Filmfest Hamburg: Tag 1 – Schweifende Blicke

Was mich womöglich erstaunen könnte im Kino: Wenn jemand einen Rahmen macht, um den Fokus auf etwas zu legen, was keinen Fokus hat.

Wir kennen das von Filmen im modernen Kino, die statische Einstellungen (womöglich sogar verbunden mit Rahmungen) stehen lassen, um Dinge darüber, darunter, dahinter oder sonstwo außerhalb dieses Rahmens passieren zu lassen. Das gibt es als formale Experimente oder als eine Art Realismus. So gesehen zum Beispiel in ersten Film, dem ich dieses Jahr in Hamburg begegnete, El viento sabe que vuelvo a casa von dem chilenischen Filmemacher José Luis Torres Leiva. Eine manchmal zu nahe, an Abbas Kiarostamis Through the Olive Trees erinnernde Suche nach einem Film (einer Story, Schauspielern) auf einer Insel. Zu nahe, weil die Bewohner uns erschreckend vertraut präsentiert werden. Manchmal steht in diesem Film die Kamera und rührt sich nicht, zum Beispiel beim Bad eines Pferdes im Meer (dieses Jahr treffe ich auf sehr viele badende Pferde im Kino). Das Pferd läuft ins Bild, verlässt es fast, dreht noch mal um, hängt dann ein wenig am linken Rahmen und verlässt schließlich den Rahmen. Eigentlich sollte uns diese Technik zeigen – und das tut sie bisweilen auch in diesem Film – dass unser Blick auf die Welt immer nur aus einer bestimmten Perspektive geworfen wird. Das ist allerdings dann irrelevant, wenn ich das Gefühl habe, dass diese Welt jenseits dieses Rahmens gar nicht weitergeht. Dann ist der Rahmen nicht die Grenze eines Blicks, sondern einer Handlung. In der Szene mit dem Pferd lässt sich Leiva diesbezüglich nichts vormachen, aber in anderen Bildern, zum Beispiel in Castingszenen mit Jugendlichen, glaube ich nicht an die Welt, die er mir nicht zeigt. Das ist insbesondere deshalb problematisch, weil es ganz ähnlich zu Ulrich Seidls Symmetrieeinstellungen keinen Schutzraum für die Protagonisten gibt, die Menschen vor der Kamera. Sie werden letztlich in einen Rahmen gestellt, diesem Blick ausgeliefert. Dann erzählt der Rahmen von einer zu großen Bestimmtheit, Dominanz.

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Ganz anders gestaltet sich das in Batalla en el cielo, dem schwierigen Lieblingskind von Carlos Reygadas. Der Film läuft im Rahmen, der von Reygadas selbst kuratierten Schau zum mexikanischen Kino und er wurde auf 35mm projiziert. Ich konnte nicht widerstehen, ihn wieder zu sehen. Nach einer schrecklichen Wikipedia-Einführung im tollen B-Movie-Kino öffnete sich ein Rahmen, der den Fokus auf etwas legt, was keinen Fokus hat. Batalla en el cielo ist ein virtuoses Werk über sexuelle Frustration und den schweifenden Blick, der zum einen im Travis-Bickle-Modus auf ein im Gestank schwimmendes Land blickt und zum anderen sich in animalischer Triebhaftigkeit und gleichzeitiger Gleichgültigkeit zu verlieren droht. Bei Reygadas steht der Rahmen nicht in Verbindung mit der subjektiven Wahrnehmung des Mannes hinter der Kamera, sondern die Kamera (auch der Ton) identifiziert sich mit der subjektiven Wahrnehmung des Protagonisten Marcos. Unschärfen, Schwenks, Tiefenschärfe, schweifende Blicke, es wird beständig von einer Welt erzählt, die jenseits der Szene weitergeht. Reygadas zelebriert diese Dynamisierungen des filmischen Raumes geradezu. Zum Beispiel an einer Tankstelle, als Marcos auf einige singende Christen blickt, während sein Auto unter extrem lauter klassischer Musik vollgetankt und durchgecheckt wird. Die Kamera schwenk von hier nach da und der Ton tut es ihr gleich. Zuerst folgen wir den Blicken von Marcos, aber schon bald ist Marcos auch Teil des Blicks. Es ist eine wunderbare Verirrung des Kinos, wenn scheinbare Point-of-View-Einstellungen sich in neutrale Bilder verwandeln. Filme bekommen dann etwas fließendes, traumartiges und können von einer Abwesenheit erzählen, die nicht nur von den Rahmungen und Schnitten ausgeht, sondern letztlich von den Körpern, die sich in und außerhalb des Rahmens bewegen. Reygadas braucht also keinen Point-of-View für die subjektive Wahrnehmung seiner Figur. Die Kamera ist autonom, sie liefert so etwas wie Seelenbilder, die schweben, weil sie innerlich sind und eine Welt zeigen, die äußerlich stattfindet. Marcos hat keinen Fokus, es entgleitet ihm. Das Gleiche gilt hier für den Rahmen des Bildes.

Nun könnte man meinen, dass ein solches Vorgehen letztlich an der Beweglichkeit der Kamera liegt (in Batalla en el cielo schwebt diese letztlich immer wieder im Stil der vorletzten Einstellung in Michelangelo Antonionis Professione: reporter). Dass das aber auch statisch geht, zeigt nicht zuletzt wiederum Antonioni zum Beispiel in La notte. Ein Film auch über den Schock der Gleichgültigkeit dessen, was gleichzeitig passiert, denn immer wenn etwas gleichzeitig passiert, gibt es einen Fokus, der den der Protagonisten und auch den auf die Protagonisten verschwinden lässt. Sie verschwinden in dieser Welt. Reygadas zeigt dies eindrucksvoll in der Sexzene von Marcos mit der jungen Tochter seines Chefs, als die Kamera ähnlich wie in Brian de Palmas Scarface aus dem Fenster fliegt. Aber statt eine narrative Wendung durch diese Bewegung herbeizuführen, zeigt sie uns letztlich nur die Welt, die es gleichzeitig gibt: Arbeiter, ein tropfender Hahn, spielende Kinder, die Wand, der Himmel. Die schmerzvolle Irrelevanz der sexuellen Erlösung. Aber ganz so objektiv ist diese Einstellung nicht, denn sie erzählt auch von einem Loch in Marcos. Dem Loch, dass zwar alles mit größter Präsenz betrachtet, aber eben auf die Empathie eines gerahmten, bestimmten Gesichts so lange verzichtet bis dieses tot in seinen Armen liegt beziehungsweise in einem provokanten letzten Bild im Stil von Vincent Gallos The Brown Bunny während eines post-mortem-Blowjobs sagt: Ich liebe dich.

Green Eyes and Cinephile Loathing – About some thoughts by Marguerite Duras

This text is an edited and translated mail I have written to a friend a day after having read Les Yeux Verts by Marguerite Duras and without being able to re-read it or check certain passages. During the last couple of days I was confronted with the book again, so I decided to publish this.

When Marguerite Duras was given Carte Blanche by Cahiers du Cinéma in 1980, out came a somehow incoherent, somehow beautiful and always vibrant collection of texts called Les Yeux Verts. In it many things are discussed such as politics, the ideas of writing and cinema („My relationship with cinema is one of murder. I began to make movies in order to reach the creative mastery which allows the destruction of the text. Now it’s the image I want to affect, to diminish . . .“) the Soviet Union, Chaplin or a big interview with Elia Kazan. In a great, fearless essay Duras differs between what she calls a primary viewer of a film (meaning: the masses manipulated by capitalism who go to cinema to forget) and the small percentage of people who are not part of that kind of audience. Some might refer to such a view as snobbish but Duras arguments that she and the primary viewer will never understand each other. There is question about what comes first: The author/filmmaker or the critic/viewer. Both at the same time, one is tempted to say. In an interview given in Cannes 2012 Carlos Reygadas was shrugging his shoulders when confronted with viewers who did not understand what his Post Tenebras Lux was all about. He said: „Well, some will never understand. You cannot fight it.“

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Is this the story of a difference? A misunderstanding? Cinema, as always between the industry and the art, lost and impure. Most cinephiles I know would deny such demarcations. They have their point. You can find greatness in mainstream entertainment, in so-called trash, in art, in art house, whatever. I have always liked the texts by Alexandre Astruc on Howard Hawks, I think you have read them. The way he connects fascism to cinematic greatness with and without sarcasm at the same time beats at the very core of this conflict. Cinema is and has always been both: The money and the soul. The industry and the art. The fascist and the liberal. Nevertheless Duras is right when she says that primary viewers will not be interested in her work. It is the primary viewer that is limited, not the one who makes demarcations. The primary viewer, she says, is also among critics and filmmakers. They account for 90 percent. While she would be happy with her 10%, the filmmaker for the primary viewer would be unhappy with his 90%. He always wants to take away the 10%. He will fail forever, she writes. Duras also states that one is not condemned to be a primary viewer forever. Yet, a primary viewer will not be changed by force. He will have to see something, to maybe fall in love.

Another point Duras discusses in her texts is the idea of curiosity. Maybe this is linked to the primary viewer. Despite writing for the Cahiers du Cinéma Duras stresses her ambivalent relation with the “guys of Les Cahiers“ more than once, thus her relation to film criticism is a big topic. She finds a lack of curiosity in film criticism. She claims that critics are writing only about big budget films, that there is a lack of choice and freedom in film culture. Of course, like in her best texts, out of her speaks the fever of personal frustration. It seems that cinephilia, for Duras, is a sickness connected to a love that loses the ability to see. Cinephilia might be a blindness then. One of those paradoxes but as you know, we have seen this blindness. People ignoring cinema in order to have an opinion. People judging before seeing, without seeing. People watching and watching without reflecting. Is it more important to know what we want from cinema or to not know what we want from cinema?

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While thinking about her own films Duras writes that they are vibrating, floating. More than once she flirts with the idea of a black screen. Destroy cinema, she said. I have always thought that her inability to destroy cinema (or her words) has been the cause of those floating vibrations in Duras. It is a cinema of impossibility. When her camera looks at the ocean and she thinks about destruction there will always arrive a creation or suggestion. Moreover her women, I can only call them that, seem to live in the same world as the camera, that is between self-destruction, forgetting, loving and so on. She is very much about the not-representation, the gap between the presence of light and the stories that might or might not have happened. Thinking about cinema this way will always lead to the idea of destruction. When she says that primary viewers visit cinema to forget we should not suppress that this is exactly what bothers her protagonists: Either the forgetting or the memory that does not vanish. Once written down or spoken out, her words transform those memories. When you then confront them to forget you will not get anything from it. Carol Hoffman has written: “It is a remembering that destroys memory and leads to a new memory, which can replace the last only fleetingly and without substance “ Without curiosity and desire, how could you possibly bare such a work?

Like Jean-Marie Straub and to a certain degree Brian De Palma, Duras is very concerned with the lie that is part of the word spoken but also part of the images made. These three filmmakers offer three interpretations of the lie in cinema. Straub does everything to get rid of it, De Palma does everything to make the lie the truth (or vice versa) and Duras tears down the difference between lie and truth. Maybe Godard would have a say here too. In one of her texts Duras recounts an episode in which Godard was inviting her and she travelled a long way to meet him. When she arrived he wanted to sit down below the staircase of a school entrance while all the children were leaving school. They talked a bit until Godard said: „Isn‘t it funny. I let you come such a long way to sit down at this place.“ Apart from that Duras felt that both of them were thinking a lot about the relation of text and image with Godard coming from the other side (the image) as Duras (the text). There are also those filmmakers claiming that the word is a lie and the image is not. I always liked how Jean-Luc Nancy linked this thought with the importance of a doubt. Only in doubting the image it can become a truth again. He said that about Kiarostami but it is also true for Duras.

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In her texts I can also feel what we have once referred to as the “cinephile loathing“. I don‘t know if you remember. This idea of having had too much while still watching. It is a thirst for something else that ultimately leads us back to cinema. I sense in her writings a desire to not like cinema while being madly in love with it. Especially in her text about Woody Allen that becomes apparent. In interviews she has often said that she does only watch a handful of films a year. I don‘t believe her. We have this tendency with contemporary filmmakers, too. I have heard them say: I haven‘t been too cinema for a decade. I only watch old films. I only watch documentaries. I don‘t watch anything. There is a desire to not be influenced. Jacques Rivette teaches us the opposite. With us, as we discussed, this cinephile loathing might be something else and I somehow felt it mirrored in Duras. The idea that our generation has been betrayed by cinema too often. A silly thought, but still a thought. It is as hard to believe in excitement as it is to believe in doubt. As a result, everything stucks and floats just like the black wall that Duras describes which is between her words and images, makes them vanish. Still, others have told us that it has always been like this and maybe we love and doubt too much to state those things. The cinema writers we read and the filmmakers we love are either embracing the death of cinema or fighting death with knowledge and a suffocating enthusiasm. Both kinds seem to be descendants of Serge Daney of whom we all dream at night. Cinema was always beautiful when it was something else. With Duras it certainly is. I will have to re-watch her films. To not forget.

Viennale 2015: Singularities of a Festival: FEDERN

Notizen zur Viennale 2015 in einem Rausch, der keine Zeit lässt, aber nach Zeit schreit. Ioana Florescu und Patrick Holzapfel warten nach dem letzten Tag des Festivals darauf, dass sich die Eindrücke niederlegen, aufklaren oder tiefere Wahrheiten offenbaren. Bis dahin (und wir werden kommende Woche unsere Highlights präsentieren) bleiben die Fetzen der Viennale, die wie Federn nach einer Kissenschlacht in der Luft stehen.

Mehr von uns zur Viennale

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Ioana

  • Ohhh! What a beauty! Oh I’ve never seen one as big as that before
  • Tierische Liebe ist sicher der gefährlichste Seidl Film, den ich bislang gesehen habe. Ein Eingriff [eine Invasion] in und eine Parade von Einsamkeit und Bedürfnissen, bei der die Vorstellung von seiner Arbeitsweise genau so insidiös wie seine zu vermutende Auffassung von Menschen ist. Oder andersherum. Du hast natürlich Recht jedes mal, wenn du mir mit Puius “Es ist nicht so einfach” antwortest.
  • Um mich von Perfidia zu befreien, versuche ich Jeanne Balibars Pearl so oft wie möglich zu hören.
  • Die sehr gute Fussballszene in Kes schließt sich zusammen an einer Reihe von wunderbaren  Fussballszenen in Film (eigentlich Rugby, ich unterscheide nur zwischen Sport auf dem Boden und Sport im Wasser, so wie mein Mitchum zwischen zwei Arten von Schauspiel unterscheidet: with and without a horse)  und plötzlich steht Ken Loach in meinem Kopf aus diesem einzigen Grund und für kurze Zeit neben Lindsay Anderson und Carlos Reygadas.

Ken Loach Kes

Patrick

  • Deutsche Schlager klingen eigentlich wie chinesische Kinderlieder. Nur leider versteht man den Text.
  • Happy Hour von Hamaguchi Ryusuke ist ein Film über das verschwundene Lächeln. Es ist natürlich mehr, aber bei mir bleibt das verschwundene Lächeln. (Wolken vor der Sonne)
  • Ein Man stand gestern vor dem The Birds-Plakat vor dem Filmmuseum. Er nahm seine Frau an der Hand und zeigte ihr zielsicher: Das ist Tippi Hedren in Marnie.
  • Das Fußballspiel in Kes von Ken Loach ist unvergesslich. Alleine der Establishing-Shot des “Bobby Charlton”-Trainers, der, wie ein Raubtier gefilmt, alleine über das Fußballfeld rennt, war den Film wert. Loach berührt da auch die wahre Absurdität von Sportstunden in der Schule, in denen der Ehrgeiz einiger auf die Lustlosigkeit anderer trifft.
  • John Ford liebt Katharine Hepburn in einem roten Sonnenball. In seiner Whiskeyflasche sieht er für einen Moment seine Reflektion und dann dreht er einen Film, um zu vergessen. Letztes Jahr war die John Ford-Retrospektive, aber dieses Jahr habe ich die Reflektion von Ford gesehen. Es ist schon wieder ein Jahr vergangen, seitdem wir über eine seiner Einstellungen nachgedacht haben. Wir müssen Apichatpong fragen wie wir mehrere Leben haben können, um mehr Ford zu sehen.

 

Filmfest München: La tierra y la sombra von César Augusto Acevedo

Land and Shade

Umgeben von den vernichtenden Flammen des Rohrzuckers erzählt der vibrierende La tierra y la sombra von César Augusto Acevedo vom Sterben, dem Lernen, dem Verzeihen und der machtlosen Bewegung in einer politischen Verdammnis. Ein Film aus einer inneren Hölle, der dem jungen Filmemacher prompt die Camera d’Or für das beste Erstlingswerk in Cannes einbrachte. Es ist diese bewegte Kamera, die immerzu ihre Fühler ausstreckt, um nach den einsamen Momenten zu suchen und es ist dieser Kampf um Würde und Liebe, der hier in jedem Bild stattfindet und immerzu nicht nur vom Scheitern, sondern von der völligen Auflösung bedroht wird. Es geht um die Rückkehr eines Landbesitzers. In der ersten Einstellung geht er zwischen zwei Rohrzuckerfeldern auf die Kamera zu. Hinter ihm erscheint ein Lastwagen. Er stellt sich an den Straßenrand und als das Fahrzeug ihn passiert, verschwindet er im Staub. Erst nach vielen Sekunden können wir den Mann wieder erkennen. Im Haus warten sein sterbender Sohn und dessen Frau und Sohn. Außerdem lebt seine Ex-Frau dort. Sie lehnt seine Rückkehr ab. Es beginnt eine zärtliche Annäherung der Familienmitglieder, die nicht aus irgendwelchen Motivationen entsteht, sondern von der Existenz als solcher bedingt wird. Ihr Landbesitz steht inmitten der Zuckerrohrplantagen, wegen der Brände regnet es Asche, der schönste Ascheregen seit Hiroshima, mon amour, aber auch er ist tödlich. Neben dem Haus steht ein Baum, alles hier ist ganz einfach und so unendlich reich und grausam. Das Haus, die Plantagen, der Baum, Arbeiter, geschlossene und geöffnete Fenster. Der Wind, weiße Tücher und Dunkelheit, Drachensteigen und Vogelgezwitscher, ein Spiel, drei Generationen, Tränen.

Land and Shade

Es geht um das Überleben und Sterben und um den wenigen Schutz, die wenige Nähe, die wir uns geben können. Später läuft der Großvater mit seinem Enkel wieder auf dieser schmalen Straße zwischen den Pflanzen. Wieder erscheint ein LKW. Diesmal sehen wir in einer Nahaufnahme, wie der Großvater seine schützenden Hände um den Jungen und dessen Essen legt. Durch die schwebenden Bilder treiben mehr als nur leichte Spuren des Kinos von Carlos Reygadas. Wie beim Mexikaner, so schwingen auch beim Kolumbianer Acevedo biblische Töne eines spirituellen Kinos mit. Es ist eine Reinheit, die allerdings mit deutlich weniger Härte und Provokation als bei Reygadas präsentiert wird. Das bedeutet nicht, dass La tierra y la sombra ein weicher Film wäre, ganz im Gegenteil, aber die Figuren sind moralischer, sie reagieren nicht mit Gewalt oder übermäßiger Sexualität auf die philosophische und politische Ungerechtigkeit ihres Daseins, sondern sie fügen sich in ihren letzten Regungen, völlig wehrlos und voller Anstand ihren Verlusten, ihrer Zeitlichkeit. Ihrer Hoffnung? In diesem Sinn ist womöglich Stellet Licht der Film von Reygadas, der hier am ehesten herangezogen werden kann.

Geht es bei Reygadas aber oft um den Gegensatz von Licht und Schatten, so wählt Acevedo schon im Titel jenen zwischen Erde und Schatten, Land und Dunkelheit. Die Erde wird als Heilmittel verwendet, sie wird bedroht, sich zeichnet sich in allen Furchen ab, jeder Gebärde dieses Films, das Land muss verstanden werden, die Erde muss beschützt werden. Der Schatten ist zunächst die Dunkelheit. Aufgrund der Krankheit des Vaters dürfen die Fenster im Haus nicht geöffnet werden, eine Finsternis, die im Sterben ihre Endgültigkeit finden könnte, aber vielleicht auch eine Hoffnung bereithält. Schon vorher liegen der kranke Vater und sein junger Sohn auf der Rücklade eines Kleintransporters unter einem weißen Tuch, lichtdurchflutet, glücklich und nah und von der Erde geschützt. Vielleicht ist die Erde also der Schatten, der dann als Asche am Himmel seine Bestimmung findet.

Land and Shade

La tierra y la sombra ist ein fragile Atmen im Angesicht des Todes. Wie in Mother&Son von Alexander Sokurov liegt in der Reduktion und Konzentration auf die Essenz eines Verlustes von Leben jene Nähe, die genau dadurch entsteht. Nur in einer bemerkenswerten Sequenz, in der ein Pferd durch das Haus huscht, verlässt Acevedo seine Nüchternheit und tauscht sie gegen einen poetischen Anfall im Stil von Andrei Tarkowski aus. Aber er tut dies nur, um uns zu zeigen, dass auch die Träume Teil dieser Welt sind, Teil dieser Vergänglichkeit. Plötzlich hört man jedes Geräusch und erkennt die Bedeutung dessen an, was man nicht wahrhaben will, den Schatten, der über der Erde fliegt. Nebenbei geht es auch um die Ausbeutung von Arbeitern auf den Plantagen. Wütende Proteste der verdreckten Arbeiter, die mit dem selben Gespür für sanfte Bewegungen in der Tiefe des Bildes empfangen werden, aber sie sind nicht agitatorisch, nein fast schon im Ansatz vergeblich, vergessen, man bleibt an diesen Orten, um zu sterben, man geht ins Kino um dieses Sterben zu leben.

Trailer oficial – LA TIERRA Y LA SOMBRA dirigida por César Acevedo from Burning Blue on Vimeo.

Die Bedeutung des Verzichts im Film

Ich glaube, dass die Radikalität eines Verzichts in der filmischen Sprache heute von einer noch zu benennenden Relevanz ist, die zu keiner Zeit als bloßer Formwille oder als Prinzipiendenken abgetan werden sollte. Die Frage, ob ein Film nun etwas sagen und kommunizieren soll, oder ob er eher beobachten soll und somit ein womöglich ethisch haltbareres Verhältnis zur Realität aufbaut, ist inzwischen zu einer Frage zwischen Kommerz und Festival, zwischen Klassik und Moderne im Film geworden. Daran geknüpft findet sich die Frage, ob Film überhaupt eine Aufgabe hat. Es ist klar, dass Filmemacher wie Bruno Dumont (ein expressionistischer Minimalismus), Carlos Reygadas (ein impressionistischer Minimalismus, in dieser Hinsicht ein Bruder von Claire Denis), Nuri Bilge Ceylan (ein Minimalismus der Literatur oder zuvor einer der schweigenden Gesichter), Cristi Puiu (ein realistischer Minimalismus), Jia Zhang-ke (ein elliptischer Minimalismus), Apichatpong Weerasethakul (ein spiritueller Minimalismus) oder Pedro Costa (ein abstrakter Minimalismus) Filme machen, in denen wir nicht alles sehen und hören, was unser Kopf zur Herstellung eines in sich schlüssigen, klassischen Narrativs benötigen würde. Wir sind zurück auf uns selbst geworfen oder aber die Filme geben eine Wahrnehmung der Welt wieder, die sich nicht in eine Nachvollziehbarkeit, sondern eher in Gefühle, Fragmente, Figuren und die Realität dreht.

Still Life Jia Zhang-ke

Still Life von Jia Zhang-ke

Erstaunlich daran ist, dass diese Filmemacher häufig von einem politischen Standpunkt aus betrachtet werden, obwohl oder gerade weil sie sich um eine klare Aussage und Haltung herum winden. Im Verzicht liegt bekanntermaßen bereits ein politisches Moment. Dieses hat sich lediglich auf die Form verlegt (und wird im Inhalt gespiegelt). Das Musterbeispiel bleibt Pedro Costa, der seine Filme als demokratisches Unterfangen etabliert und im Verzicht eine Betrachtung von Menschlichkeit entwickelt. In diesem Sinn wird auch Sharunas Bartas interpretiert. Es heißt, dass durch das Schweigen von allen den Schweigenden eine Stimme gegeben wird. Im Aussparen macht man auf etwas aufmerksam, man betont gewissermaßen, dass etwas fehlt und das ist politisch. Aber ganz so einfach ist das nicht. Oft betrachten die Filmemacher des Verzichts eben auch politische Themen wie Jia Zhang-ke oder Claire Denis. Sie betrachten diese aber anhand des Banalen oder Außergewöhnlichen, auf keinen Fall mit der Idee selbst oder in Form eines Statements. An dieser Stelle sei bemerkt, dass Wang Bing in seinem Le fossé durchaus gezeigt hat, dass Minimalismus auch politisch lauter und deutlicher formuliert sein kann. Das wirkt dann aber aufgesetzt.

Japón von Carlos Reygadas

Japón von Carlos Reygadas

Ihre Wahrnehmung scheint in den meisten Fällen politischer als ihr Inhalt. Es wird erst in der Annäherung an den Inhalt klar, dass es sich dabei um etwas Politisches handeln könnte. Im Verzicht liegt auch ein Respekt vor der Komplexität politischer Vorgänge. Nicht die politische Haltung und Meinung der Filmemacher ist von Interesse, sondern die Realität. Eine objektive Realität ist natürlich nicht herstellbar mit einer subjektiven Sprache, aber das Aufmachen von Lücken und Fragen ist ein ehrlicherer Ansatz, als das forcierte Vertreten einer Position. Das Schwimmende und Unklare, das spätestens seit Michelangelo Antonioni eine gewisse Kontur im Kunstkino bekommen hat, ist ein politisches Statement. Aber es ist viel mehr, denn im Verzicht liegt auch die größtmögliche Hinwendung zur Konstruktion und Illusion von Raum und Zeit im filmischen Bild. Wenn bei Puiu verschiedene Dinge nicht geäußert werden oder wir bei Ceylans Filmen vor Winter Sleep enigmatische Gesichter betrachten, die ihre Emotionen hinter einem Berg aus Reflektion und Persönlichkeit verstecken, wenn sich Räume bei Jia Zhang-ke durch konstruktive Montagen und vor allem den Einsatz von Tiefenschärfe deutlich mehr als seine dieser Umwelt ausgesetzten Figuren erschließen oder Bruno Dumont beziehungsweise Claire Denis an entscheidenden narrativen Stellen eine Ellipse aufmachen, dann wird klar, dass sich die Filmemacher der Verpflichtung einer Fiktion bewusst sind. Sie wissen, dass Film in vieler Hinsicht seine Spannung aus dem „Wann und Was zeige Ich NICHT“ gewinnt. Der filmische Raum wird mir dann bewusst, wenn es ein Off-Screen gibt oder ein Bewusstsein der Richtungen der Realität, in der sich die Kamera befunden hat. Außerdem wird die Illusion derart als solche angezeigt und wir beginnen ihrer Konstruktion zu glauben. Hier beginnt für mich ein filmischer Realismus, in dem Augenblick, in dem ich ein offenes Verhältnis von der Kamera zur Realität wahrnehme und diese Offenheit kann nur durch Verzicht entstehen.

Twentynine Palms Bruno Dumont

Twentynine Palms von Bruno Dumont

Dieser Verzicht kann auch geringer und weniger radikal sein wie zum Beispiel die Rahmungen eines John Fords oder die RKO-Filme von Jacques Tourneur zeigen, denn dort wird nicht ein Gefühl von Verzicht etabliert, sondern lediglich auf das verzichtet, was unnötig erscheint. In dem Moment spricht man dann von einem Handwerk und von einer Notwendigkeit. Dieser Notwendigkeit unterliegt aber ein Verzicht auf das Ausschmückende, das Bombastische, das Prinzipienhafte. Plötzlich wird Film zu dem, was wir nicht sehen. Eine erhöhte Konzentration, ja ein Wiedererlernen des vergessenen Sehens ist nur in diesen Filmen möglich. Natürlich kann man auch in klassischeren Filmen genauer hinsehen, man kann mehr sehen, man kann sie auseinandernehmen. Die Intelligenz dieser Betrachtung geht dann aber zumeist vom Zuseher aus und nicht vom Film selbst. Zugespitzt könnte man formulieren, dass uns Filme wie jene von Claire Denis erst ermöglichen, in Filmen von David Fincher etwas anderes zu sehen als Plot.

Aurora von Cristi Puiu

Aurora von Cristi Puiu

Der zweite Verzicht liegt wie bereits formuliert in der Zeit. Zunächst handelt es sich um einen Verzicht der narrativen Manipulation von Zeit, also ein Spürbarmachen der Zeit. Andy Warhol hat dieses Spiel wohl am weitesten getrieben. Cristi Puiu hat in seinen Filmen einen perfekten Ansatz gefunden, um die manchmal absurden Bewegungen von Figuren in der Zeit zu seinem eigentlichen Inhalt zu machen. Das zeigt auch, dass es im Verzicht nicht um das gehen kann, was passiert, sondern darum, wie es passiert. Und es gibt deutlich spannendere Möglichkeiten etwas über das Wie zu erzählen als über das Was. Der zweite zeitliche Verzicht liegt in der Ellipse, dem Auslassen. Nun erscheint das Fragmentieren zunächst als besonders konstruiert und realitätsfern. Das hängt allerdings damit zusammen, ob man die Realität als subjektive Wahrnehmung oder als objektive Größe versteht. Ohne mich in einen zu philosophischen Diskurs zu stürzen, möchte ich doch behaupten, dass die filmische Sprache einzig zu einer Wahrnehmung der Realität, einer kinematographischen Realität befähigt ist. Einzig im Verzicht ermöglicht sie uns diese Wahrnehmung anzuzeigen und somit deutlich näher an eine Objektivität, nennen wir es im Sinn von Godard Wahrheit heranzukommen. Daran hängt natürlich auch das impressionistische Prinzip der Erinnerung, der Inspiration, der Flüchtigkeit. Das Kino wird davon angetrieben und generiert es im Zuseher. Carlos Reygadas stürzt sich in vielen seiner Filme in solche inneren Bewegungen. Das Erstaunliche bei ihm und bei vielen anderen Minimalisten wie beispielsweise auch Semih Kaplanoğlu oder Sergei Loznitsa ist, dass die Subjektivität in der Betrachtung der Realität entsteht und nicht wie bei fantastischen Filmemachern oder Kommerzmenschen in der Herstellung einer Welt. Nein, Reygadas filmt einfach seine Tochter und drückt damit etwas über sich selbst aus, was uns angeht, weil es eben ein Verhältnis zur Realität hat. Das Ehrliche, Subjektive entsteht bei ihm durch seine Form, also auch durch seinen Verzicht.

Ne change rien

Ne change rien von Pedro Costa

Je radikaler dieser Verzicht, desto mehr macht er auf einen Missstand aufmerksam. Dieser Missstand liegt in der Pornographie der subjektiven Erinnerungen, den Bilderfluten, denen wir uns heute ausgesetzt sehen, den Filmen, Clips und Profilen, die uns alles zeigen, der Tatsache, dass fast jeder Mensch heute seine eigene, geschlossene und schöne Geschichte in Bildern erzählt. Darin gehen Erinnerungen und Wahrheiten verloren. Die Frage heute ist: Töte ich meine Erinnerung oder rette ich sie, wenn ich ein Bild mache? Da das Bild schon lange Zeit die Realität überholt hat, sehen wir oft die gespeicherte Wahrnehmung der Realität vor der eigentlichen Realität. Nun zeigt ein Filmemacher, der sich dieser Flut widersetzt und etwas nicht zeigt, etwas spürbar macht (Tsai Ming-liang wäre hier ein besonders rebellisches Beispiel) und auf etwas verzichtet, dass es sich durchaus noch lohnt hinzusehen. In diesem Hinsehen, dieser erhöhten Bedeutung des Blicks werden dann nicht nur Zeiten und Räume wahrnehmbar sondern auch Gefühle. Dabei sind nicht die theatralen Gefühle eines gelungenen Plottwists gemeint, sondern Gefühle, die in unserer Relation zu den Bildern entstehen. Dies ist gerade in der heutigen Zeit eine große Kunst, da wir natürlich leichter und schneller Gefühle empfinden, wenn wir Bilder sehen, auf denen wir selbst oder Freunde zu sehen sind. Aber die filmischen Bilder des Verzichts lehren uns, dass auch die Bilder selbst Gefühle haben. Wenn ein Film etwas nicht zeigt, dann liegt das auch daran, dass es ihm vielleicht unangenehm war, dass er sich etwas scheut. Die geschlossenen Türen von Pedro Costa, die Unschärfen bei Jia Zhang-ke oder das Nicht-Zeigen bei Claire Denis sprechen alle von einer Zärtlichkeit des emotionalen Einflusses. Wenn Denis den Autounfall in Les salauds nicht zeigt, aber das völlig zerstörte Auto, dann ist das ein Bild, das uns sofort trifft. Es ist ein Bild, das wir kennen, das die Gewalt spürbar macht statt sie einfach zu zeigen und es zwingt uns zum Hinsehen. In diesem Hinsehen verbinden sich dann Imagination, Realität und Erinnerung zu einem Gefühl, das durch Framing, Ton- und Musikgestaltung usw. eine subjektive Wahrnehmung widergibt. So betrachten wir ein Bild, statt es nur mehr zu machen und zu teilen. Es bleibt also keine Überraschung, dass diese modernen Filmemacher sich mit Erinnerungen auseinandersetzen und diese spürbar machen. Warum sollte dies nicht eine der wichtigsten Möglichkeiten von Film im 21. Jahrhundert sein?

Les salauds von Claire Denis

Les salauds von Claire Denis

Kritiker und viele Zuschauer bemängeln, dass sich diese Filme mit Absicht einem Verständnis entziehen. Diese Behauptung kann ihren Grund aus meiner Sicht nur in zwei Dingen haben. Zum einen ist es schlicht die Faulheit einer tiefergehenden Auseinandersetzung mit den Filmen, die bei den Kritikern aufgrund einer alltäglichen visuellen Reizüberflutung zu Stande kommt und bei den Zusehern an einer fehlgeleiteten Wahrnehmung sogenannter Aufgaben von Kunst sowie schlichtem Desinteresse, Ignoranz und Zeitproblemen festzumachen ist. Zum anderen haben sie wohl tatsächlich verlernt hinzusehen, denn in allen genannten Beispielen wird mehr erzählt, mehr gesagt und mehr gefühlt als in jedem Unterhaltungsfilm. Dies ist keine Verneinung von Narration, da alle Filme narrativ sind. Es geht einzig darum, dass unsere bequemlichen Erwartungen an Narration durchkreuzt werden müssen, damit wir einen neuen Raum und eine neue Zeit für etwas Politisches, etwas Persönliches und etwas Filmisches bekommen. Wenn es so etwas wie eine filmische Wahrnehmung gibt, dann muss diese auch nach eigenen Mustern funktionieren, sie muss poetisch sein und notwendig, sie muss verzichten und fließen, sie hat das Bild, den Ton, die Montage, die Erzählung, das Schauspiel und die Kombination all der Dinge, die in all das einfließen. Sie tut gut daran, sich dieser Mittel bewusst zu sein, denn wenn sie nicht verzichtet oder einen ihrer Aspekte ignoriert, wird sie untergehen zwischen all den oberflächlichen Bildern dieser Welt. Denn wo ist sonst der Unterschied?

Die Zeit filmen

An einer dieser wundervollen Wiener Fassaden zeichnete sich ein Lichtspiel ab, als die untergehende Sonne manchmal und nur leicht von Wolken verdeckt wurde. Einige Menschen, darunter vermehrt Touristen zückten ihre Fotoapparate und Mobiltelefone, um das Schauspiel festzuhalten. Sie drückten verzweifelt auf ihre Knöpfe, um die Schönheit des Moments festzuhalten. Ich frage mich wie ihre Bilder schließlich aussehen, aber ich weiß mit Sicherheit, dass sie es nicht vermögen, das wirklich Atemberaubende an diesem Moment einzufangen, weil diese Schönheit an der Zeit hängt.

Das bedeutet aber nicht, dass es ganz einfach gewesen wäre, mit einer Filmkamera beziehungsweise mit der Videofunktion des Mobiltelefons jenes Wechselspiel in seiner zeitlichen Entfaltung einzufangen. Die Schönheit des Lichts war an diesem späten Nachmittag in Wien die Zeit selbst und es ist unheimlich schwer, die Zeit zu filmen. Beliebt ist die Annahme, dass die zeitliche Strukturierung beziehungsweise die filmische Fähigkeit, Zeit zu entblößen eng mit der Montage zusammenhängt. Das ist allerdings ziemlicher Schwachsinn. Zwei Filme, die ganz leicht das Gegenteil beweisen, sind zum einen Chris Markers (dieser Mann, der es wie Alain Resnais wie kaum ein zweiter vermochte, die Zeit zu filmen) La Jetée, ein Film der heftig an den Prinzipien der Montage hängt, aber seinen großen Moment der Nacktheit von Zeit gerade dann entfaltet, wenn er nicht schneidet, sondern Bewegung zeigt, begleitet von einem Vogelzwitschern für die Ewigkeit. Der andere Film ist Fish&Cat von Sharam Mokri, ein kleines Wunder, das letztes Jahr in Venedig Premiere feierte und seither völlig unterging. Der Film besteht aus einer einzigen langen Einstellung und zerstört jegliche Sicherheit und Empfinden für Zeit. Zeit ist eben auch eine Frage der Perspektive und des Raumes. Wen schaut man wann und wie an? Wie oft im Leben hat man sich schon gefragt wieso einem etwas in der Vergangenheit nicht aufgefallen ist? Wie oft erlebt man eine Vergangenheit neu, wenn man einen neuen Kontext zu ihr bekommt, eine neue Perspektive darauf?

Chris Marker La jetée

Daher wird es den Fotografen und Filmern vor den Fassaden in Wien äußerst schwerfallen diesen, Augenblick auf ihren Bildern zu finden. Denn was sich in ihren Augen manifestiert hat, ist in der Linse der Kamera schon etwas ganz anderes. Einen Film über die Zeit hat auch der deutsche Filmemacher Philipp Hartmann mit seinem Die Zeit vergeht wie ein brüllender Löwe gemacht. Dabei vermag er es, die Zeit in ihrer Abwesenheit zu filmen. Bei ihm macht sich die physikalische Größe als philosophisches Konzept im Off-Screen bemerkbar. Etwas ist vergangen, das sehen wir. Fast verzweifelt und tragisch klammert sich der Film an die Möglichkeit, Zeit auf Film zu speichern. Man denkt an Jonas Mekas, der immer wieder für einen Gegenwärtigkeit der Bilder eintritt, die allerdings etwas anderes sind als Erinnerungen oder Vergangenheit. Bilder, die sich mit jeder Projektion neu in der Zeit verorten. Hartmann ist clever und sensibel genug, um nicht in einen Fehler zu tapsen, er richtet stattdessen einen Spiegel auf die Zeit und sich selbst und lässt beides verschmelzen. Insofern macht er einen Film über die Krise des Alterns, das natürlich an der Zeit, den Erinnerungen und der Gegenwart hängt. Die Gegenwärtigkeit von Bildern sind auch ein Grund warum man nicht einfach die Schönheit einer Fassade sieht, sie fotografiert und dann die Schönheit wiederfindet. Dies könnte jetzt natürlich ein Plädoyer für die große Kraft der Realität und der Erinnerung gegenüber von Filmen sein und tatsächlich erwische ich mich beim Gedanken der scheinbaren Unterlegenheit von Film gegenüber dem, was man als unsere Augen bezeichnen könnte. Aber dann fällt mir wieder ein, dass der Blick im Film uns erst erlaubt zu schauen. Damit meine ich, dass er uns konzentriert, aufmerksam macht und ja, ermöglicht Zeit wahrzunehmen. Gerade in der heutigen Welt, der wir kaum mehr Platz lassen für eine Leere und ein inspirierendes Nichts, eine Langeweile kann Film diese zeigen und geben. Film kann zeigen wie Zeit vergeht und das sollte in unserer Zeit fast einem außerirdischen Spektakel gleichkommen. Man denkt an Tsai Ming-liang und seine Walker-Filme. Die Bedeutung von Langsamkeit, was bedeutet es zu sehen? Man sieht jeden Tag so viel, dass man versucht ist, zu vergessen was es bedeutet. Inzwischen ist Zeit ein politisches Statement in der Kunst und Kultur. Bewegungen und Schlagworte werden erfunden, um die Bedeutung von Zeit zu unterstreichen. Zeit kann also auch eine rebellische Antwort auf den Mainstream sein, aber dann hat sie selten eine Bedeutung. Bei Tsai Ming-liang geht es auch um eine Wahrnehmungsveränderung, eine sinnliche und zugleich rhetorische. Wir betrachten zum Beispiel ein Gesicht, wir bekommen eine Information, wir gehen. So sind die meisten Filme konstruiert und so gehen sie meilenweit an ihren Möglichkeiten vorbei. Denn erst wenn wir eine längere Zeit bekommen, das Gesicht zu betrachten, wird etwas mit unserer Wahrnehmung passieren, etwas, dass uns in der Realität zumindest bei fremden Menschen gar nicht möglich ist. Wir werden es studieren, es fühlen, es wirklich sehen. Natürlich muss man dafür hinsehen und viele Menschen können das nicht/nicht mehr. Auch ermöglicht Film eine besondere Perspektive auf dieses Gesicht. Einen anderen Blick, der ganz automatisch von Zeit beseelt ist, weil er uns aufmerksam darauf macht, dass wir blicken. In diesem Sinn ist die Dynamisierung räumlicher Prozesse und die Strukturierung von Personenkonstellationen essentiell für unsere Wahrnehmung von Zeit im Film.

Post Tenebras Lux Reygadas

Man denke beispielsweise an die verunsicherte Swinger-Sauna Szene in Post Tenebras Lux von Carlos Reygadas. Zuerst zeigt Reygadas die Protagonistin und ihren Ehemann in einer amerikanischen Einstellung in den blau-roten Lichtern der Sauna. Sie entkleidet sich. Im Anschnitt am linken Bildrand beobachtet sie ein älterer, nackter Mann und im Bildhintergrund sitzt in einer Nische eine nackte Frau. Wir hören es vor Hitze tropfen. Plötzlich dynamisiert Reygadas unsere Raumvorstellung. Ein weiterer nackter Mann kommt von hinter der Kamera ins Bild gelaufen und nimmt unsere Protagonistin an der Hand. Der Mann im Bildvordergrund erhebt sich und hält die andere Hand der Frau. Zusammen gehen sie aus dem Bild, wobei sich Hinterteile und Geschlechtsteile noch prominent in der Bildmitte platzieren. Die Kamera bleibt stehen und zeigt den nervösen Ehemann, der das Handtuch seiner Frau hält und schwer schluckt. Hier spüren wir zum ersten Mal in dieser Szene den Druck der Zeit. Ein Mann beginnt Off-Screen, von der schönen Haut der Frau zu schwärmen während die Frau aus der Nische im Hintergrund aufsteht und auf die Kamera zugeht. Wieder dynamisiert Reygadas den Raum in der Zeit, denn plötzlich offenbart sich das in der Nische nicht eine nackte Frau war sondern gar zwei. Sie bleiben beide in der Türschwelle stehen und der Ehemann bemerkt die beiden nackten Frauen mit einem schüchternen Seitenblick, der immer deutlicher wird. Die Geräusche und Dialoge im Off-Screen deuten gleichzeitig darauf hin, dass die beiden Männer nun mit der Protagonistin schlafen. Reygadas schneidet in eine amerikanische Zweiereinstellung von einem nackten, sitzenden Paar. Sie beobachten offensichtlich das Geschehen und berühren sich dabei am unteren Bildrand. Reygadas hält diese Einstellung für circa 50 Sekunden. Off-Screen ist die besorgte Stimme der Protagonistin zu hören, die darum bittet, sanft behandelt zu werden. Die Frau im Bild bemerkt, dass die Protagonistin schön sei. Der Mann fordert sie auf, zu ihr zu gehen. Das Pärchen gibt sich einen flüchtigen, in dieser Umgebung fast surreal-süßen Kuss und die Frau verschwindet aus dem Bild. Reygadas bleibt mit der Kamera erneut auf dem verlassenen und beobachtenden Mann und erinnert damit zugleich an den Ehemann, der auch noch im Raum steht. Dadurch wird so etwas wie Gleichzeitigkeit manifestiert, also Zeit. In der nächsten Einstellung bewegt sich die Kamera ganz langsam in eine Nahe der Protagonistin während ein Mann wild in sie eindringt und die Frau aus der vorherigen Einstellung ihren Kopf auf den Schoß legt und die Protagonistin gleich einer Mutterfigur beruhigt und ihr Mut macht. Im Bildhintergrund sind allerhand nackte Körper zu sehen. Im Anschnitt am rechten Bildrand beobachtet ein Mann das Geschehen als wäre er bei der Arbeit an einem Fließband und im Hintergrund sind unter anderem die beiden Frauen aus der ersten beschriebenen Einstellung dieser Szene. In einer an Bruno Dumont erinnernden Weitwinkeleinstellung des Gesichts der Mutterfigur verzerrt Reygadas unsere Perspektive auf diese Figur und man kann sich nicht sicher sein, ob es sich dabei um einen Point-of-View unserer Protagonistin handelt oder nicht. Jedenfalls wird uns das Unwohlsein der Szene durch die Wahl des Objektivs noch deutlich bewusster. Reygadas hält auch diese Szene sehr lange (ca. 25s), aber im Dialog wird klar, dass die Protagonistin beginnt, sich wohl zu fühlen. Reygadas schneidet in eine fast symbolische Naheinstellung des Gesichts der Protagonistin, die kurz vor ihrem Orgasmus steht und der Brüste der Mutterfigur, die ihren Körper berühren während ihre Finger zärtlich über die Haare der Protagonistin streichen. Die Zeit, die hier vergeht, entspricht keineswegs jener Zeit, die der Akt in der Realität einnehmen würde, aber das Gefühl für die Zeit ist das gleiche, intensiviert und entfaltet durch die Wahl von Kamerapositionen, Ton, Licht, Maske, Schauspiel, Länge der Einstellungen und allem was dazugehört. Die Protagonistin kommt sehr leise zum Höhepunkt und wir glauben ihr. Reygadas bleibt mit der Kamera auf ihrem verschwitzten, leeren Ausdruck, die Mutterfigur sagt: They all want you because you are beautiful. Die Protagonistin bedankt sich. Wo ist ihr Ehemann? Wessen Perspektive haben wir hier tatsächlich?

Satantango Tarr

Nun ist es mit großer Sicherheit auch fatal zu glauben, dass man die Zeit filmt, indem man sich einfach Zeit lässt. Nein, denn die filmische Zeit hängt auch am Licht und der Illusion dahinter, die filmische Zeit braucht eine innere oder äußere Bewegung. Denn wenn ein Regisseur sich für eine lange Einstellung ohne ein solches Licht entscheidet, dann wird er die Zeit von der Leinwand verweisen und in den Zuschauerraum verbannen. Dort vergeht sie jedoch immer gleich. Die Möglichkeit von Film ist es jedoch, die Zeit zwischen Zuschauer und Bild spürbar zu machen, sie zu verschhärfen oder außer Kraft zu setzen. Genau das hat die Szene von Reygadas beschrieben und genau das unterscheidet auch die etwas stupide Wahrnehmung eines Kinos der Zeit als Slow-Cinema von jenem eines Kinos der intensivierten Realität. Man denke an die Filme von Béla Tarr, zum Beispiel Sátántangó oder A torinói ló. Dort ist die spürbare Zeit oft der Weg von einer Perspektive in die Nächste und zugleich ist es auch eine Frage der Geschwindigkeit dieser Bewegung. Wir sehen unserem Blick beim Wandern zu und dringen somit in die Zeit des Raumes und der Figuren ein. Ähnliches ist auch ohne Bewegung zu erreichen wie in Filmen wie Historia de la meva mort von Albert Serra (eigentlich alles von ihm), den Filmen von Jia Zhang-ke oder jenen von Lisandro Alonso klar wird. Die Frage nach der Zeit ist immer eine Frage nach unserer Aufmerksamkeit dafür. Ein Filmemacher wie Alonso bekommt diese womöglich aufgrund seiner deformierten Seltsamkeit, seiner überwältigenden Landschaften und seinen räumlichen Überraschungen, indem er uns auch Blicke und Informationen verweigert bis zu einem Grad, an dem wir unbedingt sehen wollen. Dagegen wird unsere Aufmerksamkeit bei Filmemachern wie Albert Serra oder auch Cristi Puiu dadurch erfasst, dass in der Zeit ein ironisches, ja absurdes Element liegt. Das bedeutet nicht, dass man die Zeit in ihren Filmen als besonders lustig wahrnimmt-ganz im Gegenteil-aber dass die Überlegung welche Schritte in einem Prozess wirklich nötig sind (zum Beispiel bei der Ermordung seiner Frau) nicht lediglich ein entdramatisierendes Potenzial beinhaltet, sondern dass das Dramatische gerade in dieser Zeit liegt.

Aurora Puiu

In Aurora beschäftigt sich Puiu eigentlich durchgehend mit dieser Zeit, aber wenn man einen Blick auf die unmittelbare Phase um einen Mord im Film legt, sieht man die manische Präzision und die Größe dieses Regisseurs im Umgang mit Raum und Zeit. Der Protagonist fährt mit dem Auto. Die Kamera hält ihn links am Steuer im Anschnitt und verschwindet sonst mit einem Phantom Ride durch das nächtliche Bukarest und in einen Tunnel. Wir hören das Rascheln der Kleider und das angespannte Atmen des Protagonisten. Die Schärfe verlagert sich vom Raum auf das Spiegelbild im Rückspiegel. Ein harter Schnitt und der Protagonist erscheint mit Mütze hinter einer Pfütze. Ein Schwenk begleitet seinen Weg über einen Parkplatz zum Auto. Er öffnet es. Ein lautes Motorrad ist zu hören und die Kamera beginnt etwas zu wackeln, als der Protagonist eine Tasche aus dem Kofferraum holt. Er geht zurück, die Kamera schwenkt wieder mit ihm. Aber auf halbem Weg fällt ihm etwas ein. Er dreht nochmal um, die Kamera geht wieder mit, aber es ist nur ein Schritt. Er drückt auf seinen Schlüssel, um das Auto zuzusperren und geht erst dann weiter. Nun geht er den Weg zurück und die Kamera schwenkt mit ihm. Warum denken so wenige Filmemacher daran wie oft man sich nicht sicher ist, ob man seine Tür zugesperrt hat? Ein solcher Augenblick ist ein Augenblick der reinen Zeit. Der Protagonist sucht seinen besten Weg durch die Pfütze und geht durch eine Gittertür nach hinten. Die Kamera bleibt stehen und folgt ihm aus einer beobachtenden Totale. Dies ist das wichtigste formale Gestaltungsprinzip der folgenden Minuten. Er macht die Tür hinter sich zu. Ein harter Schnitt und unser Protagonist taucht mit seiner Tasche in einer Halbtotale in einer Tiefgarage auf. Aus dem Off-Screen sind Schritte zu hören, er schaut angespannt. Die Kamera schwenkt mit seinem Blick (hier haben wir wieder eine Perspektive, die mit der Zeit entsteht) und wir sehen noch die Umrisse eines Mannes in der Tiefe des Bildes. Er verschwindet und unser Protagonist schaut etwas entspannter um sich. Er dreht um und blickt in eines der Autos, die auf einem Parkplatz stehen. Er schaut durch das Fahrerfenster. Ein weiterer harter Schnitt in eine Halbtotale. Unser Protagonist steht hinter einem Auto, wieder sind Schritte zu hören. Er bewegt sich langsam nach links und die Kamera schwenkt mit ihm mit bis er hinter einer Säule verschwindet. Nach einigen Sekunden kommt er auf der anderen Seite der Säule hervor und der Schwenk folgt ihm weiter. Nun bewegt er sich etwas schneller zwischen den geparkten Autos und folglich wird auch der Schwenk schneller. Plötzlich kommt eine Tür ins Bild, aus der zwei Männer treten. Wir sehen sie gleichzeitig wie der Protagonist, der daraufhin umdreht und seinen Kopf senkt. Der Schwenk folgt ihm wieder zwischen die Autos, er steht mit dem Rücken zu den Stimmen der Männer, auch ein Auto fährt vorbei. Er berührt einen Kettenzaun mit seiner Hand und schaut möglichst beiläufig um sich. Die Zeit in dieser Szene besteht nicht nur aus dem Nicht-Auslassen der Ereignisse, sondern auch aus der Antizipation einer Tat, man merkt, dass da etwas nicht stimmt und dadurch gewinnt der Ablauf eine Aufmerksamkeit. Diese ist keineswegs undramatisch, sondern hochspannend, obwohl Puiu einer der wenigen Regisseure ist, die es tatsächlich vermögen, ein Gefühl für Echtzeit zu vermitteln. Es ist wieder ruhig in der Tiefgarage. Der Protagonist setzt seinen Weg fort und tritt wieder heraus aus den Autos Richtung Tür. Die Kamera bleibt erneut stehen (das Schwenken und stehenbleiben immer mit einer Handkamera strukturiert hier die Szenen) und er verschwindet hinter der Tür, die laut Schild zu einer Hotellobby führt. Was macht er? In einer amerikanischen Einstellung schwenkt die Kamera mit ihm durch ein Treppenhaus. Wieder sind Stimmen zu hören, er nimmt seine Mütze herunter und dreht panisch um. Die Kamera schwenkt mit ihm. Er streift durch eine Nahaufnahme und versteckt sich unter den Treppen. Jetzt wechselt die Kamera ihre Perspektive ohne Schnitt und fokussiert auf einen Mann in Lederjacke, der die Treppen herunterkommt. Hier dynamisiert Puiu seine Perspektive, seinen Raum in der Zeit. Fast spielerisch folgt die Kamera dem Mann, aber nur so weit wie der Blick des Protagonisten es erlauben würde. Dann dreht sie um und aus dem POV wird wieder eine Verfolgerkamera, in die der Protagonist blickend tritt. Er geht die Treppen nach oben, wir folgen ihm mit einem Schwenk. Bewegung-Stehen Bleiben-Umkehren-Bewegung-Bewegung-Stehenbleiben-Umkehren…unsere Wahrnehmung für die Bewegung in der Zeit wird geschärft. Eine Halbtotale holt den Protagonisten in der Hotellobby ab. Im Hintergrund sind unscharfe Menschen, wir folgen ihm mit einem Schwenk durch die Loungemusik und bleiben oberhalb einer wendelförmigen Treppe stehen, die er mit schnellen Schritten nach unten geht. Dabei reagiert die Kamera auch auf seine Bewegungen, wenn sie ihn nur kurz aus der Topshot-Perspektive erkennen kann. Ein harter Schnitt in eine Totale. Der Protagonist erscheint wieder draußen auf dem Parkplatz vor dem Hotel. Ein 360 Grad-Schwenk zeigt uns wie das Hotel, die Tiefgarage und der Parkplatz räumlich zusammenhängen. Der Weg, den wir gegangen sind, wirkt trotz der Schnitte nun glaubwürdig. Der Protagonist rennt fast. Wieder schwenkt die Kamera und bleibt dann stehen. Wir sehen ihn aus einer totalen Einstellung durch dieselbe Gittertür wie am Anfang gehen. Hier spiegelt Puiu die kleinen Bewegungen der Szene in der großen Bewegung der Szene: Denn wie immer ist der Protagonist einen Weg gegangen, ist umgekehrt und geht ihn dann doch weiter. Also wieder zurück in die Tiefgarage. (UNGLAUBLICH!) In einer Halbtotale erahnen wir ihn hinter einem Auto auf dem Boden lauernd. Man hört wie er sein Gewehr zusammenbaut. Er steht auf, das Gewehr in seiner Hand, er hat ein paar Probleme damit und schaut gespannt Off-Screen. Er stößt mit seiner Waffe gegen ein parkendes Auto. Hier liegt das absurde Element, das nur in einer Entfaltung der Szene in Raum und Zeit überhaupt möglich ist. Wir schwenken mit ihm und bleiben dann stehen. Er positioniert sich schnell zwischen zwei Autos. Nun sind wieder Stimmen aus dem Off zu hören. Der Protagonist ist sehr angespannt, man glaubt, dass er gleich schießen wird, aber dann blickt er nochmal und entscheidet sich weiterzugehen. Er verschwindet hinter den Autos, die Kamera schwenkt mit ihm mit, obwohl wir ihn nicht immer sehen. Sie schwenkt soweit nach rechts bis im Bildzentrum sehr nah eine Säule auftaucht. Rechts von der Säule erscheinen ein Mann und eine Frau. Wieder dynamisiert Puiu unsere Perspektive und macht aus der Verfolgerkamera einen POV-Shot, nun sind wir wie der Mörder, versteckt lauernd hinter einer Säule. Die Kamera folgt den beiden. Sie sperren jenes Auto auf, das der Protagonist früher betrachtet hat. Sie haben offensichtlich einen Streit. Als sie einsteigen, springt der Protagonist hervor und erschießt beide mit jeweils einem lauten Schuss. Die Kamera bleibt in der Totale und reagiert mit atmenden Schwenks. Nun folgt sie wieder dem Protagonisten, der hektisch zurück zu seiner Tasche hinter dem Auto läuft. Er setzt sich wieder hin und packt das Gewehr ein. Die Kamera hat ihre Position nicht verlassen, Puiu demonstriert die zeitliche macht eines Schwenks. Er rennt nach hinten aus dem Bild und ein harter Schnitt führt uns wieder in das Auto, mit dem der Mann holprig flüchtet.

La libertad Alonso

Dieses Licht, das mit der Zeit korrespondiert, ist keine Frage eines glücklichen Moments wie dem einer spontanen Beobachtung einer Fassade. Deshalb hat man in einem Film von Terrence Malick auch kein Zeitgefühl sondern nur leere Schönheit, die erst mit einem Voice-Over- und Musikgedudel so etwas wie Zeit bekommt. Nein, es ist eine Frage von Wahrnehmung, dem Denken und Arbeit in der Zeit. Ein Fotograf, der das eingangs beschriebene Phänomen beobachtet und jeden Tag zur Fassade kommt, der den Raum kennt, der seinen Fotoapparat kennt, der das Licht kennt und sich selbst, der wird die Schönheit dieses Augenblicks auch einfangen können. Man denke an ein Gewitter bei John Ford in She wore a yellow ribbon. Ja, die Legende des Mannes pocht auf das Glück und die Spontanität dieses Augenblicks, aber wenn ich die Szene sehe, sehe ich Schnitte und sehe ich Perspektiven, die einen perfekten Blick auf das Naturschauspiel in der Zeit ermöglichen; eine Zeit, die aus dem Raum und aus dem filmischen Gewissen eines Künstlers hervorgeht. Die Zeit filmen ist zugleich Essenz als auch Meisterschaft des Filmemachens.

Wie tot ist der spirituelle Filmemacher?

Pedro Costa vor einer Gruppe japanischer Filmstudenten:

“To digress briefly, because this is a very nice little story: there was an old professor of film giving a course on direction, and he showed Dreyer’s film The Word (1954) to his students. At one moment, a few of the students laughed during the film, and after the end of the film, the professor said to them: ‘Look, if you start laughing when you hear the word ‚God,‘ you’re never going to make a film.’”
Die bloße Vorstellung, dass man bei einem Screening von Carl Theodor Dreyers “Ordet” über und nicht mit dem Film lacht (es gibt nämlich einige schwarzhumorige und komische Augenblicke), macht mir Angst.

„Ordet“ ist ein Film, der von mehr als einem kirchlichen Glauben erzählt. Es geht um einen naiven Glauben, einen kindlichen Glauben, an das Wesen menschlichen Glaubens überhaupt und dieser muss nicht zwangsläufig etwas mit der Kirche oder einem Gott zu tun haben. Der Glaube ist hier auch so etwas wie Hoffnung, wie Wünsche oder Liebe. Mit einem Lachen über einen solchen Film wird Ernsthaftigkeit erneut unter einer abgeklärten Welle des Zynismus begraben. Das Spirituelle soll in diesem Artikel nicht auf seine kirchliche, sondern tatsächlich in seiner geistig/geistlichen Bedeutung betrachtet werden.

Ordet

Ordet

Costa weiter:

“I tell this story because filmmaking is a very real and serious profession. Serious means heavy, and sometimes the weight of things can be very heavy. The weight of feelings is something to handle with balance and common sense, and so we must never laugh when somebody speaks about God or the Devil. In effect, when we speak of God or the Devil in cinema, we’re speaking about good and evil, we’re talking about people. We’re speaking about ourselves, about the Devil and the God in us, because there’s no God up on high, and no Devil below.”

It’s correct because all the things in front of you, all the themes that you can try to film in your lives as directors, these are always very serious things, even the comedies or the gags that Chaplin filmed. These are always very serious things which, at bottom, are related to good and evil.”

Aber die von Costa geschilderte Reaktion beschreibt ein Zeitalter, indem Kino etwas verloren hat, das es früher noch aus der Gesellschaft ziehen konnte: Glaube. Das ist an sich kein Problem, wahrscheinlich ist es auch gut so, aber mit dem Glauben gehen auch Eigenschaften verloren, die dem Kino und womöglich der ganzen Kunst eine Berechtigung zur Erhabenheit geben, der sakrale, spirituelle Impetus, der einem bei Dreyer und auch bei Andrei Tarkowski, Ingmar Bergman oder Robert Bresson begegnet. Mit ihm der eisige, surreale Wind im Tondesign, den Federico Fellini immerzu über seine Traumsequenzen wirft, die sich damit völlig aus der Realität erheben. Mit ihm die Bereitschaft kontemplatives Kino nicht als Provokation, sondern als Schönheit wahrzunehmen. Mit ihm auch der Schock des Mystischen, Surrealen oder Unverständlichen. Ist heute etwas unverständlich, dann liegt das an Schwächen beziehungsweise durchschauten Intentionen des Filmemachers, nicht mehr am Wesen des Films selbst.

Uncle Boonmee who can recall his past lives

Uncle Boonmee who can recall his past lives

Nicht unbedingt die theologische Motivik ist in den Filmen verloren gegangen, sondern der moralische Konflikt und seine Bedeutung im Betrachter. Vor knapp einem Jahr wurde ein Artikel von Vladimir Lukin veröffentlicht, indem er einige Beispiele für Filme nennt, die mit derartigen Motiven arbeiten. Er verneint aber deren Spiritualität zugunsten von Albert Serra, einem Filmemacher, der so sehr von Zynismus durchdrungen ist, dass es mir schwer fällt von einem spirituellen Filmemacher zu sprechen:

“Carlos Reygadas’s Silent Light and Bruno Dumont’s Hadewijch or Hors Satan pop into one’s mind immediately. That being said, Reygadas merely retraced Dreyer’s footsteps as he fashioned a sort of remake of Ordet to reiterate—re-frame at best—its central question of a miracle. In their painful attempts to weld together the earthly and divine kinds of love, Dumont’s characters, in essence, grapple with the forced cohabitation of body and soul, i.e., arguably the key theme to have disturbed the Western civilization. Notwithstanding a string of other major cinematic works invoking God’s presence, from Lars von Trier’s Breaking the Waves to Terrence Malick’s The Tree of Life, all of the above seem to be, first and foremost, preoccupied with the crisis of faith, the notorious “death of God”; all of them fall short by dealing with humans and human concerns.”

Stellet Licht2

Stellet Licht

Was Lukin hierbei nicht beachtet (obwohl er seinen Artikel in eine andere Richtung fährt, ich benutze ihn mal schamlos als Sprungbrett für eigene Gedanken), ist dass spirituelles, sakrales, glaubendes Filmemachen in erster Linie nicht auf inhaltlicher Ebene von einer Überzeugung vom Glauben erzählt, sondern von einem Glauben an Kunst als ihren Ersatz. Damit meine ich, dass im Film (sowie in der Literatur, der Musik, der Malerei usw.) immer die Konflikte ausgetragen werden, die auch Fragen des Glaubens sind. In Costas Worten ist das beispielsweise die Frage nach Gut und Böse. Es ist eben auch der innere Zweifel, die Frage der Schönheit, der Kampf zwischen Vernunft und Irrationalität/Trieben. Das wird auch überall akzeptiert, aber gefährlich wird es, wenn sich ein Film bewusst ist von was er erzählt. Große Themen-und es geht mir ja schon beim Lesen meiner eigenen Zeilen so-fühlen sich heute unpassend an. Dabei sind diese Fragen ja nicht beantwortet. Sowohl bei Reygadas als auch bei Dreyer schocken uns die Wunder am Ende. Sowas kann es nicht geben, sowas kann es nur im Film geben. Das mag sein, aber liegt nicht schon in dieser Feststellung der Zweifel am Film selbst? Auch dieser Zweifel erscheint mir berechtigt, denn natürlich ist Film immer genauso viel Lüge wie Wahrheit. Aber die Wahrheit ist eben eine Spirituelle, eine Sinnliche, eine Emotionale.

Vielleicht muss man Film weiterdenken, vielleicht ist Film nicht an diese Werte gebunden, ja vielleicht ist es sehr gut, dass das Spirituelle mehr und mehr aus den Kinos verschwindet, hier und da mit Kitsch verwechselt wird und so zumindest bei Stumpfsinnigen (nicht im übertragenen, sondern im tatsächlichen Sinn) noch weiterlebt. Aber wenn wir uns ansehen, was Filmemacher aus Asien noch immer mit dem Spirituellen im Film anfangen, dann muss einem klar werden, dass es zum Wesen des Kinos gehört zu glauben. Das hängt damit zusammen, dass die Bilder, die sich vor uns abspielen immer Zeugnisse der Vergangenheit sind. Wir sind uns ihrer Konstruktion und unserer Imagination bewusst, also müssen wir glauben, um fühlen zu können, um es ernst zu nehmen, um den Bildern und Tönen folgen zu können. Die lebenden Toten bei Apichatpong Weerasethakul, die Geister des Alltags, die mal da sind und mal nicht heben den Raum und die Zeit seiner Filme in die Unendlichkeit. Ähnliches gilt für Tsai Ming-Liang. Da es sich hierbei um äußerst moderne Filmemacher handelt, kann man schlecht von einer Sache der Vergangenheit sprechen. Vielmehr scheint es, eine Sache der Kultur zu sein. Aber warum kann ich dann etwas damit anfangen? Kennt Kino eine Kultur?

Ordet

Ordet

Das Spirituelle im Film hängt nicht nur bei Malicks esoterischen Ergüssen immer an der Natur. Es ist bezeichnend, dass sowohl „Ordet“ von Dreyer als auch „Uncle Boonmee Who Can Recall His Past Lives“ von Weerasethakul“ und „Sátántangó“ von Béla Tarr, drei Filme, die unseren Glauben, Aberglauben und damit auch unsere Ängste und Träume erschüttern und beleben, mit Einstellungen von Tieren beginnen. Eine unheimliche Ruhe geht von diesen Bildern aus. Ein Bewusstsein von der Größe der Welt und der Bedeutung und Bedeutungslosigkeit einer Existenz. Davon läuft man weg, wenn man sich immerzu der Länge dieser Einstellungen bewusst ist, wenn man versucht sie während des Sehens, mit seiner Weltsicht in Einklang zu bringen. Hier liegt nämlich ein Problem: Weltsicht.

Ich bemerke selbst bei meinen Erfahrungen mit Terrence Malick. Ich stoße an meine Grenzen. Es ist nicht leicht, an spirituelles Filmemachen zu glauben, wenn man der Weltsicht des Regisseurs nicht folgen kann. Nur scheint es mir paradox, dass wir dann auch der Schönheit des Kinos selbst nicht mehr folgen wollen. Natürlich ist Kino immer ein Produkt seiner Zeit, aber-auch wenn viele Unverbesserliche nicht daran glauben-Kino ist auch ein individuelles Produkt. Die fehlende Akzeptanz der Autorentheorie ist es nämlich, die hinter dem drohenden Verschwinden des spirituellen Filmemachers stehen könnte. Da gibt es einen Großteil an Menschen, die sich schlicht nicht für sowas wie Autoren interessiert, weil sie sich mehr für Gesichter interessiert. Dann gibt es jene unfassbar schlauen Menschen, die penetrant darauf hinweisen, dass ein Film immer im Team entsteht. Danke für diesen Hinweis, dass gilt erstens nicht für jede Form des filmischen Ausdrucks und zweitens hat es nichts, aber auch gar nichts mit der Autorentheorie zu tun beziehungsweise ist davon auszugehen, dass sich jeder erfolgreiche Auteur der Tatsache bewusst ist, dass sie/er einen Film nicht alleine dreht. Und schließlich gibt es die große Menge der subjektiven Filmbeherrscher (zu der wahrscheinlich jeder mehr oder weniger gehört), die einen Film durch ihre subjektive Reaktion, durch ihr Wissen und ihre Nachforschungen einordnen, klassifizieren und somit entmystifizieren. Damit stirbt der individuelle Ausdruck, der sich gegen die Norm, gegen die Akzeptanz und auch gegen das Wertesystem stellen kann. Der individuelle Ausdruck ist nicht wirklich erwünscht, es sei denn er hat Gesichter oder er trifft auf die eigene Subjektivität. Dabei wäre es so einfach, an das Kino zu glauben. Damit stirbt auch das Mysteriöse. Alles wird eingeordnet und erläutert, es gibt keine Geheimnisse mehr, keine (wie das ein Freund vor kurzem schön formulierte) Zaubermäntel, die sich Regisseure umhängen.

Yella

Yella

Unter den wenigen deutschen Filmen jüngeren Datums, die das Mysteriöse noch umarmen, waren Christian Petzolds „Yella“, „Gespenster“ und eigentlich mehr „Jerichow“ denn „Die innere Sicherheit“, der eigentlich zur Gespenster-Trilogie gerechnet wird. Dort wird die politische Vergangenheit/Gegenwart plötzlich spirituell. Petzold zeigt, dass das Spirituelle auch immer eine Frage der Form ist. Steadycam-Fahrten, Tiefenschärfe oder eine minimale Deformation im Tondesign erheben seine Filme und lassen die scheinbare Realität langsam versinken. Nach außen hin regiert in den Filmen Vernunft. Aber in ihrer inneren Logik, beginnt sich das Festhalten an der Nüchternheit, am Zynismus aufzulösen. Damit gelingt es Petzold, auch die Zyniker mit in sein Boot zu nehmen. Denn er lädt sie ein, er sagt: Schaut her, hier ist alles wie es sein sollte! Und ehe man es bemerkt hat, beginnt man zu glauben.

Yella2

Yella

Wer ein wenig nur an das Kino glaubt, wird erstaunt werden von „Ordet“. Er wird den Film in jeder Sekunde erst nehmen müssen. Sollte das nicht mehr gelingen, wäre der spirituelle Filmemacher wirklich gestorben. Aber noch vermag er bei jedem neuem Sehen zum Leben erweckt werden.