Naturalismus der Liebe: L‘Enfant Sauvage von François Truffaut

Derzeit gibt es im Österreichischen Filmmuseum viele Tiere zu sehen. In Kooperation mit der Viennale begibt man sich dort in eine kleine Zoologie des Kinos. Dabei wird natürlich auch und immer wieder die Frage nach dem genuin Menschlichen gestellt: Was definiert ein menschliches Wesen als solches? Ein besonders spannender Film im Hinblick auf diese Frage ist François Truffauts L‘Enfant Sauvage. Dort verarbeitet der Filmemacher in einer seiner formal bewusstesten Arbeiten die Schrift Rapports et mémoires sur ‚le Sauvage de l’Aveyron von Itard. Der Film handelt von einem Jungen, der in einem Wald gefunden wird und sich wie ein Tier verhält und bewegt. Der Pariser Arzt Dr. Itard nimmt sich dem Jungen an. Von dort an folgt Truffaut, der den Doktor selbst verkörpert, dessen Berichten, Beobachtungen und Erlebnissen mit dem Jungen. L‘Enfant Sauvage ist narrativ letztlich ein Film über Beziehungen und Rollen in einer Erziehung, in der mehr und mehr die Frage nach Menschlichkeit entscheidend wird.

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Mit Truffaut verbindet man oftmals die bedingungslose Kinoliebe, die sich in seinen Filmen nicht zurückhalten kann und die durch die Liebe zu seinen Figuren oftmals in einem Blütenmeer der Identifikation ertränkt wird bis der gute Mann mehr und mehr vergessen hatte, wofür er sich eigentlich einsetzte. Aber das ist eine andere Geschichte. L‘Enfant Sauvage ist einer der wenigen Truffaut-Filme, die komponiert erscheinen, gesetzt und voller Bedeutung in der Wahl der Bilder und Töne. Man könnte auch sagen, dass es einer der wenigen Truffaut-Filme ist, in denen sich der Filmemacher der Bedeutung eines jeden Bildes bewusst war. Hier ist Truffaut politisch, politisch in der Form (weil man dort immer zuerst politisch ist…). Jacques Rivette hat von einer Notwendigkeit im Hinblick auf diese komponierten Bilder im Bezug zur erzählten Geschichte gesprochen. Er sagte, dass jeder Anflug eines dokumentarischen Stils fatal wäre für L‘Enfant Sauvage, da wir nicht im Jahr 1798 leben würden und es Victor nicht mehr gebe) Man kann sich darauf einigen, dass Truffaut dem gefolgt ist. Die Einstellungen wirken allesamt äußerst durchdacht und sie sind im Bewusstsein der Fiktionalität des Stoffes getroffen. Es ist vor allem deshalb so untypisch für Truffaut, weil er im Normalfall ein Filmemacher des Zeigens ist, die Politik des Filmemachens aber oft von dem dominiert wird, was man nicht zeigt. Die Frage ist also: Was zeigt uns Truffaut nicht und ist er damit wirklich genauso präzise wie er in den Fragen der Bewegung, der Musik, dem Spiel etc. ist?

Nun ist Truffaut ein Geschichtenerzähler, er liebt Dinge wie Dramaturgie, Figuren oder Effektivität. Daher werden wir das, was er nicht zeigt wohl vor allem auf dieser Ebene entdecken. Zum einen könnte man anmerken, dass Truffaut einige brutale Elemente der Aufzeichnungen Dr. Itards auslässt. So hielt dieser den Jungen einmal aus dem Fenster und auch das Ende war weitaus weniger offen, es endete nämlich im Tod. Letztlich sind dies aber keine Entscheidungen des Nicht-Zeigens, sondern des Etwas-Anderes-Zeigens, denn Truffaut interessiert sich offenkundig mehr für die Vaterfigur, die in der Cahiers du Cinéma als Filmemacher bezeichnet wurde, als für das wilde Kind, das demzufolge der Schauspieler war, mehr für den Vorgang der Erziehung, als um deren Resultate, obgleich diese immer eine Bedeutung erlangen, wenn sie emotionale Reaktionen hervorrufen. Interessanter ist da schon, dass Truffaut das Seelenleben der Figur, die ihn scheinbar am meisten interessiert, jene die er selbst spielt, im Dunkeln beziehungsweise nur im Halblicht einer Ambivalenz erscheinen lässt. Es gibt einige spannende Momente. So sperrt der Doktor das Kind einmal in eine dunkle Kammer, um es zu bestrafen. Truffaut verharrt in seiner halbtotalen Einstellung und schwenkt mit dem Doktor, der unruhig durch den Raum geht. Im Voice Over erklärt der Doktor jedoch sein Vorgehen. So ganz kann man Truffaut diese Brutalität weder als Schauspieler noch als Filmemacher abnehmen. Eine Geste auf dem Weg zurück zur verschlossenen Tür verrät ihn dann. Er greift mit dem Finger an sein Kinn. Eine Geste, die sein Seelenleben doch offenbart, denn was Rivette unterschätzt war, dass die Gesetztheit in diesem Fall etwas Dokumentarisches an sich hat. Der Stil ist sozusagen die Wiedergabe der Rationalität der Berichte und des Vorgehens des Doktors und gleichermaßen Ausdruck seines Innenlebens. Es geht Truffaut also nicht zwangsläufig um die Notwendigkeit einer Fiktionalität sondern vielmehr – wie so oft in seinem Ouevre – um das Potenzial einer Subjektivität, in der sich alles vermischt: Der Stil mit dem Inhalt und der Autor mit dem Protagonisten. Und darin liegt auch die Notwendigkeit seines Kinos und die entsprechende Distanz zum Historischen, denn Truffaut ist hier nicht an einer Repräsentation interessiert, sondern an den Elementen, die in einer Vergegenwärtigung der Geschichte für ihn und für uns interessant sind.

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Nein, was uns Truffaut nicht zeigt, das ist lange Zeit das Gesicht des wilden Kindes. In den ersten Bildern wird es immerzu verdeckt. Mal sind es die Haare des Jungen, mal die Hände, dann ein Schwamm und Dreck. Als der Dreck langsam aus dem Gesicht schwindet und wir zum ersten Mal das Kind erkennen, werden wir mit einer merkwürdigen Logik des Kinos, einer vielleicht gefährlichen Logik des Kinos konfrontiert. Truffaut unterstreicht diesen Augenblick und lässt die erhabene Musik Vivaldis just dann erklingen, wenn wir zum ersten Mal mit der Intimität des Gesichts von Victor in Berührung kommen. Hier hat Truffaut wirklich eine Entscheidung getroffen. Eine glückliche? Es ist klar, dass das Vorenthalten des Gesichts dramaturgischen Überlegungen unterliegt. Wir werden selbst in eine Unsicherheit über dieses Wesen gebracht, ein Wesen ohne Gesicht, ohne Identität.

Die Nahaufnahme war vor allem zu Beginn der Filmtheorie ein unerschöpflicher Hort der Inspiration. Die wohl berühmtesten Gedanken dazu hat sich Béla Balázs in seinem Text Der sichtbare Mensch gemacht. Für ihn sprach der Film vor allem über seine Gesichter, Gesichter die nationale, ethische Grenzen überwinden würden. Er nannte die Nahaufnahmen den Naturalismus der Liebe. Wieso also hält sich Truffaut zurück mit den Nahaufnahmen in diesem Film? Die Erklärung könnte wieder in der Vermischung von Form und Inhalt liegen, auch wenn Truffaut selbst davon sprach, dass es leichter gewesen wäre in Totalen mit dem Kinderdarsteller (Jean-Pierre Cargol) zu drehen, da man so nicht in die Verlegenheit gekommen wäre, die Unterbrechung von Bewegungen zu erklären und Cargol seine Handlungen am Stück ausführen konnte. Nur, wenn wir die Form des Films als subjektive, freie, indirekte Rede des Doktors sehen, dann muss dieser erst das Menschliche im Jungen entdecken und dann handelt L‘Enfant Sauvage tatsächlich auch auf formaler Ebene vom Prozess des Verliebens in einer sich aufbauenden Nähe zum Fremden. Ein richtiges Urteil darüber, ob es nun fatal ist, dass Truffaut das wilde Kind erst dann in einer Nahaufnahme zeigt, wenn es das Fremdsein ablegt, fällt schwer, da der Film eben die Wiedergabe einer subjektiven Perspektive ist.

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Es bleibt die Frage der Nahaufnahme von Tieren. Wenn wir mit Balázs gehen und in der Nahaufnahme das Menschliche sehen, dann wird es immer spannend, wenn Filmemacher sich entscheiden, ein Tier in einer Nahaufnahme zu zeigen. Es ist klar, dass das Tier im Kino viel über den Menschen zeigt, aber diese zärtliche Zuneigung kann auch von einer Bedrohung heimgesucht werden. Bedrohungen, die oft durch übersteigerte Nähe, Defragmentierung oder Verweigerung greifbar werden im Kino. Und dann beginnen die Grenzen zwischen der Schönheit und den Monstern im Fremden und in uns selbst zu verwischen, es entsteht eine Verunsicherung, die eine haptische Wahrnehmung der Körper erlaubt, ein Gefühl der Präsenz der eigenen Ängste, die sich bei Truffaut in Empathie auflösen, anderswo in Horror. Insofern ist L‘Enfant Sauvage auch ein Film über die sich ekelnde Empathie, nicht weil man Ekel empfinden würde, sondern weil es eine Empathie ist, die bis zur ersten Nahaufnahme nur über die Rationalität funktionieren kann, als würde man wissen müssen, dass jedes lebendige Wesen eine Nahaufnahme verdient hat. Letztlich könnte uns das zeigen, dass Liebe eine Frage der Perspektive ist. Folgerichtig endet der Film mit einem Blick.

Hou Hsiao-Hsien Retro: HHH von Olivier Assayas

Im Rahmen der Retrospektive zu Hou Hsiao-Hsien im Österreichischen Filmmuseum werden nicht nur jene Filme gezeigt, die der taiwanesische Regisseur selbst gedreht hat, sondern auch ein Film, indem er die Hauptrolle gespielt hat und am Drehbuch geschrieben hat, („Taipei Story“ von Edward Yang) und ein Film der seine Person zum Gegenstand hat: Das in der Reihe Cinéma (bzw. Cinéastes), de notre temps entstandene Portrait „HHH-Un portrait de Hou Hsiao-Hsien“ von Oliver Assayas. Diese Reihe gehört zu den größten Fundgruben, die es für Kinointeressierte gibt. 1964 wurde das Projekt von André S. Labarthe und Janine Bazin (der Frau von André Bazin) ins Leben gerufen. Die Idee dahinter war eine Art filmische Variante der Künstlerinterviews in der Cahiers du Cinéma, die jungen Filmemachern die Möglichkeit geben sollte, Filme über Legenden der Filmkunst zu drehen. So drehte beispielsweise Jacques Rivette einen Film über Jean Renoir, Alexandre Astruc einen Film über Friedrich Wilhelm Murnau oder Éric Rohmer über Carl Theodor Dreyer. In ihren besten Teilen atmet die Serie einen Geist, den man mit kritischer Inspiration umschreiben könnte. Ein gutes Beispiel dafür war der Besuch von Labarthe in den Vereinigten Staaten bei John Cassavetes. Der Drang zu lernen und zu betrachten, im Betrachten zu lernen; eine stete Neugier als künstlerisches Unterfangen, immer zugleich eine filmkritische Huldigung wie ein Versuch zu verstehen, am Ende ist das immer auch ein kleiner Moment des Lebens…der Ansatz der deutschen Zeitschrift Revolver erinnert insbesondere in frühen Ausgaben mit seinen Interviews an dieses System. Nach 8 Jahren wurde die Serie dann eingestellt und erst 1989 wieder aufgenommen. Man startete mit David Lynch und spannende Werke entstanden, etwa „Chantal Akerman“ von Chantal Akerman, „Une journée d’Andreï Arsenevitch“ von Chris Marker oder „Où gît votre sourire enfoui ?“ von Pedro Costa über Danièle Huillet und Jean-Marie Straub.

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Die Beschäftigung mit dem Machen, der Herstellung der Kunst, den Ideen dahinter und den dazugehörigen Anekdoten ist von enormer Wichtigkeit. Es ist ein sehr großer Unterschied, ob ein großer Filmemacher wie Assayas sich einem anderen Filmemacher nähert, oder ob ein weniger definierter Filmemacher sich einem großen Künstler widmet. Man kann dies wunderbar bei „Fragments of Kubelka“ von Martina Kudlácek beobachten. In ihrem Film gibt es eine Persönlichkeit, ein dominierendes Gefühl im Bild und das ist Peter Kubelka. Wenn Assayas nun auf Hou Hsiao-Hsien trifft, dann gibt es sofort zwei Sentiments: Die Weltsicht des französischen Filmemachers und jene des taiwanesischen Regisseurs. Daraus können mal mehr und mal weniger spannendere Konstellationen entstehen, aber prinzipiell kann man festhalten, dass je stärker die Vision des drehenden Filmemachers ist, desto gerechter, ja moralischer wird sein Bild der Person, denn wenn es der portraitierte Filmemacher ist, der die Fäden in der Hand hält, dann wird das Dokument zur Darstellung und-wie im Fall von „Fragments of Kubelka in sehr unterhaltsamer Weise-zu einem Propaganda-Video des eigenen Denkens. Assayas, der nicht der erste war, aber sich sehr früh in seiner Tätigkeit als Autor für die Cahiers du Cinéma mit Hou Hsiao-Hsien und mit dem taiwanesischen New Wave Cinema der 1980er Jahre auseinandersetzte, widersetzt sich einer solchen Dominanz von Hou Hsiao-Hsien. Dies gelingt ihm vor allem deshalb, weil er seinen Blick immer als den neugierigen Blick des Kritikers auslegt, der zum Teil von Eindrücken überfordert am Rand des Bildes auf einem Kern herum kaut oder schlicht in die Situationen hineingeworfen wird, die nicht aus den Erzählungen von Hou Hsiao-Hsien entstehen, sondern den Orten seiner Filme. So vermag er sich auch, von seinem Objekt zu lösen. Konzeptuell bewegt sich Assayas, der diesen Film 1997 mit Éric Gautier als Kameramann (man merkt es leider kaum) realisierte durch die Orte und Momente des Filmschaffens von Hou Hsiao-Hsien und findet mit dem Filmemacher die autobiografischen Bezüge, die das Schaffen des Regisseurs so sehr prägen.

Cineastes de notre temps

Assayas spielt auf der einen Seite den Filmkritiker, der Interviews mit Beteiligten führt. Auf der anderen Seite ist er ein driftender Weltenbummler, ein Dokumentarist des Moments, der es in diesem Film versteht seine Liebe zu einem Künstler auszudrücken ohne diesen zu glorifizieren. Gemeinsam mit Assayas lernt man einen pragmatischen Filmemacher kennen, der eine herzenswarme Rauheit ausstrahlt. Er spricht über sein System die Ereignisse aus der Distanz zu filmen und bewegt sich damit nahe an Pasolinis Ideen zur filmischen Sprache; man sieht ihn alte Freunde treffen, in einer Karaoke-Bar singen und durch seine Welten laufen. Er nimmt sich nicht zu ernst und interessiert sich fast immer mehr für seinen Gesprächspartner als für sich selbst. Immer wieder spielt Assayas Clips der Filme ein, immer wieder zeigt er ähnliche Einstellung wie aus den Filmen von Hou Hsiao-Hsien (etwa die Zugfahrt aus „Dust in the Wind“). Allerdings gelingt es ihm kaum die kleinen, einfachen Momente in „HHH“ zu finden, die er so sehr bei Hou Hsiao-Hsien bewundert. Der Film verkommt stellenweise zu einem Sonntagnachmittagsausflug an schöne Orte, ein Trudeln, ganz nett, mehr nicht.

Hier werden weder Prozesse des Filmemachers angezeigt, noch sein Handwerk, noch seine Gefühle. Lediglich versteht es Assayas, so etwas wie Wärme und Unschuld in das Portrait zu pusten. Am Ende erscheint Hou Hsiao-Hsien wie eine fiktionale Figur, von dessen Filmkunst man eher weniger als mehr gespürt hat. Es bleibt zu betonen, wie wichtig die filmische Auseinandersetzung mit Film, seiner Herstellung, seiner Inspiration, seinen Künstlern für die Filmwelt ist. Kämpfende, in der Öffentlichkeit kämpfende, diskutierende, enthusiastische, schreibende, erzählende Regisseure gibt es zu wenig. Meist besteht lediglich ein Interesse über die eigene Arbeit zu reden, wenn man gefragt wird, sagt man etwas zu anderen Filmen. Assayas ist ein Filmemacher, der von sich aus die Schritte wagt, der ein reflexiv-kritisches Potenzial in seine Auseinandersetzung mit Film als einen Gleichschritt von Nachdenken und Tun, Kritisieren und Huldigen legt. Er ist jemand, der ein Cinéma, de notre temps am Leben erhält.

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