American Monsters: Foxcatcher von Bennett Miller

Foxcatcher Bennett Miller

Fast zärtlich, mit kraftvoller Gewalt und einer spürbaren Aggression umringen sich die beiden Schultz-Brüder in einer frühen Szene von Bennett Millers Foxcatcher. Die Ästhetik des Ringsports wird insbesondere in den angenehm ruhigen Anfangssequenzen dieses menschlichen Dramas mit Monstern erforscht. Was sind das für Menschen, die sich da bekriegen? Was sind das für Körper? Später gibt es gar eine Szene, in der eine Trainingssession begleitet von klassischer Musik nun wirklich einem Tanz gleicht. Der Schweiß, die Männlichkeit, die Wut, die Verletzlichkeit, die Würde. In seinem dritten fiktionalen Spielfilm gelingt es Bennett Miller wieder, eine beachtliche Spannung zwischen der Physis und Psyche seiner Darsteller zu erzeugen. Wie schon beim unfassbaren Philip Seymour Hoffman in Capote und bei Brad Pitt in Moneyball zeigen sich die Emotionen und Lebensbedingungen der Figuren über ihren kompletten Gestus und ihrer Körperlichkeit. Und je länger Foxcatcher dauert, desto mehr spüren wir diese innere Kraft. Insbesondere der beobachtende Gestus, den Miller auf die Ringszenen legt, entfesselt ein filmisches Potenzial. Jedoch wird hier zu keiner Zeit versteckt, was erzählt werden soll. Manchmal nehmen die narrativen Zwänge der körperlichen Energie den Wind aus den Segeln, manchmal verstärken sie diese gar noch. Hochemotionale, musikalische Akzentuierungen versuchen immer wieder einen Fluss in die Bewegungen und Zwischenmenschlichkeiten zu bringen, der doch sonst auch von ganz alleine aus der Quelle der Körper entstehen würde.

Foxcatcher Carell

Miller erzählt die Geschichte einer Dreiecksbeziehung zwischen den beiden großen amerikanischen Ringern und Olympiasiegern, den Brüdern Mark und Dave Schultz, und dem exzentrischen Multimillionär John du Pont. Basierend auf wahren Begebenheiten will dieser ein Team aufbauen, das den amerikanischen Ringsport bei den Olympischen Spielen in Seoul 1988 zu Gold führen soll. Miller bewegt sich auf bekanntem Terrain. Nicht nur die Tatsache, dass er sich wieder im Umfeld beziehungsweise Hintergrund eines Sports bewegt und einen als Comedian bekannten Darsteller in einer ernsten Rolle (Steve Carell als Du Pont) besetzt, sondern auch die Bedeutung seiner auf tatsächlichen Ereignissen beruhenden Beobachtungen für die amerikanische Nation am Ende ihrer eigenen Ideale einen die bisherigen drei Langspielfilme des Regisseurs. Dabei erforscht er wieder das langsame Umkippen festgefahrener Vorstellungen von Männlichkeit, Patriotismus und Glück. Der krankhafte und fehlgeleitete Ehrgeiz seiner Figuren ist ein Sinnbild und zugleich vermag Miller es, die körperlichen Strapazen dieser inneren Konflikte in Zuckungen und Ausbrüchen zu zeigen und sie somit über ihre Metaphorik hinaus, zu einem ganz greifbaren Element seiner Erzählung zu machen. Dabei agieren die amerikanischen Monster in diesem Psychospiel keineswegs subtil. Carell bewegt sich seiner Natur gemäß im erstaunlichen Rahmen einer grotesken Natürlichkeit. Man hat ihm extrem geholfen mit Make-Up und Kostüm, denn im Endeffekt wirkt seine Erscheinung fast wie aus einem Richard-III.-Hakennasen-Horrorfilm, er ist ein wahrhaftes Monster und in dieser Monstrosität zugleich gefährlich und verletzbar. Du Pont ist ein gelangweilt reicher Erbe, der sich zur Erhaltung amerikanischer Ideale berufen sieht, solange er ihnen als Vorreiter dienen kann und damit seine Mutter beeindruckt. Als Erbe einer Munitions-Dynastie steht er weniger für eine manipulierende, nach Großem strebende, kapitalistische Macht, sondern ist schon selbst in seinen Gedärmen davon korrumpiert. Bedrohung und Einsamkeit, Gewalt und Angst, Zuneigung und Kontrolle… Carell und Miller vermögen es, der Figur all diese Ambivalenzen zu geben. Leider jedoch setzen sie ein wenig zu stark auf einen bewusst übertrieben dargestellten Mutterkonflikt. Sie (Vanessa Redgrave) hält den Ringsport für einen niederen Sport und gibt ihrem Sohn nicht jene Anerkennung, nach der er so lechzt. Im ersten Drittel des Films arbeitet Miller noch mit Andeutungen, dann entscheidet er sich aber dafür, ganz deutliche Szenen zu zeigen, die diesen Konflikt zeigen. Einmal legt Carell seiner unbeweglichen Mutter einen Pokal in den Schoss und wir sehen unheimliche Monster, die voller Neurosen, Ehrgeiz, Anerkennungsstreben und Abhängigkeiten jede Menschlichkeit verlieren oder gerade darin ihre Menschlichkeit offenbaren. Zwar flirtet Miller immer wieder heftig mit den Klischees einer solchen Erzählung, aber er rettet sich dadurch, dass er seine Szenen noch weiter führt und die Kamera noch einige Augenblicke über die scheinbaren Schmerzgrenzen hinweg auf den Überzeichnungen und Handlungen ruhen lässt und ihnen somit eine Wahrhaftigkeit zurückgibt. Eine solche Szene findet sich, als das Team nach dem Weltmeistertitel im Trophäenkeller von Du Pont zusammen feiert. Du Pont ist betrunken, er nimmt die Pferdepokale seiner Mutter aus dem Schrank und legt die neugewonnenen Medaillen hinein, er hält (wie immer) große Reden und bricht betrunken zusammen…denkt man…aber auf dem Boden liegend beginnt er plötzlich mit seinen Sportlern zu ringen, er umklammert ihre Beine, lachend, schreiend, und es zeigt sich eine fast unschuldige Leidenschaft, eine Kindlichkeit und Traurigkeit, die man niemals in dieser Szene erwartet hätte und die dennoch in das Krankhafte und Bedrohliche der Figur passt. Und in diesem Fall bekommt Miller die Wendung tatsächlich aus den Körpern seiner Figuren. An anderen Stellen setzt er sie auf. Als Beispiel könnte man die plötzlichen homosexuellen Spannungen nennen. Aber auch das emotionale Keil, das sich zwischen Du Pont und Mark Schultz drängt, ist nicht jederzeit spürbar, sondern dient lediglich als narrativer Aufhänger für dramatische Szenen.

Foxcatcher Tatum

Das Obskure und Kranke in du Pont kommt aus der amerikanische Seele herausgetropft, es ist die Umstülpung, und wie Umstülpungen es so an sich haben, zeigt sich dadurch etwas, was eigentlich verborgen bleibt und doch dazugehört, wenn nicht sogar essentiell ist. Das Kippen der Männlichkeit ist hier auch das Kippen amerikanischer Werte. Es stellen sich Fragen an den Kapitalismus und das Streben nach Perfektion, an die Bedeutung der Geschichte und das Kämpfen für Ideale. Eine dieser Fragen ist, ob die scheinbar offensiven, expandierenden Bewegungen nicht eigentlich Verteidigungsmechanismen sind und wenn man nur lange genug auf dem Boden liegen könnte und sich nicht umdrehen lassen würde, dann könnte man ihnen widerstehen. Und wenn dem so ist, dann sind die Kämpfe dieser Monster und womöglich des ganzen Staates, keine Kämpfe mit einer anderen Partei, sondern eigentlich Kämpfe mit sich selbst, und so kann auch das sowjetisch-amerikanische Duell am Ende des Films keine Bedeutung mehr haben. Es ist ein entleertes Bild eines Kampfes, der keiner mehr sein kann, weil schon zuvor alle Ideale, für die gekämpft werden könnte, zerstört worden sind. Man kann sich auch bezogen auf den Titel fragen, was man eigentlich jagt und fängt? Ruhm, Menschen, Seelen oder doch nur seine eigenen Konflikte? Hinter allen Idealen scheint immer ein Eigennutzen als antreibende Kraft zu stehen. Das ist nicht nur das Monströse an Foxcatcher oder an den USA sondern wohl an unserer Menschlichkeit oder zumindest jener, die uns Miller hier nahebringt.

Auch Channing Tatum als Mark Schultz ist ein hochinteressanter Fall. Das raue, stumpfe Naive, schweigend Gekrümmte von Tatum funktioniert vor allem deshalb, weil er einen glaubhaften Körper für diese Rolle hat. Wenn er einmal im Auto sitzt und einen Burger isst, dann spürt man förmlich, wie sein Körper das Fleisch zermalmt, stoisch wie eine Walze, und doch brodelt es in ihm. Allerdings hat er keinen Kanal, um dieses Brodeln zu entflammen, stattdessen klebt er sich an die Illusion einer Selbstbestimmtheit im Schatten einer Fatalität. Seine Befreiungsversuche sind dann dementsprechend uninspiriert und erfolglos. Besonders dramatisch ist, dass er zwar daran zerbricht, am Ende aber nicht der Hauptleidende ist. Das trifft schon eher auf seinen Bruder Dave zu, der von Mark Ruffalo gespielt wird. Nein, Mark Ruffalo als Ringer war und ist eine schlechte Idee. Die gebückte Körperhaltung wirkt bei ihm in jeder Sekunde wie bemühtes Spiel, sein Körper scheint niemals der eines Leistungssportlers zu sein, eine treuherzige Wärme erzählt uns in jeder Szene mit ihm, dass er ein guter Mensch ist und sonst nichts und aus dieser Wärme gewinnt Miller nicht wie bei seinen anderen Figuren einen inneren Konflikt sondern benutzt ihn nur als Drehbuchfunktion. Es ist sicherlich sehr fruchtbar, sich Foxcatcher und Bennettt Miller aus einer Schauspielperspektive zu nähern, denn auch seine in Cannes mit dem Regiepreis ausgezeichnete Inszenierungsarbeit ordnet sich auf den ersten Blick den Perfomances unter. Es ist fast eine ähnliche Strategie wie jene eines Woody Allen. Bei Miller wechseln sich Halbtotalen und Nahaufnahmen ab, und in diesen Einstellungen lässt Miller seinen Schauspielern Raum, um ihre Charaktere mit körperlichem Leben zu füllen. (hier ein Unterschied zu Allen, der die Körperlichkeit unter seinen Dialogen begräbt.) Zwischendurch gibt es schön fotografierte Supertotalen und eben jene Ringtänze. Mit diesem eigentlich limitierten Repertoire lässt Miller aus seiner Montage und seinem Raumverständnis auch Konflikte und Abhängigkeiten in seine Bildsprache gleiten. Ähnlich wie bei David Fincher kann man anhand von Abständen zwischen den Figuren, ihren räumlichen Positionen und kleinen Details am Rand des Bildes die inneren Konflikte erkennen. In dieses Muster fügt sich auch ein extrem durchdachtes Szenenbild ein. Hier wird vor allem mit Gegensätzen gearbeitet. In Schultzs Wohnung liegen einige Münzen auf einer Kommode, während bei Du Pont alles nur so glänzt vor Patrizier-Schick, hässlich und geordnet und immer mit der merkwürdigen Gewalt einer Bedrohung unterlegt. Die Tableau-Establisher zeigen häufig Gewehre im Hintergrund, eine Erdrückung geht von den zugestellten Symmetrien aus. Diese wird nur vom Sport, also wieder der Physis durchdrungen. So trainiert Tatum in einer Supertotale auf dem Weg zu Du Ponts Anwesen, rollt über den sauber gemähten Rasen und durchbricht damit die eigentliche Anordnung. Es ist bezeichnend und irgendwie auch spannend, dass Foxcatcher an genau dem gleichen Widerspruch krankt, den er in seinem Kern betrachtet. Es ist ein Tanz zwischen einer auf Effekt und psychologische Klarheit zielenden Narration und einer fast stummen Dokumentation der Körper. Und so könnte man am Ende zum Schluss kommen, dass die Ideale selbst die Monster sind und die Monster nur daran zerbrochene Menschen.

Wann sieht ein Filmemacher das Bild?

Hitchcock on set

Die unterschiedlichen Arbeitsschritte einer Regiearbeit ermöglichen auch – wenn man so will – verschiedene Zeitpunkte, zu denen das Bild (und selbstredend ebenso der Ton) dem Filmemacher begegnet, in dem er es sehen kann. Der erste Schritt dabei könnte das sein, was man passend und doch der Prätension vieler, die das Wort gebrauchen folgend, gerne die Vision nennt. Als ich die Ehre hatte auf der Viennale mit Pedro Costa zu sprechen, sagte er mir eindrücklich: You have to see it on the screen…was er damit meinen könnte, sind die Bilder oder Gefühle eines Films, eine Vision eben. So soll es sein und dieses oder jenes muss ich tun, um es zu bekommen. Für Filmemacher wie Costa oder etwa den frühen Philippe Garrel, die sehr reduziert und alleine arbeiten, gestaltet sich dieser Schritt von der Imagination beziehungsweise Beobachtung hin zum tatsächlichen Bild – an dem natürlich nichts (insbesondere in Zeiten der digitalen Lügen) tatsächlich tatsächlich ist – deutlich simpler als für Filmemacher, die ihre sogenannten Visionen in großen Industriekontexten herstellen. Ein erster Freund und Feind der ersten Vision ist immer der Kameramann, denn er wird mit einer eigenen Vision an die eigene Vision treten und je nach Art der Zusammenarbeit (man denke an Christopher Doyle und Wong Kar-Wai oder Agnès Godard und Erick Zonca) durchaus eine bestimmende Kraft für die Bilder sein. Selbiges gilt für die Machenschaften diverser Produzenten und Fernsehredakteure, für die Schauspieler, die Szenenbildner, das Kostüm und die Sonne selbst, die man insbesondere in Zeiten der Low-Budget Befindlichkeiten kaum mehr aus den pixeligen Bildern heraus decken kann und die den Regen der Vision schnell in einen strahlenden Kompromiss verwandelt. Nun gibt es auch Filmemacher wie zum Beispiel den grimmigen Michael Haneke, der von sich sagt, dass er nie in Bildern denkt, der Visionen nicht in Bildern hat. Andere liefern sich ganz bewusst dem Zufall aus, der Nicht-Planung wie der britische König Nicolas Roeg und der heilige König Albert Serra. Irgendwas müssen und werden auch diese Filmemacher spüren, um sich in die schwebenden Strapazen einer Bildmachung zu stürzen, aber wenn es keine Bilder sind, dann kommen diese Bilder wohl später zu ihnen. Zumindest ist davon auszugehen. Manch Filmemacher spricht von einem Bild, das ihn inspiriert habe, man denke an die Dardenne-Brüder und ihren leeren Kinderwagen, der L’enfant initiierte. Wieder andere wie Nuri Bilge Ceylan machen es sich zur Aufgabe, Bilder für die Worte zu finden, die sie gelesen haben. So hat er in Once Upon a Time in Anatolia manch poetische, visuelle Kraft aus der Feder von Tschechow gefiltert (beispielsweise jener Augenblick, der einem Ausatmen entspricht, wenn die junge Tochter den nächtlich Reisenden einen Tee bringt) und in seinem Winter Sleep war seine Vision nicht unbedingt die Übersetzung der literarischen Sprache in Film sondern die filmische Möglichkeit, literarisch zu sein. In diesem Sinn vermag auch die Inspiration eine Vision zu sein und der schmale Grat, der dann zwischen Originalität, Souveränität und Plagiat entsteht, ist eine der großen Versuchungen des Kinos, eines seiner offenen Geheimnisse, die kaum greifbar sind, denn es ist auch klar – und Gus van Sant gehört zu denen, die das bewiesen haben- dass man filmische Bilder nicht wiederherstellen kann, wenn man sie noch so penibel und präzise rekonstruiert. In zwei gleich gedachten Bildern schlagen zwei unterschiedliche Herzen. Da ist etwas Anderes und dieses Andere zu erkennen, es zu ahnen oder zu beobachten, ist das was man wirklich eine Vision nennen könnte und was vielleicht einen großen Filmemacher von anderen Filmemachern unterscheidet.

Bruno Dumont Set

Bruno Dumon am Set

Eine nächste Möglichkeit für den Filmemacher seine Bilder zu sehen, ist jene des Storyboards. Da ich selbst einmal mit einem Storyboard gearbeitet habe und ich es damals als sehr fruchtbar wahrgenommen habe im Arbeitsprozess, aber als sehr schädlich im fertigen Film bin ich inzwischen der Meinung, dass ein solches Storyboard nicht dem Filmemacher bei seiner Arbeit hilft sondern dem Produzenten beziehungsweise der Kommunikation zwischen den Departments und der Angst im Filmemacher. Denn was man auf einem Storyboard sieht, ist ein Ideal ohne Leben. Nun sind perfektionistische Filmemacher wie David Fincher oder Stanley Kubrick mit einer solchen Energie hinter der exakten Umsetzung ihrer Storyboards (und nur dann machen diese übrigens Sinn) her, dass man in ihren Filmen durchaus einen Mehrwert erkennen kann. Die Bedingung sich erlauben zu können, seine Bilder als Filmemacher in Storyboards zu machen, ist jedoch Geld. Denn nur wer Geld hat, kann die Sonne im Schritt vom Storyboard zum Filmbild heraus decken. Nichts spricht gegen die Erstellung eines Storyboards, aber vieles spricht dagegen, dass ein Filmemacher dort sein Bild sieht. Unterschiedliche Faktoren können die Relevanz eines Storyboards verändern. Es ist zum Beispiel eine absolute – aber sehr selten umgesetzte – Notwendigkeit, dass Storyboards am Drehort entstehen und nicht in einer fernen Imagination, die so tut als könne sie jedes Bild vorausdenken. Deutlich näher am Bild selbst könnten die sogenannten Moodboards sein. Vor kurzem habe ich über das Caderno von Pedro Costa geschrieben, aber die sogenannten Moods sind eigentlich eine gängige Möglichkeit Felder zwischen den Emotionen, den Bildern und der Kommunikation zu eröffnen, die alle Beteiligten von einer gemeinsamen Seele bezüglich des Films sprechen lässt. Allerdings werden sie kaum ernst genommen, denn insbesondere in heutiger Zeit haben alle Beteiligten eines Films oft ein individuelles Bild von Film (weil es einfach derart viele Filme gibt). Daher ist es so wichtig für den Filmemacher, ein Bild von Film zu haben, denn nur so können am Ende (oder Anfang) alle mit dem gleichen Bild von Film einen Film machen. Die Schritte um allen dieses Bild zu zeigen, sind die Krux und die Freude des Vorgangs. Ein Storyboard ist in diesem Sinn eine Hilfe, aber es kaschiert nur die fehlende Kontrolle und kommuniziert lediglich auf einer handwerklichen Ebene die Bilder, aber nicht auf einer gefühlsbezogenen oder filmischen Ebene. Moods sind ein deutlich organischerer Schritt. Allerdings können sie alleine stehend niemals ausreichen, da jedes Augenpaar eine andere Inspiration aus den Bildern oder Texten filtern wird. Womöglich entstehen Bilder im Gespräch oder dessen Verweigerung.

Ein weiteres Tool, das das Bild vor dem Bild zum Filmemacher bringt, ist der Viewfinder. Man denke an den energischen Roman Polanski, der seine weiblichen Darstellerinnen mit dem Viewfinder vor seinen feuchten Augen umkreist(e), sich animalisch wandelnd während der Schauspielproben die Kamerapositionen überlegt. Hier stellt sich natürlich auch die Frage, wessen Aufgabe die exakte Positionierung der Kamera ist. Denn wenn der Kameramann mit demselben Bild von Film beziehungsweise des Films am Set steht, dann wird er auch die richtigen Positionen und Objektive wählen. In diesem Fall kann ein Filmemacher über die Gefühle und Essenzen einer Szene kommunizieren (er kann natürlich auch nach wie vor selbst die Kameraarbeit erledigen oder sich dem Zufall unterschiedlicher Visionen hingeben), was vermutlich deutlich fruchtbarer für alle Beteiligten ist. Durch den Viewfinder hindurch sieht die Welt wie ein Film aus. Leos Cara X hat einmal gesagt, dass er die Welt mit den Augen des Kinos sieht. Die Wahrnehmung von Bildern im Alltag bestimmt wahrscheinlich die Blicke des eigenen Kinos. Ein Viewfinder ist sehr zielgerichtet, in diesem Sinn wirklich ein effektives Instrument. Aber das Bild muss schon vorher im Filmemacher sein sonst wird er durch den Viewfinder nur dieselben Dinge sehen wie mit seinen eigenen Augen. Wann entdeckt man beispielsweise eine Tiefenschärfe oder Schärfenverlagerung? Wann versteht man wirklich einen Raum als filmischen Raum so wie Lisandro Alonso, der monatelang durch Patagonien fährt, um Bilder zu schaffen, die aus der Logik des Raums (beziehungsweise der Leere) hervorgehen? Ein Weg im Bildhintergrund wird von ihm nicht geschaffen, sondern die Kamera kann nur dort stehen, wo dieser Weg sich bereits aufgetan hat. Vielleicht benutzt er ähnlich wie sein neuester Protagonist aus Jauja, Kapitän Dinesen einen Viewfinder oder ein Fernrohr (dessen Verwendung vermutlich nicht umsonst auch in den Filmen von Polanski eine große Rolle spielt), um den Blick zu einem filmischen Blick zu wandeln. Der Viewfinder ist ein Übersetzer, der einen kinematographischen Filter auf die Bilderrealität der Welt legt. Die Antwort auf die titelgebende Frage dieses Artikels wäre in diesem Fall, dass der Filmemacher in jeder Sekunde seines Lebens das Bild sieht und dass die Frage viel eher wäre: Welches Bild wählt der Filmemacher aus?

Polanski und Nicholson

Roman Polanski

Am Set selbst, gibt es dann gemeinhin drei Möglichkeiten das Bild zu sehen. Die erste ist die Kamera. Entweder kann man direkt durch den Sucher der Kamera blicken oder in unserem digitalen Zeitalter durch die kleinen Monitore, die sich an der Kamera befinden. Man wird dort allerdings nichts sehen außer dem On des Bildes (und damit gewissermaßen automatisch, wenn man nicht blind ist das Off). Es ist dies nur eine Kadrierungshilfe, nicht aber eine Möglichkeit ein Bild zu sehen. Dennoch ist sie absolut essentiell für jede Arbeit eines Filmemachers. Die Konzeption des Bildes am Set geschieht im Tanz mit der Kamera. Der große Feind meiner Auffassung ist dann die zweite Möglichkeit: der externe Monitor, jenes zeit- und platzstehlendes Instrument, mit dem Filmemacher über Filmsets stolpern während Kameraassistenten und Videooperator Kabel quer durch die Sets legen, damit sich alle darum versammeln können. Ein auf den ersten Blick absolut sinnvolles Mittel, um das Bild zu sehen und so auch Fehler zu vermeiden, eine Vorstellung zu bekommen und allen Departments einen Einblick zu gewährleisten. Immer professioneller werden diese Monitore an das anvisierte Endbild angeglichen…Kalibrierungen und Farbkorrekturen im Telenovela-Live-Style inklusive. Es darf niemand ein falsches Bild des Bilds haben. Was keiner bedenkt ist, dass der Monitor schon einen Schritt zu weit geht, denn er macht den Filmemacher zum Zuseher, der nicht mehr versucht zu sehen, sondern der schon wirklich sieht. Das Bild, das eigentlich noch entsteht, wird damit fixiert und nur im Bezug zum Bild selbst justiert, nicht aber im Bezug zur Realität. Außerdem gewinnen ziemlich simple Schönheitsideale der Bildmachung dadurch an Bedeutung und lassen die Möglichkeiten eines filmischen Bildes hinter dem Klischee seiner Lichtwerdung im Anbetracht eines Instinkts verschwinden. Was ich damit sagen will ist, dass die meisten Filmemacher Auge in Auge mit dem Monitor nicht mehr auf die tatsächlichen Umstände reagieren, die von einer solchen Wichtigkeit für die filmische Sprache sind, sondern nur auf ihr eigenes Ideal. Das bedeutet in den schlechteren Fällen beispielsweise eine Angst vor Entleerung (denn diese sieht auf dem Monitor immer schlimmer aus als in der Realität), eine Angst vor Dekadrierung, eine Angst vor dem Imperfekten, das so lebendig gegen unsere Wahrnehmung pochen könnte. Es gibt selbstverständlich Filmemacher, die sich gegen diese Instinkte des Sehens erwehren können oder sie schlicht nicht haben. Sie werden den Monitor vielleicht anders benutzen als ich selbst es könnte. Der mächtige Olivier Père hat Philippe Garrel an dessen Filmset besucht und dort keinen Monitor gefunden. Immer wieder hört man von Filmemachern (insbesondere dann, wenn sie aus dem Theaterbereich kommen), die sich nur auf die Schauspieler konzentrieren und erst auf die dritte, bereits vergangene Art des Bildersehens zurückgreifen, nämlich das Replay. Die Wahrheit ist natürlich, dass jede Arbeitsweise ihre Berechtigung hat. Einen Monitor halte ich dennoch für ein gefährliches Instrument. Seine Bedrohung liegt in seiner Bequemlichkeit, seiner Abgeschlossenheit. Im Augenblick des Drehens vibriert ein Raum (selbst im digitalen Zeitalter). Wenn man dann ein Bild sieht, wird man nichts sehen. Sich das Bild im Rückspiel auf dem Monitor anzusehen, ist etwas anderes. Dann liegt die Gegenwart auf der Vergangenheit (während beim Monitor während des Drehens die Vergangenheit auf der Gegenwart liegt), die das Kino so sehr bestimmt. Nur wenn man zumindest ein wenig an die performative Kraft von Film glaubt, dann kann man sich nicht davon distanzieren. Das bedeutet nicht, dass man den Zufall regieren lassen sollte, aber man sollte ihn zumindest erkennen.

Tsai Ming-liang

Tsai mag seinen Monitor

Es folgen die Sichtung der Muster und der Schnitt. Hier sehen die meisten Filmemacher das, was von ihren Bildern übrig geblieben ist oder das was ihre Bilder geworden sind oder sie sehen dort zum ersten Mal ihre Bilder und finden wie beispielsweise John Cassavetes ihre Filme im Schnitt. Im Gegensatz zum Monitor ist die Mustersichtung kein passiver Vorgang, denn sie präsentiert einen Anfang und kein anvisiertes Ende. Plötzlich beginnt ein ganz neues Bild, man kann – wenn man es für nötig erachtet- gar neu beginnen mit dem Film. Jetzt liegt das Bild nicht mehr im konkreten Bild sondern zwischen den Bildern. Es geht wieder um das Andere, das Unaussprechbare, das man erkennen oder finden kann zwischen und hinter den Bildern. Hier zeigt sich ganz eindeutig wie mysteriös das Kino ist. Ein Filmemacher kann zwei Bilder sehen. Er sieht sie genau vor sich, er zeichnet sie, er findet sie an der Location durch seinen Viewfinder, kontrolliert sie durch die Kamera, den Monitor und das Replay und er sieht die beiden Bilder genau seiner Vorstellung entsprechend in den Mustern und dann montiert er sie hintereinander und alles was zählt ist, was zwischen diesen Bildern passiert, das dritte Bild sozusagen. Kann man dieses dritte Bild sehen? Vermutlich nicht, es ist aber davon auszugehen, dass man es erahnen kann, dass man es antizipieren kann und die Arbeit an dieser Antizipation, an dieser Vorstellungskraft ist die große Suche für jeden ernsthaften Filmemacher, denn sie hat mit einer Wahrnehmung zweier Dinge zu tun: Zum einen der Welt, die die Bilder selbst speist und zum anderen des Kinos, das dieses dritte Bild erst ermöglicht.

Eines ist sicher: Auf der Premiere wird kein Filmemacher mehr seine Bilder sehen, denn zu sehr hat er sie schon konstruiert und dekonstruiert, gelebt und gelitten, zu weit weg und zu nahe ist die Erfahrung des Bildes, um wirklich sehen zu können. Jeder Filmemacher (egal was er behauptet) ist blind gegenüber seiner eigenen Arbeit und jedes Filmemachen ist eine Erblindung dessen, der die Bilder macht. Wann auch immer.

Never gonna fall for (modern love): Gone Girl von David Fincher

Gone Girl Fincher

Es gibt Filme, auf die findet man relativ schnell eine passende Antwort, eine Einschätzung, eine Meinung. David Finchers Gone Girl gehört für mich sicherlich nicht in diese Kategorie. Das liegt zum einen daran, dass man eigentlich nicht nur einen Film sieht und zum anderen daran, dass bei Fincher wie immer die Form und der Inhalt nicht unbedingt zusammengehen auf den ersten Blick. So läuft hinter den inhaltlichen Stories (Ehedrama, Mördersuche, Paranoia-Auf der Flucht-Film, Mediensatire, Psychothriller, Rachedrama) auch noch eine formelle Bewegung ab. Diese perfektioniert eine Idee, der auch schon Alfred Hitchcock erlegen ist: Schuld und Unschuld, Liebe und Gewissen, Leben und Wahrnehmung sind ein Opfer der Zeit. Immer wenn man glaubt, dass man über diese Dinge nachdenken kann, dann sind sie schon vorbei. Und darunter leidet man. Was sich entfaltet ist ein existentialistisches Speedboot, das immer auf die nächste Wand zusteuert, um in dem Moment, indem man sich vorstellt, dass man gleich in die Wand rasen wird, schon auf die nächste Wand zusteuert. Man wird das Boot nicht verlassen können. Das perfide und sarkastische an Gone Girl ist, dass die Figuren dieses Boot selbst steuern.

Es geht um den gescheiterten Schriftsteller Nick, der in einem Casting-Coup von Ben Affleck gespielt wird. Das ist deshalb eine derart gelungene Besetzung, weil der häufig für seine hölzerne Art und Steifheit kritisierte Affleck einen Mann spielt, bei dem man nicht weiß, ob er gut spielt oder ob er zu hölzern ist. Dadurch entsteht fast wie von selbst die beste Rolle, die Affleck je geben durfte. Jedenfalls kommt dieser in seinem Haus in Missouri eines Tages (es ist sein Hochzeitstag) nach Hause und stellt fest, dass in sein Haus eingebrochen wurde und seine Frau Amy (Rosamunde Pike-immer noch im Eishotel, Frau Frost) verschwunden ist. Mit dieser Ausgangsposition konstruiert Fincher eine Perspektivwechsel-Orgie, die einen immer dort hinbringt, wo man nicht erwartet hatte zu landen. Schelmisch setzt Fincher seine geliebten Twists, voyeuristischen Blicke und Montagesequenzen ein, um die Wahrheit einer Fassade selbst zu durchlöchern.

Gone Girl Affleck

Es geht dabei um die Fassade einer Ehe, die Fassade einer Liebe und die Fassaden von Männlichkeit und Weiblichkeit. Was Fincher-wie oft-verpasst, ist dass diese Fassade schon Drama und Thriller genug wäre. Seine heftigen Überraschungen sind Crowd-Pleaser, die selbst wieder eine Fassade aufbauen und damit nur vom Eheterror, von den Figuren, der Mediensatire und allem anderen ablenken. Zudem ist die Geschichte, die auf dem Bestseller von Gillian Flynn basiert und von ihr selbst adaptiert wurde, sehr, sehr groß angelegt und macht sich damit sehr angreifbar bezüglich Logik und Kohärenz. Nicht, dass das unbedingt ein Problem wäre, aber der gesellschaftskritische Touch leidet durchaus unter Unstimmigkeiten. So funktionieren zu viele Medienkanäle, die den Fall ausschlachten als Surrogate für eine größere Idee statt einer unkontrollierbaren Masse. Durch die unterschiedlichen Interessen des Drehbuchs werden zudem viele Aspekte nur äußerst oberflächlich angerissen und man fragt sich, warum sich Fincher nicht von Anfang an auf einen der Aspekte konzentriert hat, um diesen intensiver zu beleuchten. Er erreicht auch keine detailbesessene Faktentreue wie in Zodiac oder The Social Network, weil er deutlich mehr damit beschäftigt ist, mit Erwartungen und Wahrnehmungen zu spielen. Ähnliches gilt für die Figur von Amy, die derart überzeichnet daherkommt, dass man die Allgemeingültigkeit dieser dying Modern Love absolut hinterfragen muss. Denn wo man eigentlich einige grausame Wahrheiten über Beziehungen, Gefühle und Ehe spürt, da liegt hier auch ein trashiges Ein-Psychopath-schläft-in-meinem-Bett an der Oberfläche.

Die Fassaden von Ehe und Medien gehen hier Hand in Hand. Die Wahrheit/Liebe selbst spielt keine Rolle mehr. Vielmehr geht es um das Bild, dass man vor der Welt, dem Partner und sich selbst hat. Ein Lügenmärchen, in dem die Generation Facebook ins Leben torkelt. Dabei setzt Fincher auf einen sarkastischen Humor, der in seinen besten Momenten eine Rotzigkeit aufweist, aus der man gleichzeitig Freude und Verbitterung spürt. Ein großartiger Moment ergibt sich zum Beispiel aus einer Szene, in der Nick von seinem One-Liner Anwalt (ein Überrest aus The Social Network) mit Gummibärchen beworfen wird, wenn er etwas Unglaubwürdiges sagt. Die Verbitterung kommt dann vor allem im letzten Abschnitt des Films zum Ausdruck. Dann steckt hinter jeder Tat eine Falschheit, die wehtut.

Der Look von Gone Girl ist auf der einen Seite jener, den man von Fincher kennt, einer von grün-kalter, digitaler Sauberkeit strahlender Blick in technischer Perfektion, der aber hier mit den überglatten Fassaden und dem makellosen Szenenbild und Erscheinungsformen in Form und Inhalt perfekt korrespondiert. Die schnellen Abblenden, die den ganzen Film durchziehen, machen klar, dass etwas nicht stimmt und dass es eben zu schnell geht und dass es der Zeit an den Kragen geht. Immer wieder blicken wir auf die undurchschaubaren Figuren so lange aus so vielen verschiedenen Perspektiven bis wir ihrem Spiel klein bei geben müssen oder wir einen Funken ihrer wahren Personen zu erkennen glauben. Die ständigen leichten Fahrten geben eine ähnliche Wahrheitssuche wieder. Sie entblößen keine wahren Gesichter, sie deuten nur den Weg an, den man gehen müsste. Dazu parallel werden Plotinformationen in einer Geschwindigkeit wiedergegeben, die für die Figuren zu viel sind und für den Zuseher tatsächlich angenehm. Sie sind deshalb angenehm, weil Fincher-insbesondere, wenn er auf Twists verzichtet- seinen Figuren folgt und nicht seinem Plot. So entdecken wir neue Informationen durch die Augen (POV) und Ohren (Dialog) der Figuren. Statt auf Suspense setzt Fincher auf Anteilnahme. Der Zuseher weiß nicht mehr als die Figuren sondern er weiß genauso viel oder weniger.

Gone Girl David Fincher

Diese Anteilnahme liegt nun aber nicht in einer Identifikation sondern in einem Zweifel. Und dieser Zweifel an den Figuren ist der springende Punkt. Er wird durch die Abblenden und vielen Perspektivwechsel der Kamera in jeder Szene verstärkt, er wird vom treibenden Rhythmus von Montage und der wieder herausragenden Musik von Trent Reznor und Atticus Ross unaufhaltsam weitergetrieben bis uns klar wird, dass wir immer nur eine Wahrheit in der Zeit sehen, ein Puzzle Stück, das im reißenden Fluss an uns vorbeischwimmt. Man bekommt genug Zeit, um es zu sehen, aber nicht genug um damit zu leben. Und diese Wahrheit ist die einzige, die diese Liebe zulässt. Damit lenkt Fincher die Aufmerksamkeit auf jene Dinge, die es sicher nicht gibt in Gone Girl: Liebe, Vertrauen, Familie und Ruhe. Hier liegen in Blicken keine Wahrheiten sondern Abgründe, in Gesten finden sich Lebenslügen und in Tagebüchern ein Image, also ein Zeitprodukt, aber keine Persönlichkeit. Dasselbe gilt für den Film und das ist gleichzeitig gut und schlecht.

His script is you and me boys
Time – He flexes like a whore
Falls wanking to the floor
His trick is you and me, boy
Time – In Quaaludes and red wine
Demanding Billy Dolls
And other friends of mine
Take your time

Stop being in motion (pictures): 1999, baby

Es ist nicht wirklich möglich, über ein Kinojahr zu schreiben. Zu viele Faktoren spielen vor allem bei rückwirkender Betrachtung eine maßgebliche Rolle: Produktionsumstände, gesellschaftliche Strömungen, Kinobewegungen, Laufbahnen individueller Künstler, die eigene Wahrnehmung des Kinos zu jener Zeit und/oder zur Zeit des Betrachtens, Festivalpolitiken, Hollywoodpraktiken, Förderpolitiken, politische Ereignisse und Zufälle. Ein Jahr, das aber immer wieder in den Fokus rückt, ist 1999. Zum einen ist 1999 ein Jahr, indem es eine Art Realismus-Revolution im Kino gab. Hervorgehoben wird vielerorts das Filmfestival in Cannes, das im letzten Jahr des vergangenen Jahrtausends mit „Rosetta“ von Luc&Jean-Pierre Dardenne und „L’humantité“ von Bruno Dumont zwei Filme mit Preisen bedachte, die eine neue Alltäglichkeit, einen ehrlichen Schmutz des Lebens ins Kino warfen und somit in vielerlei Hinsicht einen filmpolitischen Ausruf tätigten. Zum anderen war 1999 ein Jahr der innovativen und frechen Filme aus den Vereinigten Staaten. Man sprach und spricht viel von einer eigenwilligen Suche nach neuen Möglichkeiten des narrativen Kinos, die aus verschiedensten Gründen 1999 ausgelotet wurde. Neben „Fight Club“ von David Fincher sind auch „Magnolia“ von Paul Thomas Anderson, „The Matrix“ von den Wachowski-Brüdern, „The Blair Witch Project“ von Eduardo Sánchez und Daniel Myrick oder „American Beauty“ von Sam Mendes zu nennen. Vielleicht prägt dieses Jahr auch den heutigen Film noch mehr als man glauben würde.

Magnolia3

Was allerdings kaum beachtet wird, ist das 1999 ein Jahr markierte, in dem viele Filme mitsamt ihrer Protagonisten die Sehnsucht entwickelten aus sich selbst, aus diesen immer gleichen Bewegungen auszusteigen. Die Figuren wollen der Gesellschaft, ihrem Leben und vor allem ihrer Aufgabe im Film entkommen. Es ist wie ein Anhalten und sich bewusst werden, dass man nichts ist außer einer Figur in einem Film. Und auch die Filme selbst haben einen Spiegel gefunden: Wir sind nur Filme und wir sind vor allem Filme. Wenn man ganz ehrlich ist, findet man für fast jeden Jahrgang genug Filme, um diesen Text zu schreiben. Bemerkenswert am Jahr 1999 ist jedoch, dass die filmische Form und die Prinzipien des Erzählkinos sich mit ihre Charakteren und diegetischen Welten beginnen aufzulösen.Zudem wird 1999 bezüglich dieser Bewusstwerdung eines filmischen Gefängnisses nicht unterschieden zwischen Industrie- und Kunstfilm. Die Filme wollen immer wieder aus ihrer Form ausbrechen, sie bezweifeln ihre eigene Realität und Logik, sie wiederholen ihre Bewegungen bis sie erschöpft zusammenbrechen und einfrieren, statt immerzu ihren narrativen Destinationen zu folgen. Lyrische, körperliche, zweifelnde Momente dringen so in Filme, die am Ende meist ihre eigene Machtlosigkeit erkennen müssen.

So beginnen die Charaktere in „Magnolia“, plötzlich zu singen. „Wise Up“ von Aimee Man:

It’s not what you thought
When you first began it.
You got, what you want
You can hardly stand it though
By now you know

It’s not going to stop
It’s not going to stop
It’s not going to stop
Till you wise up

Ein Lächeln in die Kamera am Ende des Films, lässt uns erkennen, dass wir erkannt wurden. Die Figuren wollen aussteigen, sie wollen ihren Fight Club gründen, in andere Welten reisen oder entwickeln ein sexuelles Parallelleben, der anhaltenden Versuchungen wie in Stanley Kubricks letztem Film „Eyes Wide Shut“. Sie verlassen ihre eigentliche Berufung, um ihre wahre Bedeutung zu finden wie in Michael Manns „The Insider“. Dabei ist ihr Eskapismus weder real noch realistisch. Ihre einzige Rettung sind die Filme selbst, die sie vielleicht, vielleicht auch nicht am Ende befreien während sie uns zuzwinkern und sagen, dass alles nur ein Film ist.. Werner Herzog könnte ein solcher zwinkender Mann sein. In Harmony Korines „Julien Donkey-Boy“ beschwert er sich bei seinem Sohn über diesen ganzen „artsy-fartsy bullshit“, ihn würden handfestere Dinge wie beispielsweise Dirty Harry interessieren. Ja, Werner Herzog, der im selben Jahr die Exzentrik seines Klaus Kinski in „Mein liebster Feind“ ausstellte. Doch „Julien Donkey-Boy“ ist wie meist bei Korine schon in sich selbst ein Eskapismus. Eine Flucht aus der gängigen Ästhetik (die er hier in den Dogmaregeln findet) und eine offene Thematisierung der Schizophrenie, die sich in der Form des Films, einem undeutlichen Farbenmeer wiederfindet. Ein plötzlicher Froschregen muss möglich sein, Rosenblätter aus dem schwarzen Nichts und kopflose Reiter. Wohin man blickt, sieht man Dinge, die man nie gesehen hat.

Fight Club4

Pola X6

1999 ist auch ein Jahr der Repräsentationskrise. Wie filmt man Hitler? Das hat sich auch Alexander Sokurov in seinem „Moloch“ gefragt. Ein Film, der diese repräsentativ schwerbeladene Figur natürlich in einen Fluchtpunkt setzt, weit weg von dem, was wir glauben zu kennen, immer anders als wir erwarten und vor allem absurd. Die Figur selbst ist auf der Flucht vor dem Alltag. Urlaub, um sich von den Kriegsstrapazen zu erholen. Es wird klar, dass 1999 nicht unbedingt dabei hilft die Grenzen zwischen Darstellung und Realität zu definieren, viel eher verschwimmen sie in den milchigen Bildern von Sokurov oder den körnigen Landschaften in Nuri Bilge Ceylans „Clouds of May“ und den Meta-Körperauflösungen von David Cronenberg in „eXistenZ“. Was ist Film und was nicht? Wann ist es ernst und wann nicht? Was ist wahr und was nicht? It’s not what you thought when you first began it…ähnlich ergeht es einem auch im Schlussdrittell von Takashi Miikes Folter-Pleaser “Audition”. Hier werden auch Rollenmuster umgedreht, denn wenn Hitler ein Mensch sein kann, dann können, die Dinge die du besitzt auch beginnen, dich zu besitzen, ja dann werden Frauen Männer foltern und Krieg wird zur Poesie wie sowohl in Terrence Malicks „The Thin Red Line“, der zwar von 1998 ist, aber 1999 in Berlin den Goldenen Bären gewann und in „Beau travail“ von Claire Denis. Auch diese beiden Filme sind voller Eskapismus. Figuren, die ihre Aufgabe in einer kaputten Welt nicht mehr verstehen, Figuren, die sich weigern eine Maschine zu sein. Wohin kann man flüchten?

L'Humanité2

Beau travail6

Die Lösung findet sich in den Filmen. So endet „Beau travail“ mit einem Tanz, der alles wegwirft, das Leben und den Tod, den Film und die Liebe und genau damit alles rettet. In „Fight Club“ bewegt sich der Tod gar rückwärts und alles explodiert, „Where is my mind?“ und wohin schauen wir? „Fuck“, ist das letzte Wort in einem Film von Stanley Kubrick und er meint es nicht als Fluch, sondern als Bedürfnis. Bei Woody Allen werden 1999 Ratten geschossen in „Sweet&Lowdown“ und im betrachten von Zügen liegt eine Flucht aus dem zweitbesten Leben des zweitbesten Gitarristen der Welt. In „Bleeder“ von Nicolas Winding Refn wird die Filmgeschichte wortwörtlich in Namen durchdekliniert, als wolle man durch das Nennen von Namen einen inneren Rausch befriedigen, der immer nur der absolute Rausch einer Flucht ist, einer Flucht in viele unterschiedliche Dinge, die immer nur wieder zurück auf die Ursprungsfrage gehen: Wie komme ich aus diesem Film raus? Gewissermaßen ist dieser Text eine derartige Szene aus diesem Film. Was diese Filme eint, ist eine kurzzeitige Flucht, ein Schimmer der Hoffnung, sei es durch den Tod, die Liebe oder Gewalt. Wir können einfach aufhören, wenn der Film aufhört. Aber so einfach ist das nicht. Denn gleichzeitig sind sich diese Filme ihres eigenen Gefängnisses bewusst. Wenig Glück hat da die titelgebende „Rosetta“ bei den Dardennes. Ihre Fluchtversuche sind ein stetes Anrennen gegen eine Wand, ein Sprint über einen erdrückenden Acker wie bei Bruno Dumont, die Kamera, die sich auf sich selbst dreht wie in „Clouds of May“ und das Stück, dass sich mit der melodramatischen Realität verzweigt wie in „Todo sobre mi madre“ von Pedro Almodóvar. 1999 ist ein Jahr, in dem sich die Filme selbst umbringen wollen und mit ihm die Figuren.

Clouds of May

Niemand kann je die Tränen von Julianne Morre in „Magnolia“ vergessen, das Geräusch von Gas in „Rosetta“, den Sprung ins Wasser in „Ratcatcher“ von Lynne Ramsay… „The Virgin Suicides“, Slow-Motion Beauty-Deaths in 1999, baby. Die Kameras gehen aus, irgendjemand bringt einen letzten Kasten Drehschlussbier. Alle sitzen schweigend, denn keiner glaubt mehr an das, was er gemacht hat. Ein paar zynische Witze werden gemacht, es gibt keine Dispos für irgendeinen nächsten Tag, nur die Heimreise wird noch organisiert. Aber keiner weiß, wohin zu fahren. Irgendwann ist Winter und die Kamera steht im Eis, die Menschen haben sich vielleicht gerettet. In Abbas Kiarostamis „The Wind Will Carry Us“ ist es ein Warten auf den Tod. Die immer gleichen Wege, das Nachdenken über das Gute und Böse und die Absurdität der kleinen Momente, die einen am Leben oder in Bewegung halten. Bei jedem Anruf muss der Protagonist mit seinem Auto auf einen Hügel fahren, um Empfang zu haben. Einmal dreht er dort eine Schildkröte auf den Rücken als wolle er wenigsten in ihr den Tod finden, den er so sehr in einer anderen Person sucht. Aber als er schon lange gefahren ist, dreht sich die Schildkröte wieder um. Sie bleibt noch etwas im Gefängnis. Dies ist einer der schockierenden Momente des Kinojahres 1999. So viele Selbstmordversuche misslingen. Der Tod wäre eine Befreiung wie dieses Bild von Edward Norton im kollidierenden Flugzeug…der Heroinrausch von Xaver Beauvois in „Le vent de la nuit“ von Philippe Garrel, der auch mit Selbstmord (wie so oft) in Berührung kommen wird. Dabei geht es aber nicht um fatale Romantik oder eine Ausweglosigkeit, sondern um den tatsächlichen Eskapismus aus dem Film, die einzige Chance, der Bewegung zu entgehen. Düstere Wolken voller schöner Farben, die über die Leinwände spritzen wie Funken einer tatsächlich von der Zeit geprägten Kinosprache. Ich werde nicht die Frage stellen, warum man diese Farben heute nicht mehr so sieht wie vor 15 Jahren, weil ich glaube, dass man sie tatsächlich noch immer sieht. Das Spezielle an 1999 ist, dass sich das industrielle Kino und das Kunstkino vereinen, um zu flüchten. In „Pola X“ von Leos Carax führt diese Flucht in die größtmögliche Dunkelheit, die schön und unmöglich bleibt, ein Fluss aus Blut, der magisch und tödlich ist, nicht erlaubte Versuchung, eine neue Wand. In „The Talented Mr Ripley“ führt sie in das Licht Italiens und schließlich auch in die Dunkelheit. Sie erzählen von Menschen, die nicht mehr in ihrer Haut sein wollen, die nicht mehr sie selbst sein können. Selbst Filme wie „Toy Story 2“, „The Cider House Rules“ oder „The Green Mile“ schicken ihre Protagonisten auf Selbstfindungstrips ins Nichts. Vielleicht hat ausgerechnet M. Night Shyamalan mit „The Sixth Sense“ den Nerv dieser Zeit getroffen, weil er klarmachte, dass das Nichts womöglich sogar etwas ist, was wir von uns selbst nicht denken. Unsere Wahrnehmung gerät ins Wanken und wir sehen Gestalten in der Dunkelheit, die scheinbar atmen, scheinbar blicken, scheinbar lieben, aber vielleicht auch nur eine Fortsetzung der schwarzen Umgebung sind oder ein imaginierter Fleck auf einer Leinwand am Ende des Jahrtausends.

eyes wide shut

Diese Dunkelheit findet sich in den schlaflosen Nächten 1999. Als wäre man in der Nacht weiter weg, als könne man nachts wirklich flüchten. Die Nacht erzählt dieselbe Lüge wie das Kino…nur kälter. In „Bringing out the dead“ von Martin Scorsese wird sie zum Rauschzustand, ähnlich in „Eyes Wide Shut“ (eine Verkleidung, Masken, ein Tanz der anonymen Erregung) oder „Fight Club“. Der Wind in der Nacht ist ein Wind des Kinos. Die Tränen bemitleiden sich selbst, wenn sie niemand sehen kann, das Lächeln kann nur noch für eine Sekunde von der Kamera erhascht werden, ein leises Flüstern statt Gesang, ein letzter Blick zurück und dann schließt irgendwer die Augen und tut sich weh. Wenn es Nacht wird, dann kann man nichts mehr sehen außer der Leinwand. Die Bilder lassen die Figuren nicht fliehen, aber retten sie dadurch vor dem Sterben. Denn selbst wenn sie es noch so sehr versuchen, unsere Blicke halten sie und wenn sie merken, dass diese Blicke voller Liebe sind, dann werden sie vom Wind getragen.Irgendwo liegen die Figuren im Dreck. Sie können sich nicht mehr bewegen und verhaaren in ihrer Machtlosigkeit. Ihre Blicke vermögen uns zu fesseln, aber nur weil sie leer sind. Erschöpft fallen sie auf Betten, brechen unter der Hitze ihrer Müdigkeit und Verwirrung zusammen.

Rosetta

American Beauty

Einzig der Traktor von David Lynch fährt durch die Dämmerung. Als wolle Lynch sagen: Ich habe es euch schon immer gesagt. Aber letztendlich ist auch dieser Film eine Flucht vor dem Film und dem Leben. Für den Protagonisten und für den Regisseur ganz sicher auch.

Hou Hsiao-Hsien Retro: Flowers of Shanghai

In elegischen Schwenks um Tische und Gespräche, eingehüllt in verführerisches Gelb mit goldenen und roten Lichtern entfaltet sich irgendwo zwischen einem Michael Snow Film und einem Christopher Doyle Showreel, aber sicherlich in unvergleichbarer Manier dieses Portrait romantisierter Abhängigkeiten. In vier sogenannten „Flower Houses“ in Shanghai Ende des 19.Jahrhunderts (die Zeit ist hier eine Sache des Dekors, die Welt bleibt außerhalb der Flower Houses) erzählt Hou Hsiao-Hsien vom Leben und den Pflichten der Edelprostituierten und deren Kunden und beobachtet die Männer beim Trinken, Opium-Rauchen (viel) und Diskutieren.“Flowers of Shanghai“ ist ein filmischer Öllampen-Reigen als Rauschzustand.

In seinem einleitenden Monolog am ersten Tag der Retrospektive hatte Alexander Horwath diesen Film explizit hervorgehoben und schon bei der ersten Aufblende, die eine Art in Film gegossenes Gemälde freilegt, wird klar warum. Schönheit und formelle Perfektion sind hier nicht nur Themen des Films, sondern spiegeln sich auch in seiner Form. Schon bald findet man sich selbst in einem Opium-Rausch. Dafür sorgen die immerzu schwebenden Bilder, die Trennung dieser mit Schwarzblenden und ein tranceartiger Score, der aus einem Béla Tarr Film stammen könnte. Hou Hsiao-Hsien wird die inneren Welten, dieser Bordelle, die eine Romantik versprechen, um sich daran zu klammern nicht verlassen. Einmal passiert etwas draußen, eine Razzia, aber die Kamera verharrt auf dem entkräfteten Gesicht von Wang (Tony Leung Chiu-wai), der zwischen Opiumsucht und der Zerrissenheit zwischen Crimson (Michiko Hada) und Jasmin (Vicky Wei) schwankt und jederzeit droht zu zerbrechen. „Flowers of Shanghai“ ist sicherlich kein Film, dessen Inhalt man verstehen, kennen oder mitbekommen muss, um die Seele des Films zu spüren. Es ist als würde einen die Kamera mit in eine entfernte Welt nehmen, die mit ihrem oberflächlichen Prunk durch die ständigen, langsamen Wechsel der Kameraperspektive ungeahnte Tiefen bekommt. Dabei agiert die Kamera fast als Tänzer, als eigenständige Kraft, die entweder den inneren Zustand, den hypnotisierten Drive der Frauen und Männer in den Bordellen wiedergibt oder aber den autonomen Blick eines Regisseurs. Die Alltäglichkeit und Beiläufigkeit in der sich viele der Tischszenen abspielen, die Konsistenz der Dialoge und die tote Zeit sprechend dafür, dass Hou Hsiao-Hsien hier als beobachtender Gast tätig ist. Allerdings sind die Bilder so gefüllt mit Gesichtern, Emotionen, Kostümen, Gegenständen und Licht, dass man sich nur schwerlich als Beobachter fühlt, sondern zumeist mitten in der Plastizität der Szene erwacht und sich wieder darin verliert als würde man seit Stunden auf einer Schaukelbank sitzen und gestreichelt werden oder, um eine Erzählung aus dem Film aufzunehmen, als würden einem die Augen von seiner Geliebten geleckt werden. Die Perfektion in der hier der Rhythmus von Kamerabewegung und Schnitt der inneren Bewegung der Szenen folgt, ist unantastbar. Nuancierte Variationen in der Geschwindigkeit, ein plötzliches Zwischenbild, alles hat seinen festen Platz, nichts wirkt überflüssig und nichts fehlt.

Flowers of Shanghai

Ähnlich wie „In the mood for love“ von Wong Kar-Wai ist „Flowers of Shanghai“ auch ein Film, der sich im Off abspielt. Hou Hsiao-Hsien interessiert sich hauptsächlich für die vertraglichen Verpflichtungen und Abhängigkeiten, das Geld wenn man so will. Er erstickt (außer einmal als Wang die Inneneinrichtung zerlegt und einem Selbstmord-/Mordversuch von Jade) die emotionalen Regungen seiner Figuren, die sich fortlaufend zwischen den Zeilen und in den Augen seiner Starschauspielerinnen abspielen. Besonders Michelle Reis als Emerald vermag ihre Psychologie in einen Ausdruck zu verlangen, der mehr sagt als tausend Szenen. Das Off ist neben der Abwesenheit von Europäern in den Flower Houses der Plot an sich, der so erzählt wird, dass er sich scheinbar am Rande oder jenseits des Bildes vollzieht. Bei Hou Hsiao-Hsien warten weder Kamera noch Welt auf die Narration, sie wird einfach irgendwo geschehen, man kann sie manchmal an den Körpern ablesen, manchmal an den Wörtern, zumeist aber nicht im Moment des Geschehens, sondern irgendwann später, als könne man gar nicht verstehen, als würde alles in dieser Welt hinter einem Schleier der äußeren Darstellungen und Zwänge verborgen liegen. Im gelben Rotlicht entsteht aber noch ein anderes Off und zwar jenes, dass sich kontinuierlich entwickelt, ein Off, dass in jeder Sekunde neu definiert wird durch die Bewegung der Kamera. „Flowers of Shanghai“ penetriert in diesem Sinne die Lust am Sehen und stimuliert sie dadurch. Das langsame um Gesichter Herumfahren, das etwa David Fincher in all seinen Filmen praktiziert, gehört zum Aufregendsten, was ich im Kino kenne. Die Frage danach, was sich im Gesicht äußert, wie das Gesicht aussieht, was dort passiert, ist die Frage, die man sonst nur in der Liebe oder in einem Angstverhältnis stellt. „Flowers of Shanghai“ ist genau zwischen dieser Liebe und Angst.

Flowers of Shanghai2

Hou Hsiao-Hsien zeigt Menschen, die sich in dieser Umgebung völlig unterschiedlich benehmen, die entweder mit dem Dekors verschmelzen oder aus ihm flüchten wollen. Seine Kamera und unser Blick verlieren sich mit Sicherheit im Rausch, man merkt fast wie sich die Leinwand erwärmt, der Opiumrauch aus den Lautsprechern dringt und man leise liebend stirbt. Irgendwann gibt es wieder eine Blende und ein bewegtes Gemälde entsteht vor unseren Augen, das letzte Abendmahl im Bordell. Die Programmierung des Films hinter „A Summer at Grandpa’s“ im Österreichischen Filmmuseum ist ein kleiner Geniestreich für sich, weil sich in der Härte, in der diese Filme aufeinanderprallen gewissermaßen der Verlust einer filmischen Unschuld zwischen Strenge und Freiheit, Formalismus und Leben, Humor und Resignation aufgemacht hat, der die beiden Extrempole von Hou Hsiao-Hsien zeigt und sie dennoch verbindet, sei es in den Rahmungen oder in der Ausnahmesituation, in der sich seine Figuren an Zwischenorten bewegen, um anders zu leben als sonst, egal ob im Sommer beim Großvater oder in einem Bordell. Am zweiten Tag der Retrospektive ist eine solche Programmierung eine Initialzündung in das Schaffen von Hou Hsiao-Hsien.