Annäherungen an die vergehende, kommende Welt: Die Reise nach Lyon von Claudia von Alemann

Ich will die vergehende Welt retten. Die Aufgabe ist undurchführbar.
(Flora Tristan)

In vielen Texten zu Claudia von Alemanns Spielfilmdebüt Die Reise nach Lyon liest man davon, dass die mit dem Zug nach Lyon gereiste Protagonistin, die Historikerin, die keine mehr sein möchte, die mehr sein möchte, womöglich anders leben muss, Elisabeth, ihren Mann und ihr Kind zurückgelassen hat, um sich auf die Spuren der Frühsozialistin Flora Tristan zu begeben, die dort 1844, kurz vor ihrem Tod, wirkte. Das ist an sich nicht falsch. Im Film aber taucht ihre Familie nur so auf, wie alles andere auch, sie ist nicht mehr und nicht weniger vergangen und gegenwärtig als jedes Ereignis, jede Gegebenheit, die ist und war. Dass sie dennoch oft erwähnt wird in den Texten, sagt mehr über die aus, die darüber schreiben, als über Elisabeth.

(Das Begehren, alles zugleich wahrzunehmen: Die Unendlichkeit der Geschichte, die Flüchtigkeit des Gegenwärtigen, die Endlichkeit der Zukunft. Die Liebe, die Arbeit, die Obsession, das Ich und wie sich alles auflöst.)

Elisabeth (und mit ihr die Kamera Hille Sagels, klar und unwirklich zugleich) betrachtet die Stadt wie durch Schichten, die sich nicht mehr entfalten, entzerren lassen. Man denkt an die tausenden historischen Stätten, die man in einem Leben besucht, die Erinnerungstafeln an Wänden, die Symbole des Gewesenen, die gepflegt werden, während das, was sie wirklich erzählen, vergessen wird. Passives Wissen, nennt Elisabeth das, was sie nicht sucht. Sie spaziert durch die Stadt, liest, spricht mit Menschen. Wie kann Wissen aktiv werden? Elisabeth selbst ist eine Suchende. Begleitet von langsamen Schwenks betritt sie die Stadt auf ihren Füßen tastend, berichtet davon, dass sie eigentlich abreisen wollte, sobald sie ankam.

(Der Film lädt dazu ein, jeden Satz über ihn mehrfach zu formulieren, verschiedene Sprachformen anzubieten. Kein Bild ist einfach das, was es zeigt, gerade weil jedes Bild genau das ist, was es zeigt.)

Gleichzeitig mit Elisabeth läuft Geschichte auf verschiedenen Wegen. Es gibt die Geschichte, die Elisabeth sucht und es gibt die Geschichte, die trotz der Suche nach Tristan und deren Spuren weiterläuft. Letzterer begegnet von Alemann in den aus den Fenster schauenden, eingefallen-trotzigen Gesichtern der Lebenden, der noch Lebenden, der auch gestern bereits im Leben Stehenden, ihren Erzählungen und dem Gemäuer der Stadt. Die nationalsozialistische, von der französischen Milice unterstützte Judenverfolgung in Lyon etwa, sie zeigt, wie alles in diesem Film, dass es um Zusammenhänge, um Brücken geht. Auch diese Geschichte ist da. Sie ist nicht nicht da, nur weil man nicht nach ihr sucht. Vielleicht geht Elisabeth auch deshalb gleich zu Beginn über die Masaryk-Fußgängerbrücke, ein Bauwerk, dass ein Jahrzehnt bevor Flora Tristan die Stadt betrat, entstand. Eine Brücke, die auch Tristan betreten hat oder zumindest gesehen haben könnte. Vielleicht erzählt ihr eine flüchtige Bekanntschaft deshalb von der Ermüdung der Brücken, ihrem Einsturz, dem, was die Zeit anrichtet.

(Tritte auf Asphalt sind lauter als der eigene Atem, die Gegenwart lässt sich nie verdrängen;
aber, so Elisabeth, die Schritte können auch das Echo des Vorbeigehens von Vergangenem sein.)

Etwas sehen und darin mehr sehen. Das ist eine Definition des Kinos und eine Beschreibung der treibenden Bewegungen Elisabeths, die versucht eine Verbindung zu Tristan und mit ihr einem vergangenen, sich fortsetzenden, sich weiter durch die Straßen erzählenden, feministischen, klarsichtigen Arbeiterinnenkampf zu knüpfen. Dabei geht es von Alemann nicht unbedingt oder zumindest nicht ausschließlich um die Bewahrung, die Errettung der historischen Wirklichkeiten bezüglich der Arbeit Tristans allein, es geht ihr und ihrer Protagonistin auch darum, nach Formen zu suchen, wie diese Errettung aussehen könnte, aussehen müsste. Ihr Interesse gilt dabei gleichermaßen dem was ist (was sich vor der Kamera zeigt) und dem was war. Ein wenig wähnt man sich, wie sonst vielleicht nur bei Marguerite Duras oder in Annik Leroys In der Dämmerstunde – Berlin, in einer Zwischenwelt, in der die Kamera gelernt hat, die Vergangenheitsform zu nutzen.

(Ohnehin ein Problem möglicherweise, die Echos der alleinumhergehenden Frauen in der Filmgeschichte, wie sich lösen aus dieser wahrhaftigen und doch generisch gewordenen Einsamkeit?)

Eigentlich findet sich der komplette Film just auf dem zur Collage formierten Zeitungspapier mit den Todesmeldungen eines Tages, das eine Frau im heimelig düsteren Bistro, in dem Elisabeth liest und isst, zusammenstellt. Geschichte als endloses faits divers, alles nur eine Meldung, jede Meldung ein kleiner Roman wie in den Blitztexten Félix Féneons. Wie dem gerecht werden, wie ein Bild machen, wenn es tausende andere gibt, die auch gemacht werden könnten? Wer entscheidet, was eine Meldung wert ist? Wie wichtig wird ein Tod genommen und ein anderer? „Ich erfahre von mehreren Toten gleichzeitig“, sagt die Frau, die eine Unbekannte, Unerkannte bleibt, so wie alles, was sich hier unentwegt entzieht, sobald es aufscheint.

Warum, fragt der Film, muss alles, was wir sagen und tun, verstanden werden? Gibt es nicht womöglich eine andere Seinsform, andere Weisen der Erinnerung, in denen sich das Verlorene, das sich Verlierende, das Unausgesprochene zum Eigentlichen erhebt? In dem das Dazwischenliegende, sich gerade im Unsteten, im Unerfüllten (was wäre denn das Erfüllte?) zu erkennen gibt und neue Potenziale öffnet? Diese Potenziale, die freiwerden, wenn Voice-Over nur mehr undeutlich gehaucht oder wenn Räume gefilmt werden bevor sie betreten, nachdem sie verlassen werden. Potenziale, die erspürt, aber nicht erkannt werden. Potenziale des Kinos, die Geschichte und Gegenwart nicht auf Wissen basierend festhalten, sondern auf sinnhaften, sinnlichen, uneindeutigen, sich Worten entziehenden Wegen.

(Wie sonst einen bewegten Körper kennen, der sich in die Geschichte einschreibt?)

Es geht um das, was sich als Abdruck einer Wirklichkeit festhält an der Welt, das was sich nicht leugnen lässt durch schlaue Worte und sich über Jahrhunderte verzähflüssigte Systeme. Es geht darum, näher zu kommen, an das, was war; ein Archiv zum Leben zu erwecken sozusagen. Es geht aber auch darum, die altbekannten Formen hinter sich zu lassen, ein schmerzvoller, schwieriger, von äußeren und inneren Hindernissen gesäumter Pfad.

Wie kann das, was bereits gelebt und gedacht wurde, Teil meines Lebens werden? Sodass man darauf aufbauen kann, statt immer wieder von Neuem zu beginnen? Sodass nicht jede Generation ihre Kämpfe von einem Nullpunkt austragen muss? Solche Fragen mögen in jener Gesellschaft, aus der dieser Text entsteht, einer Gesellschaft, die sich mehr und mehr fragen muss, wie sie den nächsten Tag überlebt, überholt wirken. Sie sind es aber nicht. Die Dringlichkeit jeder Zeit droht zu vergessen, dass es nichts bringt, wenn man sich auf die lautesten, etabliertesten, weitreichendsten Kanäle stürzt, um die Umwälzungen zu verkünden. Nein, denn die Kanäle sind bereits besetzt. Das gilt auch für die Methoden der Geschichtsforschung, Geschichtsschreibung. Wer auch immer die gleichen Kanäle und Methoden nutzt, wird keinen Umschwung bewirken können, wird immer nur die gleichen Erkenntnisse gewinnen.
(man weiß das von Gil Scott-Heron unter anderem)
Wer nur nach Vorne schaut, wird von hinten überholt werden.
Das gilt auch fürs Kino, das ohnehin nur im Scheitern aufzublühen weiß. Es scheitert daran, alles zu sehen, sieht immer nur einen gefilterten Teil des ungreifbaren Ganzen. Die Reise nach Lyon ist auch ein Film über die Unmöglichkeit der Erinnerung. Anderswo nennt man sie das Vergessen. Es ist ein Film, der sich gemeinsam mit seiner Protagonistin gegen das Vergessen sträubt.

Und dann gibt es da diese dem Kino eigene, sanfte Wohnlichkeit im Fremden, Entfremdeten (eine Verlorenheit mit der man sich identifizieren kann und will zwischen leeren Straßen und schönen Buchhandlungen, kurzem Begehrensflackern und dem matten Licht eines ständigen Fliehens), durch sie behält sich die Kunst einen ästhetischen Rest (wie als unumstößlichen Triumph über die Unterdrückung!), in dem niemand so schön ist wie die Einsamsten, nichts so einladend wirkt wie die Verlorenheit in einer fremden Stadt. Aber von Alemann entdeckt darin womöglich das, was Elisabeth sucht: eine andere Art der Vergegenwärtigung, der Re-Präsentation, des Seins zwischen Jetzt und Damals. Seit jeher hat das Kino Geister beschworen, selten so unbedingt wie hier. Die Reise nach Lyon ist ein Film, in dem der Geist von Beginn an da ist, die Protagonistin erlernt mit ihm zu sprechen, seine Spuren zu lesen, seinen Schritten zu folgen.

(Als würde man das Fenster öffnen und das aus allen Zeitschichten verwobene Dickicht der Welt strömte herein zwischen die zu Tode getrampelten Gedanken und die versickerten Gefühle und für eine Sekunde würde alles licht und leicht, nur um sogleich wieder in den flirrenden Schatten zurückzutreten, der immer fällt, weil die Zeit sich stapelt und stapelt bis sie irgendwann zusammenbricht.)