Notiz zur Sprache (João César Monteiros)

Wer spricht wie aus Büchern, gehoben und archaisch, dem sagt man, mit der um sich greifenden Genugtuung jener, die sich kollektiv im Recht sehen, gern nach, weltfremd oder dekadent zu sein. Das Beispiel João César Monteiros, der sich um einen Ausdruck bemühte, der mehr an Luís de Camões erinnerte, als an die verstaubten Straßen, auf denen er drehte, beweist, dass dabei nichts gewonnen wird. Schließlich verändert Monteiro das Licht der Dinge, wenn er spricht.

Die sogenannte „schöne Sprache“ wurde längst vom Diktat des Massengeschmacks aus Literatur und Kino entfernt, dort wo sie noch aufblitzt, hängt sie wie ein verblassendes Gemälde in der Nische, für all jene, die daran noch Gefallen finden (alle anderen haben sicher besseres zu tun).

In Filmen, das sagte schon Maya Deren, dürfe ohnedies nicht schön gesprochen, geschweige denn gedichtet werden und man fragt sich, was diejenigen, die der Poesie der Sprache jene des Bildes gegenüberstellen, gewinnen und was andersherum verloren gehen würde, wenn man beides nebeneinander stellte, wie das etwa bei Manoel de Oliveira, Danièle Huillet, Jean-Marie Straub, Marguerite Duras oder Chris Marker der Fall ist.

Der vielerorts verpönte Voice-Over, der mehr sein will als Information, der im Zwischenspiel von Sprache und Bild seine Bestimmung findet, ist so viel stiller als der aufgesetzte Lärm, mit dem das Kino uns seit Jahrzehnten Handlungen zeigt. Aber woher soll die Sprache auch kommen, wenn sich diejenigen, die ein Gefühl für sie haben, davor fürchten, dass sie nicht verstanden werden? Jenseits der wirklich guten Lektoren wird in impressionistischer Sekundenschnelle an ästhetischen Verfeinerungen gearbeitet, die gleich einer Asphaltwalze alles ebenerdig und teerduftend in der angenehmen Bedeutungslosigkeit versenken. Lieber lebensnah als wahr, lieber klar als kompliziert.

Sie alle haben Recht, denn anders werden sie nicht verstanden, egal ob sie ein wirkliches Bild machen oder einen wirklichen Satz sprechen, all das in den Augen und Ohren derer, die entscheiden: angestrengt, verkopft, prätentiös und abgehoben. Lieber also nur möglichst leicht verständlich das nachsagen, was erwartet wird und zufrieden sein, weil man dafür gestern wie heute das meiste Lob bekommt.

Oder schweigen.

American Dreams – Chris Marker

In 1959 Chris Marker was going to make a film about the United States of America. The title should have been: American Dreams. The film itself was never made, but in the book Kommentare 1 which collects the voice over texts to some of Marker’s films, the text for the film can be found.

Chris Marker. Kommentare 1 + Kommentare 2
Aus dem Französischen v. Erich Brinkmann u. Rike Felka

Bd. 1: Br., 176 Seiten, ca. 300 Abb., 28 EUR, ISBN 978-3-940048-21-9
Bd. 2: Br., 176 Seiten, ca. 300 Abb., 28 EUR, ISBN 978-3-940048-22-6

There are also some images collected that might have been in the film. Here are some of them: 

 

© William Klein © Chris Marker/Succession Christian Bouche-Villeneuve dit Chris Marker

© William Klein © Chris Marker/Succession Christian Bouche-Villeneuve dit Chris Marker

© William Klein © Chris Marker/Succession Christian Bouche-Villeneuve dit Chris Marker

© William Klein © Chris Marker/Succession Christian Bouche-Villeneuve dit Chris Marker

© William Klein © Chris Marker/Succession Christian Bouche-Villeneuve dit Chris Marker

© William Klein © Chris Marker/Succession Christian Bouche-Villeneuve dit Chris Marker

© William Klein © Chris Marker/Succession Christian Bouche-Villeneuve dit Chris Marker

© William Klein © Chris Marker/Succession Christian Bouche-Villeneuve dit Chris Marker

© William Klein © Chris Marker/Succession Christian Bouche-Villeneuve dit Chris Marker

© William Klein © Chris Marker/Succession Christian Bouche-Villeneuve dit Chris Marker

© William Klein © Chris Marker/Succession Christian Bouche-Villeneuve dit Chris Marker

 

(Alle Bilder veröffentlichen wir mit freundlicher Genehmigung von BRINKMANN & BOSE, BERLIN)

 

 

 

 

So viel Marmor auf einem Haufen imponiert: Notizen aus dem Altmühltal von Hans Rolf Strobel und Heinrich Tichawsky

Man liest viel darüber, was es heißt, die Wirklichkeit zu provozieren. Man diskutiert sehr viel darüber, ob und wie Filme Menschen würdevoll zeigen. Man fragt sich, welche Strategien existieren, um eine Gesellschaft zu filmen, mit der man nicht einverstanden ist. Hans Rolf Strobel ist das, was wir heute einen Alt-Oberhausener nennen könnten, ein Vorreiter dokumentarischer Formen im deutschen Kino und vor allem ein radikaler Pionier des politischen Films. Er selbst bezeichnete sich einmal als „Partisan gegen den Film-Imperialismus“. Auch hat er 1951 die Filmzeitschrift „Korrespondenz für Filmkunst“ gegründet, für die unter anderem Lotte Eisner, Max Ophüls oder André Bazin schrieben. Mit Heinrich Tichawsky arbeitete er an vielen Filmen zusammen. Sowohl fürs Fernsehen als auch für das Kino. Alexander Kluge nannte die beiden deshalb „amphibische Filmemacher“.

Im Wasser und am Land ist man für gemeinhin auch im Altmühltal. Dort, im bayerischen Niemandsland eines betulichen Geotoursismus, ahnt man auch heute nichts von der zerstörten Welt. Das macht die Region für Viele attraktiv. Alles dort scheint sauber, rein, behütet und sanft. Welch ein Vergessen, wenn man den anklagend zynischen Notizen aus dem Altmühltal aus dem Jahr 1961 zu Gesicht bekommt. In diesem bewusst gegen die Tendenz zur romantischen Landschaftsbeschreibung im deutschen Film gedrehten Film, entsteht das böse Bild einer Verdrängungsgesellschaft und einer dörflichen Rückbesinnungslosigkeit. Selten sieht man bis heute einen Film, der einen derart angriffslustigen, verächtlichen Ton an den Tag legt und eine ganze Region vorführt. Aber ist es wirklich verächtlich oder, wie der Film selbst behauptet, nur realistisch?

Den Filmemachern kommt es ganz gelegen, dass die Stadt Pappenheim im Altmühltal liegt. Denn die Pappenheimer aus Schillers Drama „Wallensteins Tod“ passen irgendwie auch zur Frage bezüglich des Umgangs mit den Menschen, die der Film stellt. Denn im dritten Teil von Schillers Wallenstein-Trilogie drückt der Feldherr mit der Formulierung „Daran erkenn ich meine Pappenheimer“ seinen Respekt vor den Kürissern des Grafen von Pappenheim aus. Wiewohl heute die Redensart freilich abwertend gebraucht wird. Es sind eben die Pappenheimer, typisch für Deutschland, den Nationalsozialismus haben sie nie gekannt, ihr Rassismus ist alltäglich und romantisch ist das alles sowieso.

Man merkt, der beißende Ton des Films greift leicht über, man lässt sich anstecken von soviel Wut und Bitterkeit. Und auch wenn es zigfach schwerer scheint einen zumindest thematisch ähnlichen Film wie Ödenwaldstetten (Peter Nestler, 1972) zu realisieren, einen Film, der die Menschen respektiert und dennoch kritisch bleibt, so muss man doch sagen, dass das Auseinandergleiten von Bild und Ton in Notizen aus dem Altmühltal äußerst durchdacht und formal hinreißend ist. „Den Städten und Dörfern ist eines gemein. Sie haben eine große Vergangenheit, eine kleine Gegenwart und keine Zukunft.“. Eine ganz entscheidende Frage entzündet sich an an diesem Film. Sie hat mit dem zu tun, was wir vom Kino erwarten, was das Kino leisten soll. Seiner Zeit sorgten Strobel und Tichawsky für größeren Aufruhr. Die Filmbewertungsstelle vergab dem Film kein Prädikat, es kam zu Protesten für und gegen die Arbeit.

Die Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit im Film hängt seit jeher an einer Auseinandersetzung mit den Modi, in dem Film der Wirklichkeit begegnet. Jeder neue Ansatz, der sich als „realistisch“ bezeichnet, hinterfragt auch das, was vorher als „realistisch“ galt. Es geht um ein Mehr-Sehen, Anderes-Sehen, Anders-Sehen. Eigentlich zeigt das ja nur, dass das Kino immer einen Teil der Wirklichkeit verdeckt. Notizen aus dem Altmühltal gibt das für sich selbst am Anfang ganz offen zu. Es ginge eben nicht um die schönen Seen und Burgen, die man sonst so sehe. Diese umfassende, wirklich faire Bild gibt es vielleicht nicht. Einen spannenden Ansatz dazu liefert Chris Marker in seinem Lettre de Sibérie als er ein und das selbe Bild von sowjetischen Straßenarbeitern mit drei verschiedenen Voice-Overs unterlegt, die hintereinander zum Bild zu hören sind. Es entsteht jeweils ein neuer Film, denn es gibt keinen Ausweg, man wertet und legt eine Sensibilität in jeden filmischen Ausdruck.

Doch selbst dieser erstaunliche Moment lässt hundert andere Möglichkeiten aus. Die Wirklichkeit hat mehr Facetten als man filmen kann. Aus diesem Grund ermüden zahlreiche Bild-Wiederholungen bei Sportevents oder Terroranschlägen mehr, als das sie neue Erkenntnisse vermitteln. Letztlich geht es immer um einen Hunger nach einer noch unentdeckten Wahrheit über das, was man sieht. Ein Bild ist in dieser Hinsicht nur dann bedeutend in seiner Relation zur Wirklichkeit, wenn es etwas zeigt, was vorher verborgen war. Es geht dabei nicht um investigative Aufdeckungen, sondern um ein sinnlich-kritisches Gehalt an einem Mehr-Sehen, Anderes-Sehen, Anders-Sehen.

In dieser Hinsicht überläuft Notizen aus dem Altmühltal beinahe, weil der Film sich in seinem Ton gezwungen fühlt, andauernd zu kritisieren, was man normalerweise sieht. Ein erstaunliches und wichtiges Werk ist er trotzdem, weil er aufzeigt wie brav das Kino heute meist ist.

Letters as Films/Films as Letters

Dear Garbiñe Ortega and Francisco Algarín Navarro,

(I am sorry for my English, it feels very hard to write a letter in a language that is not my own. Since I know English is also not your mother tongue I will nevertheless go for it, so we can meet on this huge island where we all think that we can understand each other.)

one of you I do not know personally, yet, after reading your publication Correspondencias. Cartas Como Películas my voice might seem strangely familiar to you. I can not write this letter as a stranger. Only letters having to do with money can be written as a stranger. Then we must keep a distance as if to make sure how important money is. The letters of filmmakers and people of the film world you collected and arranged beautifully in your book sometimes have to do with money. For example, Jacques Rivette writing to Henri Langlois or Joris Ivens to Jean Painlevé. However, they are not business letters in the strict sense of the word. They are incidents of reaching out and your book makes the point that this reaching out ultimately helps us readers to get closer.

You have to know that letters are very important to me. I didn’t want to read your book because I am interested in those little and great cinephile anecdotes that hide within those intimate offerings by filmmakers. Of course, I was fascinated by such exchanges and disappointments as between Marguerite Duras and Alain Resnais concerning first the shooting of Hiroshima, mon amour (Resnais: “I have been in Hiroshima“) and later his rejection of La Destruction capitale. Still this kind of information is just a byproduct for me, something to brag about next time I get into one of those cinephile get-togethers in which it is all about who can tell what story. For me letters have a different meaning and this is why I was so intrigued when I first heard about your book and also the retrospective you organised during the Punto de Vista Festival. It is this idea of films as letters and letters as films that I have been thinking about a lot recently. There are three aspects concerning letters I am particularly interested in.

The first one is the impossibility of a letter. It is related to a silence. The silence of the person addressed, a silence that is also a waiting for an answer. In a couple of letters published in your book I can find this silence. It occurs when a letter does not ask for an answer. Such is the case with the letter Gregory J. Markopolous writes to Stan Brakhage. It is a curious letter because Markopoulos seems to need a silent reader in order to collect his thoughts about his own film. Does it really matter it is Brakhage he writes to? I think so because he feels an understanding. Another obvious example would be Manoel De Oliveira’s letter to the deceased Serge Daney. Here the letter is a rather beautiful pretence to lay out a personal film theory. There will be no answer and he knows it while writing. The impossibility of a letter for me has to do with the paradox of a dialogue which does neither necessarily get nor always need an answer. It is an imagined conversation, a reaching out that contrary to modern day communication never knows if the addressed has read the message or not. It is more like an invitation to correspond, an opening or offering as you label it. I didn’t quite understand why you decided to divide the letters into different chapters (Offerings, In the Battlefield, Collaborations, Processes, Cinema and Life). I would think that almost all the letters are about all of this things. They try to begin this impossible dialogue. Sometimes it is about admiration (this can go very far, in the letter Raymonde Carasco writes to Duras I had the feeling she was even imitating her style, something we probably all do after reading one of her novels; here admiration becomes inspiration and imitation, it is a sharing that can also go wrong as with Carolee Schneemann’s letter to Yvonne Rainer. I find it very cruel but honest how Rainer does not respond to Schneemann’s feelings concerning her work. Another kind of imitation, more playful, can be found in the letter of Vanda Duarte and Pedro Costa to Danièle Huillet and Jean-Marie Straub. Here the imitation related to Robert Desnos’ letter that Costa adapted for his work), sometimes there is a real questions like when Peter Hutton writes to Warren Sonbert and wants to know about somebody he saw in Noblesse Oblige, sometimes it is a searching for soulmates, a way to overcome insecurities (I think about Orson Welles wanting to know if Robert Flaherty likes Citizen Kane), sometimes it is asking for help. Maybe Chris Marker’s statement in his letter to Alain Cuny helps us a bit to understand more. He writes: “Poets exists to offer a strength that is not inside us.“

Isn’t the silence after writing a letter like this poet? It only fits then that many of the letters are works of art in their own right. I am not sure if I can follow your perception that they are films but surely they are art. Maybe we can say that they are like the beginning of a film, like a shot without reverse shot, like a fade into a world we are allowed to discover. It is also no coincidence that many letters in your book announce a film to come. They are about the anxieties and fears that go into a film. I wonder how many letters can be found that announce films that will never come. How many films remain in this silence that is a letter.

The way you illustrated the book and also your choice of letters helps a lot to get an idea of the materialistic approaches to the art of the letter. You stress the work of assemblage, of montage that is of course a cinematic idea. As I had to read the English translations in the back of the book I most of the time lacked the possibility to read and see at the same time. Yet, sometimes I was able to discover more about certain letters in your book from the way they look (the handwriting, the color of paper which is also stressed in a letter from Sergei Eisenstein to Esfir Shub, the postcards used and so on) than from the writing. A core letter for your argument is maybe when Hollis Frampton writes to Brakhage about how to speak about a film with words. In this letter we may find the tension between letters and cinema, an impossibility that like good criticism lives in a gap that it always needs to overcome. I think your book looks beautiful. It may seem a bit peculiar but for me with letters it is as important to find them, have them rest on my table a while, to be a promise as it is to open and read them. Your book keeps that promise. Like with certain letters this beauty has nothing to do with perfectionism. Some of the pages give the impression of a rather hasty and sloppy work. Some names misspelled, letters missing in the overview and so on. This does not make it a worse book. It is just a reminder of what it means to sit down and write a letter. The time, the tiredness, the formality and the freedom.

The second aspect I think about concerning letters has to do with a practice of correspondence. Especially from today’s perspective writing a letter is an act of resistance. It would be so much easier to use any other mode of communication to bridge distances, to reach out. A letter demands more time, more thought. It also demands going to the post office, it demands deciding for a kind of paper, a postcard maybe, deciding for a pen or a typewriter. All these decisions say something or allow us to say something. Like analogue cinema today, it teaches something about what we lose. What I write to you now is not a letter. It is a bastard brother of a letter written on a computer. It is an imitation at best. After reading your book I felt like writing a real letter. I didn’t do it. Maybe it is laziness, maybe it is that I can not get out of my habits, maybe it is a hesitation, maybe this must be my last wrong letter. Yet, we must be careful as much as we must be careful with analogue cinema today. It would be dangerous to assume that the medium is already the message. Letters also carry with them the double-edged air of nostalgia. I am very glad that the letters you published are, like cinema, always in the present. I never have the feeling that they try to be conceived as romantic reminders of the thoughts that once we had. It also helps that you included very banal letters. Like a banal shot in a film they help to be reminded what is necessary and what could be too much. No matter in what medium writing takes place, I like to think that people sit at a table to do it. The silence I was writing about earlier can only be heard when one invests a bit of time. This is why the film critics in Cannes and comparable festivals often touch the ridiculous with their texts written sitting on the floor waiting for the next screening. But then maybe a review is not a letter. I think it should be, though.

The last aspect has to do with a personal crisis I faced about a year ago. It is related to the questions: Who do we write a text for? Who do we make a film for? I still have some problems imagining a reader or a viewer in the plural. As you might know I also make films. Sometimes in the middle of working on a film or text I wake up and wonder why I am doing it. Is it only for myself? It became apparent to me that I want to make a film or write a text in order to show or tell someone something. It is important for me that this someone is a specific person because depending on this person I choose what I show or tell. Lets suppose I make a film about the chocolate factory I live next to. It would be a completely different film/letter if I send it to my mother or you or the boss of the factory. In contrast to Jean-Luc Godard who writes so wonderfully to Philippe Garrel that he wants to see a film with his own eyes, I’d love to see films/the world through the eyes of others or even more in a kind of merging of gazes. I find it to be very strange that it is taken for granted that a film is for more than one person if a letter is not. I know about the social aspects of cinema, the importance of sharing and the self-satisfied insouciance related to it, yet, for me it proofed to be poisonous to care about more than one person while working on a film or certain texts. Your retrospective and your book gave me the courage to film a first letter. It is not addressed to you but maybe you can see it one day. Or another one will be addressed to you.

Jean Cocteau to Jean Marais: “Your last letter is wonderful. It gives me courage.“

The energy you spread for cinema is like the best letters an act of love that keeps us going. Thank you for that.

Yours,
Patrick

Postkarten aus dem Off: Chris Marker auf DocAlliance

Lettre de Sibérie von Chris Marker

Zum 50. Geburtstag der Viennale hat Chris Marker 2012 den Festival-Trailer gestaltet. Diese rund 100 Sekunden hat man als passionierter Viennale-Besucher sicher einige dutzend Male gesehen; zudem ist Kino (so der Name des Trailers) im Internet frei zugänglich, um ihn sich wieder und wieder ansehen. Das habe ich getan, als Einstieg für meine Beschäftigung mit Marker und es ist verblüffend, wie viele lose Enden und potentielle Anknüpfungspunkte in diesem kurzen Trailer stecken. Wenn man sich durch Markers Oeuvre bewegt (und darüber nachdenkt/schreibt), lohnt es sich immer wieder darauf zurückzukommen.

Kino ist zugleich ein kleiner, persönlicher Rundgang durch die Filmgeschichte, eine mediale Spielerei, eine Übung in Non-Konformität, eine Karikatur und eine politische Attacke. Marker begibt sich auf die Suche nach dem idealen Zuschauer und findet Mitstreiter in Georges Méliès, D.W. Griffith, Orson Welles und Jean-Luc Godard. Recht krude animierte Bildcollagen zeichnen die Entwicklung der Kinotechnik und der Rezeptionsweise von Filmen nach. Am Ende findet Marker (und das Kino) seinen perfekten Zuseher in Osama Bin Laden, der auf einem Fernseher Tom & Jerry-Cartoons schaut. Eine einigermaßen irritierende Abhandlung der Filmgeschichte findet ihren Abschluss in einer etwas platten Spitze gegen den amerikanischen Imperialismus.

Kino ist

Ich kann nicht so recht festmachen weshalb, aber immer wieder zieht es mich zu diesem Trailer zurück, wenn ich über Marker nachdenke. Vielleicht, weil Kino ein geradezu exemplarisches Werk in Markers Filmographie ist, genauer in einer Reihe von kleineren Arbeiten, die ich liebevoll als Kleinode bezeichnen würde. Mal irritieren sie, mal faszinieren sie, mal können sie einen nicht so recht überzeugen, aber auf jeden Fall füllen sie den filmischen Kosmos Markers mit Leben. Es sind kleine Eindrücke der Welt, die Marker sammelt (in dieser Hinsicht ist er seiner Freundin Agnès Varda nicht unähnlich): der angeschwemmte Müll in der kalifornischen Bay Area in Junkopia, die Vision der Gewerkschaft der Zukunft in 2084, die eigenwillige Konfrontation von politischem Protest und Katzengraffitis in Chats perchés; man könnte diese Liste noch weiter fortsetzen, wenn man tiefer in diese Filmographie eintaucht.

Diese kleineren Werke, oft nur wenige Minuten lang dienen als Brücken, als Staffage zwischen den großen Antipoden politischen Filmemachens, die Marker einen vorderen Rang im Pantheon des Autorenkinos eingebracht haben. Manchmal scheint es mir, dass diese kleinen Übergangswerke, dieses filmische Füllmaterial eine Art Schlüssel darstellt, um den roten Faden in Markers Gesamtwerk zu erkennen. Während er in seinem (je nach Version) zweieinhalb- oder dreistündigen Film Le joli mai ein Stimmungsbild von Paris (und eigentlich von ganz Frankreich) im Mai 1962 zeichnen will, oder im (je nach Version) drei- oder vierstündigen Le fond de l’air est rouge eine ganzheitliche Erklärung der Linken Internationalen im Sinn hat, oder in seiner Fernsehserie L’Héritage de la chouette nichts weniger als die Aufarbeitung der gesamten Aufarbeitung der abendländischen Philosophiegeschichte anstrebt, sind seine kürzeren Werke kleinteiliger organisiert. Es sind kleinere Episoden, Fundstücke der Reisebewegungen, die Marker für seine Filme rund um die Welt geführt haben, oftmals in humorvollem Ton erzählt und mit allerlei Absurditäten versetzt.

Dimanche à Pékin von Chris Marker

Dimanche à Pékin von Chris Marker

Gruß aus Sibirien

Markers Filme anzusehen, fühlt sich ein wenig an, wie mit ihm auf Reisen zu gehen. Diese Reisen führen direkt vor die Haustüre (Le joli mai), in fremde Länder (Dimanche à Pékin) oder durch die Zeit (La jetée). Die Online-Retrospektive zu Chris Marker von DocAlliance bietet im Moment Gelegenheit eine solche Reise zu starten.

Ein möglicher Ausgangspunkt dafür ist Lettre de Sibérie, ein filmischer Reisebericht aus dem sowjetischen Sibirien. Es beginnt mit Landschaftsaufnahmen der eisigen Weiten, dazu meldet sich eine Stimme aus dem Off zu Wort. Was zunächst eine trockene ethnografische Studie erwarten lässt, kippt schon bald in ein absurdes Kuriositätenkabinett. Marker schildert die aussichtslosen Versuche der zivilisatorischen Expansion der Sowjets in die unwirtliche Natur. Mit ironischem Ton erzählt der Film vom müßigen Ankämpfen gegen die klimatischen Bedingungen und zeigt die charmant-schrulligen Auswüchse des sibirischen Frontier-Lebens: ein zahmer Bär wird an der Leine durch die Stadt geführt; Nomadenstämmen werden feste Wohnorte zugeordnet, an denen sie sich jahrelang nicht blicken lassen; dem Rentier, Alleskönner der subpolaren Zone, werden Loblieder gesungen.

Marker bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen einer genuinen Faszination für das Exotische und paternalistischem Belächeln, zwischen Sympathie für kommunistische Ideen und der Erkenntnis, dass sie nur schleppend umgesetzt werden, zwischen sorgfältig recherchierter Reportage und satirischer Ethnografen-Parodie. Obwohl die Bilder und der Kommentar von einer Zuneigung für diese Orte und die Menschen zeugen, bleibt der Film nicht kritiklos. Obwohl diese Kritik oft in komödiantischer Form vorgebracht wird, ist sie nicht frei von politischer Bissigkeit. Das gibt dem Film eine Ambivalenz, die weit über oberflächliche politische Satire hinausgeht, da letztendlich immer der Respekt für das Sujet spürbar bleibt und der Film seine eigene manipulative Kraft selbst zum Thema macht: in einer berühmten Sequenz wird die gleiche Sequenz dreimal mit unterschiedlichen Kommentaren wiederholt.

Man könnte sagen, Markers Reisefilme wie Lettre de Sibérie, Dimanche à Pékin oder Description d’un combat gipfeln in Sans soleil, wo nicht mehr die Reise zum Film wird, sondern der Film die Reise ist, eine physische Reise rund um den Erdball und zugleich eine gedankliche Reise durch die Ideenwelt von Chris Marker.

Das Spiel, ein Leben

Weniger buchstäblich ist „Reise“ in Level Five zu verstehen. In einem Dialog zwischen der Protagonistin Laura (Catherine Belkhodja) und Markers Voice-over-Kommentar wird die Schlacht von Okinawa aus dem Zweiten Weltkrieg aufgearbeitet. Der Film folgt dabei lose der Dramaturgie des imaginären Videospiels, an dem Laura arbeitet. Das Spiel muss unvollendet bleiben, weil der Computer, die Rechenmaschine, das ultimativ Rationale keinen Eingriff in die Geschichte zulässt. Die amerikanischen und japanischen Truppen lassen sich nicht einfach hin- und herschieben, der Verlauf der Geschichte darf nicht verändert werden.

Die Vorgehensweise des Films präzise zu beschreiben fällt schwer. Denn die Spiele-Metapher kreuzt sich mit Archivaufnahmen, kruden Animationen, Interviews und reportageartigen Bildern des Okinawa von heute. Das Spielemenü dient schließlich nur mehr als Kapitelmarke, als Skelett, an dem sich die verschiedenen audiovisuellen Materialien festklammern. Level Five hat vieles, was den meisten Arbeiten aus dem Bereich der artistic research fehlt: der Film ist eine Aufforderung an sein Publikum die Materialien mental selbst zu montieren, gibt aber zugleich unterschiedliche Interpretationsvorschläge. Im Zwiegespräch von Markers Kommentar und Lauras Monologen entsteht daraus eine selbstreflektierte Kritik am eigenen Material. Level Five vermittelt ohne zu schulmeistern, konfrontiert Bilder mit Bildern, Töne mit Tönen und Bilder mit Tönen, initiiert ein Versteckspiel der Bedeutung, so wie Markers gesamte Karriere ein Versteckspiel (hinter Katzen und Eulen) ist.

Das Stativ von Jean Rouch treibt noch immer irgendwo im Niger

Ausgestattet mit einem gewissen Durst nach den großen Abenteuern und Legenden des Kinos, nach den Mythen, die alle in dicken Wälzern erklärt werden und von der Leinwand selbst strahlen, machen wir uns mit einer kleinen Gruppe an Enthusiasten auf nach Guinea, um das Stativ von Jean Rouch zu finden. Dort entspringt der Niger in der Region Faranah. Rouch hatte einmal gesagt, dass es ihm dort hineingefallen wäre. Eine aus unserer Gruppe bemerkt, dass sie das alles an La última vez que vi Macao von João Pedro Rodrigues and João Rui Guerra da Mata erinnerte und ja, es ist schwer zu leugnen, denn die beiden Filmemacher fragen sich auch, wo ein Tuch treibt, das Jane Russell in Von Sternbergs/Howard Hughes’ Macao ins Meer fallen ließ. Nur ein Fluss ist kein Meer und so hielt ich unsere Chancen das Stativ zu finden doch für deutlich realistischer. Außerdem sind die beiden portugiesischen Abenteurer (von denen zumindest einer kürzlich ganz ähnlich unseres Vorhabens nach Vögeln spähte während er in einem Fluss trieb) einer Fiktion gefolgt, während wir einer fast dokumentarischen Selbstmystifizierung des Filmemachers folgten, der wie kaum ein zweiter zwischen dem Dokumentarischen und Fiktionalen oszillierte.

Seine Aussage mit dem Stativ ist vorstellbar. Darum geht es schließlich, wenn man sich auf eine Reise begibt. Etwas muss man sich vorstellen können. Dasselbe gilt auch fürs Kino, wobei sich dort die Imagination dessen, was man sehen wird nach einer gewissen Zeit und Anzahl an gesehenen Filmen leicht in eine Abgeklärtheit verwandeln kann. Man glaubt zu wissen, was da kommt, man will es nicht mehr sehen. Anders ist auch nicht dieses bizarre Getue mit Spoilern erklärbar. Wie Kelly Reichardt einmal richtig bemerkte, könne man einem alles über einen Film erzählen, man hätte ihn trotzdem nicht gesehen.

Il pianeta azzurro

Brüssel

Bevor wir mit unserer Gruppe aus Enthusiasten, deren Enthusiasmus hier und da im Stress einer Reise zu verschwinden drohte nach Guinea flogen, stoppten wir in der von Soldaten belagerten europäischen Hauptstadt Brüssel zu einem Screeningabend mit Franco Piavoli, der durchaus ähnlichen Prinzipien wie Rouch folgt, wenn auch mit einer deutlich poetischeren und weniger ethnographischen Ader. Wir sahen einige seiner Kurzfilme, die scheinbar von Youtube heruntergeladen wurden, um ins Kino gebracht zu werden und dann auf 35mm seinen Il pianeta azzurro, für dessen in der Mehrzahl an National Geographic erinnernde Bildsprache ein Stativ unabdingbar war. Der Film, so ein Freund unserer Gruppe, wäre interessant, vor allem der zweite in der Nacht der Welt angesiedelte Teil, in dem das Blau des Titels zur Grundstimmung wird. Allerdings betone der Filmemacher die Zusammengehörigkeit von Natur und Mensch ein wenig zu sehr, er argumentiere zu deutlich in seinen eigentlich beobachtenden Bildern.

Rouch hatte diese Diskrepanz zwischen Erklärung und Beobachtung oft zwischen Bild und Sprache angelegt. So entsteht gerade durch das Fehlen eines Stativs in Les maîtres fous eine spontane Direktheit, deren hektischer Blick nie erklären könnte und die der Erzählstimme Erklärungen überlässt, welche oftmals mehr Fragen als Antworten beinhalten. Jedenfalls war Piavoli in Brüssel nicht aufgehalten worden von den patrouillierenden Soldaten und so war er anwesend beim Screening. Vor den Filmen erzählte er diese nach. Der Kurator, ein nervöser Mann mit Hipsterbart und Zetteln in der Hand, der niemals auf die Idee kommen würde, nach dem Stativ von Jean Rouch zu suchen, unterbrach den Filmemacher mehrfach mit Gesten und verbal. Zu dieser Respektlosigkeit veranlasste ihn, dass Piavoli seiner Meinung nach seine Filme vorwegnehmen würde. Piavoli entgegnete richtig, dass sich die Zuseher niemals vorstellen könnten, wie es dann im Film aussehen würde. Es gibt diese Diskrepanz zwischen dem was man sieht und dem, was man darüber sagen kann, zumal in der Erinnerung. In dieser Lücke besteht weniger das Kino selbst, als das, was es mit uns tun kann.

Jean Rouch

Wir kamen schon ziemlich müde in Siguiri an. Eigentlich wollten wir an einer Goldmine stoppen, aber dann erinnerten wir uns an die schwarzen Tulpen am Ufer des Nigers. Sie hängen zusammen mit Madame l’eau, in dem Rouch den Traum einiger afrikanischen Freunde verfolgt, die Windmühlen zum Niger bringen wollten: “I had started to make a film about the drought. I had no solution. I was just filming Damouré, and people migrating to the south to farm millet because there was no rain here. The title of the film is awful, Madame l’eau. Philo noticed that Damouré’s rice lands were a similar mixture of sand and clay to that the Dutch use to farm tulips. I thought it would be wonderful, as a challenge to development and the drought, to farm tulips on the Niger’s banks, and to invent a new type: the black tulip from Niger. This is so crazy because the tulip is totally unnecessary. That’s the dream: we will shoot dream sequences of black tulips on the banks of the Niger.“

Idealisten

Rouch hatte ein Problem mit Chris Marker. Dieser wäre ein Idealist, er würde glauben, die Welt verändern zu können. Wir in unserer Gruppe aus Enthusiasten fühlen uns näher zu Rouch. Das liegt vielleicht daran, dass wir auf diese Reisen gehen, weil wir glauben, dass die Welt uns verändern wird, nicht wir die Welt. Wir haben keine Kamera dabei und eigentlich schäme ich mich ein wenig, dass ich diese Gedanken und Erlebnisse hier niederschreibe. So geht es mir nach jedem Film. Betrügt man nicht ein wenig die Kraft und Unschuld des Sehens mit den Worten, die man sucht, findet? Die Lücke, die beschreibt, was das Kino mit uns tun kann, muss sie beschrieben werden? Vor allem: Muss es immer eine schnelle Reaktion sein, eine Bewertung, eine Einordnung?

Nun ist es schon interessant: Da filmt ein Filmemacher, der sein Stativ im Niger verloren hat am Niger Menschen. Es sagt viel aus über Jean Rouch, dass er die Menschen gefilmt hat statt sein Stativ zu suchen. Ich frage mich, als wir uns doch zu einer dieser Goldminen bewegen, aus Neugier und Gier, ob er auch bei den Menschen geblieben wäre, wenn seine Kamera in den Niger gefallen wäre. Das Züchten schwarzer Tulpen am Ufer ist vielleicht als Kinotraum schöner als in dem, was man Realität nennt. Warum, fragt ein schon sehr erschöpfter Enthusiast mit Schweiß auf der Stirn und mit vor Müdigkeit weit aufgerissenen Augen, wäre das einzige Bild, das er von den Goldminen in Afrika hätte, jenes von Leonardo DiCaprio in Blood Diamond? Es entflammt eine hitzige Diskussion in der Gruppe über das, was man ein kulturelles Gedächtnis nennt, über die Art und Weise, in der sich Bilder einprägen, welche Bilder eine Chance bekommen, sich einzuprägen und welche gewissermaßen im Niger ertrinken. Warum kennen wir keine afrikanischen Bilder vom Niger? Als wir schon in unseren Zelten unter den Sternen lagen, fiel der Name René Caillié. Er war der erste Europäer, der lebend aus Timbuktu zurückkehrte und davon berichtete. In seinem Schreiben, das einige von uns in deutscher Übersetzung gelesen haben, vermischt sich fast spielerisch die Neugier, der staunende Blick mit einer verstörenden kolonialistischen Rhetorik. Caillié wurde mit viel Anerkennung und Geld überschüttet in Frankreich. Mit 38 Jahren verstarb er nach anhaltenden Krankheiten. Sein Monument steht heute noch in Kouroussa. Dort würden wir am nächsten Tag hinreißen. Meine Augen schließen sich langsam, ich höre noch wie jemand sagt, dass das Stativ mit Sicherheit gefunden und verkauft worden wäre, im Niger würde alles verkauft werden. Dann träume ich von schwarzen Tulpen.

Es sollte mehr Filme geben, die der Dramaturgie von Flüssen folgen. Die Donau rauf von Peter Nestler, der sehr verwandt mit Rouch scheint, ist zu kurz, sollte mehr haben, sollte mehr Geld bekommen haben, um länger mit dem Fluss zu sein. Er findet Geschichten entlang des mächtigen Flusses und filmt diesen wie eine Person. Man denkt an das wundervolle Buch Donau: Biographie eines Flusses von Claudio Magris. Die Reise entlang eines Lebewesens, eines Naturphänomens, einer geographischen Gegebenheit als Anlass und prägendes Element einer Erzählung. Man denkt an Peter Huttons Study of a River. Es ginge nicht unbedingt nur darum, dass Filme einen Fluss filmen, sondern auch darum, dass sie sich dramaturgisch an Flüsse annäherten. Mein Lieblingsgenre, denke ich ganz bei mir, wäre das Binnendelta. Das langsame Versickern, Trennen, Sammeln an einer Tür zwischen Land und Wasser. Der Niger bildet ein solches Delta in Mali. Massina heißt die Region, totes Delta. Dort wäre das Stativ mit Sicherheit nicht durchgekommen.

Study of a River

Bell & Howell

Leider ist uns völlig unklar, wo genau Rouch sein Stativ verloren hat. 1941 ging er mit zwei Freunden nach Niger, um dort in den französischen Kolonien zu arbeiten. Er traf dort auf Menschen, Kulturen, die sein Filmemachen maßgeblich prägten. Er schrieb einmal von der Möglichkeit die Abenteuer eines anderen im eigenen Körper zu erleben. Aus diesem Grund, so formulierte er später, würde er auch auf das Stativ verzichten. Cine-Trance nannte er das Vorgehen des Verschwindens des Filmemachers im Körper von jenen, die er betrachtete. Nach einigem Ärger mit Vorgesetzten kehrte Rouch 1946 mit Jean Sauvy und Pierry Ponty zurück nach Afrika. Sie paddelten in einem Kanu flussabwärts und begleiteten eine Nilpferdjagd. Unter dem Pseudonym Jean Pierjean, eine Mischung ihrer drei Namen, schickten sie Artikel darüber nach Frankreich und filmten mit einer 16mm Bell & Howell. Es war hier, das Rouch sein Stativ in der Strömung verlor. Er filmte weiter, es entstand der Film Au pays des mages noirs.

And they came to the river
And they came from the road
And he wanted the sun
Just to call his own
And they walked on the dirt
And they walked from the road
‚Til they came to the river
‚Til they came up close

Der Film beginnt mit bedrohlicher Musik, betont werden die Abenteurer, die es in ein fremdes Gebiet zieht. Die ersten Bilder sind von einem Stativ geschossen. Dramatisch wird von der Gefahr und dem Ungewissen im „vorgeschichtlichen“ Afrika erzählt, während wir Bilder von gefährlichen und großen Tieren sehen. Rouch hatte keine Kontrolle über den schnitt und auch nicht über die Erzählstimme. Er sagte einmal abwertend, dass der Voice-Over wie ein Reporter bei der Tour de France klingen würde. Zwischen Gao und Niamey wäre der Film angesiedelt. Wir sind also auf dem richtigen Weg, Rouch hat sein Stativ nach dem Binnendelta verloren. Sie mögen sich vielleicht fragen, warum wir nicht gleich dort hingereist sind. So ganz genau und zu aller Zufriedenheit können wir diese Frage nicht beantworten, vielleicht aber sind Sie mit den Machenschaften des Kinoapparats vertraut und sich durchaus bewusst, dass ein Fluss prinzipiell in alle Richtungen fließen kann. In einem Land der schwarzen Tulpen hielten wir es für nicht ausgeschlossen, dass das Stativ flussaufwärts trieb, vielleicht auch im Maul eines Nilpferds davongetragen wurde.

Es regnete als wir Au pays des mages noirs wieder sahen und uns bewusst wurde, dass unsere Fantasie uns womöglich einen Streich gespielt hatte. Doch „Fantasy“ ist auch der Titel von Tag Gallaghers herausragender Rossellini-Biographie The Adventures of Roberto Rossellini und nicht nur deshalb wissen wir, dass großes Kino immer mit Fantasie beginnt.

“I had lost my tripod early on in some rapids and didn’t know how to shoot so as to be able to edit the footage later. We stopped one day just south of the Mali/Niger border, in Ayorou, which I knew pretty well, as I had been there as an engineer. I asked them to build a canoe and to hunt hippopotamuses from it—we returned and filmed them. We crossed into Nigeria, going through the rapids where Mungo Park was killed, and by the time we reached the sea, we were thoroughly exasperated with each other. From there, we returned to Paris in a military plane.“

Schwarze Magie

Dann filmt Rouch ein Dorf. So ganz ist nicht erkennbar, ob er dabei noch im Besitz eines Stativs war oder nicht. Es gibt zwar Schwenks, aber sie sind schlampig genug, um aus der Hand gemacht worden zu sein. Doch es folgen einige statische Bilder von der Arbeit am Fluss und wir sind uns sicher, dass er hier sein Stativ nicht verloren hat. Waffen werden gebaut, Waffen um Nilpferde zu töten. Der Ton des Films erinnert an Robert Flaherty. Ein Filmemacher von dem es unglaubliche viele Bilder mit einem Stativ gibt. Meist steht er damit an unmöglichen Orten. Diese Bilder erinnern an Van Gogh. Jemand geht in die Landschaft und stellt sich hin. Jemand macht ein Bild. Rouch hat einmal geschrieben: “Perhaps it was due to such simplicity and naïveté that these pioneers discovered the essential questions that we still ask ourselves today: Must one “stage” reality (the staging of “real life”) as did Flaherty, or should one, like Vertov, film “without awareness” (“seizing improvised life”)?“

Bei Rouch wirkt vieles, auch aufgrund technischer Entwicklungen spontaner, weniger kontrolliert. Er schneidet auch viel. Nach einem Opferritual bewegen sich die Jäger und Fischer aufs Wasser. Rouch fährt mit ihnen. Es folgen unglaubliche Bilder der Jagd auf ein Nilpferd, die wieder an Flaherty erinnern. Die selbst gemachten Harpunen fliegen durch die Luft, die Waden der Ruderer, Körper, die im Schilf zu schweben scheinen. Sie töten das Tier, das mehr einer abstrakten Masse durchbohrt mit geschnitzten Waffen gleicht. Die Bilder wirken noch immer statisch, vor allem wenn man bedenkt, dass Rouch auf einem Kanu sitzt. Im Anschluss filmt Rouch das Schlachtungsritual, lächelnde Gesichter. Rouch hat einmal gesagt, dass es nichts gäbe, was man nicht auch ohne Stativ filmen könne. Das erinnert an Cristi Puiu, der sich gerne damit brüstet, die Handkamera ins rumänische Kino gebracht zu haben. Allerdings habe er sein Stativ nicht im Niger verloren, sondern schlicht nicht genug Geld dafür.

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Irgendwie beschleicht mich beim Sehen das merkwürdige Gefühl, dass es für dieses Filmemachen von Rouch fast egal ist, ob er sein Stativ nun verloren hat oder nicht. Einer aus unserer Gruppe, er hat fast schon aufgegeben mit dem Kino, sagte mir einmal auf unserer Reise, dass es bei Dokumentationen sowieso nur um Zugang ginge. Mit Zugang meinte er, dass es letztlich darum ginge, was man filmte, nicht wie man es filmte. Ein sehr verkürzter Gedanke, wie ich finde, auch wenn ich die Grundneugier von Festivals bezüglich Filmemachern, die vom Ende der Welt zurückkehren, manchmal wie René Caillié, nicht leugnen kann. Es ist auch romantisch, wenn man an diese einsamen Filmemacher denkt, die reisen und reisen und uns Bilder mitbringen. Vielleicht sind wir deshalb auch aufgebrochen, um das Stativ von Jean Rouch zu suchen. Der Film wurde in Frankreich übrigens auf 35mm aufgeblasen zusammen mit Rossellinis Stromboli gezeigt. Später veröffentlichte Rouch einen Reisebericht, ein Ausschnitt aus The Mad Fox and the Pale Master:

„But there was still this majestic and beautiful Niger River, at the same time terrifying with its crocodiles and welcoming with all its freshness. Slowly, and with a great deal of reticence, I learned how to swim there, to navigate a canoe, and to avoid the mud banks and the cutting oysters, or the terrible steel hook fishing lines of the mamari “thieves.” Damouré Zika, one of the very young employees of the public works, was my initiator, and we traded knowledge: he was a Sorko fisherman, a master of the river, but I was a better swimmer than he.

So little by little, I became more distant from the European community, sharing my work and play with my first African friends. In fact I didn’t understand anything: you couldn’t swim over there because of a karey kyi, a “man-eating crocodile,” yet here, less than fifty meters away, you could dive in complete safety. At night you could go down to the Comacico cinema on a bicycle with a swinging lamp that hooked onto the handlebars. But you had to come back by the main road of the Bureau of Domaines (whose official buildings housed managing offices for public institutions and state properties), to avoid the “soul-eating sorcerers.”“

Was haben wir also zu erzählen, die nach einem Stativ eines Filmemachers suchen statt uns wirklich umzusehen? Unsere Gruppe aus Enthusiasten, so schien es mir plötzlich, war mehr auf der Flucht vor dem Sehen, als etwas zu suchen. Wir wurden müde von uns selbst. Es scheint sehr einfach sich für das verlorene Stativ von Jean Rouch zu begeistern. Der eingangs erwähnte Durst nach den großen Abenteuern verliert sich zu leicht in der Begeisterung für selbige. Nicht die Tat wird dann entscheidend, sondern der Held. Nun könnte man sagen, dass wir uns ja auf eine ähnliche Reise gemacht haben, so etwas gab es schon öfter in der Filmgeschichte, man denke an Innisfree von José Luis Guerín, also die Idee, dass man an einen bereits vom Kino bewohnten Ort blickt und dort auch hinter das, was man aus dem Kino kennt schaut. Nur tun wir das oder suchen wir bereits nach dem nächsten Abenteuer, dem nächsten Kleidungsstück von Jane Russell im Meer, der nächsten Einstellung, die wir so mal bei Marguerite Duras gesehen haben, den nächsten Schauspieler, den wir aus einem anderen Film kennen?

Wir brechen die Suche ab. Jemand kauft ein Stativ und eine Kamera und wir verlassen den Fluss. Danke, Jean Rouch.