Thomas Wolfe: Von einer Begegnung am Kurfürstendamm

Thomas Wolfe 1935

So wie „film-stills“ im besten Falle in der Lage sind, einen bereits gesehenen oder auch noch unbekannten Film vor dem inneren Auge in Bewegung zu setzen, so kann auch das Werbefoto eines Verlages für einen ihrer bekanntesten Autoren eine Bilderkette in Bewegung setzen: Es ist Ende Mai 1935 und hier in Berlin schliddert die Sonne durch die Straßen. Etwas zu groß, etwas zu schwer, wie sich das gehört für einen, der in einem Bergkurort seine Kindheit und Jugend durchlebt hat. Mit weiten Schritten in seiner Welt von einem Meter achtundneunzig, und das ist die seltsamste und einsamste Welt, die es gibt. Den grauen Wollmantel hält er im linken Arm, denn der heutige Tag verspricht warm zu werden. Rechts von ihm geht eine brünette Frauengestalt im nachtblauen Kostüm und schwarzledernen Handschuhen, genau, Miss Martha Dodd, Tochter des amerikanischen Botschafters, die sich an sein Schritttempo anzupassen sucht, wie er auch an das ihrige. Mitsamt ihrer eigentlich stolzen Verlegenheit, mit der sie ihn durch diese Stadt führt, an einigen Buchläden haltend, da man in der Auslage seinen Namen finden wird, denn:

They think I’m hell here – Americans best writer in world –…parties, pieces in paper – never got this at home and don’t want to but it is unbelievable. Understand Byron woke one morning to find himself famous.

Thomas Wolfe 1935

Der 35-jährige ist ein sich wandelndes literarisches Großprojekt, das nur schon deshalb nicht in gewohnte abgeschlossene Formen zu bringen ist, weil er sich von der Idee eines einzigen riesigen Wälzers über alle Menschen und auch alle Dinge einfach nicht trennen mag. Gut: nun ist er hier, um zum wiederholten Male jeden Bauziegel und jeden Pflasterstein, jedes Gesicht aus jedem Menschengedränge festzuhalten und ebenso seinen ganz persönlichen Mythos „Deutschland“. Doch hier ist schon der Krieg: in Aachen hat er in seinem Zugabteil die Verhaftung eines jüdischen Anwaltes miterlebt, zu unwirklich und auch zu nah. Miss Dodd kann ihn nicht in allem trösten. Hier nun berührt sie seinen Arm, sagt etwas und lacht. Dieser Mann ist der jüngste von neun Kindern. Sein Vater, der Steinmetz, donnernd und voll, seine Mutter, hager zwischen gesundem Geschäftssinn und neurotischer Existenzangst. Nach deren Trennung leben die Kinder mit in der von ihrer Mutter geführten Pension, ein von den Bedürfnissen und Träumen der Gäste regiertes Nomadendasein im eigenen Haus. Zu oft war es zu kalt, poetische und biografische Neugierde neben Sehnsucht und Trauer, denn sein 8 Jahre älterer Bruder, Grover Wolfe, sollte 1904 an einer Lungenentzündung sterben. Und die anderen Kinder werden zeitlebens die Wut und die Trauer der Mutter in ihren Ohren halten, dass Grover das beste und auch klügste Kind der Familie gewesen sei: Eine Chiffre in blinden Labyrinthen, so lange her, der Ursprung, der Freund und Bruder. Der verlorene Knabe war für immer fort und würde nicht wiederkehren.

Miss Dodd,… I have had no time for sleeping, and since daylight now comes at three o’clock in the morning anyway in Berlin and Miss Dodd,… your brother and I have sat up most of the night talking I have almost forgotten how to sleep. 

Ja, Miss Dodd fasst ihn am Ellbogen, weist ihn in Richtung Straßenbahn. Die Cafés sind natürlich geöffnet und mancher Gast wagt sich schon an einen der Tische auf dem Bürgersteig. Der Kaffee ist heiß. Doch hier erkennt ihn niemand, denn Schreiber müssen ohne Gesichter sein. Wolfe sucht die Distanz zu bestimmen, die das Erlebte vom Beschriebenen trennt, wird aber beschuldigt, ein Kopist, ein autobiografischer Autor zu sein. Look Homeward, Angel als einzige tatsächlich abgeschlossene Romanfassung, Of Time and the River vom Erwartungsdruck seitens Verlag und Kritik frühzeitig aus seinen Händen gezerrt und gezogen. The Web and the Rock und You can’t go Home again werden posthum zusammengestellt, aber soweit ist es jetzt ja noch nicht.

Ausufernde Länge, scheinbare Formlosigkeit, sprachliche Überspanntheit: die Liste der Vorwürfe seitens der damaligen Literaturkritik ist kurz und auch schmerzhaft. Man lokalisiert den für einen Autoren lebenswichtigen Ausgleich bei seinem Lektoren Maxwell Perkins, was den gereizten, empfindlichen Wolfe dazu bewegen wird, sich 1937 von Perkins und auch dem amerikanischen Scribner-Verlag zu trennen. Aber soweit ist es jetzt noch nicht. Alles war noch unverändert, es schien, als hätte es sich seit damals nie verändert, nur dass alles gefunden und erwischt und für immer eingefangen worden war. Und indem er alles fand wusste er, dass es verloren war.

Sie sitzen aber jetzt im Sonnenschein, Miss Dodd streicht von der helleren Schläfe ihr Haar zurück und sie rauchen amerikanische Zigaretten. Berlin ist groß, doch New York ist größer. Da sich in seinem Heimatort Asheville zu viele in seinem großen Buch zu genau geschildert wiederfinden, sucht er seinen zweiten Mythos auf, seinen Felsen und manchmal auch das väterliche Element. Die goldene Stadt, die an ihren Realitäten zerschellt, seinem Vater nicht unähnlich. Die luftigen Appartements der Reichen auf hohlem Boden gebaut, das Donnern der kühlen Untergrundbahn. Die 19 Jahre ältere Bühnenbildnerin Aline Bernstein, die er 1925 kennenlernte und sieben Jahre zu verstehen suchte, die anerkannte und auch verheiratete Künstlerin. Etwas zu reich, auch etwas zu klein, unendlich großzügig und auch verschwenderisch, Wolfe erlebte einen erneuten Heimatverlust. Wo bist Du, denn da wollte ich doch nie hin. Seine heimliche, verschwenderisch geliebte Heimat Deutschland, sie wird auch verlieren in einer geordneten Ekstase der Aufmärsche, in der kalten Machtdemonstration der Olympischen Spiele. In dem Grauen, das kommen wird. Aufwachen, eine in der Jugendzeit nie ernsthaft auskurierte Tuberkulose wird im Sommer durch eine Lungenentzündung erneut zum Ausbruch gebracht. Doch zuvor hat man ihm in München auf dem Oktoberfest noch den Schädel eingeschlagen. Er sprach zu viel, lachte und trank, er saß an einem Holztisch auf einer Bank, und auf einmal verstand er sein eigenes Wort nicht mehr, sein Deutsch verließ ihn. Die Männer um ihn herum drängten sich nun bedrohlich an ihn heran, den riesigen Amerikaner mit den langen Armen. Als die Frauen sich beschämt umdrehten.

Warum dreht sich alles? Kannst du es herausfinden, Eugene? Ist das leben denn wirklich so, oder treibt jemand einen wüsten Scherz mit uns? Vielleicht träumen wir das alles, glaubst du das? – Ich glaube, dass wir es träumen. Aber ich wünschte, wir würden aufgeweckt.

Aber noch ist es nicht soweit. Beide haben sie doch gerade erst das Café verlassen, und Wolfe, mit der rechten Hand sich festhaltend, steigt nun in die Straßenbahn, spürt einen Blick, gleich dem Kind, das träumt im Dickicht des Menschengedenkens, ja, aus dem verzauberten Wald heraus, das dunkle Auge und das beruhigte Gesicht ein wenig nur hervorgestreckt. Und der Blick birgt Angst.

Dank an The Thomas Wolfe Collection / North Carolina Library.

North by Northwest: Ein Blick

North by Northwest von Alfred Hitchcock

Wer starrt dir ins Genick, und warum ist jener Blick nach vorn mit einem Mal vernichtet, sobald die Augen sich kurz und wirr zur Seite bewegen? Die Dynamik ist noch vorhanden, das Licht glitzert in den Pupillen, und was genau ist es, was dann eigentlich geschieht?

North by Northwest von Alfred Hitchcock: Den Blick zunächst auf Eve Kendall’s blondes Genick gerichtet, wie die massierende, männliche, rechte Hand sich auf ihre linke Schulter hinabgleiten lässt, um in der darauffolgenden Totalen über ihren Kopf zu streicheln, beim glänzenden Scheitel beginnend, über die dichte Masse ihres silbrigen Haares. So streichelt man einen Hund. Oder man könnte die Axt ansetzen, denn die Schulterpartie wird für uns ja schon ertastet. Geprüft auf ihre Stofflichkeit. Das hier getragene rote, schwere Blumenkleid wird Kultstatus erreichen. Der Rock ist weit und schwingend, Unmengen an Stoffbahnen von schwarzer Seide mit roter Stickerei wurden zu weiten Schwüngen genäht, das Oberteil ist schmal, betont die Taille, der Ausschnitt rund und lässt den Rücken in einem spitzen Ausschnitt immer wieder erbeben. Die streichelnde Hand aber bewirkt in diesem Moment rein gar nichts. Und das ist das Problem. Die grau-seidenen Anzugjacken wurden funktionell geschnitten und schaffen die Illusion von körperlicher Größe und auch Schlankheit. Die Illusion der schlanken männlichen Linie erhält man hier ebenso präsentiert durch die Wahl der passenden grauen Socken, und durch das simple Weglassen eines Gürtels. Die schokoladenbraunen Derby-Schuhe sind hier meist das einzige, kontrastierende Accessoire. I didn’t realize you were an art collector. I thought you just collected corpses.

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Die Männer hinter ihr, ich frage mich immer wieder, ob Eve sie riechen kann. Oder ob sie etwa deshalb langsam ihre Augen auf die Hand an ihrer Schulter richtet, nur weil sie den Geruch nicht mehr erkennt? Und was ist mit den Anzügen, die Manschette und der Ärmel, so dicht an ihrem Ohr? Hört sie das Rascheln des Stoffes? Die Bewegungen seines Armes müssen doch Geräusche produzieren. Doch dann stehen wir hinter ihr, in einiger Entfernung und ich frage mich, ob ihre Schulter und Halspartie nicht auch ein klein wenig Puder auf seiner Handfläche hinterlassen hat? I didn’t realize you were an art collector. I thought you just collected corpses. Wenn er seine Hand langsam hebt, also von ihr ablässt, hebt sich ihr Brustkorb, sie atmet tief ein, aber ihre Augen deuten nicht auf Ruhe hin. Aber diese seine Last wird er nun anderswo ablegen. Spürt Eve nicht wortwörtlich den Atem der hinter ihr stehenden Männer an ihrem Scheitel und Nacken? Wir schreiben das Jahr 1959 und ihr Haarschnitt gilt in jener Zeit als „Kurzhaarschnitt“, Frauen, die so etwas tragen, gelten als exzentrisch. Eve ist es nicht: am Ende muss sie heiraten und mit dem Mann auf einer gemütlichen Zugreise in einen schwarzen Tunnel jagen. Diese Frau wird die Ängste des Mannes nicht lindern, in jenem Moment, in dem er sie sich seinen Wunschträumen anpassen konnte, da war es auch schon vorbei mit der Liebe. You gentlemen aren’t really trying to kill my son, are you? So fragt die Mutter. Dafür braucht der Sohn niemanden anderen. Das wird er schon gekonnt selber erledigen.

La Zerda et les chants de l’oubli von Assia Djebar

La Zerda et les chants de l'oubli von Assia Djebar

Die Schriftstellerin und Regisseurin Assia Djebar und ihr Co-Autor Malek Alloula verbrachten ein halbes Jahr in den Archiven von Pathé und Gaumont, sichteten dokumentarisches Filmmaterial und Fotografien zur französischen Kolonialisierung, auf der ewig scheinenden Suche nach dem Widerstand, nach der Wahrheit und vor allem nach all dem, was derlei dokumentarisches Material nicht aufzeigt und im Verborgenen hält. Die sprachliche Ausdruckskraft der algerischen Autorin und Filmemacherin kommt auch in der Vertonung in all ihrer filmischen Arbeiten zum Ausdruck. In La Zerda et les chants de l’oubli, einer Produktion für den algerischen Fernsehsender RTA aus dem Jahr 1979 mit der Musik von Ahmed Yessad, sehen wir „gefundenes“ Bildmaterial, ein kolonialisiertes Algerien der 1930er und 1940er zeigend, im Dialog mit jenem Algerien der Erzählstimme. Gefundene Erinnerung. Djebar fordert nicht weniger ein, als eine weibliche Geschichtsschreibung innerhalb einer kolonialen Überwachung und innerhalb einer patriarchalen Unterdrückung.

ASSIA DJEBA

Der Einsatz von Schwarz und Weiß, der nüchterne Diskurs des Off-Kommentars und der Zwischentitel, Orte und Daten zeigend: dies evoziert die Ästhetik von Les statues meurent aussi von Marker, Resnais, Cloquet, erzählt der Soundtrack wie ein blasses aber sichtbares Wasserzeichen eine andere Geschichte. Ein kontrapunktischer Gesang, manchmal in der Nähe eines Rufens und geschickt gemischt zwischen Arabisch und Französisch, fast ohne Pausen abzuwarten, oder vielmehr, einzubauen. Gar passend für jene Ambivalenz der wohl gegenseitigen Faszination, der Ängste und auch der Wut und des Hasses. Am Ende werden die Worte fehlen und die Kamera verweilt auf einem stillen Bild, diskret und fast schon makellos. Wie bei Khatibi sind es die Männer des Südufers …

Die Erinnerung und Körper der Frauen
Verschleiert
Verschleiert
Verschleiert
In einem völlig unterwürfigen Maghreb zum Schweigen gebracht, Fotografen und Filmemacher strömten herbei um uns zu fotografieren …
Der morbide Wüstenfuchs ist ganz in ihrem Sinne, ein Anspruch, den sie geltend machen und ergreifen.
Trotz ihrer Bilder doch ausserhalb ihres Blicks, versuchten wir, andere Bilder zu machen, Fragmente einer täglichen Verachtung …
Vor allem hinter dem Schleier dieser Realität ausgesetzt, wurde eine anonyme Stimme geweckt, gesammelt oder neu erfunden, die Seele eines Maghreb und unsere Vergangenheit.

Ihr auf derartige Diskrepanz Bezug nehmender Kurzgeschichtenband Femmes d’Alger dans leur appartement, eine Textsammlung, welche auf die damaligen, nach der Entkolonialisierung von Algerien vorherrschenden Unterschiede anhand der Behandlung von Männern und Frauen aufmerksam macht, wurde zwei Jahre zuvor publiziert. Selbst Djebars Dilemma, der für sie in Frage kommenden, für sie alles greifbar machenden und zu nutzenden Sprache, macht sie in ihren Filmen, Bildern, Tönen und Rhythmen, sichtbar. Musik und Lyrik, orale Sprache, Töne, Pausen, Bewegung und Gefühlsausdruck. Geboren in der Hafenstadt Cherchell im Westen Algiers, gaben das Wasser und der Wind noch einige strenge Takte hinzu. Aber am wichtigsten: die Stille. So behielt Djebar es sich bei, das einzig Möglichscheinende, das Französische als eine offizielle Sprache im internationalen Umgang mit der sie umgebenden, auch beruflichen, akademischen und sicherscheinenden Welt, das Arabische für ihr Heimkehren und Erinnern, das nicht enden wollende Aufzeigen. Die Angst und die Unterdrückung, die Wehrlosigkeit und den Schmerz: „Nous les ventres affamés, les pieds nus…“ – aber auch für die zärtlichste Stille.

Yakuza – Die Sehnsucht nach den Regeln der Kunst

Das „Genre“ war immer schon ein unsicherer Begriff, weil derartige „Dienste“ einer Begrifflichkeit auch schnell in Bevormundung und immer wieder in Enttäuschung der eigenen Erwartungen ausarten. Woraufhin dann zu fragen bleibt, womit diese Erwartungen geschürt wurden. Quasi ein Erfindungsgeist bis einem der Kopf schwirrt. Bevor es aber in diesem Text, sprich Wald, herausschallt, wie man hineinruft (hängt natürlich auch wieder davon ab, wie die Waldkultur bestellt ist: aus einem Mischwald tönt es beileibe anders als aus einer Monokultur), ist der geneigte Leser dazu aufgefordert, sich einige Fakten anzuschauen, die sich hier auf das Genre des nicht nur von männlicher Seite aus verehrten japanischen yakuza-Films beziehen.

SONATINE
Zunächst einmal eine Erklärung des dreisilbigen Wortes „ya-ku-za“ („acht-neun-drei“), welches das Verliererblatt eines japanischen Kartenspiels beschreibt. Bereits in der Tokugawa-Periode (1600-1867) gruppierten sich niedere „samurai“ zu einem losen Bruderkult, da die Zeit der Herrschaftskriege sich langsam dem Ende zuneigte. Völlig romantisiert in der japanischen Dichtung und Vorstellungswelt sahen sie sich als rastlose, das Land durchstreifende Beschützer und als Ersatzfamilie für solch meist mittellose umherziehende Krieger, deren Ehrenkodex sich erst auf völlige Loyalität zum „Vater“ der Gemeinschaft bezog („yabun“). Eine solche Loyalität konnte sich bis zur Selbstaufgabe intensivieren, den rituellen Selbstmord miteingeschlossen. Eine solche Gemeinschaftsstruktur sah sich in ihren nie ganz legalen Möglichkeiten des Geldverdienens dennoch als mustergültige Gruppierung oder gar Verein an, nicht unähnlich einer Gewerkschaft, die sich in erster Linie um das existentielle Wohlergehen seiner Mitglieder zu kümmern hatte. Dieser über die Jahrhunderte sich entwickelnde Familienverbund erklärt vielleicht die noch heute von westlicher Seite aus eher skeptisch betrachtete anerkennende Haltung der japanischen Gesellschaft gegenüber der „yakuza“. Legendenbildung bleibt selbstverständlich auch hier nicht aus, und diese fand über die japanische Literatur und nicht zuletzt über die traditionelle japanische Malerei ihren Weg zur Filmgeschichte. Wozu man noch gestaucht anmerken kann, dass die von westlicher Seite aus bewunderte japanische Kadrierung und Kameraführung ihren Ursprung nicht in der Photographie fand und sich etwa zum bewegten Bild weiterentwickelte zur neuen Ausdrucksmöglichkeit, sondern eben genau über die japanische Malerei und ihrer weiteren Form, des Holzschnittes (wenn man gerne einmal auf die cineastische Qualität im Blutbade aufmerksam machen will).

Als Genre immer gerne umstritten, nicht zuletzt aufgrund seiner vordergründigen Frauenfeindlichkeit, die in geballter Popularität ihren Weg auf die große Leinwand fand, bleibt aber zu bedenken, dass ein Genre sich nicht nur ausschließlich aus immer wiederkehrenden, meist heterosexuellen Phantasien und der Sehnsucht nach innerer Heimat begründet, sondern eben auch auf die Nachfrage eines Publikums. Auch aktuell zeigt sich die japanische Gesellschaft als ein kraftvolles, sozusagen „internes“ Matriarchat, soll heißen, der Mann wird bereits in der Kindeserziehung von der durchweg weiblichen und auch sich aufopfernden mütterlichen Erziehung dahin geführt, das spätere eigene kleine Gesellschaftssystem namens „Familie“ vor allem finanziell und somit gesellschaftlich im Ruder zu halten. Der „yakuza“-Film bedient diese Sehnsucht nach allen Regeln der Kunst, nämlich in den zuletzt doch sehr vereinfachten Motiven einer durchweg männlichen Kameradschaft im unermüdlichen Kampf gegen eine wie auch immer geartete gesellschaftliche und somit auch familiäre Unterdrückung. Dies soll beileibe keine Gewalt gegen Frauen rechtfertigen, aber besonders der „yakuza“-Film zeigt hier zumindest die geradezu brodelnde Auseinandersetzung mit diesem Thema auf, was gerne von einem sich allzuschnell beschwerenden, schockierten Publikum aber ignoriert wird (man denke nur an die immer noch nicht beruhigte Welle der Entrüstung gegenüber der Arbeit Miike Takashis, der sich mit diesem Thema als einer der wenigen besonders einfallsreich und auch intelligent auseinandersetzt). Was weibliche Figuren und die sexuelle Ausrichtung angeht, gibt es auch im Bereich „yakuza“ interessante Veränderungen in den Jahrzehnten zu beobachten.

outrage
Um vorher schon angesponnene Bezüge zu diesem japanischen Ur-Genre in westlicher Sicht fortzusetzen, geht man mit Filmbeispielen bestens nicht allzu weit zurück. In den 1960er Jahren geradezu im Besitz des japanischen Studiosystems (vorneweg Toei), ist die heutige Quelle der gern zitierte „Underground“, aber auch die seit den 1990er Jahren existierende, rein japanische Videoproduktion, soll heißen, ein Markt, der seine Produktion ausschließlich auf den Videosektor beschränkt, was der filmischen Qualität nicht immer Schaden zufügen muss. Dies bleibt wohl daher sinnstiftend, da die Regisseure aktuell sich finanziell und kreativ ihre Unabhängigkeit zu wahren suchen. Aus meiner Sicht wichtige Namen wären da aufzuzählen die Regisseure Fukasaku Kinji (1930-2003), Mochizuki Rokuro (Jahrgang 1957) und Kitano Takeshi (Jahrgang 1947). Mochizuki zählt, wie auch etwa Miike, zu der Gruppe des OV („original video“), seines Zeichens bereits ein Film-Veteran der japanischen Pornoindustrie, der aufgrund seiner privaten Kontakte noch in der Lage ist, seine Charaktere mit der Authentizität der Yakuza-Strukturen zu versehen. Sein Studium der Filmregie bei Kanai Katsu am Tokioter Image Forum bestätigte seine Einarbeitung von lebendiger Authentizität, und dazu gehören bei jedem menschlichen Wesen nun einmal auch Gewalt und Sex. Bei Mochizuki bedeutet dies aber vor allem nicht nur die exzessive Darstellung von »realer« Gewalt und sexueller Frustration, sondern die stete Zärtlichkeit und verzweifelte Sinnsuche, die in absolut jedem menschlichen Handeln auszumachen ist. Ob diese Einbettung einer realistischen Reaktion und vor allem Aktion wirklich nahe kommt, bleibt wie bei jedem Film der persönlichen Erfahrungswelt, eben inklusive Reaktion und Aktion, des Betrachters überlassen. Etwa in seinem Film Minazuki aus dem Jahr 1999: Ein Büroangestellter wird über Nacht von seiner Ehefrau verlassen und findet unerwartet Hilfe und auch Unterstützung bei dem Bruder seiner Frau, einem Gangster. Zunächst einmal als Ablenkung gedacht nimmt dieser ihn völlig unvorbereitet mit in seine Yakuza-Welt, Gewalt und Prostitution eingeschlossen, ein vermeintliches „back to the roots“ nach dem eigens gewählten Gefängnis einer reglementierten Eheschliessung.

Mochizuki zeigt den Menschen mit seinen heroischen und nobel gedachten Absichten, ein sozial-kompatibles Leben zu führen, um einem vor Augen zu führen, dass es zur inneren Zufriedenheit stets auch die »dunklen« Seiten braucht, dass Lust und Gewalt wie immer dicht beieinanderliegen, sich sogar auch gegenseitig bedingen, und das es erst einmal einen Auslöser braucht, um dies für sich zu entdecken, und selbstverständlich auch den passenden Partner, um im gegenseitigen Respekt seine Grenzen zu erkennen und diese nötigenfalls auch gemeinsam zu überschreiten. Alles andere ist und bleibt Lüge, forciert Frustration und sucht sich letztlich immer ein Ventil. Hierbei ist Mochizuki aber in der Lage, dem Zuschauer die Wahl zu lassen, er verurteilt weder die Freiheitssuchenden noch die Freiheitsfindenden, überlässt es dem Zuschauer, seinen eigenen Ausgangspunkt zu definieren. In absolut jeder Gesellschaftsform hat man immer die Wahl, die wohl einzige schreckliche Erkenntnis dieses Films. Oder mit einem viel zu wenig zitierten Beispiel der Film des Regisseurs Kitano Takeshi, der mit seiner Arbeit eher als „Weichspüler“ gilt, sich eifrig filmkritische Feinde produzierte, als er allzu schnell auf den Geschmack gekommen zu sein scheint, mit exzessiven japanischen Versatzstücken (durchaus auch wieder auf eigener Lebenserfahrung beruhend) ein vor allem europäisches Publikum zu bedienen. Das mag man sehen wie man will, aber Kitano ist der Regisseur, der es in Sekundenbruchteilen fertig bringt, ein Portrait der Liebe zu zeichnen: In Sonatine aus dem Jahr 1993 treibt Kitano den Yakuza-Männlichkeitswahn auf die Spitze (diese Ironie muss man erst einmal erkennen, um die Größe dieses Films zu sehen), in dem er sämtliche stilistischen Liebhabereien zur minimalistischen Gestik überhöht.

Jede Einstellung erscheint zu lang, jeder Schnitt rhythmisch zu perfekt, der Habitus der Figuren immer einen Tick zu viel des guten, bis Kitano, ausgerechnet in einer filigranen Liebesszene narrativ zu explodieren scheint. Es ist ganz simpel und dramaturgisch auch logisch, dass er in einer nicht enden wollenden Einstellung sein Maschinengewehr ausprobiert, aber unerwartet findet er in einem „rough-cut“ die Gesellschaft seiner zart Angebeteten, die das Gewehr schließlich auch ausprobiert und erstaunt ist, dass ihr die ziellose Knallerei gefällt: ein kurzer Blick und ein langes Verstehen und hier ist kommentarlos die große Liebe im Spiel. So hat das zu sein, im Leben und bei Kitano ist das so! In Interviews hat Kitano oft genug bestätigt, dass er in seiner Kindheit sich seines alkoholkranken Vaters schämte und schließlich genauso sehr seiner arbeitsamen Mutter, da ihm immer bewusster wurde, dass es ihm unmöglich sein würde, sich aus der Schuld ihr gegenüber jemals zu befreien. Als Kind und Jugendlicher fand er den wiederum befreienden Schutz der lokalen „Yakuza“, und Kitano sorgt aktuell immer noch gerne für die nötigen Schlagzeilen, da seine Filmproduktion sich eben jener Strukturen mehr als verbunden fühlt, und dies auch gerne gewaltbereit nach aussen demonstriert.

Battles-without-Honour-and-Humanity
Und schließlich Fukasaku, der in seiner Arbeit schon deshalb ungemein interessant wird, als dass er von der westlichen Filmwelt innerhalb der 1980er Jahre eifrigst ignoriert wurde, völlig ungeachtet seiner eindeutig fulminanten Arbeit. Während er in Japan als Großmeister in Erinnerung bleibt, hatte die westliche schreibende Zunft bis dato immer noch ungeahnte Schwierigkeiten (man versuche nur einmal, halbwegs relevante englischsprachige Texte aus der Zeit aufzutreiben!). Wie viel Privat-Internes da mit hineinspielte, soll einmal ungeachtet bleiben, klar dürfte mittlerweile auf jeden Fall sein, dass Fukasaku mit seiner Kamerahandhabung innerhalb des Genres nun mal unübertroffen bleibt. Mit einer geradezu elitären Ausbildung zum Regisseur in der Tasche, ist vor allem seine vierteilige Reihe Jingi Naki Tatakai aus den Jahren 1973-1974 wohl die bekannteste, neben Jingi No Hakaba aus dem Jahr 1975.

Das ganze kann man als offensichtliche japanische Nachkriegsgeschichtsstunde ansehen, angesiedelt im Yakuza-Milieu von Hiroshima. Ein einzig bestürzender Reigen an Maskulinität samt der absoluten Versagungsangst innerhalb eines Krieges mit all seinem »Ersatz-Denken«, mit all den Ängsten und Behelfsmässigkeiten, die oberflächlich keine Lebenseinstellung mehr von einem abverlangen, sondern nur noch das reine Überleben herausfordern. Bis man dann doch immer noch zur Essenz stößt, dass gerade solche Zeiten die Gesellschaft um einen herum genauso prägen und ihren Einfluss auf die private Lebensführung nehmen, denn dies zeigt sich auch: dass selbst extreme Ausnahmesituationen nicht vor dem Bewerkstelligen und besonders der Stellungnahme gegenüber des ach so kleinen Alltags schützen, wohl die Sezierung des absoluten männlichen Alptraums, ja, die Definition von … Nichts; da es schließlich immer gilt, für sich tagtäglich eine neue Definition zu finden. Leben ist anstrengend. Oder auch ganz einfach: Bis dahin gilt es also hoffnungsvoll zu warten, bis man mir Terajima Tsusumu baren Oberkörpers in eng geschnürter Lederhose auf die Leinwand bringt, wie er linkshändig (!) einen silbernen Damenrevolver abfeuert … Aber die Zeit wird kommen!

Yamiutso Shinzo – Vom Herzschlag im Dunkel

Das junge Paar Ringo und Inako ist auf der Flucht vor Kredithaien und landet in der Wohnung von Ringos Freund Shimamoto. Der allerdings stellt eine Bedingung: sie dürfen nur eine Nacht bleiben. Ringo und Inako versuchen auf engstem Raum, etwas zur Ruhe zu kommen. Doch was sie in Wirklichkeit belastet, sind Verwirrung, Unsicherheit, Erschöpfung und vor allem Schuldgefühle über das, was sie zuvor getan haben. Yamiutso Shinzo von Nagasaki Shunichi legt unter Verwendung von wiederkehrenden Monologen direkt in die Kamera die Emotionen des Paars bloß.

Yamiutso Shinzo von Nagasaki Shunichi

Kurz zuvor wurden seelische Abgründe mit spärlichsten Mitteln auf die Leinwand gebracht. Die Super-8mm-Version von Yamiutso Shinzo aus dem Jahr 1982 folgt einer simplen Erzählstruktur und hinterlässt ein beängstigendes Gefühl: Ein junges Paar hat eine Schreckenstat verübt, und die Kamera folgt den beiden nun einen Tag lang auf ihrer Suche nach einer Bleibe für die Nacht. In einem schäbigen Apartment ohne Heizung werden sie auf dem kahlen Boden schlafen und ihre ersten Versuche starten, das Erlebte zu bewältigen. Das Leben als Paar erscheint als Institutionalisierung: Es gibt gemeinsame Alltäglichkeiten wie das Kochen oder weniger Alltägliches wie das Haartrocknen unter der Wärme einer brennenden Glühbirne. Gegenseitige Vorwürfe und gemeinsame Trauer wechseln einander ab, eskalieren in Gewaltausbrüchen und hilflosen Zärtlichkeiten. Am Ende verlassen sie die Wohnung, schließen die Tür und hinterlassen nichts als ein schwarzes Rauschen auf der Projektionsfläche.

Die Fassung aus dem Jahr 2005 ist da schon weitaus komplexer: Auf 35mm gedreht, werden drei auf die ursprüngliche Geschichte bezogene Handlungen miteinander verbunden. Da gibt es einmal die ehemaligen Protagonisten, 23 Jahre später wieder dargestellt von Takashi Naito und Shigeru Muroi, die einander zunächst für einen Abend treffen, um letztlich im Gespräch herauszufinden, dass beide mit ihrer gemeinsamen Vergangenheit noch nicht abgeschlossen haben. Es gibt ein junges Paar, dargestellt von Shoichi Honda und Noriko Eguchi, das sich in der gleichen Situation befindet: auf der gemeinsamen Flucht vor sich selbst und vor allem vor der gemeinsamen Tat. Auch hier wieder hilflose Gewaltausbrüche mit den gleichen Vorwürfen des Mannes an die Frau, als Gebärende auch die größere Schuld zu tragen. Und es gibt zunächst fernab schließlich das Casting des jungen Paares, erste Leseproben und die Arbeit des Regisseurs, der sich nicht nur mit den Profilneurosen der Darsteller auseinanderzusetzen hat, sondern auch mit den Finanzierungsproblemen seines Projekts. Was sich in den über zwanzig Jahren aber nicht geändert hat, ist Nagasakis Bewusstsein dafür, dass es sich bei einem Paar immer um zwei völlig eigenständige Geister und auch Körper handeln kann, die selbstverschuldet in- und aneinander geraten, und dass bei allem zusammen Erlebten eine wirkliche Gemeinsamkeit dennoch unmöglich scheint. Aber dies gilt es, zu akzeptieren.

Claudia Siefen: Wie hat sich Ihre Sicht auf die Geschichte nach 23 Jahren verändert?

Nagasaki Shunichi: Natürlich halte ich die Tat immer noch für schrecklich, das tut wahrscheinlich jeder. Was ich in beiden Filmen zu sagen versuche, ist, dass dennoch jeder in eine solche Situation kommen kann. Mord ist immer eine unfassbare Tat. Dass es sich hier um Kindsmord handelt, macht das Ganze psychologisch noch interessanter, aber auch anfälliger für „Betroffenheit“. Ich habe mich erst gar nicht weiter mit der Psyche von Kindsmördern auseinandergesetzt: Das würde ihnen nur einen Sonderstatus zubilligen. Ich wollte dieses Paar als zwei ganz normale Menschen zeigen und nicht als etwas Besonderes.

CS: Wenn ein junges Paar gemeinsam sein Baby umbringt – in Ihrem Film erzählen beide von Schlägen ins Gesicht und davon, wie sie es auf den Boden geworfen haben –, dann handelt es sich um zwei ganz normale Menschen?

NS: Ich wollte auf jeden Fall eine moralische Verurteilung verhindern, zumindest meinerseits. Dass beide diesen Mord begangen haben, ist ein schreckliches Erlebnis, mit dem sie für den Rest ihres Lebens umzugehen haben. Aber ich wollte zeigen, dass dieser Mord nicht ihrem Charakter entspringt. Es geht, wie bei allem im Leben, um den jeweiligen Moment, der bestimmend ist dafür, was wir tun und was nicht. Und dass eine solche Selbstbestimmung nicht immer ein Muster für unser weiteres Leben ist. Vielleicht mache ich in zwanzig Jahren ja noch eine dritte Version.

CS: In beiden Versionen ist es die Frau, die von Erscheinungen des toten Kindes verfolgt wird, psychisch das Ganze nicht verarbeiten kann, und es ist in beiden Filmen der Mann, der seine Hilflosigkeit mit Gewalt und Verdrängung kompensiert.

NS: Ich glaube, Frauen sind psychisch stärker als Männer. Das äußert sich auch in der Fähigkeit, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und schließlich darin, Leid zu ertragen. Frauen haben da eine ganz andere Umgangsweise, die ich selbst immer noch nicht verstehe. Meist sieht es danach aus, als seien Frauen hilflos der männlichen Gewalt ausgeliefert, aber sie gehen einfach anders mit ihr um, was einen gewissen Typ von Mann zur Gewalt erst provoziert. Ich weiß es auch nicht genau. Auf jeden Fall sind sie stärker, kämpferischer, und es fehlt seitens der Männer einfach an Verständnis für diese Kraft. Aber ich schildere hier nicht „Männer und Frauen“, sondern ganz bestimmte Charaktere, die nun wirklich kein Bild der Gesellschaft abgeben sollen. Das ist auch nicht meine Aufgabe. Im Gegenteil: So etwas wäre ziemlich sinnlos.

CS: Warum gibt es in der Fassung von 2005 diese zusätzlichen Szenen vom Filmset? Vergrößert das nicht die Distanz zur Geschichte?

NS: Zunächst soll das Ganze keine biografischen Bezüge vermitteln. Dass der Zuschauer sich darüber im Klaren ist, ist mir ganz wichtig. Es sollte eher einen größeren Bezug der Darsteller zur Geschichte herstellen. Das Ganze ist immerhin 23 Jahre her, und ich wollte zeigen, wie sehr sich beide immer noch damit beschäftigen. Diese Figuren sind in ihnen mitgewachsen, und heute sehen sie das junge Paar, das in der gleichen Situation steckt. Darum geht es: Alles ist immer ein Miteinander, und die Problematik des Miteinander wollte ich zeigen. Der Altersunterschied war an einem besseren Verständnis der Geschichte auch nicht unbeteiligt: Damals waren die Darsteller und ich im gleichen Alter, und nun musste ich mit diesen beiden jungen Leuten arbeiten. Sie haben die Fassung von 1982 vor dem Dreh zwar gesehen, aber an einem gegenseitigen Verständnis, was uns persönlich angeht, war ich überhaupt nicht interessiert. Ich glaube auch, dass es die Arbeit erleichtert, wenn etwas natürliche Distanz vorhanden ist. Ich muss sagen, dass ich die beiden erst verstanden habe, als wir die nächtliche Tanzszene gedreht haben, in der das junge Paar aus dem Wagen steigt und am Strand herumtanzt. Da hat es bei mir „klick“ gemacht. Und das hat mir auch gereicht. Menschlichkeit muss man erlernen, und vielleicht trägt das Kino etwas dazu bei, sich für seine Mitmenschen zu interessieren. Aber man sollte das vielleicht auch nicht nicht überschätzen.

 

Ein ewiger Schatz: Die toten Fische von Michael Synek

Die gleichnamige Verfilmung einer Kurzgeschichte des Franzosen Boris Vian (1920-1959), Musiker, Poet und Schriftsteller, Philosoph. Energetischer Freibeuter, literarischer Kraftbolzen, der in seiner kurzen Schaffensperiode den Menschen verzweifelt und liebevoll mit der Axt zu befreien suchte, inmitten der ihn umgebenden Natur und deren Symbolismus. Und keine Literaturverfilmung: Die toten Fische von Michael Synek.

Synek hat die Geschichte um die selbstverschuldete und vor allem selbstgeduldete Abhängigkeit von Obrigkeiten auf ihr personales Gerüst reduziert: wir sehen die Hauptfigur, den Assistenten, der im dampfenden Sumpf die vom Chef gewünschten Briefmarken herausangelt. Wir sehen hier das Pfeffermädchen und dieses menschliche Etwas wird von einem kleinen Kind gegeben, das sprichwörtlich Wunden leckt und dann mit den Fingern bedeckt.

Die toten Fische

Die tägliche Qual des Angelns im Sumpf wird durch den beschwerlichen Weg fortgesetzt, den der Assistent zurücklegen muss, um die begehrten kleinen Märkchen seinem Chef zu übergeben um sein tägliches Gehalt ausgehändigt zu bekommen. Vom Sinn dieser Tätigkeit und von der dröhnenden U-Bahnfahrt, die der Chef mit gefälschten Fahrkarten ermöglicht, bis zum Fußmarsch durch die Kanalisation, gesäumt von ängstlichen weißen Ratten. Von unendlichen, steilen und scharfkantigen Treppenaufgängen und dem heißglühenden Klingelknopf, den der Assistent betätigen muss, um Einlass in das Büro des Chefs zu erlangen. Eine einzige überhitzte Schmerzensreise. Die von Jiri Stibr in kontrastreichem Schwarzweiß fotografierte Reise wird nie ihr Ende finden, da sie angeblich nur minderwertige Briefmarken zutage fördert. Diese Tatsache drückt selbstverständlich auch den Preis und so kehrt der hungrige Assistent in die Kanalisation zurück, da der Chef ihm aufgrund dieses konstruierten Sachverhaltes das Recht abspricht, in einer sauberen Kammer des prachtvollen Büros zu übernachten. Blut und Tränen, Magerkeit und der stinkende Dampf, der aus dem Fluss aufsteigt, der Schauspieler Erwin Leder gibt mit jedem seiner staksigen Schritte den dröhnenden Schmerz in seinen Knochen an den Zuschauer weiter. Auf seiner Wange prangt nicht nur der glühende und erniedrigende Fingerabdruck seines Chefs, sondern auch eine der angeblich fehlerhaften Briefmarken. In diese Erschöpfung fällt völlig unspektakulär der Beschluss, dass morgen alles anders werde! Das wird es auch, aber dieser entrüstet-weinerliche Satz des Assistenten birgt schon keine Hoffnung mehr sondern nur noch ein allerletztes Aufbegehren. Ein Sammeln der letzten körperlichen und geistigen Kräfte. Hier kann keine Erlösung mehr nahen, sondern nur noch das absolute Ende, das so ruhig und klar daherkommt, dass es einen dann doch ganz leise glücklich macht.