Underdox Tag 4: La academia de las musas von José Luis Guerin

„Was konnte ich aus Deinen ersten, flüchtig hingeworfenen Zeilen schließen, Ingeborg? Vielleicht liegt die Schuld an uns beiden. Nur sage ich mir manchmal, dass mein Schweigen vielleicht verständlicher ist als das Deine, weil das Dunkel, das es mir auferlegt, älter ist.“ (Paul Celan an Ingeborg Bachmann)

José Luis Guerin versinkt nicht mehr in Erinnerungen. Streng genommen muss man sagen, dass er sein kinematographisches Verständnis für den kurzen und ewigen Weg zwischen einem Blick und einer Erinnerung, seiner Wahrnehmung von Zeitlichkeit verloren hat in seinem La academia de las musas. Wenn man sich davon erholen kann, sieht man die Studie einer Idee, einer Idee, die infiziert und täuscht als wäre sie das Kino selbst. Statt mit der Zeit und der Welt zu arbeiten, wagt Guerin nun ein Experiment. Es ist ein doppeltes Experiment, denn es ist zum einen ein gefilmtes Experiment und zum anderen, auch wenn sich das nicht sofort erschließt, ein filmisches Experiment. Ersteres liegt auf der Hand: Guerin filmt in diesem No-Budget Film einen Professor, der in seinem Seminar das Konzept der Musen wiederbeleben will. Er filmt die Diskussionen zwischen Professor und seinen Studenten (nicht nur, aber im größten Interesse der Kamera: Frauen) beinahe im Stil eines Frederick Wiseman, direkt, faszinierend. Doch schon in diese Bilder mischt sich eben die harrende Kamera, die wie schon in Dans la ville de Sylvia das weibliche Gesicht studiert und sich die studentischen Musen zu Eigen macht, inspiriert wird. In eine Fiktion getrieben wird.

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Die Theorie des Professors: Die Muse ist eine Feministin. Sie dient nicht der Inspiration des Künstlers, sondern sie ermöglicht die Kunst. Eine Analogie zu Jacques Derridas Interpretation der Liebesgeschichte zwischen Narziss und Echo liegt unter diesen Überlegungen, die den Professor und natürlich auch den Liebhaber Guerin (zurück) zu Dante bringen. Es wird unheimlich viel gesprochen in diesem Film, eigentlich andauernd. Von diesen Worten und Argumenten, theoretischen Ansätzen und Meinungen gleitet der Film sachte in ein Interesse, an denen, die diese Worte äußern. Es ist auch der Sprung von der Dokumentation in die darin angelegte Fiktion, den sowohl der Professor vollziehen will (schließlich ist die Akademie keine rein theoretische Sache, sondern, so der Professor, es gäbe ein natürliches Liebesverhältnis zwischen Lehrer und Schüler) als auch Guerin. Plötzlich befinden wir uns im Auto des Professors, ein sehr intimer Ort. Dort führt er Einzelgespräche mit vor allem zwei Studentinnen zu denen er auch Beziehungen hat. In die Gespräche mischt sich immer mehr Persönliches. Das ganze wieder gebrochen und zugleich befruchtet von einer wiederkehrenden Einstellung, die den Professor durch ein Fenster in einer Wohnung zusammen mit seiner Frau zeigt, die offensichtlich Einwände gegen die Akademie und die Ansichten ihres Mannes hat.

Dabei filmt Guerin beständig durch reflektierendes Glas. Zum einen zeigt er so die Fiktionalität an, zum anderen macht er auf sich selbst aufmerksam, denn es ist sein Blick, der diese Idee begleitet, der ihr verfällt. Fast ist es so als wären die Studentinnen die Musen für die Kamera. Sie kommen zuerst. Oder doch nicht? Später gibt es noch einen an modernes italienisches Kino erinnernden Ausflug zu Hirten, bei dem eine der Studentinnen ein Musenverhältnis mit einem philosophischen Hirten beginnen möchte. Unter all dem schlummert präzise wahrgenommen und bisweilen mit bitterem Humor eine säuselnde Heuchelei. Diese betrifft natürlich zuerst den Professor, der in Worten immer eine Rechtfertigung findet. Außerdem betrifft es die Kamera, die vorgibt nur Zeuge zu sein, aber mehr will. Aber letztlich betrifft es auch die Frauen, die zum einen selbst auf die Idee der Akademie gekommen sind und zum anderen die Rolle der Muse nicht mal annähernd annehmen können in diesem Jahrhundert. Stattdessen zerbrechen sie in einem Gefängnis der Selbstaufgabe, werden zu den emotional abhängigen Opfern, die sie laut Derrida und dem Professor hier nicht sind. Sie werden auch zum Opfer der Kamera, hinter Glas, obwohl Guerin ihnen die Freiheit ihrer Existenz lässt, kadriert er sie doch. Er muss das tun, weil die Gefangenschaft in einer Idee im Kino in einem Bild sein muss. Ein schmerzvolles, komisches Bild.

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Möglich wird dieses Bild wie alles im Film durch Worte. Es ist eine unheimlich relevante Auseinandersetzung zwischen Worten und wie man sie leben kann. Über die Macht von Worten. Im Zeitalter von Online-Beziehungen wird die Muse plötzlich eine Figur aus dem Jahr 2016. An mehreren Stellen im Film wird gesagt, dass die Poeten die Liebe erfunden haben. Man fragt, ob sie es erfunden haben oder ob es aus ihren Sehnsüchten und Bedürfnissen als lebende Menschen geboren wurde. Eine der Studentinnen mit denen der Professor eine Beziehung hat, hat eine andere Beziehung zu einem Mann, den sie nur über einen Chat kennt. Sie denkt darüber nach, ob das genügt, ob das nicht alles ist, was sie braucht, die Worte. Sie berichtet auch von der Enttäuschung des Sehens. Diese Macht und Heuchelei der Worte, die Liebe erfinden, Liebe leben lassen, gibt es dieses Jahr im Kino besonders eindrücklich in Ruth Beckermanns famosen Die Geträumten. Ein Film mit den Worten der Liebe von Poeten. Ingeborg Bachmann und Paul Celan, in diesem Fall beide Musen, beide Dichter. Beide Filme untersuchen die Gesichter jener, die mit diesen Worten arbeiten und damit auch die Distanz zwischen diesen Worten und unserer Zeit, zwischen den Worten und ihrer Wirkung, zwischen den Worten und dem, was das Kino als Realität behandelt. Wo bei Beckermann ein ambivalentes Scheinen dieser Fiktionalität von Liebe zu erkennen ist, wirft Guerin uns in ein ähnliches Meer, das jedoch deutlich mehr Enttäuschung in sich trägt, weil es sich im Vergleich zu Beckermann um eine Fiktion handelt. Und nur eine Fiktion kann letztlich von Fiktionalität enttäuscht werden. Und so öffnet sich eine Lücke zwischen den Worten und den Gesichtern, den traurigen, leidenden Gesichtern hinter Glas. La academia de las musas mündet keineswegs in eine derart einseitige Differenz, aber er trägt sie in sich. Das filmische Experiment besteht also zum einen aus dieser Überbrückung zwischen Wort und Bild (beides Lügen, beides Wahrheit) und zum anderen aus der Identifikation der filmischen Methode mit jener des Professors. Ein Film an der Schmerzgrenze zwischen absurder Heuchelei und kleinen Funken von Wahrheit.

Les rêveurs du Pont Neuf: Quatre nuits d’un rêveur von Robert Bresson

Es gibt Farben in Quatre nuits d’un rêveur von Robert Bresson, solche die berühren, solche die verletzen, solche die verzerren.

Das Schaffen von Bresson wird gern getrennt zwischen dem Schwarz/Weißen und dem Farbigen. Warum wird klar, wenn man sieht, wie sehr er wirklich mit Farben arbeitet. Neben Antonioni und Godard gehört Bresson zu den wenigen Filmemachern, bei denen der Wechsel zur Farbe immer eine Entscheidung ist. Heute hat sich das irgendwie natürlich gedreht und es gibt wenn dann Filmemacher, bei denen schwarz/weiß eine Entscheidung ist. Wohl sei aber bemerkt, dass Godard über Bressons Au hasard Balthazar sagte: Ein Film in den Farben schwarz und weiß.

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Sie klingen ähnlich wie die ersten Töne von Chaplin, diese Farben bei Bresson. Vor allem Rot ist es in Quatre nuits d’un rêveur, man sieht es ständig. Es ist ein Film über die Liebe, warum also nicht diese Farbe, möchte man fragen. Wie unter anderem Luchino Viscontis Le notti bianchi basiert der Film auf Dostojewskis Novelle Weiße Nächte. Weiß, weil es in der Zeit um die Sonnwende nicht richtig dunkel wird in St. Petersburg. Bei Visconti hat dieses Weiß eine Übersetzung in künstlichen Schneefall bekommen. Ein Film im Studio, der ähnlich mit der Frage der Fiktionalität einer Romantik umgeht wie zuletzt Die Geträumten von Ruth Beckermann. Statt der Illusion der Worte ist es bei Visconti jene der ganzen Welt, der Umgebung, der Zeitlichkeit, des Wartens zusammen, des Tanzes, des Schneefalls. Auch wenn man das Gefühl hat, dass die Figur von Mastroianni den ganzen Film über weiß, dass das eigentlich nichts werden kann, vielleicht. Die Geschichte ist letztlich trotz vieler Anpassungen die gleiche bei allen drei Künstlern. Ein Mann trifft eine Frau, die auf ihre Liebe wartet und daran verzweifelt. Der Mann verliebt sich in die Frau und gerade als sie beginnt darauf einzugehen, kommt der andere Mann doch und die Frau verschwindet mit ihm.

Bei Bresson ist Weiß etwas anderes. Es ist das Papier bevor es bemalt wird, der Urzustand, die Unschuld. Liebe macht Schuld, befleckt, aber auch: Kreiert ein Gemälde. Farbtupfer, abstrakte Farben, die in der Unschärfe in der Tiefe des Bildes von den Reflektionen einer möglichen Nacht erzählen. Farben, die diese Nacht verändern, täuschen, erheben, beleuchten. Der Film findet genau an dieser Schwelle statt. Zwischen dem Weiß und der Farbe, der Leere und der Fülle, der Unschuld und der Schuld. Die große Liebe hinter einer weißen Wand in der vielleicht offensten erotischen Szene eines Filmemachers, bei dem die Erotik normal zwischen den Bildern stattfindet. In einem Schnitt, in der Imagination. Hier jedoch ein nackter Körper. Er streift an der Wand entlang. Auf der anderen Seite der Wand ein Klopfen, eine Verführung, die Wand bleibt weiß. St. Petersburg ist Paris bei Bresson. Ein Paris bevölkert von einer Jugend, auf die Bresson in seinem Spätwerk so sehr den Fokus legte. Man folgt einem Träumer, dessen Blick auf die Stadt mit den unscharfen Farbtupfern harmoniert, es ist seine Wahrnehmung. Leicht abstrakt, sinnlich, verführend, leer. In Die Sanfte von Dostojewski, ebenfalls brillant verfilmt von Bresson in Une femme douce, beschreibt der Schriftsteller letztlich auch diese Figur, den fatalistischen Träumer Jacques aus Quatre nuits d’un rêveur: „Das ganze Problem ist, dass ich ein Träumer bin. Ich war schon damit zufrieden, dass ich genug Material für meine Träume gesammelt hatte. Was sie betraf, so dachte ich, dass sie warten könne.“ So flaniert die Figur in ihre Liebe, alle scheinen immer in die Liebe zu flanieren bei Bresson. Lieben wie das Warten auf einen Brief, der vielleicht nie ankommt, bei dem aber das Warten schon die Liebe ist.

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Aber was ist das hier für eine Liebe zwischen den Farben am Pont Neuf, den Leos Carax Jahre später nicht nur nachbauen hat lassen, sondern ein einen Exzess der Farben zwischen Ufer und Wasser verwandelte, wobei er dabei durchaus die gleichen Fragen stellte wie Bresson: Wenn es eine Illusion ist, lässt du dich dann trotzdem fallen? Statt des Sturms bei Carax gibt es bei Bresson das Flüstern auf der Brücke. Carax zeigt das Fallen, Bresson nicht. Er erzählt von einer Romantik, die nicht aufgeht. Durchaus mit Humor für das Fatale. Ein Streben nach Idealen, nach Illusionen, nach Blicken. Jacques verfolgt Frauen mit Blicken wie der Mann in Dans la ville de Sylvia von José Luis Guerín. Lange Blicke, dann senkt sich die Kamera wie so oft bei Bresson auf die Schritte, dann wieder ein Blick. Blicke und Schritte. Schon öfter beschlich mich das Gefühl, vor allem bei L‘argent, dass Bresson-Filme eigentlich Verfolgungsjagden sind, zumindest sollte man sie so betrachten. Alle folgen sich, die Kamera folgt ihnen, man folgt und blickt. Jacques geht nicht auf die Frauen zu, obwohl sie seine Blicke erwidern. Er ist einer dieser magnetischen Modelle von Bresson, nicht zuletzt wegen seiner, typisch für Bresson, beinahe zusammengewachsenen Augenbrauen. Seine Augen saugen Farben auf.

Sie dagegen heißt Marthe. Sie ist suizidaler als Maria Schell bei Visconti. Sie hängt an einem Moment der unschuldigen Schuld für die Ewigkeit. Nackt im Zimmer mit dem Untermieter, ihre Mutter schreit ihren Namen, sie bewegt sich nicht, die Tür ist abgeschlossen. Ein Versprechen, eine Schuld, ein Gefängnis und ja, ein Verschwinden. In ihr und ihrem Zimmer finden sich die weißen Spuren einer Unschuld, die Bresson faszinieren. Bresson reflektiert das durchaus im Film. Ein älterer Filmemacher und seine Faszination mit der Jungfräulichkeit, man denkt dabei an Manoel de Oliveira. Früher wird Marthe mit ihrer Mutter zu einer Kinopremiere eingeladen. Sie sehen etwas, dass auffällige Ähnlichkeit zu Tarantinos Reservoir Dogs hat. Voller künstlicher Farben, vor allem Rot. Marthe sagt ihrer Mutter, dass sie in eine Falle geraten seien und die beiden verlassen das Kino.

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In den vier Nächten, an denen Marthe und Jacques sich auf der Brücke treffen, tauchen sie in ein Lichtermeer. Vor allem die bateaux mouches, denen sie sich kaum entziehen können, erzeugen diffuse, fast blendende Lichter und Farben, begleitet von Musikern auf dem Boot, eine Nacht für Träumer und Geträumte. In diesen Bildern findet sich die Hysterie von Dostojewski kondensiert. Eine Hysterie, die Bresson sonst in das Reich der Suggestion schiebt und darüber auf eine Unsicherheit verweist, eine Unsicherheit gegenüber der Ernsthaftigkeit der Gefühle. Sie sind forciert wie der Blick auf den Mond am Ende, als Jacques Marthes Kopf packt und ihn gegen den Mond richtet, weil sie nicht mit ihm in diesem Moment ist oder weil sie nicht dem Bild entspricht, das er zeichnen kann. Sie sind diffus und unklar wie die Farben des Films, die meist in der Unschärfe tanzen und wenn sie kräftig aufleuchten, wie beim Schal den Jacques Marthe umbindet, dann sind sie vergänglich. Eine Hysterie, die sich nicht zeigt und die man genau deshalb spürt.

Die Erzählstimme verlagert Bresson mit wenigen Ausnahmen trotz seines großen Gespürs für Voice Over aus der ersten Person (man denke an Journal d‘un curé de campagne oder Pickpocket) fast im Stile Chris Markers auf einen Tape Recorder. Was Jacques darin sagt, erinnert mehr an Duras als Dostojewski. Hier ist ein Fieber, eine Hingabe, Liebe, aber es ist zeitlich verschoben, sie wird entfremdet wiedergegeben. Jacques hört es sich an. Mal liegt er dabei auf dem Bett und träumt, mal hört er es während er malt, womöglich als Inspiration und einmal spielt er es heimlich in einem Bus ab und irritiert damit zwei ältere Fahrgäste. Es gibt eine merkwürdige Distanz zu dieser Hysterie, ein Spiel, eine Arroganz, eine Hilflosigkeit.

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Es gibt diese Tendenz, den Film zu verteidigen, in dem man sagt, dass er weitaus subtiler und vielschichtiger mit Romantik umgeht (oft fällt hier das Wort Humor), als man zunächst glaubt. Quatre nuits d’un rêveur setzt diesen Humor aber nicht auf. Er ist einfach Teil der Hilflosigkeit und der romantischen Hingabe. Es ist so, dass diese Welt samt ihrer Farben und Nicht-Farben der Erfahrungswelt der Figuren entspricht. Wie so oft bei Bresson ist es nicht nur ein Film auf der Suche, sondern auch ein Film über eine Suche. Sie mündet hier in eine Enttäuschung, die es vielleicht genauso wenig gab wie die Hoffnung. Am Ende gibt es immer noch ein Weiß. Aber nur bei Jacques. Es ist gleichermaßen seine Leere als auch seine Unschuld. Marthe dagegen verschwindet in den farbigen Lichtern der Großstadt mit einem roten Schal.