Weltgewimmel: La madre von Jean-Marie Straub (deuxième version)

So viel Schmerz. Das Leben in einem Film. Jean-Marie Straubs Rückkehr zu Cesare Paveses Dialoghi con Leucò lässt sich in drei Teile gliedern. Sie alle stehen frei für sich und doch zusammen.

Zunächst im Dunkeln, im Schwarz der Leinwand, das sowohl dem Mutterleib entspricht, also all dem, was kommt als auch dem Tod, also all dem, was gewesen, mit Gustav Mahlers Vertonung von Friedrich Rückerts Ich bin der Welt abhanden gekommen gesungen von Dietrich Fischer-Dieskau. „Das ist Empfindung bis in die Lippen hinauf, die sie aber nicht übertritt! Und: das bin ich selbst!“, hatte Mahler einst über die Gedichte in Rückerts Liebesfrühling gesagt und es lässt sich auch über seine Musik sagen und es lässt sich auch über diesen Film sagen. Ob dieses „abhanden kommen“ nun tragischer oder friedlicher Natur ist, bleibt in der Schwebe. Es ist ein seltsam passiver Rückzug, ein Verschwinden und dass es dafür nur Worte und Musik gibt, nicht aber Bilder, entspricht einer Wahrheit, die man nur allzu gut nachempfinden kann. Man sieht und fühlt, wo dieser Film entsteht: im Hier und Jetzt, das auch ein Jenseits ist. Das Kino, die Welt.

Als zweiter Teil lässt sich der Dialog zwischen Hermes (bei Straub eine Frau: Giovanna Daddi) und Meleagros (Dario Marconcini) aus Paveses Vorlage identifizieren. Straub inszeniert ihn als Schuss-Gegenschuss-Sequenz, in der man jedes Wort hört, jeden Blick begreift. Wie immer in den Filmen von Huillet und Straub versteht man, dass Wörter verlorengehen können. Auch sie können abhanden kommen. Manchmal sagt man, dass man Wörter verliert, wenn man spricht. Eine vielsagende Metaphorik gegen die sich ihre Filme mit aller Kraft stemmen. Meleagros ist bereits verstorben, verbrannt durch die Hand seiner eigenen Mutter Althaia, als er mit Hermes spricht. Er beklagt sein Schicksal gegenüber dem Gott der Redekunst, der die Verstorbenen in den Hades führt.

Hermes beschreibt dem verzweifelten Jäger den Kreislauf des Feuers, der immer mit Müttern beginnt und endet. Statt das individuell tragische Schicksal zu beklagen, solle er sich darauf besinnen, dass alle Menschen mit dem Feuer ihrer Mütter in den Augen sterben würden. Man wäre nichts und die Frage nach dem Sinn sei weniger auf den Tod gerichtet als auf die Geburt. Nicht warum man gestorben ist, ist von Bedeutung, sondern warum man geboren wurde. Es ist schwierig als Mensch nicht in die Verzweiflung von Meleagros, seine Sorge um seine Atalante, die Unwissenheit, die Wut einzustimmen. Aber im Film öffnet sich etwas und man erkennt eine andere Möglichkeit, einen anderen Sinn.

So wie Pavese ein Schriftsteller war, der über die wirklichen Dinge schrieb, so ist Straub ein Filmemacher, der die wirklichen Dinge zeigt. Damit ist all das gemeint, für das der Alltag, der politische Diskurs und auch Kino und Literatur oft keine Zeit haben. Ein Blick durch die Oberflächen hindurch. Man vergisst so leicht, dass wir alle aus einem Körper kommen, den Körpern unserer Mütter. Dabei würde diese Tatsache uns erden, uns womöglich gar mit dem Weltgewimmel in Einklang bringen (wirklich leben!) und uns nicht, wie Hermes sagt, das Leben von Toten führen lassen. Diese Erdung erfahren die beiden Dialogpartner bei Straub filmisch, was dem dritten Teil des Films entspricht. Licht und Wind, Bäume und Büsche, Gesten und Blicke spielen ihre Rolle in dem toskanischen Garten in Acciaiolo, in dem der Film gedreht wurde. Man kann sich dem Rauschen der Wirklichkeit nur schwer entziehen. Es macht uns letztlich lebendig und klein und jedes Staubkorn übertrifft die größten Ideen. Die Offenheit der Wahrnehmung von Bild und Ton widerspricht dem Abhandenkommen Rückerts und Meleagros’. Hier ist die Welt und zwischen den Bildern, zwischen den Dialogpartnern, in ihrem Hin und Her, zwischen den Lebenden und Toten, den Nichtgeborenen und den Verschwundenen offenbart sich ein Feuer, das beiden Seiten zugleich gehört, ein Feuer das verbindet.