Filmfest Hamburg: Tag 1 – Schweifende Blicke

Was mich womöglich erstaunen könnte im Kino: Wenn jemand einen Rahmen macht, um den Fokus auf etwas zu legen, was keinen Fokus hat.

Wir kennen das von Filmen im modernen Kino, die statische Einstellungen (womöglich sogar verbunden mit Rahmungen) stehen lassen, um Dinge darüber, darunter, dahinter oder sonstwo außerhalb dieses Rahmens passieren zu lassen. Das gibt es als formale Experimente oder als eine Art Realismus. So gesehen zum Beispiel in ersten Film, dem ich dieses Jahr in Hamburg begegnete, El viento sabe que vuelvo a casa von dem chilenischen Filmemacher José Luis Torres Leiva. Eine manchmal zu nahe, an Abbas Kiarostamis Through the Olive Trees erinnernde Suche nach einem Film (einer Story, Schauspielern) auf einer Insel. Zu nahe, weil die Bewohner uns erschreckend vertraut präsentiert werden. Manchmal steht in diesem Film die Kamera und rührt sich nicht, zum Beispiel beim Bad eines Pferdes im Meer (dieses Jahr treffe ich auf sehr viele badende Pferde im Kino). Das Pferd läuft ins Bild, verlässt es fast, dreht noch mal um, hängt dann ein wenig am linken Rahmen und verlässt schließlich den Rahmen. Eigentlich sollte uns diese Technik zeigen – und das tut sie bisweilen auch in diesem Film – dass unser Blick auf die Welt immer nur aus einer bestimmten Perspektive geworfen wird. Das ist allerdings dann irrelevant, wenn ich das Gefühl habe, dass diese Welt jenseits dieses Rahmens gar nicht weitergeht. Dann ist der Rahmen nicht die Grenze eines Blicks, sondern einer Handlung. In der Szene mit dem Pferd lässt sich Leiva diesbezüglich nichts vormachen, aber in anderen Bildern, zum Beispiel in Castingszenen mit Jugendlichen, glaube ich nicht an die Welt, die er mir nicht zeigt. Das ist insbesondere deshalb problematisch, weil es ganz ähnlich zu Ulrich Seidls Symmetrieeinstellungen keinen Schutzraum für die Protagonisten gibt, die Menschen vor der Kamera. Sie werden letztlich in einen Rahmen gestellt, diesem Blick ausgeliefert. Dann erzählt der Rahmen von einer zu großen Bestimmtheit, Dominanz.

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Ganz anders gestaltet sich das in Batalla en el cielo, dem schwierigen Lieblingskind von Carlos Reygadas. Der Film läuft im Rahmen, der von Reygadas selbst kuratierten Schau zum mexikanischen Kino und er wurde auf 35mm projiziert. Ich konnte nicht widerstehen, ihn wieder zu sehen. Nach einer schrecklichen Wikipedia-Einführung im tollen B-Movie-Kino öffnete sich ein Rahmen, der den Fokus auf etwas legt, was keinen Fokus hat. Batalla en el cielo ist ein virtuoses Werk über sexuelle Frustration und den schweifenden Blick, der zum einen im Travis-Bickle-Modus auf ein im Gestank schwimmendes Land blickt und zum anderen sich in animalischer Triebhaftigkeit und gleichzeitiger Gleichgültigkeit zu verlieren droht. Bei Reygadas steht der Rahmen nicht in Verbindung mit der subjektiven Wahrnehmung des Mannes hinter der Kamera, sondern die Kamera (auch der Ton) identifiziert sich mit der subjektiven Wahrnehmung des Protagonisten Marcos. Unschärfen, Schwenks, Tiefenschärfe, schweifende Blicke, es wird beständig von einer Welt erzählt, die jenseits der Szene weitergeht. Reygadas zelebriert diese Dynamisierungen des filmischen Raumes geradezu. Zum Beispiel an einer Tankstelle, als Marcos auf einige singende Christen blickt, während sein Auto unter extrem lauter klassischer Musik vollgetankt und durchgecheckt wird. Die Kamera schwenk von hier nach da und der Ton tut es ihr gleich. Zuerst folgen wir den Blicken von Marcos, aber schon bald ist Marcos auch Teil des Blicks. Es ist eine wunderbare Verirrung des Kinos, wenn scheinbare Point-of-View-Einstellungen sich in neutrale Bilder verwandeln. Filme bekommen dann etwas fließendes, traumartiges und können von einer Abwesenheit erzählen, die nicht nur von den Rahmungen und Schnitten ausgeht, sondern letztlich von den Körpern, die sich in und außerhalb des Rahmens bewegen. Reygadas braucht also keinen Point-of-View für die subjektive Wahrnehmung seiner Figur. Die Kamera ist autonom, sie liefert so etwas wie Seelenbilder, die schweben, weil sie innerlich sind und eine Welt zeigen, die äußerlich stattfindet. Marcos hat keinen Fokus, es entgleitet ihm. Das Gleiche gilt hier für den Rahmen des Bildes.

Nun könnte man meinen, dass ein solches Vorgehen letztlich an der Beweglichkeit der Kamera liegt (in Batalla en el cielo schwebt diese letztlich immer wieder im Stil der vorletzten Einstellung in Michelangelo Antonionis Professione: reporter). Dass das aber auch statisch geht, zeigt nicht zuletzt wiederum Antonioni zum Beispiel in La notte. Ein Film auch über den Schock der Gleichgültigkeit dessen, was gleichzeitig passiert, denn immer wenn etwas gleichzeitig passiert, gibt es einen Fokus, der den der Protagonisten und auch den auf die Protagonisten verschwinden lässt. Sie verschwinden in dieser Welt. Reygadas zeigt dies eindrucksvoll in der Sexzene von Marcos mit der jungen Tochter seines Chefs, als die Kamera ähnlich wie in Brian de Palmas Scarface aus dem Fenster fliegt. Aber statt eine narrative Wendung durch diese Bewegung herbeizuführen, zeigt sie uns letztlich nur die Welt, die es gleichzeitig gibt: Arbeiter, ein tropfender Hahn, spielende Kinder, die Wand, der Himmel. Die schmerzvolle Irrelevanz der sexuellen Erlösung. Aber ganz so objektiv ist diese Einstellung nicht, denn sie erzählt auch von einem Loch in Marcos. Dem Loch, dass zwar alles mit größter Präsenz betrachtet, aber eben auf die Empathie eines gerahmten, bestimmten Gesichts so lange verzichtet bis dieses tot in seinen Armen liegt beziehungsweise in einem provokanten letzten Bild im Stil von Vincent Gallos The Brown Bunny während eines post-mortem-Blowjobs sagt: Ich liebe dich.

Green Eyes and Cinephile Loathing – About some thoughts by Marguerite Duras

This text is an edited and translated mail I have written to a friend a day after having read Les Yeux Verts by Marguerite Duras and without being able to re-read it or check certain passages. During the last couple of days I was confronted with the book again, so I decided to publish this.

When Marguerite Duras was given Carte Blanche by Cahiers du Cinéma in 1980, out came a somehow incoherent, somehow beautiful and always vibrant collection of texts called Les Yeux Verts. In it many things are discussed such as politics, the ideas of writing and cinema („My relationship with cinema is one of murder. I began to make movies in order to reach the creative mastery which allows the destruction of the text. Now it’s the image I want to affect, to diminish . . .“) the Soviet Union, Chaplin or a big interview with Elia Kazan. In a great, fearless essay Duras differs between what she calls a primary viewer of a film (meaning: the masses manipulated by capitalism who go to cinema to forget) and the small percentage of people who are not part of that kind of audience. Some might refer to such a view as snobbish but Duras arguments that she and the primary viewer will never understand each other. There is question about what comes first: The author/filmmaker or the critic/viewer. Both at the same time, one is tempted to say. In an interview given in Cannes 2012 Carlos Reygadas was shrugging his shoulders when confronted with viewers who did not understand what his Post Tenebras Lux was all about. He said: „Well, some will never understand. You cannot fight it.“

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Is this the story of a difference? A misunderstanding? Cinema, as always between the industry and the art, lost and impure. Most cinephiles I know would deny such demarcations. They have their point. You can find greatness in mainstream entertainment, in so-called trash, in art, in art house, whatever. I have always liked the texts by Alexandre Astruc on Howard Hawks, I think you have read them. The way he connects fascism to cinematic greatness with and without sarcasm at the same time beats at the very core of this conflict. Cinema is and has always been both: The money and the soul. The industry and the art. The fascist and the liberal. Nevertheless Duras is right when she says that primary viewers will not be interested in her work. It is the primary viewer that is limited, not the one who makes demarcations. The primary viewer, she says, is also among critics and filmmakers. They account for 90 percent. While she would be happy with her 10%, the filmmaker for the primary viewer would be unhappy with his 90%. He always wants to take away the 10%. He will fail forever, she writes. Duras also states that one is not condemned to be a primary viewer forever. Yet, a primary viewer will not be changed by force. He will have to see something, to maybe fall in love.

Another point Duras discusses in her texts is the idea of curiosity. Maybe this is linked to the primary viewer. Despite writing for the Cahiers du Cinéma Duras stresses her ambivalent relation with the “guys of Les Cahiers“ more than once, thus her relation to film criticism is a big topic. She finds a lack of curiosity in film criticism. She claims that critics are writing only about big budget films, that there is a lack of choice and freedom in film culture. Of course, like in her best texts, out of her speaks the fever of personal frustration. It seems that cinephilia, for Duras, is a sickness connected to a love that loses the ability to see. Cinephilia might be a blindness then. One of those paradoxes but as you know, we have seen this blindness. People ignoring cinema in order to have an opinion. People judging before seeing, without seeing. People watching and watching without reflecting. Is it more important to know what we want from cinema or to not know what we want from cinema?

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While thinking about her own films Duras writes that they are vibrating, floating. More than once she flirts with the idea of a black screen. Destroy cinema, she said. I have always thought that her inability to destroy cinema (or her words) has been the cause of those floating vibrations in Duras. It is a cinema of impossibility. When her camera looks at the ocean and she thinks about destruction there will always arrive a creation or suggestion. Moreover her women, I can only call them that, seem to live in the same world as the camera, that is between self-destruction, forgetting, loving and so on. She is very much about the not-representation, the gap between the presence of light and the stories that might or might not have happened. Thinking about cinema this way will always lead to the idea of destruction. When she says that primary viewers visit cinema to forget we should not suppress that this is exactly what bothers her protagonists: Either the forgetting or the memory that does not vanish. Once written down or spoken out, her words transform those memories. When you then confront them to forget you will not get anything from it. Carol Hoffman has written: “It is a remembering that destroys memory and leads to a new memory, which can replace the last only fleetingly and without substance “ Without curiosity and desire, how could you possibly bare such a work?

Like Jean-Marie Straub and to a certain degree Brian De Palma, Duras is very concerned with the lie that is part of the word spoken but also part of the images made. These three filmmakers offer three interpretations of the lie in cinema. Straub does everything to get rid of it, De Palma does everything to make the lie the truth (or vice versa) and Duras tears down the difference between lie and truth. Maybe Godard would have a say here too. In one of her texts Duras recounts an episode in which Godard was inviting her and she travelled a long way to meet him. When she arrived he wanted to sit down below the staircase of a school entrance while all the children were leaving school. They talked a bit until Godard said: „Isn‘t it funny. I let you come such a long way to sit down at this place.“ Apart from that Duras felt that both of them were thinking a lot about the relation of text and image with Godard coming from the other side (the image) as Duras (the text). There are also those filmmakers claiming that the word is a lie and the image is not. I always liked how Jean-Luc Nancy linked this thought with the importance of a doubt. Only in doubting the image it can become a truth again. He said that about Kiarostami but it is also true for Duras.

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In her texts I can also feel what we have once referred to as the “cinephile loathing“. I don‘t know if you remember. This idea of having had too much while still watching. It is a thirst for something else that ultimately leads us back to cinema. I sense in her writings a desire to not like cinema while being madly in love with it. Especially in her text about Woody Allen that becomes apparent. In interviews she has often said that she does only watch a handful of films a year. I don‘t believe her. We have this tendency with contemporary filmmakers, too. I have heard them say: I haven‘t been too cinema for a decade. I only watch old films. I only watch documentaries. I don‘t watch anything. There is a desire to not be influenced. Jacques Rivette teaches us the opposite. With us, as we discussed, this cinephile loathing might be something else and I somehow felt it mirrored in Duras. The idea that our generation has been betrayed by cinema too often. A silly thought, but still a thought. It is as hard to believe in excitement as it is to believe in doubt. As a result, everything stucks and floats just like the black wall that Duras describes which is between her words and images, makes them vanish. Still, others have told us that it has always been like this and maybe we love and doubt too much to state those things. The cinema writers we read and the filmmakers we love are either embracing the death of cinema or fighting death with knowledge and a suffocating enthusiasm. Both kinds seem to be descendants of Serge Daney of whom we all dream at night. Cinema was always beautiful when it was something else. With Duras it certainly is. I will have to re-watch her films. To not forget.

Viennale 2015: Singularities of a Festival: FEDERN

Notizen zur Viennale 2015 in einem Rausch, der keine Zeit lässt, aber nach Zeit schreit. Ioana Florescu und Patrick Holzapfel warten nach dem letzten Tag des Festivals darauf, dass sich die Eindrücke niederlegen, aufklaren oder tiefere Wahrheiten offenbaren. Bis dahin (und wir werden kommende Woche unsere Highlights präsentieren) bleiben die Fetzen der Viennale, die wie Federn nach einer Kissenschlacht in der Luft stehen.

Mehr von uns zur Viennale

Post Tenebras Lux6

Ioana

  • Ohhh! What a beauty! Oh I’ve never seen one as big as that before
  • Tierische Liebe ist sicher der gefährlichste Seidl Film, den ich bislang gesehen habe. Ein Eingriff [eine Invasion] in und eine Parade von Einsamkeit und Bedürfnissen, bei der die Vorstellung von seiner Arbeitsweise genau so insidiös wie seine zu vermutende Auffassung von Menschen ist. Oder andersherum. Du hast natürlich Recht jedes mal, wenn du mir mit Puius “Es ist nicht so einfach” antwortest.
  • Um mich von Perfidia zu befreien, versuche ich Jeanne Balibars Pearl so oft wie möglich zu hören.
  • Die sehr gute Fussballszene in Kes schließt sich zusammen an einer Reihe von wunderbaren  Fussballszenen in Film (eigentlich Rugby, ich unterscheide nur zwischen Sport auf dem Boden und Sport im Wasser, so wie mein Mitchum zwischen zwei Arten von Schauspiel unterscheidet: with and without a horse)  und plötzlich steht Ken Loach in meinem Kopf aus diesem einzigen Grund und für kurze Zeit neben Lindsay Anderson und Carlos Reygadas.

Ken Loach Kes

Patrick

  • Deutsche Schlager klingen eigentlich wie chinesische Kinderlieder. Nur leider versteht man den Text.
  • Happy Hour von Hamaguchi Ryusuke ist ein Film über das verschwundene Lächeln. Es ist natürlich mehr, aber bei mir bleibt das verschwundene Lächeln. (Wolken vor der Sonne)
  • Ein Man stand gestern vor dem The Birds-Plakat vor dem Filmmuseum. Er nahm seine Frau an der Hand und zeigte ihr zielsicher: Das ist Tippi Hedren in Marnie.
  • Das Fußballspiel in Kes von Ken Loach ist unvergesslich. Alleine der Establishing-Shot des “Bobby Charlton”-Trainers, der, wie ein Raubtier gefilmt, alleine über das Fußballfeld rennt, war den Film wert. Loach berührt da auch die wahre Absurdität von Sportstunden in der Schule, in denen der Ehrgeiz einiger auf die Lustlosigkeit anderer trifft.
  • John Ford liebt Katharine Hepburn in einem roten Sonnenball. In seiner Whiskeyflasche sieht er für einen Moment seine Reflektion und dann dreht er einen Film, um zu vergessen. Letztes Jahr war die John Ford-Retrospektive, aber dieses Jahr habe ich die Reflektion von Ford gesehen. Es ist schon wieder ein Jahr vergangen, seitdem wir über eine seiner Einstellungen nachgedacht haben. Wir müssen Apichatpong fragen wie wir mehrere Leben haben können, um mehr Ford zu sehen.