Berlinale 2016: In der Akademie

Terra Nullius or: How to be a Nationalist von James T. Hong
  • Nachdem mir die Aufzählungszeichen in Ioanas Festivalberichten aus Rotterdam sehr gut gefallen haben, werde ich sie nun auch in meinen Texten von der Berlinale verwenden.
  • Die ersten paar Tage verbringe ich größtenteils in der Akademie der Künste beim Forum Expanded. Die Filme sind sehr ansprechend, bisher waren unter anderem neue Werke von Kevin Jerome Everson, Deborah Stratman und Mark Lewis zu sehen, doch das Begleitprogramm macht seinem Veranstaltungsort alle Ehre – es geht sehr akademisch zu. Vormittags werden Lecture Performances abgehalten und der Wiener Kunsttheoretiker Helmut Draxler hält in schwer verständlichem Englisch einen Vortrag, in dem es zu viel um Lacan geht. Alles in allem scheint das Forum Expanded eine Parallelwelt zu sein, das dem (musealen) Kunstbetrieb nähersteht, als der (Festival-/) Filmindustrie. Das hat natürlich seine Vorzüge, da man sich hier nicht mit diversen Begleiterscheinungen eines Filmfestivals herumschlagen muss (kurz: es geht wenig ums Geschäft), andererseits werden hier Fragen diskutiert, die recht wenig mit dem zu tun haben, womit ich mich gewöhnlich beschäftige.
  • Teil des Programms des Forum Expanded ist eine umfangreiche Ausstellung, in der Filme und Videoarbeiten gezeigt werden, die nach Ansicht der Kuratoren dort besser aufgehoben ist, als in einem Kinosaal. Im Falle von James T. Hongs Terra Nullius or: How to be a Nationalist (im Übrigen ein großartiger Titel) erscheint mir die Entscheidung jedoch fragwürdig. Eine achtzigminütige Studie, in der Hong sich unterschiedlichen nationalistischen Gruppierungen Taiwans, Chinas und Japans anschließt, um auf der umstrittenen Insel Senkaku zu landen, was ihm jedoch nicht gelingt, verliert im Galerieraum seine Pointe, denn in diesem Film geht es um die Aussichtslosigkeit des Unterfangens, die nur deutlich wird, wenn man den Film in voller Länge sieht. Action at a Distance von Yin-Ju Chen hingegen, ist eine faszinierende Installation auf drei Kanälen, die Found Footage von medizinischen und naturwissenschaftlichen Lehrfilmen und Aufnahmen von Polizeigewalt auf sehr poetische Art verbindet und dabei seinen politischen Gehalt behält, ohne zu plump zu werden – Politische Kunst, die sich bewusst von propagandistischen Inszenierungsformen distanziert, aber sich dennoch nicht in Ästhetizismus verliert.
We Demand von Kevin Jerome Everson und Claudrine Harold

We Demand von Kevin Jerome Everson und Claudrine Harold

  • The Illinois Parables bestätigt Deborah Stratmans Stellung als Meisterin der Essayform. Sie ist weder Benning, Farocki, Godard noch Straub, aber ihre komplexen und vielschichtigen Bild-Ton-Konfrontationen gehören mit zum spannendsten, was es im Gegenwartskino zu entdecken gibt. The Illinois Parables erzählt in elf Stationen von geschichtlichen Ereignissen, die sich in ihrer Wahlheimat Illinois zugetragen haben. Wie gewohnt greift sie dabei auf Archivaufnahmen zurück. Sie verwendet historische Tonaufnahmen, Zeitungsausschnitte, FBI-Akten und Filmaufnahmen, die sie selbst gedrehtem Material gegenüberstellt. Es sind Geschichten der Vertreibung, der Zerstörung, der religiösen Verfolgung, der Umweltkatastrophen und des Rassenhass, die als Ganzes weit über eine reine Beschreibung der Geschichte Illinois hinausgehen und ein stimmiges, wenn auch düsteres Bild der Vereinigten Staaten zeichnen: Vergangenheit wird in der Gegenwart lebendig.

Ein Blick auf die Welt: Deborah Stratman Retrospektive

Hacked Circuit von Deborah Stratman
Hacked Circuit von Deborah Stratman

Hacked Circuit

Zuerst nur ein Blick. Ein Blick auf die Welt in ihrer rohen Essenz. Dieser Blick findet sich nicht zugleich zurecht, irrt irritiert umher, um dann von musikalischen Rhythmen in geordnete Bahnen gelenkt zu werden. Doch diese Ordnung ist nur eine scheinbare, denn just wenn alles geschlichtet scheint, wird die komplexe Mehrstimmigkeit bewusst, mit der die Filme von Deborah Stratman operieren, denen Docalliance bis kommenden Sonntag eine Retrospektive widmet. Ein multidimensionaler Blick auf die Welt also, facettenreiche Arbeiten, die sich mühelos in das Gesamtwerk der Amerikanerin einordnen lassen, obwohl sie alle grundverschieden sind.

Diese natürliche Neugierde, mit der Stratman die Welt auf sich einwirken lässt, dieses Suchen nach immer neuen obskuren Objekten, die es zu bestaunen gilt, erinnert an das Schaffen Werner Herzogs, weniger in Hinsicht auf Formsprache oder inhaltliche Schwerpunkte, sondern als Ausdruck eines Modus, sich durch die Welt zu bewegen und sie aufzuzeichnen. Diese Neugierde, die nie voyeuristisch oder übereifrig wird, kombiniert sie mit einer einzigartigen Musikalität, die sich nicht in erster Linie auf die Rhythmen in ihren Filmen auswirkt, sondern auf die Tonspuren, die sich durch ihre Experimentierfreudigkeit und Mächtigkeit auszeichnen. Doch daraus resultiert keine auditive Dominanz, denn den Bildern bleibt immer genügend Raum sich zu entfalten und eine gewisse Brüchigkeit zu gewährleisten.

O'er the Land von Deborah Stratman

O’er the Land

Stratmans Blick wandert: von der Street Racing Szene in Chicago bis zu einem Tonstudio in Los Angeles. Ihre Interessen scheinen breitgestreut zu sein, und anders als bei Herzog wird nicht so deutlich, für was an ihren Protagonisten sie genau interessiert. Für die Töne und die Musik des Alltags? Für das Potential der Bilder mit Tönen angereichert zu werden? Für Freiheit und Überwachung? So unterschiedlich und unübersichtlich wie ihre Interessensfelder, sind auch Stratmans Herangehensweisen und Arbeitsabläufe. Mal filmt sie mit Handkamera in betont veristischem Stil wie in The BLVD, mal verwendet sie ausgiebig Found Footage, wie in In Order Not to Be Here und Village, silenced, mal filmt sie single shots, wie in Immortal, Suspended und in Hacked Circuit.

Dieser letzte Film scheint mir besonders interessant für eine eingehendere Analyse. Zuerst stieß ich im Rahmen der Viennale auf diesen Film, als er zusammen mit Stratmans überragendem O’er the Land und dem kürzeren Werk Musical Insects gezeigt wurde. Mit seinen knapp fünfzehn Minuten ging der Film damals neben dem übermächtigen Einstünder O’er the Land etwas unter, weshalb ich mich entschied den Film im Rahmen der Retrospektive noch einmal zu sichten. Eine lohnende Entscheidung wie sich herausstellen sollte, denn nachdem ich mich nun eingehender mit dem Werkkorpus der Amerikanerin auseinandergesetzt habe, konnte ich feststellen, dass in Hacked Circuit so einige Fäden ihres künstlerischen Schaffens zusammenlaufen.

Wahrscheinlich am Auffälligsten ist das offensichtliche Spiel des Films mit der Macht des Tons beziehungsweise dessen Manipulation. Die Kamera bewegt sich nämlich in einem ungeschnittenen tracking shot durch ein Tonstudio in Los Angeles, in dem ein Foley Artist gerade dabei ist Töne aus Francis Ford Coppolas The Conversation zu reproduzieren. Die Wahl gerade dieses Films ist kein Zufall, denn The Conversation war durch innovative neue Techniken des legendären Tondesigners und Cutters Walter Murch (dem der Film gewidmet ist) ein technischer Meilenstein des Kinos (der 70er Jahre). Darüber hinaus beschäftigt sich Coppolas Film mit Überwachungsthematik, der Protagonist des Films ist ein Abhörspezialist, ein besonderes Interessensgebiet Stratmans, dem sie sich zum Beispiel auch in In Order Not to Be Here gewidmet hat. Der politische Gehalt bleibt aber zunächst im Hintergrund und vielmehr steht die Neugierde im Vordergrund, die Bewunderung für die technischen Vorgänge im Studio und das formale Gimmick der ungeschnittenen Einstellung. Erst als die Kamera das Studio wieder verlässt und zurück auf die Straße wandert und gleich darauf die Credit-Sequenz ansetzt beginnt sich das bis dato formal-ästhetische Werk in ein politisches Statement umzuwandeln. Nun sind auf der Tonspur Ausschnitte aus einem anderen Film zu hören, in dem Gene Hackman ebenfalls einen Überwachungsspezialisten verkörpert – es handelt sich um Tony Scotts Enemy of the State. Innerhalb eines cinematischen Bezugsrahmens wird augenblicklich deutlich, dass es Stratman zwar schon um die technischen Möglichkeiten des (Film-) Tons geht, aber nicht um apolitischen Ästhetizismus. Die Manipulation des Tons ist nicht bloß künstlerisch spannend, sondern auch hochproblematisch. Schlagartig scheint der Film bewusst machen zu wollen, auf welch schmalem Grat er sich bewegt, zwischen befruchtender Ambivalenz und schnöder Manipulation. Retrospektiv lässt sich diese Gratwanderung auf Stratmans gesamte Karriere ausweiten. Inwiefern macht sie sich selbst schuldig mit ihren Filmen? Wann hat sie den Bogen überspannt und den Rezipienten hinters Licht geführt statt zu erleuchten?

Zum Abschluss eine Widmung, nicht nur an Walter Murch, sondern auch an Edward Snowden. Der tracking shot kulminiert in einem dunklen Kapitel amerikanischer Geschichte und transzendiert ein weiteres Mal seine bisherige Ausrichtung. Von einer allgemeinen Thematisierung von Überwachung und Manipulation hat er sich zum Konkreten hingewendet und in diesem Moment ist Hacked Circuit ein direkter Nachfolger von O’er the Land als Momentaufnahme und Stimmungsbild der US-amerikanischen Seele.

 

Viennale 2014: Kurzfilme

"Fog Line" von Larry Gottheim

Was ich besonders an der österreichischen Filmlandschaft schätze ist, dass sie immer auch Platz für vergleichsweise marginalisierte Filmformen, wie Avantgarde-, Dokumentar- und Kurzfilme bietet. Wie jedes Jahr wartet die Viennale mit einer großen Auswahl an Kurzfilmprogrammen auf – neben einigen Programmen zu Filmen aus dem laufenden Jahr, gibt es auch eine Retrospektive zum 16mm-Film zu sehen, die aus 13 Programmen besteht (12 davon sind Kurzfilmprogramme). Es sammelt sich also eine Menge an großartigen Kurzfilmen an, über die (zu) wenig geschrieben wird. Zur Halbzeit des Festivals will ich also die Gunst der Stunde nutzen und ein paar meiner bisherigen Favoriten besprechen.

Milchig weiße Leinwand, ein dunkler Schemen rechts im Vordergrund. Warten, dass etwas passiert. Es passiert nichts. Passiert nichts? Langsam, eigentlich unmerklich wird der Schemen deutlicher, weitere Schemen sind zu erkennen. Eine Landschaft. Am Ende sieht man eine nebelverhangene Baumgruppe und versucht sich das Anfangsbild ins Gedächtnis zurückzurufen. Subtile Veränderung. Film ist Raum in der Zeit. Fog Line ist Film. Ein Meisterwerk des (Strukturalen) Films.

Fog Line lief im 16mm-Programm „Struktureller und freier Film“. Dabei handelte es sich quasi um ein Best Of des klassischen Avantgardeschaffens der 60er und 70er Jahre in 16mm – soweit man bei einem 70-minütigen Programm überhaupt von einem Best Of sprechen kann. Das soll die Qualität der ausgewählten Filme jedoch nicht schmälern. Neben Fog Line liefen in diesem Programm noch acht andere Filme, die eigentlich alle eine Erwähnung verdient hätten – ich beschränke mich auf Bruce Conners Cosmic Ray, das wohl beste Ray Charles-Musikvideo aller Zeiten. Conners Filme kann man eigentlich nicht oft genug sehen, deshalb war ich sehr dankbar für die Gelegenheit wieder einmal in seine Bilderwelten aus beißender Politsatire und Filmgeschichtszitaten einzutauchen. Cosmic Ray ist Kunst und Krempel in einem. Ein Meilenstein des Found Footage-Films und des New American Cinema allgemein.

Ebenfalls als Meilenstein des New American Cinema darf Bruce Baillies Quixote gelten. Baillie, dem mit „Oden an eine untergegangene Welt“ ein eigenes Programm gewidmet wurde, löst hierin die kalifornische Landschaft in Licht auf. Elegisch, fließend, poetisch, lyrisch ist der Film, da gehen einem die Adjektive und Superlative aus. Über vierzig Minuten habe ich das Licht gesehen – wohl mit ein Grund weshalb Aleksey Germans Hard to be a God, der im Anschluss lief, so schlecht bei mir weggekommen ist.

Quixote von Bruce Baillie

Aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Einer der spannendsten österreichischen Filmemacher der Gegenwart ist zweifelsohne Johann Lurf. Der meldete sich auch mit einem neuen Film zurück, der ironischen Essaykomposition Twelve Tales Told, einer melodischen Kakophonie aus Logovorspännen großer Filmstudios. „Melodische Kakophonie“, ein Oxymoron, ganz wie die Vermengung von Blockbusterkultur und Filmavantgarde.

Die US-Amerikanerin Deborah Stratman ist altersmäßig zwischen dem 32-jährigen Lurf und dem 83-jährigen Bruce Baillie anzusiedeln. Jedes Jahr stellt die Viennale unabhängige Filmemacher der Gegenwart vor. 2014 laufen diese Filme unter dem Programmpunkt „Broken Sequence“. Stratman ist neben ihrem Landsmann Kevin Jerome Everson und der Österreicherin Dorit Margreiter eine der drei Künstler und Künstlerinnen deren Arbeiten hier präsentiert werden. Und zurecht. Stratmans O’er the Land kann ohne Zweifel zur Riege der ganz großen Studien zum Wesen der amerikanischen Gesellschaft gezählt werden. Ausgehend vom Schicksal des Piloten William Rankin, der anno 1959 aus rund vierzehn Kilometern Höhe über und durch eine Gewitterwolke seinen Kampfjet mittels Schleudersitz verlassen musste. Das ist bis heute der einzige bekannte Fall in dem solch ein Manöver von einem Piloten überlebt wurde. Da Rankin wegen seines Alters nicht für ein Interview bereitstand (wie einer aufgezeichneten Nachricht von Stratmans Anrufbeantworter zu entnehmen ist), macht die Filmemacherin sich auf Heroismus und Pseudo-Heroismus ihres Landes einem kritischen Blick zu unterziehen. So folgt sie unter anderem den Protagonisten eines Reenactments einer Schlacht aus dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, Feuerwehrmännern und Grenzpatrouillen bevor sie sich selbst in die Wolken stürzt und eine geradezu magische Sequenz aus Himmel und Wolken auf die Leinwand zaubert und im Off-Kommentar Rankins Beschreibung seines einzigartigen Erlebnisses zu hören ist. An Stratman ist eine beachtliche Actionthriller-Regisseurin verloren gegangen – ein Verlust für die Filmindustrie, ein Gewinn für den unabhängigen Film.

O’er the Land von Deborah Stratman

O’er the Land ist eine ethnografische Studie des Landes und mit dem Stichwort Ethnografie sind wir schon beim letzten Abschnitt dieses kleinen Zwischenberichts angekommen. Ich kehre zurück zu einem der 16mm-Programme. „Radikale Ethnografie“ vereint acht Filme, die über Menschen und ihre (teils skurrilen) Lebensweisen erzählen. Dabei geht es nicht bloß um venezolanische Indianerstämme (wie in Children’s Magical Death) oder Tanzrituale in einem afrikanischen Dorf (wie in Tourou et Bitti), sondern auch um uns nicht ganz so fremden Milieus, wie der Wrestlingszene in Montreal (in La Lutte) oder einem Badesee in Massachusetts (in Quarry). Wenn es dem Programm darum ging das Poetische des Alltagslebens aufzudecken, dann hat Almadabra Atuneira von António Campos diese Aufgabe am befriedigendsten bewältigt. Seine wortlose Studie über portugiesische Fischer zeugt nicht bloß von einem immensen Verständnis für Arbeitsabläufe und Lebensweisen, sondern auch von einem unglaublichen Gespür für die Schönheit von Licht und Schatten. Das Glänzen des Sonnenscheins auf den Wellen der Algarveküste ist das elegische Licht Bruce Baillies. Das Glänzen des Sonnenscheins ist Nebel. Das Glänzen des Sonnenscheins ist Film.