht nur um die Anhäufung von Details, sondern wesentlich auch um deren Beschaffenheit. Sie sind so geartet, dass man sie als Zuschauer (vorausgesetzt, man wäre 1948 in Rom ansässig gewesen) wiedererkennt: So oder so ähnlich hat man diese Dinge auch schon außerhalb des Kinos gesehen und erlebt, im Alltag, und diese Verwandtschaft ist ein entscheidendes Wahrheitsattest der Bilder. Das zweite, nicht minder bedeutende ist der Umstand, dass man sie oft auch auf diese Weise gesehen hat: Im Hintergrund, im Vorbeilaufen, aus dem Augenwinkel. Wenn die von Lamberto Maggiorani gespielte Hauptfigur Antonio mit Freund und Sohn im Schlepptau durch einen Fahrradmarkt schlendert, um sein gestohlenes Gefährt ausfindig zu machen, schweift die Kamera im Gegenschuss die Läden entlang wie ein suchender, flüchtiger Blick, und was wir sehen, ist viel zu überbordend, um es auf einmal zu erfassen und verarbeiten, auch weil uns niemand sagt, was davon wichtig ist. Sind es die Menschentrauben im Vordergrund, die Handwerker weiter hinten, die aufgehängten Reifen und Felgen, oder doch die kulissenhaften Säulenreihen, die sich über die Szenerie recken? Die Fülle, ihre Unbewältigbarkeit durch Film und Betrachter kündet von der Wirklichkeit des Blicks.

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Interessant ist aber, dass diese Wirklichkeit der Überfülle, die einen Großteil der Einstellungen von Ladri di biciclette im Wortsinne belebt, oftmals hochgradig künstlich ist. Die Rede vom Einlass unerheblicher Nebensächlichkeiten in hermetische Kinokonstruktionen gehört zu den Schibboleths neorealistischer Historiografie. Mark Cousins etwa kommentiert in seinem Bildungs-TV-Monumentalwerk „The Story of Film“ die Szene, in welcher der kleine Bruno gegen Ende des Films seinem komatös durch die Straßen hatschenden Vater hinterherhechelt und dabei beinahe von zwei Autos überfahren wird, folgendermaßen:

„In a Hollywood film the dad would have seen this and grabbed the boy and scolded him or comforted him, but also realized how much he loved him. But in Italian neorealism such moments just happened, without cause or effect. It was a loose end. It didn’t play back into the plot.”

Dies ist eine bestenfalls blauäugige Behauptung. Es gibt in den Filmen, die landläufig dem Neorealismus zugerechnet werden – ebenso wie anderswo – zweifellos Beispiele für das, was Cousins hier beschreibt, aber sein Exempel hält der Erhebung zum Zufallshund oder „losen Ende“ nicht stand. Das der Augenblick offenkundig inszeniert ist (nicht einmal der extremste Neorealist würde ein Kind für seine Kunst solcher Gefahr aussetzen), sollte einem schon Aufschluss darüber geben, dass er eine verhältnismäßig klare Funktion erfüllt, die sich durchaus über den Plot definiert: Er vermittelt beispielsweise die totale Hoffnungslosigkeit Antonios, der von der Erkenntnis der Fruchtlosigkeit seiner beschwerlichen Suche in einen kummervollen Trance-Zustand versetzt worden ist und darob kurzzeitig sogar seinen Sohn vergisst, um dessentwillen er sich die ganze Zeit über abgemüht hat; oder den Mangel an Solidarität und Barmherzigkeit, der den Film durchdringt und hier in den rücksichtslos am Jungen vorbeirasenden PKWs ein unaufdringliches Sinnbild findet. Zwar wahrt De Sica Distanz mit der Kamera und schlachtet die Szene, die das sprechende Ereignis auch fokussieren und akzentuieren hätte können, emotional nicht aus (das erledigt in diesem Fall ohnehin die Musik), aber es ist immer noch alles andere als ein beiläufiges, ephemeres Blätterrascheln ohne poetischen Sinn und Zweck. Der sprichwörtliche Einbruch der Realität muss also anderswo von statten gehen.

Vielleicht würde eine Marginalie aus De Sicas I bambini ci guardano ein besseres Beispiel abgeben: Die Kernfamilie des Films posiert für ein idyllisches Strandporträt, das Oberhaupt betätigt den Selbstauslöser seiner Kamera; ein frecher Bengel nutzt die Chance für eine Fotobombe und mischt sich unbemerkt ins Bild. Auf den ersten Blick ist dieser anekdotische Einschub nichts weiter als ein unbedarfter Ulk, dessen Albernheit sich mit der doch eher melancholischen Grundstimmung des Films schneidet und diese temporär für die Möglichkeiten anderer Timbres und Texturen öffnet, der also nichts anderes im Sinn hat als die Ausstellung der widersprüchlichen, disharmonischen Parallelität disperser Existenzen und Atmosphären, die einen das Dasein immerzu spüren lässt. Doch die Inszenierung gestaltet sich hier noch augenfälliger als in Cousins‘ Exempel – jenes war ein Rechtsschwenk aus der Totale, hier haben wir eine mehrstufige Auflösung – was wiederum die Vermutung nahelegt, der Moment habe narrativen Gehalt; und tatsächlich kommt man nicht umhin, ihn als ironischen Kommentar auf das Selbstbild der Familie zu lesen, die ein einträchtiges Außen kultiviert, während das innere Gefüge kurz vor dem Zusammenbruch steht.

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Zurück zu den Fahrraddieben: Dort gibt es eine Randnotiz, die Cousins‘ Ansprüchen schon eher gerecht wird. Bruno und Antonio stellen sich circa auf halber Strecke ihrer Odyssee wegen strömenden Schauern bei einer Häuserfront unter (eingequetscht zwischen frappierten österreichischen Ordensbrüdern, die sich gut hörbar und vergleichsweise glaubhaft auf Deutsch über „den Salzburger Schnürlregen“ unterhalten – noch so ein lustvoll überflüssiger Realitäts-Marker). Als der Niederschlag versiegt, erspäht Antonio den Dieb schräg gegenüber und nimmt die Beine in die Hand, sein überraschter Sohn folgt ihm auf dem Fuße. Am rechten Rand des Kaders – wieder handelt es sich um eine Totale – passiert zugleich etwas völlig Nebensächliches: Ein alter Händler kippt im Sitzen seinen kleinen Stand, um das angesammelte Regenwasser abfließen zu lassen. Das ist nun wirklich ein loses Ende – solch eine verhaltene Feinheit dient ausschließlich dem Realismus und nichts anderem. Die Handlung des Mannes drängt sich dem Zuschauer nicht auf, sie steht für sich und ist in sich geschlossen, die Erzählung wird nicht davon affiziert, ob man sie zur Kenntnis nimmt oder nicht. Aber wie bereits beschrieben erzeugt sie, gerade weil sie jeglicher Notwendigkeit entbehrt, ein Gefühl von Wirklichkeitsnähe. Denn Wirklichkeit ist paradoxerweise nicht das, was passieren muss, es ist das, was passieren könnte. Das Kino selbst bezieht seine eigentümliche Kraft schon seit seiner Geburt aus dem Spannungsverhältnis zwischen Kontrolle und Kontingenz, die ihm von Natur aus innewohnt; daraus nämlich, dass jede noch so luftdichte Mise en Scène von so etwas wie Zufall, und sei es nur das unwillkürliche Zucken im Gesicht eines Schauspielers, infiltriert werden kann. Kino bleibt immer verwundbar.

Doch auch das eben gebrachte Beispiel erweist sich wenig überraschend als kalkulierte Kontingenz, zumal der Regenguss ein falscher war, den De Sica angeblich mit Hilfe der örtlichen Feuerwehr arrangierte. Je näher man sich mit Ladri di biciclette auseinandersetzt, desto augenscheinlicher wird, dass sein Realismus eine sorgfältige, fast schon pedantische Konstruktion darstellt. Sehen wir dem Film, der mit Großaufnahmen nicht geizt, ins Gesicht:

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Sind das die Gesichter „echter“ Menschen? Ich weiß es nicht; Menschen sind es auf alle Fälle, und Starvisagen sehen anders aus. Aber banal und ausdruckslos kann man diese Antlitze auch nicht nennen, im Gegenteil: Ihnen eignet allen eine bemerkenswerte Expressivität, die zwischen dem Typenhaften und dem Natürlichen oszilliert. Sie sind markant und zeigen alle etwas an, das über das bloße Mensch-sein hinausgeht, ohne restlos in diesen Ideen aufzugehen: brüchige Würde, schwindende Unschuld, ruppige Wut. Jeden dieser Laiendarsteller könnte man sich in einer Paralleldimension als character actor denken. Sie wurden mit Bedacht für ihre Rollen ausgewählt, womöglich auch, weil ihre Physiognomien eine imaginierte Quersumme der Gesichter bestimmter italieneischer Milieus ihrer Zeit bilden (Milieus, die im Grunde erst durch solche Imaginationen generiert werden), aber definitiv nicht, weil sie so „echt“ sind, dass sie im Alltag niemals jemandem auffallen würden. Ihr Alleinstellungsmerkmal ist nicht die Abwesenheit von Besonderheiten, sondern die Deutlichkeit ihrer Authentizität, die widersprüchliche Selbstverständlichkeit, mit der man bei ihrem Anblick sagen würde: „Das ist ein Mensch, das ist eine/r von uns.“ Wo bleibt nun der wahre Zufall, das Ver-Sehen, das sich dem Zugriff des Regisseurs entzieht? Möglicherweise findet es sich nur im grellen Licht, das in den Außenaufnahmen auf den Gesichtern flirrt und das Pflaster küsst.

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Oder kann man Neorealismus narrativ verstehen, über die im entsprechenden Diskurs vielbeschworene Schonungslosigkeit, mit der die Zeitgeschichte in diesen Filmen porträtiert wird? Es lässt sich nicht leugnen, dass Ladri di biciclette, namentlich Cesare Zavattinis Drehbuch, sein Augenmerk auf gesellschaftliche Gegebenheiten legt, deren Bewusstsein nicht angenehm ist, und auch davon absieht, diesen ihren Stachel zu stutzen. Es ist ein Wirklichkeitsverständnis, das äußerst flapsig formuliert wie folgt funktioniert: „Ihr glaubt vielleicht, bei uns ist alles eitel Wonne, aber im Leben gibt’s für viele oft kein Happy End. In Wirklichkeit vertschüssen sich die Probleme unserer Mitmenschen nicht wie von Zauberhand – Probleme, an denen ihr alle einen Anteil und womöglich sogar Mitschuld habt – und das Erzählkino darf die Augen nicht vor diesen Missständen verschließen!“ Der Realitätsbegriff wird hierbei in Differenz zum Bild des Kinos als blendender Lustmaschine ausgeprägt. Doch der Gegenentwurf ist der eines Kinos als (unmöglicher) Unlustmaschine, die ebenso weit entfernt ist von jeder gelebten Wirklichkeit. „Realität“ bedeutet in diesem Kontext schlichtweg den berechtigten Widerstand gegen die Realität der Mehrheit. Dieser Gestus der Gegenwehr tritt im Manifestcharakter der letzten Einstellung von Ladri di biciclette unmissverständlich zutage. Eigentlich ist es kein „schlechter“ Ausgang, nur ein offener, der die Protagonisten an einer ungünstigen Stelle verlässt. Aber die Art, wie sie mit der Masse verschmelzen, zwei Schicksale unter Tausenden, schreit das Publikum förmlich an: Ihr habt dieses Ende zu verantworten! Wollt ihr wirklich damit leben?

Eines sollte wohl jedem klar sein: Alle bisher genannten Methoden, Ansätze und Eigenschaften finden sich hier weder zum ersten noch zum letzten Mal in der Geschichte des Kinos, nicht einmal in jener des italienischen. Es gibt unzählige Vorläufer, Vordenker, Vorarbeiter, und bestimmt auch den einen oder anderen Solitär, der schon viel früher wesentlich radikalere Visionen vergleichbarer Stoßrichtung verwirklicht hat – denn diese gibt es immer, selbst wenn man es nicht für möglich hält. Und das führt uns wieder zur Frage des Kanons.

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Es darf wohl ohne weiteres behauptet werden, dass Ladri di biciclette außerhalb von cinephilen Kreisen als das Vorzeigewerk des Neorealismus gilt. Aber warum gerade dieser Film, wenn wir doch soeben gezeigt haben, dass es bei all seinen unleugbaren Qualitäten bestimmt bessere Beispiele für die rückhaltlose Hingabe an eine Wirklichkeit gibt, die also in höherem Maße zugelassen haben, dass diese sich selbst inszeniert – etwa die Arbeiten des kaum weniger renommierten Roberto Rossellini oder Luchino Viscontis La terra trema. Eine mögliche Antwort liegt in seiner Rundheit. Damit ist kein Mangel an Komplexität gemeint, sondern eine Ganzheit und Vollständigkeit selbst innerhalb dieser Komplexität – der Eindruck, dass alles „passt“, jede künstlerische Entscheidung mit jeder anderen verknüpft ist und sich alle miteinander gegenseitig bedingen, so dass selbst die Elemente, die wirklich dem Zufall entsprungen sind, absichtsvoll erscheinen. Beim überwiegenden Teil des Kanons (der zugegebenermaßen immer schon eine außerordentlich diffuse Konzeption war und sukzessive schwieriger zu fassen wird – als mustergültige Spitze des Eisbergs fungieren oft die Top 10 der berühmten Sight-&-Sound-Bestenliste) handelt es sich um Filme, die eben keine „losen Enden“ haben, sondern wirken wie aus einem Guss: Buchstäbliche Geniestreiche, virtuos und auf eine Pointe hin ausgeführt, die mit aller Kraft ins Schwarze trifft. Man kann sich darauf einigen, weil es innerhalb ihres jeweiligen künstlerischen Gefüges nichts gibt, was prinzipiell Wohlgesonnene entzweien könnte. Es geht um Einheit, Einheitlichkeit und die Einsichtigkeit von Ursache und Wirkung, aber auch um inhaltliche Universalität, um allgemein Menschliches trotz aller Spezifizität im Detail. So ist auch die Geschichte um Bruno und Antonio ungeachtet der essentiellen Funktion ihrer historischen Verortung und ihres Lokalkolorits ein stromlinienförmiges Gebilde mit straffem Spannungsbogen, das auch unter veränderten Vorzeichen nichts von seiner emotionalen Wucht verlieren würde, eine in ihren Kernaspekten klassische Heldenreise mit Figuren, deren Aktionen man durchwegs nachvollziehen kann, auch wenn man nicht mit ihnen einverstanden ist. Darauf fußt zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auch der Erfolg von Gegenwartsrealisten wie den Dardenne-Brüdern, deren jüngere Arbeiten eher an De Sica anschließen als an Rossellini. Der Motor ist hier wie dort jene humanistischen Kapitalweisheit, aus der ein anderer kanonischer Film ein prägnantes Zitat geschnitzt hat: „You see, in this world there is one awful thing, and that is that everyone has his reasons.“ Aber was ist mit den Filmen, deren Gründe unergründlich sind?

Der langsame Niedergang der Gebrüder Dardenne

Eine große Angst beschlich mich bezüglich des aktuellen Films der Gebrüder Dardenne, Deux jours, une nuit. Eine Angst so groß, dass ich bis Dezember wartete, um den Film, der bereits im Mai in Cannes Premiere feierte, zu sehen. Ich war mir eigentlich gar nicht so sicher woher meine Angst kam, denn die meisten Kritiken fielen doch eher positiv aus und eigentlich hatte ich ein großes Vertrauen in die beiden Filmemacher, die um die Jahrtausendwende mit Rosetta und Le fils mindestens zwei Meilensteine des sozialrealistischen Kinos ablieferten und auch sonst nicht wirklich in der Lage sind, einen schlechten Film zu machen. Gewissermaßen die atheistischen Erben des Kern-Neorealismus mit inspirierenden Fühlern in alles, was man im modernen Kino mit Naturalismus – ob gerechtfertigt oder nicht –verbindet, sind Jean-Pierre und Luc mittlerweile in ihren 60ern angekommen und in der Massenwahrnehmung schon lange vom Arthouse-Establishment verschluckt worden. Dennoch konnte man natürlich schon von Weitem erkennen, dass sich gerade im Bezug zu den radikalen, dokumentarischen Anfängen des Brüderpaars einiges verändert hat. Bereits ihr vorletzter Film Le Gamin au vélo ging einen Weg, der eine leichte, aber dennoch entscheidende Justierung des Kinokurses Dardenne bedeutete.

Zwei Tage eine Nacht

Nicht nur die Zusammenarbeit mit professionellen Darstellern, ja Stars sondern auch die Glattheit der Bilder, die Farben und die deutlich bewussteren Bewegungen der Kamera und der Dramaturgie, drohen die impulsive Energie eines Filmemachens zu verschlucken, das am Rand der Gesellschaft geboren wurde und immer etwas falsch wirkt, wenn es dort nicht bleibt. Deux jours, une nuit setzt diesen fragwürdigen und doch logischen Weg unbeirrt fort. Eigentlich haben die Dardennes nie ein Geheimnis aus ihren Arbeitsmethoden gemacht (siehe dazu ihr herausragendes Buch Au dos de nos images 1991-2005) und die scheinbare Spontanität und Direktheit war immer Ergebnis einer offen kommunizierten Konstruktion und Manipulation (und tausendfachen Proben). Ihr Herz schlug immer für die Fiktion, die Narration. Deux jours, une nuit fügt sich natürlich auch problemlos in das humanistische Gesamtwerk der Belgier ein. Nicht nur begegnen wir mit Fabrizio Rongione einem dieser Dardenne-Gesichter (er spielte den jungen Waffelverkäufer in Rosetta), die eine ganz eigene Kinowahrnehmung ermöglichen sondern auch die Motive und bis zu einem gewissen Grad der Stil fügen sich wundervoll in ein konsequentes Filmemachen im Schatten und Licht des Neorealismus ein. Insbesondere die Erforschung von Raum mit an Rossellini erinnernden Schwenks aus totalen Perspektiven, die den Hintergrund einer industriellen Welt mit Atomkraftwerken und grauen Gebäuden betont und dabei gleichzeitig im Vordergrund den ameisengleichen Kampf für eine Menschlichkeit inmitten des abgestorbenen Überlebenskampfes einfängt samt einer bewusst übertriebenen Liebe zu bunten Farben, die das Grau brechen sollen wie eine Blume in einem Plattenbau und dem ständigen Bauen und Erneuern der Figuren, erfüllt ihren Zweck und reicht über die eng geführte Geschichte hinaus. Der Einsatz von Farbe scheint mir hier deutlich durchdachter als noch in Le Gamin au vélo. Immer wieder wählen die Dardennes (und das ist durchaus eine gelungene Neuerung) Zweier-Einstellungen. Dabei gehen sie meist realistisch vor, aber manchmal positionieren sie die Figuren in fast abstrakter Manier vor Mauern, wie eingemauert. Die Kamera bewegt sich nicht mehr ganz so nah an den Figuren wie in früheren Filmen sondern gibt ihnen etwas mehr Raum. Auch ihr Atmen, ihr Zittern ist reduziert, ein paar Mal steht und schwenkt sie von einem Stativ aus. An sich wäre nichts gegen diese etwas leichter dechiffrierbaren Methoden einzuwenden, jedoch schaffen es die Dardennes nicht annähernd ihre Impulsivität und durchaus durchdringende Körperlichkeit mit den Bildern zu vereinen, denn fast jede Szene, egal wie lange sie steht, wie virtuos sie mit Bewegung operiert, wirkt gestellt. Man scheint nicht mehr den Bewegungen der Figuren zu folgen sondern nun folgen die Figuren der Kamera wie im nächstbesten Industriefilm. Und da liegt bei genauerer Betrachtung ein ganz schön bitterer Hund begraben…

Rosetta Dardenne

Rosetta

Da ist zum Beispiel eines der tragischen, fabeldurchkreuzenden Lieblingsmotive der Dardennes: Der verhinderte Selbstmord. Er steht für eine unlesbare Ausweglosigkeit und unsere Unmöglichkeit wirklich in die Köpfe der Protagonisten zu sehen. In diesem Fall betrifft das die um ihren Job kämpfende Sandra. In einem erstaunlich vereinfachten, fast metaphorischen Plot muss sie mindesten 9 ihrer 16 Mitarbeiter davon überzeugen, dass diese bei einer Abstimmung dafür stimmen, dass sie ihren Job behält, obwohl ihnen dann eine Prämie von 1000 Euro entgeht. Falls sie nicht die Mehrheit der Mitarbeiter bekommt, verliert die von einer Depression geheilte Sandra ihre Arbeit. Die selbst mit dem Leben kämpfenden Arbeiter stehen vor dem unfairen Konflikt zwischen finanzieller Existenz und Nächstenliebe. Wie bereits in Rosetta geht es also um den nackten Überlebenskampf in einer erbarmungslosen ökonomisch-existentiellen Wüste, die durchaus viel mit aktuellen gesellschaftlichen Situationen zu tun hat und dadurch auch von politischer Bedeutung ist. Es ist ein Test für die menschliche Moral und eine dramaturgische Spielwiese, in der die Dardennes es wieder schaffen etwas über Menschlichkeit zu erzählen, indem sie Unmenschlichkeit psychologisch, philosophisch und sinnlich erfahrbar machen. Sandra sagt des Öfteren, dass sie kein Mitleid wolle und dass sie auch keine Stimme aus Mitleid gebrauchen könne. Allerdings wird die subjektive, aufs eigene Überleben ausgerichtete Denkweise nicht durch einen distanzierten, beobachtenden Filter betrachtet wie beispielsweise in Rosetta sondern durch einen auf Identifikation und Wärme ausgerichteten Humanismus-Flash, der einen Niedergang im Kino der Dardennes weiterführt, den ich nicht verstehen kann und will. Die Frage nach Subjektivität und Menschlichkeit war deshalb von solcher Kraft, weil sie scheinbar aus dem Bild und seiner Realität selbst entsprungen ist. Heute entspringt sie aus einer (durchschnittlichen) filmischen Idee. Deshalb folgen die Figuren auch der Kamera und nicht die Kamera den Figuren. Der Film vermag auf keiner Ebene seinem stilistischen Naturalismus gerecht werden. Schlimmer noch verliert sich jedwede Kohärenz in den Wechseln realistischer Szenen mit emotional und ja, nach dem von der Protagonistin verdammten Mitleid haschenden Szenen. Es ist eben fatal, wenn man einer Szene in einem Dardenne-Film anmerkt, dass sie gestellt ist. Im normalen Fall stehe ich dem Kritiker-Argument der Unglaubwürdigkeit äußerst kritisch gegenüber. Es hat sich zu einer Standarderwartung und Floskel des bürgerlichen Kinos entwickelt, dass man Filme auf ihre Glaubwürdigkeit hin untersucht und manchmal werden große Werke, die bewusst auf Künstlichkeit oder Fiktionalität achten, dadurch völlig falsch wahrgenommen. Bei einem Film jedoch der mit einer Handkamera und totalen Schwenks operierend fast jede Begegnung mit einer etwas gestellten Suche samt Komparserie und kurzen Gesprächen einleitet, passt etwas nicht zusammen, wenn ich bemerke wie diese Szene gedreht wurde. Denn wenn ein Weg so penetrant gefilmt wird, dann muss er mir vorkommen wie ein Weg, nicht wie eine Szene. Mir ist durchaus bewusst, dass man Realismus, Naturalismus, Glaubwürdigkeit und Dokumentation nicht einfach so zusammen in einen Topf werfen kann. Es geht mir hier lediglich darum, dass Deux jours, une nuit seinem ganzen Aufwand einer sozialrealistischen Wahrnehmung der Welt nicht annähernd gerecht wird. Es ist ein falscher Film und meine Angst war trotz der positiven Aspekte des Films berechtigt. Der Hauptgrund dafür ist neben den formalen Unstimmigkeiten die unerklärbare Häufigkeit von peinlichen, falschen oder kitschigen Momenten. Mein Eindruck war, dass es den Filmemachern darum ging mit einer unerwarteten Plötzlichkeit den Stress, die Überforderung und die Emotionalität dieser Arbeiterwelt einzufangen. So lassen sie Männer in Tränen ausbrechen, Männer und Frauen wütend ausrasten und die Angst in den roten Augen im Waschsalon greifbar werden. An sich ist nichts gegen dieses Vorgehen einzuwenden, aber ein wenig mehr Verständnis für das Zusammenspiel einer solchen Szene nach der anderen kann man von derart erfahrenen Filmemachern durchaus erwarten. Es gibt keine Banalitäten hier und die sowohl für die Dardennes als auch für den Neorealismus so essentielle tote Zeit wirkt außer in der ersten Einstellung zwanghaft in das Geschehen hineingeschnitten, sie wirkt – und das könnte mit der Entscheidung mit einem Star, Marion Cotillard in der Hauptrolle zu arbeiten, zusammenhängen – wie ein Schauspielmoment. Jetzt lassen wir die Kamera auf dir ruhen, spiele uns was vor. Natürlich ist Cotillard in der Lage diese schwierigen Augenblicke mit einer Körperlichkeit und einem Leben zu füllen, die über die inszenatorischen Albernheiten hinwegtäuschen, aber manchmal ist auch sie verloren im Widerspruch zwischen intellektueller Konstruktion und lebensnaher Direktheit. Eine extreme Metaphorik trifft so auf eine inszenierte Körperlichkeit und die beiden halten nicht zusammen sondern stehen sich im Weg, was zum Teil daran liegen dürfte, dass Deux jours, une nuit unbedingt nachvollziehbar sein möchte und eine beruhigende, ja ideologische Charakterzeichnung bietet, die es so verklärt noch nie gegeben hat bei den Dardennes…denn wo ist meine Verunsicherung in einer Nahaufnahme? Wo ist der Kriegszustand von Figuren im täglichen Überlebenskampf? Wo ist diese Unmöglichkeit zu Verstehen, die mich tagelang wachgehalten hat nach L’enfant? Wo ist das respektvolle Verhältnis zwischen Realität und Bild? Ein weiteres Beispiel für einen solchen falschen Moment findet sich als Sandra im Auto aus einem Traum hochschreckt. Die Körperhaltung und der Schrei von Cotillard, genau wie ihr angestrengtes Lächeln, das über tiefe Grübchen in ihren Wangen aus einer leicht profiligen Naheinstellung vermittelt wird, sind impulsiv und auf Realismus bedacht, jedoch erzählt sie dann tatsächlich von einem Albtraum mit psychologischer Tragweite. Hatte man in früheren Dardenne Filmen das Innenleben der Figuren aus deren körperlichen Oberflächen und den Räumen außenherum schließen müssen, so liefern die Filmemacher in Deux jours, une nuit billige Anhaltspunkte und Interpretationsfelder. Noch schlimmer ist eine Szene, in der Sandra und ihr Mann ein Eis essen und sie plötzlich äußert, dass sie gerne mit dem Vogel dort auf dem Ast tauschen wollen würde. Kurz dachte ich, dass sich der Film an dieser Stelle endgültig in die schreckliche zweite Hälfte von Pascal Ferrans Bird People verwandeln würde.

Der Sohn Dardenne

Le fils

Es ist einfach so, dass man jeder Szene nicht nur anmerkt, dass sie geschrieben wurde sondern sogar anmerkt warum sie geschrieben wurde. In den letzten zehn Minuten des Films verraten die Dardennes sich dann endgültig, indem sie den Humanismus und die fiktionale Hoffnung über ihren vorgetäuschten Realismus werfen wie einen feuchten Putzlappen über eine dreckige Stelle kurz bevor der Liebhaber zu Besuch kommt. Wenn es auch nur ein wenig zur Aufgabe der Filmkunst gehört durch eine subversive, die bequeme Wahrnehmung durchschneidende Haltung auf Missstände (seien sie filmisch, politisch, sozial…) aufmerksam zu machen und an das Menschliche zu erinnern, dann macht Deux jours, une nuit alles falsch, was Le fils richtig macht. Damit führen die Gebrüder Dardenne einen Niedergang fort, der noch nicht ganz abgeschlossen ist, da noch zu viele gute Aspekte in ihrem Film überleben, der aber mehr und mehr beginnt, ein Kino zu regieren, dessen Höhepunkt vor 15 Jahren nun endgültig vorbei ist. Vielleicht wäre es an der Zeit für die Dardennes sich ähnlich wie ihr Kollege Bruno Dumont (mit seinem P’tit Quinquin), der 1999 zusammen mit den Dardennes eine Art naturalistische Revolution ins moderne Kino brachte, neu zu erfinden. Auch Rossellini machte das als er nicht mehr an seine Bilder glaubte. Ein sozialrealistischer Film sollte wie ein letzter Schrei durch die Kinos schrillen, ein Weckruf, ein wütendes Plädoyer, eine nackte Hoffnungslosigkeit so wie Rosetta. Deux jours, une nuit ist nichts davon.