Die 13 Kinomomente des Jahres 2014

Horse Money

Wie jedes Jahr möchte ich auch 2014 meine Kinomomente des Jahres beschreiben. Diese Liste ist keineswegs endgültig, da ich sicher in den kommenden Jahren viele Schätze entdecken werde, die es verdient gehabt hätten, auf meiner diesjährigen Liste zu stehen. Ich beschreibe ausschließlich Momente aus Filmen aus dem Jahr 2014. Dabei gehen natürlich eine Menge Filme verloren, die ich dieses Jahr zum ersten Mal gesehen habe und die mir vielleicht die wahren Kinomomente des Jahres bescherten. Damit meine ich zum einen die zahlreichen Retrospektiven im Österreichischen Filmmuseum (hier vor allem jene von John Ford, Hou Hsiao-Hsien und Satyajit Ray), im Stadtkino Wien (Tsai Ming-liang), im Metrokino Wien (Peter Handke Schau), auf Crossing Europe (Joanna Hogg) oder der Diagonale (Agnès Godard). Außerdem gibt es natürlich Filme, die erst dieses Jahr regulär oder nicht-regulär ins Kino kamen, die ich aber zum Jahr 2013 rechne. Dazu gehört allen voran die Entfremdungshypnose Under the Skin von Jonathan Glazer oder der zugedröhnte Scorsese-Zirkus The Wolf of Wall Street.

Dies ist also weder eine subjektive Liste der besten Filme des Jahres noch gibt es in ihr irgendeine relevante Reihenfolge. Vielmehr ist es eine Liste, die in mir geblieben ist. Die kleinen Erinnerungen, die Träume, die man nach den Filmen hatte, die Ekstase, die man manchmal an Sekunden und manchmal an Stunden eines Films festmachen kann. Es geht um diese Atemzüge, in denen mein Herz aufgehört hat zu schlagen und ich das Gefühl hatte, etwas Besonderes zu sehen. Wenn Film in seiner Gegenwart schon wieder verschwindet, dann bekommt unsere Erinnerung daran eine besondere Bedeutung. Die Erinnerung speichert, verändert oder ignoriert einen Film. Sie ist nicht denkbar und nicht lenkbar. Genau hier trifft uns das Kino mit seiner Wahrheit. In der Erinnerung liegt auch die Fiktion, die im diesjährigen Kinojahr eine solch große Rolle gespielt hat. In vielen Filmen wurde die Frage gestellt, wann und wie Geschichten entstehen, wie sie an unsere Lügen, unsere Vergangenheit und an unsere Träume gebunden sind. Das Kino existiert zweimal. In der Gegenwart seiner Projektion und in der Gegenwart unserer Erinnerung.

Cavalo Dinheiro von Pedro Costa – Ventura spuckt

Horse Money Pedro Costa

Eigentlich ist Cavalo Dinheiro ein einziger Augenblick, in dem jedes Blinzeln zu einer filmischen Sensation wird. Wenn ich mich allerdings für einen dieser Flügelschläge der Augenlider entscheiden muss, ist das jene Szene, in der wir aus einer weiteren Einstellung den erschöpften Ventura sehen. Er hat einen Husten- und Spu(c)kanfall und steht im Schatten einer Lichtung. Mit gebeugter Haltung bebt er zwischen Häusern, Welten und Zeiten. Dabei sind Vögel zu hören, wie ein Moment des Friedens in der (körperlichen) Revolution. Ein derart poetisches Leiden habe ich selten gesehen und gehört.

Feuerwerk am helllichten Tage von Diao Yinan – Die Zeit springt

Feuerwerk am helllichten Tage

Es ist dieser Sprung in die Zukunft, der mit einem Moped in einem Tunnel beginnt, der den Schnee, den verdreckten Schnee in die schwarze Kohle bringt. Das Moped verlässt den Tunnel und fährt an einem Betrunken vorbei. Es wird langsamer, dreht um. Hier beginnt das virtuose Spiel der Perspektivwechsel, eine Verunsicherung, eine Leere in der Stille und eine Anspannung im Angesicht der Mitmenschen. Es ist ein Phantom Ride, der umdreht, um zu stehlen. Am Straßenrand liegt völlig betrunken in einem Winterschlaf unsere Hauptfigur. Wir passieren ihn nur als Randfigur, aber wir ergreifen die Gelegenheit. Ab diesem Zeitpunkt herrscht ein Schleier der Verunsicherung über Bilder, Figuren und den Film selbst, der einen kaum mehr loslassen kann.

P’tit Quinquin von Bruno Dumont – Van der Weyden schießt in die Luft

Kindkind Dumont

In Bruno Dumonts Unfassbarkeit P’tit Quinquin herrscht eine anarchistische Derbheit, die sich in der ironischen Umarmung einer Absurdität und Deformation entlädt wie man sie wohl noch nie gesehen hat. Der Naturalist hat sich in einen Surrealisten der Realität verwandelt und mit der zuckenden und stolpernden Figur des Polizisten Van der Weyden hat er die perfekte Verkörperung seiner Welt erschaffen. In einer der vielen irrsinnigen Szenen dieser Figur schießt der gute Mann zum Schrecken seiner Umgebung spontan in die Luft. Es gibt keinen Grund dafür, außer vielleicht den Knall selbst, die Freude und das Adrenalin daran und genau hierin liegt der neue Existentialismus des Bruno Dumont. Man muss lachen und dann fühlt man sich ganz alleine.

Maidan von Sergei Loznitsa-Die Kamera bewegt sich

Maidan Loznitsa

Mein formalistisches Herz erlitt einen Orgasmus als ich sah wie sich der Fels in der revolutionären Brandung, der von einer statisch-poetischen Kamera verkörpert wurde, dann doch dem Schicksal seiner Lebendigkeit ergeben musste und sich ob der zahlreichen Angriffe, dem Chaos der politischen Ungerechtigkeiten und den Prozessen einer Gemeinschaftlichkeit bewegen musste. Mitten im Kampfgeschehen stehend, flieht die Kamera hektisch wackelnd einmal in eine andere Position. Es ist die einzige Kamerabewegung im Film, an die ich mich erinnern kann. Alles andere ist statisch. Fast erstickende Sanitäter torkeln um sie herum und im nebeligen Hintergrund offenbart sich langsam eine schwarze Wand aus Polizisten. Stimmen sind zu hören und immer wieder ein Knall und plötzlich wird uns klar, dass wir gefährdet sind. Denn die Distanz, die wir haben, kann nur gebrochen werden, wenn sie eine Distanz bleibt und in ihrer Distanz angegriffen wird.

Jauja von Lisandro Alonso-Dinesen zieht seine Uniform an

Jauja Alonso

Jauja ist ein Film voller Erinnerung. Vielleicht nehme ich aus diesem Grund ein Bild aus dem Film, das darüber hinausgeht, weil es neben dem somnambulen Aussetzen einer zeitlichen Regung auch einen einsamen Stolz erzählt, der so wichtig ist für unsere Wahrnehmung einer Person, sei es in Träumen, durch die Augen eines Hundes oder im Kino. Kapitän Dinesen (der aus undefinierbaren Gründen für mich beste Name einer Figur im Kinojahr 2014) hat festgestellt, dass seine Tochter in der Leere der Wüste verschwunden ist. Im murnauesquen Mondlicht macht er sich hektisch auf den Weg. Dann bricht er plötzlich ab. Ganz langsam richtet er seine Uniform her. Er kleidet sich. Er bereitet sich vor. Aus der Panik erwächst die Spiritualität, aus dem Mond wird ein entstehender, glühender Feuerball.

La meraviglie von Alice Rohrwacher-Bienenschwarm

Land der Wunder Rohrwacher

La meraviglie ist wohl der einzige Film auf dieser Liste, der dem Leben nähersteht als dem Tod (obwohl er vom Tod erzählt…). Eine schier unendliche Energie geht durch die Alltäglichkeit des Kampfes dieser Bienenzüchterfamilie. Wie ein Sinnbild ohne Metaphorik fungieren dabei die Einstellungen, die sich im Surren und Treiben der Bienenschwärme verlieren. Denn die Lebendigkeit des Films und die organisierte und nur scheinbare Richtungslosigkeit finden sich auch in den schreienden Massen an Bienen. Aber welch Wunder dort wirklich möglich ist, zeigt sich in der Zärtlichkeit des Umgangs der älteren Tochter, die in einem perfekten Erklingen von Schönheit inmitten des Chaos eine Biene aus ihrem Mund klettern lässt. Magie und das ewige Summen bis die Zeit vorbei ist.

Turist von Ruben Östlund-Der POV Hubschrauber

Höhre Gewalt

Ruben Östlund beherrscht in seinem Turist die Psychologie seiner Figuren und jene des Publikums zur gleichen Zeit. Diese zynische Souveränität korrespondiert in ihrer perfiden Perfektion mit dem Inhalt und so ist es nur konsequent, dass Östlund sie mindestens an einer Stelle zusammenbrechen lässt. Diese Stelle findet sich im schockierendsten Perspektivwechsel des Kinojahres. In einem Moment der völligen Erbärmlichkeit, des grausamen Schweigens nach einer Offenbarung des Geschlechterkrieges, fliegt ein Spielzeugufo durch das Zimmer im Touristenhotel. Östlund schneidet in einen POV aus dem Gerät und bricht damit nicht nur die Anspannung sondern zeigt welch sarkastischer Horror sich hinter dieser Psychologie verbirgt. Ich springe jetzt noch, wenn ich mich daran erinnere. Es ist wie eine Erinnerung an die Welt inmitten des Dramas. Es sei natürlich gesagt, dass Turist ein Film ist, der sich mit der Bedeutung eines einzigen Moments befasst. Aber er sucht vielmehr die Momente, die aus einem Moment resultieren.

Journey to the West von Tsai Ming-liang – Lavant atmet

Denis lavant Tsai

Im Fall der Meditation Journey to the West ist es ein Ton, den ich nicht vergessen kann. Es ist das ruhige Atmen des schlafenden Denis Lavant. Seine vibrierenden Nasenflügel, sein Erwachen, das antizipiert wird. Seine ruhende Kraft, die alles mit ihm macht, was es in den Bewegungssinfonien bei Carax kaum geben kann. Ich höre es. Es ist gleichmäßig und es ist von einer ähnlichen Schönheit wie jede Sekunde in dieser Rebellion der Langsamkeit.

Winter Sleep von Nuri Bilge Ceylan – Der verbale Tod

Winterschlaf Ceylan

Nuri Bilge Ceylan erforscht in seinem Winter Sleep die Kraft von Film als Literatur. Er bewegt sich auf einem philosophischen Level mit großen Schriftstellern und macht fast unbemerkt auch noch ungemein gute Dinge mit dem Kino. Ein solcher filmischer Augenblick findet sich in der plötzlichen Abwesenheit der Schwesterfigur nach einem intensiven Dialog mit ihrem Bruder, einem verbalen Mord der Widerwärtigkeiten, Lügen und grausamen Wahrheiten. Sie befindet sich hinter einer geschlossenen Türe und die wie das so ist mit Worten, wird einem die Tragweite von ihnen zumeist nicht im Moment ihrer Aussprache bewusst, sondern im Moment der Reaktion. Hier ist die Reaktion eine Abwesenheit. Im Dunst eines erdrückenden Winters des Selbsthasses.

Phantom Power von Pierre Léon – Die Hände von Fritz Lang

Pierre Léon

Man ist schon trunken, ob der Musik und der Worte, dann kommen die Bilder. Es sind nicht jene Bilder von Léon selbst, sondern es ist dies eine Liebeserklärung an Fritz Lang. Die Hände von Fritz Lang, die zärtlich krallen, die halten und fallen, vielleicht töten, manchmal lieben. Sie sind Bewegung und Erinnerung, in ihnen findet sich ein Stottern im Angesicht einer Sucht, sie sind wie eine Unmöglichkeit zu berühren, sie berühren.

Al doilea joc von Corneliu Porumboiu – Die Angst von Porumboiu

Porumboiu Bukarest

Es ist nur eine kleine Randbemerkung, man bemerkt sie kaum, aber sie ist entscheidend. In diesem Gespräch zwischen Vater und Sohn, im Angesicht eines verschneiten Fußballspiels äußert Corneliu Porumboiu, dass er als Kind Angst hatte vor dem Fernseher. Diese Angst wird nicht weiter erläutert und sein Vater, der das Spiel als Schiedsrichter leitete, geht nicht weiter darauf ein. Aber in dieser Formulierung liegen die Unheimlichkeiten und dir Zärtlichkeit des Films zur gleichen Zeit. Ist es die Angst des Sohnes, wenn er seinen Vater unter Druck sieht? Ist es die politische Angst eines Rumäniens kurz vor der Revolution? Ist es die Angst vor dem Schnee, der Kälte, dem Ende der Welt? Ist es die Angst vor der Zeit, die Angst vor der Erinnerung, ist es gar keine Angst sondern eine Illusion? Ist es eine Vorteilsregelung, wenn der Vater darauf nicht eingeht, ermöglicht er so das Leben und das Spiel, den Fortgang von allem?

From What is Before von Lav Diaz – Es beginnt der Regen

Lav Diaz Locarno

Ich war mir plötzlich ganz sicher, dass es Geister gibt. Vor kurzem war ich in einem Wald und alles war ganz still. Plötzlich hörte man einen Wind kommen und erst eine halbe Minute später erreichte dieser Wind die Bäume unter denen ich wartete. Er zog durch sie hindurch und weiter in die Tiefen des dunklen Dickichts. Bei Diaz kommt so der Tod. Zunächst sehen wir einen Mann und eine Frau im digitalen schwarz-weiß einer übermächtigen Umwelt an einem Fluss. Plötzlich sieht der Mann etwas Off-Screen, ein unheimliches Gefühl entsteht. Dieses Gefühl entsteht alleine aus der Zeit, die Diaz fühlbar macht. Es beginnt zu regnen. Etwas ist passiert, wir haben es gespürt. Es wirkt als würde ein böser Geist erscheinen, man bekommt es mit einer unsichtbaren Angst zu tun. Dabei denke ich an den Wind im Wald. Dann erscheint im Bildhintergrund eine leidende Frau. Sie bricht zusammen und beklagt weinend den Tod ihres Sohnes. Kurz darauf sitzt sie in einem Kreis und singt über den Tod ihres Sohnes und ihr Schicksal. Die Frauen und Männer, die um sie sitzen beginnen nach und nach zu weinen. Es läuft einem kalt den Rücken herunter, man muss selbst weinen, man spürt jeden Tropfen Verlorenheit, persönlich und politisch.

Leviathan von Andrey Zvyagintsev – Das Meer

Leviathan

Immer wenn Zvyagintsev das Meer filmt, findet seine Kamera das profunde Wesen seiner Ambition und erreicht eine spirituelle Kraft, die dem modernen Kino ansonsten aufgrund seines reflektierten Zynismus abgeht. Leviathan ist ein Film wie die Philosophie einer brechenden Welle, ein wundervolles Monster im Ozean, es treibt dort seit Jahrhunderten. Es ist ein suizidaler Magnet, eine andere Welt, eine Grenze. Das Meer ist auch trügerisch, denn hier finden sich zugleich der Tod und das ewige Leben. Es ist eine sehnsuchtsvolle Lüge und in der Weite erblickt man entweder die Hoffnung oder die Hoffnungslosigkeit. Das Meer kann uns alles geben und alles nehmen. Hier ist die Natur, die Bewegung und die Reise in einem Bild.

Leos Carax.Regisseur

Man sollte die Augen öffnen und sich einfach von den Emotionen leiten lassen. Sag eine Nummer: 1,2,3!

Boy meets girl

Boy meets Girl

Das Kino von Leos Carax ist keines durch das man langsam gleitet, keines das sich zusammenhängend erschließt. Ich weiß noch als ich zum ersten Mal einen Film von Leos Carax gesehen habe, war ich mit offenem Mund da gesessen und wusste nicht mehr, was ich fühlen soll. Dieser Film war „Les Amants du Pont-Neuf“ und man hatte mich auf ein besonderes Erlebnis eingestellt, aber nicht darauf. Magie. Kino ist Magie bei Carax. Die Lichter spiegeln sich auf dem Wasser und die nackte Fatalität der Figuren scheint sich in die filmische Sprache selbst verwandelt zu haben. Immer wieder gibt es wahnsinnig schnelle Parallelfahrten bei Carax und man hat das Gefühl, dass Charaktere und Kamera aus den Filmen flüchten wollen. Bis zu dessen Tod arbeitete Carax, dessen Name eine Art Anagramm aus seinem tatsächlichen Namen Alexandre Oscar Dupont ist, mit Kameramann Jean-Yves Escoffier zusammen und bei ihnen ist jedes Bild ein Plakatmotiv. Die Flucht vor der Filmwelt, vor den Oberflächen und letztlich der Materialität findet sich immer bei Carax. Es ist als wären seine Figuren eingesperrt im Rahmen des Bildes und so reibt Alex, der meist so heißt und meist von Denis Lavant gespielt wird in „Les Amants du Pont-Neuf“ seinen Kopf gegen den Asphalt als wollte er entweder diesen oder sich selbst auflösen, wie wenn Lavant in den Punkten des Motion Capture Systems in „Holy Motors“ verschwindet oder wie Juliette Binoche seinen Blicken in „Mauvais Sang“ als eine tatsächlich gefilmte Gänsehaut entgleitet und doch in ihm bleibt, das dampfende Bad in „Pola X“, die Sterne in „Boy meets Girl“:

Spiegel,

Schatten,

Licht,

Berühre mich

1. Spiegel

Holy Motors

Holy Motors

In vielerlei Hinsicht macht Carax immer einen Film über das Kino. Sei es in seiner dadaistischen Variation auf japanische Horrorfilme (das wird seinem Beitrag zum Omnibusprojekt „Tokyo!“ nicht mal annähernd gerecht…) „Merde“, seien es Bresson-Zitate in „Mauvais Sang“, hunderte Zitate dort und überall, das Schauspiel in „Holy Motors“ und vieles mehr. Bei ihm spielen Schauspieler auch immer im Bewusstsein ihrer bisherigen Karrieren. Man sieht das natürlich bei Lavant, den Carax in vier seiner fünf Langfilme vor Spiegel stellte, aber auch bei Édith Scob oder Juliette Binoche. Binoche ist der schönste Geist der Filmgeschichte, ein Wesen, das die Zeit anhält, jedes Mal halten seine Filme beim Blick auf sie, bewundernd, ängstlich, heilig und erkennen in ihr das ganze Kino. Kein Wunder, dass Carax sich selbst vor die Kamera bewegte. Zum einen am Beginn von „Holy Motors“ als schleichender Voyeur im Kino, als einsames Wesen hinter unseren Blicken und dann in seinem Viennale-Trailer „My last minute“. Seine Einflüsse sind nicht zu greifen, weil sie nichts im Kino verneinen außer der Gewöhnlichkeit. Jean-Luc Godard und Robert Bresson scheinen offensichtlich, aber auch Georges Méliès, Stan Brakhage, Hollywoodklassiker der 40er und 50er oder Jean Cocteau sind nicht zu weit hergeholt. Carax ist eine Filmexplosion. Er feuert aus allen Rohren der kinematographischen Grammatik. Alleine in welch elaborierter Art er Aufsicht und Untersicht ineinander wirft, wie beim ihm das Artifizielle zum Realen wird und andersherum zeigt, dass Carax ein Mann des Kinos ist, der immer in den Spiegel blickt, wenn er Kino macht. Und machen heißt bei ihm träumen.

Boy meets girl

Boy meets Girl

Musical, Stummfilm, Actionfilm, Horrorfilm, schwarz-weiß Bliss, flache Bilder, tiefe Bilder, schnelle Schnitte, keine Schnitte, Sprünge, Jukebox- oder Orchestersound, Flüstern, Schreien, ein Schwenk, ein Zoom, Found-Footage, Schärfenverlagerung, ein Cache, alles, wirklich alles nur nicht dann, wenn man es erwartet. In der Zeit des cinema du look großgeworden atmet Carax den Geist der Nouvelle Vague weiter, aber er ist ein Individualist, jedes Label wird ihm ungerecht, eigentlich auch jedes Wort. In der wohl herausragenden Arbeit über Leos Carax schlechthin haben Adrian Martin & Cristina Álvarez López auch auf bewegte Bilder zurückgegriffen, um ihre großartigen Gedanken zu Spiegeln und Glasflächen, Türen und Bildern im Kino von Carax zu unterstreichen und zu ergänzen. Ich persönlich habe Probleme zu wissen, was ein Spiegel ist bei Carax. Ich traue den Spiegeln nicht, ich habe das Gefühl sie existieren nicht, ich glaube, dass auf der anderen Seite ein Doppelgänger lauert. In „Pola X“ gibt es einen ganz kurzen Moment, als Guillaume Depardieu seine Familie verlässt und sich ganz kurz in einer Reflektion sieht. In diesem Moment explodiert die Glühbirne und das Licht erlischt zusammen mit der Spiegelung. In „Holy Motors“ taucht eine solche Spiegelung kurz am Autofenster von Kylie Minogue auf. Dort erscheint Denis Lavant und es ist als würde er sich selbst den Weg zur anderen Person verstellen. Insofern passen auch die eingangs beschriebenen Fluchtversuche zu den Spiegeln bei Carax. Denn sie machen klar, dass auf der anderen Seite nichts ist, nur eine Illusion. Man kommt nicht raus aus diesem Rahmen, der früher immer eine Leinwand war (Nostalgie ist nicht falsch mit Leos). Aber das ist in sich ein Spiegelbild, denn statt dem Zuschauer klarzumachen, dass er nur eine Illusion sieht, macht Carax seinen Figuren klar, dass sie nur eine Illusion sind. In „Boy meets Girl“ verharren die sterbenden Liebenden vor einer sich spiegelnden Glasfassade. Sie sehen nur noch die Geister ihrer Träume. Bowie singt und ich will mit Leos weinen. Bei ihm heißt das Kino betrachten auch immer gegen das Kino rebellieren.

2.Schatten

Pola X

Pola X

Carax ist ein Surrealist. Ein Komiker der Schatten. Seine Filme umarmen das Irrationale. Bei ihm springen Gefühle wirklich, sie zerspringen wie die reifen Knospen an einem Springkraut im Frühling. Jedes neue Bild ist bei ihm wieder eine neue Herausforderung, ein neues Spiel. Wer schaut wohin, warum und was (ist) passiert? Für ihn ist sicherlich der Kino-Moment wichtiger als eine Geschichte. Er sucht die perfekten Bilder, die perfekten Töne für den Moment. Wenn es ihm an Körperlichkeit fehlt, dann findet er sie, wenn es ihm an Tränen fehlt, dann findet er sie, wenn es ihm an Gewalt fehlt, dann findet er sie. Am eindrücklichsten zeigen sich diese Neigungen in den musikalischen Eskapismus-Szenen seiner Filme wie beispielsweise der Modern Love Sequenz in „Mauvais Sang“ oder dem Akkordeon-Zwischenspiel in „Holy Motors“. Aber bei genauerer Betrachtung ist eigentlich fast jede Szene eine neue Richtung. Die episodische Struktur von „Holy Motors“ ist nur das weniger subtile Ende dieser Straße bei Carax. Seine scheinbare Willkür in der Form dient genau dieser Unberechenbarkeit. Erst mit der letzten Einstellung erkennt man, dass alles am richtigen Platz ist. Damit will ich nicht sagen, dass in der letzten Einstellung irgendwelche Plotdetails verraten werden, sondern dass sie einen Erinnerungsschock auslöst, der die zerbrochenen Teile zu einem Bild zusammenfügt: Das Blut in „Boy meets Girl“, Binoche rennt bis sie selbst zum Flickerbild wird in „Mauvais Sang“ oder eine unscharfe Vision eines Waldes in „Pola X“.

Les Amants du Pont Neuf6

Les amants du Pont-Neuf

Carax umarmt diese Unschärfe, er liebt das Unsichtbare. Immer wieder verschwinden Figuren aus unserem Blickfeld, er versteckt sie im Rauch seiner Schönheit, hinter Türen, in Autos. Jederzeit spüren wir trotz der Magie bei Carax, dass etwas nicht greifbar ist. Unser Begehren zu Schauen wird geweckt und dann verneint. Er macht uns klar, dass Begehren immer scheitert, aber wir immer dafür fallen werden. Auf narrativer Ebene wird das durch die melodramatischen Liebesgeschichten noch unterstützt, denn Carax erzählt ganz klassisch von einer unmöglichen Liebe gegen die Gesellschaft, gegen die Voraussetzungen, gegen das Leben. Im Zentrum stehen Außenseiter, Neurotiker, einsame Drifter. Sie sind immerzu fremd in ihrer Welt. Das Kino von Carax verbündet sich mit dem Fremden, indem es das Fremde umarmt und huldigt. Das Außergewöhnliche wird zum Genuss, zur Ekstase. Man verliebt sich in Neurotiker, man muss ein Neurotiker sein, um seine Filme wirklich zu sehen, aber wer ist kein Neurotiker? Einer dieser Fremden ist Monsieur Merde, ein Monster aus der Unterwelt, das zuerst in „Tokyo!“ vorkommt und dann auch in „Holy Motors“ aufkreuzt, um Eva Mendes zu entführen. An der Oberfläche ist er ein Monster, aber in der Unterwelt hat er sich ein kleines romantisches Paradies geschaffen. In „Merde“ nutzt Carax die Figur noch für wilde politische Allegorien, in „Holy Motors“ wird sie dann selbst eine Rolle. Jedenfalls ist diese Person der Inbegriff des Ausgestoßenen. Und so fühlt sich wohl auch Carax, der öffentlich seinen eigenen Schatten wahrt, häufig äußerst schüchtern und wortkarg auftritt und meist eine Sonnenbrille trägt. Der Regisseur hat um sich selbst und vor allem um seine Beziehungen zu seinen Hauptdarstellerinnen ein ähnliches Mysterium errichtet wie im zeitgenössischen Kino beispielsweise auch Pedro Costa. Das Mysteriöse, das Unsichere ist Teil ihrer Persönlichkeiten und Teil ihres Kinos. Sie halten damit ein romantisches Bild des Künstlers aufrecht, das es heute eigentlich kaum mehr geben kann. Ihr gemeinsamer Meister: JLG. In den Filmen wird dann konsequenterweise Blindheit thematisiert, die Augen werden in Mitleidenschaft gezogen. In „Les Amants du Pont-Neuf“ verliert die Malerin Michèle langsam ihr Augenlicht. Als eine Behandlung der Krankheit möglich wird, will Alex nicht, dass das passiert, denn das fehlende Augenlicht macht sie zu einer Außenseiterin ganz so wie er ein Außenseiter ist und nur so ist ihre unmögliche Liebe auf der Brücke, unter der Brücke und über der Brücke möglich. Aber das fehlende Augenlicht ist auch eine Verneinung dessen, um was es im Kino geht: Das Sehen. Der weiße, tote Augapfel von Monsieur Merde und seinem Anwalt in „Merde“, die Hände von Lavant über den Augen von Julie Delpy in „Mauvais Sang“, die Maske in „Holy Motors“. Carax will alles sehen und nichts sehen. Und so trennt er verschiedene Einstellungen mit einem kurzen schwarzen Bild, ein Augenzwinkern, ein Schatten auf den Lidern der Zuseher.

3.Licht

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Pola X

Was wir sehen im Kino von Carax sind Frauen. Außer vielleicht bei Ingmar Bergman kann man solche Frauen nicht finden. Solch eine Hingabe zur Poesie des Blicks, die Frauen auf der einen Seite zu Müttern, Huren und Heiligen stilisiert und auf der anderen Seite ihre Individualität feiert, sie völlig frei in die Augen fluten lässt. Er hat ein Auge für fragmentierte Schönheit, wieder sind es Momente, diesmal jene der Frauen. In der 700.Ausgabe der Cahiers du Cinéma hatte Carax auf die Frage nach Emotionen im Kino mit dem gefilmten Nacken von Frauen geantwortet. So wie jener Nacken von Binoche in „Mauvais Sang“, in dem sich das Bild völlig verliert, wieder filmt Carax Gänsehaut. In jungen Jahren hatte er mal gesagt, dass er Filmemacher geworden sei, um mit seinen Hauptdarstellerinnen zu schlafen. Soweit ich es beurteilen kann, ist ihm das gelungen. Aber das spielt keine so große Rolle, denn seine Kamera, sein Mikrofon, sein filmisches Gewissen schläft mit jeder Frau in seinen Filmen. Carax filtert jedes Bild nach seiner schönsten Regung. Er fokussiert mal die Haut, in leichtem sterbenden Licht, dann den Nacken, pulsierend, oft die Augen, die wie das Glas oder die Spiegel leuchten, die oft weinen, manchmal lachen, die krank sind oder sich weigern weiter zu sehen. Er konzentriert sich auf die Füße, auf die Körperlichkeit, elegante Schritte, ein Schweben, Haare, die im Wind wehen. Die Filme von Carax sind Liebesbriefe an die Liebe. Dabei spielt auch immer der Blick selbst eine Rolle im Licht der Frauen. Der Voyeurismus des Kinos ist mit Carax seine größte Stärke. Lavant beobachtet immer wieder die Frauen, steht am Rand, wenn sie mit ihren eigentlichen Partnern zusammen sind, blickt durch Fenster, so wie Carax selbst im Kino lauert. „Boy meets Girl“ ist so ein „Boy looks at Girl“ und die Unschuld darin liegt in der offensichtlichen Schuld. Hier blickt jemand, weil er nicht anders kann. Dabei spielen Körper und ihre Bewegung eine essentielle Rolle. Insbesondere die Körperlichkeit von Denis Lavant wird zu einer Spielfläche der Emotionen bei Carax. Immer wieder wirft Carax körperliche Szenen und Stunts in seine Filme, die eher metaphorisch mit dem Rest des Films zusammenhängen, aber vielleicht auch der wahre Kern, der Herzschlag von Carax sind: Fallschirmsprünge, Wasserskieinlagen samt Feuerwerk, wildes Rennen, Tanzen in Einsamkeit, ein Ausritt auf dem Pferd, Akkordeonmusicalszenen. Es sind athletisch-körperliche Akte, es sind Herausforderungen für die Körper, die in ihrer Unberechenbarkeit und Schönheit von Carax erforscht werden. Er sagt, dass er diese Szenen proben würde, die „normalen“ Szenen nicht.

Mauvais sang

Mauvais Sang

Die Bewegung ist auch eine Sache der Fahrzeuge bei Carax. Motorboote, Motorräder, Flugzeuge, Limousinen. Bei Carax gibt sich alles dem Rausch einer endlosen Bewegung hin, seine Kamera ist nicht geduldig, sie fährt nach vorne und hinten, sie sucht in jedem Bild die Schönheit, man hat jederzeit das Gefühl, dass sie sich bewegen möchte, selbst wenn sie steht. Dazu träumen David Bowie oder Scott Walker und man ahnt, dass es sich nur um Träume handeln kann. Das Licht bei Carax ist ein Licht der Träume, der Wünsche. Die Irrationalität hängt mit einer Traumlogik zusammen, die manchmal in eine Hysterie kippt, die man sonst etwa von Andrzej Żuławski (der am selben Tag wie Carax und einem anderen Hysteriker, nämlich Terry Gilliam Geburtstag hat) kennt. Licht ist nicht immer natürlich hier, sondern Ausdruck einer Emotion. Und impressionistische Züge weißen bei Carax immer zurück auf die Realität, denn sie entsprechen der Wahrheit einer Wahrnehmung. Die Ästhetisierung und Stilisierung ist eine Reflektion des Blicks. Sie sagt etwas über denjenigen aus, der etwas sieht und sie sagen etwas über das Sehen an sich aus, denn das Sehen ist bei Carax immer eine Konstruktion von Begehren.

4. Berühre mich

Pola x

Pola X

Carax dreht die letzten Liebesfilme des Kinos. Die Weltsicht seiner Filme ist durch und durch von Romantik beseelt. Über die fatalen Beziehungen habe ich bereits geschrieben, aber es gibt mehr. In „Mauvais Sang“ geht es auch um eine bedrohliche Krankheit: STBO. Dieser sicherlich an AIDS angelegte Virus befällt Teenager, die Liebe machen ohne zu lieben. Wenn Carax später „Modern Love“ von Bowie spielt, dann ist das sicherlich kein Zufall, denn moderne Liebe, ihr Scheitern und der Drang dieses Scheitern zu ignorieren ist jede Sekunde spürbar. Carax greift nach kleinen Lichtpunkten am Himmel, Sterne, die es nicht gibt. Er ist ein grausamer Schöngeist. In seinen Filmen wir geflüstert und geschrien. Es geht einem durch Mark und Bein. Jede Entscheidung bei Carax ist ein Spektakel. Damit meine ich sowohl die Entscheidungen der Figuren, die ihre Welten und Emotionen mit jedem Schritt aufs Neue an den Abgrund manövrieren und damit meine ich die Regieentscheidungen von Carax, der einen aus einem lockeren Lächeln in eine existentialistische Krise bewegt und wieder zurück. Bis Mitternacht sollten wir einmal gelacht haben. Eine solche Entscheidung betrachten wir zum Beispiel in „Pola X“, eine Entscheidung, die der Liebe folgt, nie dem Verstand. Carax macht vielleicht keine Filme, sondern Liebe. Vielleicht ist es auch gar keine Traumlogik sondern tatsächlich das Paradox einer Logik der Liebe. Die Folge ist Intensität und das Verlangen einfach mit dem Atmen aufzuhören. Seine Blicke sind meist unbedingte Blicke, sie drücken mit einer Faust auf das Herz. Direkt und unverbraucht erreichen die Filme Stellen in mir, die ich nicht kenne. Oft klingen Worte in seinen Filmen wie Lyrik. Sie zielen nicht auf Information, sondern immer auf Emotion, auf das Stottern, den Bruch zwischen den Sätzen, die Einsamkeit des Sprechenden, sein Verlangen, seine Wut, seine innere Zerrissenheit.

Les amants du point neuf

Les amants du Pont-Neuf

Die poetische Montage, die ich mit dem Begriff „Montage der Sinnlichkeit“ beschreiben würde, funktioniert genau gleich wie die Worte der Figuren. Sie wirft einen zurück auf eine andere Wahrnehmung jenseits aller Logik mitten hinein in das Gefühl jedes einzelnen Frames. Er schneidet oft von einem Blick auf ein Gefühl. Die erste Einstellung ist dabei eine Halbnahe oder Nahaufnahme auf den blickenden Charakter, aber der Gegenschuss zeigt nicht, was die Figur sieht, sondern was sie fühlt. So gibt es in „Les amants du Pont-Neuf“ einen dieser plötzlichen Lichtwechsel im Moment des nächtlichen Erkennens als Binoche nur noch die Schemen von Lavant sieht. Oder in „Boy meets Girl“ als Lavant sein Gesicht mit einem Tuch verdeckt, sodass nur mehr die Augen hervor lugen und Mireille betrachtet. Er steht dort und kündigt sich an, er betrachtet sie im Off, Regenwasser dringt durch das Dach in die Wohnung und dann kommt der Gegenschuss, der eben nicht Mireille zeigt, sondern zunächst Schwarz, ein Aussetzen, ein Blinzeln, ein Stoppen, um sofort wieder aufzublenden auf den nassen Boden und die Schuhe von Lavant, der durch die Pfützen geht. Die Kamera schwenkt über diese Pfützen, begleitet vom Rauschen des Regens und die Bewegung wird kontinuierlich fortgesetzt in einer Einstellung, die das Paar umschlungen vor dem sich spiegelnden Fenster zeigt. In der ersten Begegnung der Geschwister in „Pola X“ ist es ein Blick hinter dem Rücken. Depardieu blickt sich um, aber wir erkennen nur die Angst einer weiblichen Person, nicht ihr Gesicht.

Holy Motors2

Carax in Holy Motors

Bei Carax tropft das Blut von der Leinwand in meine Erinnerung. Ein Fluss voller Blut und nackter Körper, eine Wunde in der Hand, am Kopf, in der Seele. Schlechtes Blut dringt aus den Kanälen und Carax trinkt aus den Kanälen. Es ist Nacht bei Carax. Jemand ist immer alleine. Heute bin es ich, morgen bist es du. Nein?

Boy meets Girl

Mauvais Sang

Les amants du Pont-Neuf

Pola X

Holy Motors

Tsai Ming-liang Retro: Walker-Reihe

Wenn es so etwas wie ein High-Pitch-Installationsarbeit gibt, dann sind es die Walker-Filme von Tsai Ming-liang. Ein Mönch geht in kaum wahrnehmbarer Langsamkeit durch die Welt und wird von dieser ignoriert, betrachtet, belächelt, bewundert und vor allem überholt. In seinen Arbeiten, die aus einer Performance von Lee Kang-sheng am chinesischen Nationaltheater entstanden sind, erforscht Tsai Ming-liang die Langsamkeit, die Poesie der einzelnen Einstellung, Körper und die Zeit. Irgendwo hallt die ursprüngliche Idee einer Adaption nach literarischem Vorbild der Reise eines buddhistischen Mönches in den Westen im 6.Jahrhundert durch die Bilder, aber wie meist bei Tsai Ming-liang bleibt davon nur die Essenz, das Gefühl.

Auf der vergangenen Berlinale hat „Journey to the West“ eine große Begeisterung ausgelöst. Für den Walker-Film in Marseille (sein erster in Europa) konnte Tsai Ming-liang Denis Lavant gewinnen, mit dem der Film auch beginnt. Ein atmendes Wesen, ein Kratergesicht in der Höhle voller Leere und Traurigkeit; Schönheit. „Er sieht aus wie ein Drache“, bemerkt der Regisseur im Publikumsgespräch. Einmal wollte er Lavant gar als Drache in einem Film casten. Diesmal ginge es allerdings um die rohe Präsenz. Dann kommt der Mönch in rot-orangenem Gewand, elegant, langsam hebt er seinen Fuß oder senkt er ihn, einmal weiß ich es. Immer dringt Licht wie ein Schatten durch die dunklen Korridore, die Kamera sie ist so zärtlich wie der Protagonist. Lavant am Meer, sein Gesicht gleicht dem, der in das Wasser ragenden Felsen. In einer der polemischten und gleichzeitig poetischsten Einstellungen, die ich kenne, bewegt sich der Mönch hinab in den Abgrund. Oben ist das Tageslicht. Hell. Er geht Schritt für Schritt eine lange Treppe hinunter. Eine lange Zeit. Auf der linken Seite der Treppe passiert ihn ein ganzes Volk, eine ganze moderne Menschheit. Die Faszination dieser Einstellung beläuft sich auf ihr Wechselspiel zwischen formalistischer Brillanz (Zweiteilung des Bildes in der Vertikale und Horizontale, Bewegung auf uns zu), Gesellschaftskritik, Versteckte Kamera, Humor, Traurigkeit und einem fast schwebend-religiösen Touch wie es ihn seit Carl-Theodor Dreyer im Kino nicht mehr gegeben hat.

Walker von Tsai Ming-liang

Walker von Tsai Ming-liang

Am Ende von „No Form“ blickt Lee Kang-sheng durch die Kamera und macht die Traurigkeit, die Godard im Blick von Harriet Anderson bei Bergman spürte, zu einer völligen Hingabe, einer andersweltlichen Existenz, einer Macht. Dazu Nina Simone: It’s a new dawn, it’s a new day, it’s a new life for me. Selten wurde der tiefere Sinn einer Pilgerreise so offenbar wie in diesen letzten Sekunden von “No Form”. In „Walker“ ist es ein Biss in ein Sandwich, für die Ewigkeit gestreckt, aber nicht im Sinn eines Eindringens in die Zeit, sondern lediglich als ihr nacktes und absurdes Abbild, das sich dem Bewusstsein in der Modernität mehr und mehr entzieht. Das Standbild des eigenen Sinns, festgefroren und doch immer auf einem Weg; nur um einen selbst ist alles in Bewegung, was entsteht ist kaum aushaltbarer Druck, wie im Topf des sehr reduzierten „Diamond Sutra“, der aus dem Off dampft, ja aus dem Off dampft. Langsam. Er könnte der Mutter von Hsiao-kang gehören. Sie kocht mit einem solchen Topf. In „Visage“ haben wir sie verloren.

Irgendwann beginnt Lavant dann den Mönch zu verfolgen. Auf einer Straße in der Altstadt vor einem Café. Was sind denn eigentlich Körper auf der Leinwand? Was ist eine Bewegung? Ich bekomme Lust auf einen Walker-Flashmob. Cineasten aller Welt treffen sich an Plätzen und beginnen, in der Geschwindigkeit des Walkers zu gehen. Die Welt kann dann dem Kino zusehen, wie es die Aufmerksamkeit schärft; Slow-Cinema als Politik der Wahrnehmung. Man sollte darüber sprechen, denn wenn alles von Flüchtigkeit und Kürze geprägt ist in der Virilio-Welt, eine Beschleunigung bis nichts mehr überbleibt, dann ist es das Kino, das uns noch an den Blick erinnern kann, an die Zeit, den Ablauf, die Realität, die es vielleicht nicht mehr geben wird. Die spirituelle Aufladung erscheint da genauso unnötig wie die selbstironische Abstraktion eines „Sleepwalk“. Wenn sich der Mönch in abstrakten Räumen bewegt, dann verliert er seine Bedeutung. Dann scheint das Walker-System, zur reinen Provokation zu verkommen; zumindest im Kinorahmen. Anderes gilt für „Walking on Water“, den Tsai Ming-liang in Malaysia gedreht hat, an dem Ort, an dem er aufgewachsen ist. Er erforscht die Begegnung des Mönchs mit seiner eigenen Erinnerung. Hier wird der Mönch dann doch zu einem Geist, als würde der Regisseur diesen Ort segnen. Vielleicht ist es nicht allzu sinnvoll, sich die Walker-Reihe in einem gemeinsamen Programm anzusehen, aber es verändert die Wahrnehmung. Und wenn Kino die Wahrnehmung verändert, könnte es ganz bei sich sein.

Journey to the West von Tsai Ming-liang

Journey to the West von Tsai Ming-liang