Einige Gedanken zu Friederike Pezolds Canale Grande

In den 1980ern im Rahmen des Forums der Berlinale hochgelobt, fristete Canale Grande von Friederike Pezold in den letzten 40 Jahren ein Schattendasein. Nun wurde er im Zusammenhang des Programms „Sehnsucht 20/21“ der diesjährigen Diagonale fast beiläufig, wenn man der Erzählung der Festivalintendanz Glauben schenken mag, wiederentdeckt. Nach einer Odyssee, die laut Sebastian Höglinger einem Agentenfilm geähnelt hätten, konnten schließlich die Rechte für eine erneute Aufführung gesichert werden. Dem Mythos um diesen Film hat diese Geschichte mitnichten geschadet. Man soll sich wohl glücklich schätzen, diesen Film sehen zu dürfen.

Wie ein Manifest beginnt der Film. Pezold, die sich selbst vor der Kamera als Protagonistin des Films inszeniert, überstreicht mit schwarzer Farbe zuerst die Fenster ihrer Wohnung sowie anschließend die Mattscheibe des Fernsehers. Dort flimmert noch die Übertragung einer Karnevalssitzung. Im Bild  ein bietrunkenes Männergesicht, dazu volkstümelnde Beschallung. Pezold will sich damit lossagen von der überfüllten Welt der Bilder und Wörter – oder wie sie es nennen würde: der ganzen Scheiße. Sie fasst den Entschluss, von nun an ihr eigenes Fernseh-Programm zu gestalten, das sie aber stattdessen als Nah-Sehen bezeichnet. Für ihren Sender „Radio Freies Utopia“ muss sie sich nur noch die entsprechenden Produktionsmittel beschaffen. Wenig erfolgsvorsprechend versucht sie sich öffentliche Überwachungstechnik aus Bank und U-Bahn anzueignen. Aber schließlich wird sie in einer Psychiatrischen Klinik fündig. Georg Orwell oder Michel Foucault scheinen verstummt in Rufweite zu sein.

Von da an sendet sie ihr Programm direkt aus der Kamera über ein einziges Kabel auf einen Monitor. Das Studio wird kurzerhand mobil gemacht, indem Pezold alles auf einer Trage zusammen schnürt. So kann das Nahseh-Programm wie das Fernsehen überall hingelangen – aber jeweils nur an einem Ort, nicht an allen gleichzeitig. Pezold zitiert damit eine ihrer medienkünstlerischen Arbeiten (Radio Freies Utopia), mit der sie schon einige Jahre zuvor bekannt geworden war. Mit einem gewissen anarchischen Geist, der vielleicht an die Filme des neuen deutschen Films – insbesondere Herbert Achternbusch – erinnert, zieht die Regisseurin durch die Straßen von Wien und Berlin. Begleitet wird sie dabei permanent von einer zweiten Kamera (Elfi Mikesch), die des Films. Zwei Medien – Film und Video – begegnen sich. Das eine elektronisch-ephemer, das andere körnig-materiell. Für Pezold lösen sich so im Video Utopien ein, während diese im Realismus des Films vermeintlich schon verloren gegangen sind. Höglinger sprach im Vorfeld davon, bei dem Film handele es sich um eine Revolution. Diese gilt es jedoch nicht im geschichtlichen Sinne zu suchen, vielmehr handelt es sich um die Bildwerdung der feministischen Losung: Das Private sei Politisch.

Canale Grande scheint sich allerdings der Schwierigkeiten, die Utopie zu verwirklichen, bewusst zu sein. Auch, wenn das wahrscheinlich der geläufigen Lesart dieser oder ähnlicher Filme zuwiderläuft, so könnte man meinen, Pezold versuche eher die Kehrseite des Politischen zu zeigen. Der Akt der Aneignung gerät zur Farce, nämlich dann, wenn auch der eigene Leib zum Produktionsmittel verdinglicht wird. Emanzipation und Verhängnis sind sich dabei mindestens so nah, wie die Kamera dem Körper. Befreiung, bloß positiv zu denken, wie es die Katalog-Texte suggerieren, sitzt damit unweigerlich dem Missverständnis von Brechts Radiotheorie auf, die Enzensberger einmal, beflügelt von den naiven Hoffnungen der 68er, in die Welt gesetzt hatte.

Anstatt sich die Frage zu stellen, was es bedeutet, diesen Film 40 Jahre später wieder aufzuführen, wird er als zeitlos, ja gerade zeitgenössisch verschrien. So als würde ihn das in irgendeiner Weise wertvoller machen oder aus seiner verstaubten Archivecke holen können. Was das Anliegen des Films betrifft, sollte so eine Aussage wohl eher erschüttern. Wer glaubt, den Vergleich so ohne weiteres ziehen zu können, hat sich vielleicht schon mit der Musealisierung der Avantgarden gemein gemacht und die implizite Frage hinter der Antwort, die Pezold bereit hält, nicht verstanden. Die utopische Sehnsucht nach Nähe vollzieht sich notgedrungen durch Abtrennung beziehungsweise Vereinzelung. Doch was ist das Versprechen davon? Müsste man nicht diese Zurichtung zum Individuum, das sich selbst zu Markte trägt, infrage stellen, gerade im Jahr 2021? Was für den Film als revolutionär erscheint, zeigt sich doch gegenwärtig als banales Einverständnis mit der Wirklichkeit. Das Bild mag das selbe sein, aber die Bedingungen haben sich verändert.

So sehr ein Film auf die Realität einwirken mag, wird er im Getöse des Betriebs zum Mythos idealisiert, um ihn letztlich handhabbar zu machen. Das zählt wahrscheinlich auch für Canale Grande. Den Film wie auf einem Servierteller präsentiert zu bekommen, mutet an, wie ein Ereignis, an dem man Teil hatte, hinter dem jedoch die Erfahrung zurück fällt. Man wird aber nicht schlauer aus einem Film, wenn man sich vorhält, wie besonders er sein möge. Im Gegenteil, es zeigt wohl eher, welcher Stellenwert ihm in einer total vereinzelten Welt zukommt. Wo sich dort noch Sehnsucht auf eine bessere Welt verbergen soll, bleibt mir vorerst unerklärlich.

 

Diagonale 2019: Dialoge aus dem Wienerwald

Geschichten aus dem Wienerwald von Maximilian Schell

Hanno Pöschl wurde bei der diesjährigen Diagonale mit einem Tribute-Programm geehrt. Gezeigt wurde unter anderem Maximilian Schells Adaption von Ödön von Horváths Geschichten aus dem Wienerwald. Anlass für ein längst überfälliges Gespräch über den Namenspatron des Blogs.

Rainer Kienböck: Dafür, dass Jugend ohne Film ihm seinen Namen verdankt, wurde Ödön von Horváth am Blog bisher wenig gewürdigt. Woran liegt das eigentlich?

Patrick Holzapfel: Es gibt ja kaum Horváth-Adaptionen für das Kino. Oft sind es TV-Produktionen und ehrlich gesagt habe ich davon nicht viele gesehen. Kennst du welche? Ich finde es auch unglaublich schwer Horváth zu adaptieren. Sein Stil ist so stechend, so durchdringend und dominant, dem gibt es oft nicht wirklich etwas hinzuzufügen. Eines seiner eindrücklichsten Werke ist für mich Ein Kind unserer Zeit, das liest man und dann hat man schon den Film dazu laufen, man muss ihn nicht mehr drehen. Aber wenn man darüber nachdenkt, dann gibt es eigentlich kaum Bilder, die hat er alle in den Sätzen vergraben und erscheinen lassen.

RK: Dass es kaum prominente Adaptionen von seinen Werken gibt stimmt (an die rezente Bearbeitung von Jugend ohne Gott habe ich mich dann auch nicht drangewagt), aber man hätte durchaus mal etwas zur kinematischen Wirkung seiner Texte schreiben können, wie du sie oben angerissen hast. Wie auch immer: Nun haben wir ja beide – der Diagonale sei Dank – mit der Verfilmung von Geschichten aus dem Wienerwald die wahrscheinlich berühmteste Film-Adaption eines Horváth-Werks gesehen – und ein Stück österreichischen Kulturerbes mit Helmut Qualtinger in einer seiner legendärsten Filmrollen. Konnte dich der Film überzeugen?

PH: Mich konnte durch den Film vor allem Horváth überzeugen. Ob das nun eine Qualität des Films ist oder gerade dessen fehlende Notwendigkeit unterstreicht, sei dahingestellt. Dieser beißende, bitterböse, aber doch ambivalente Blick auf die Gesellschaft, diese Welt, in der sich alle retten zum Leid einer einzigen Person, das ist zutiefst bewegend, aufrührend, manchmal sehr komisch und letztlich traurig gewesen. Aber der Film hat wirklich alles dafür getan ein Theaterstück zu sein…wie hast du das gesehen?

RK: Als ich danach über den Film gesprochen habe, ist mir zunächst auch aufgefallen, dass die ersten positiven Reaktionen eher mit Horváth zu tun haben als mit dem Film: Das ständige Schwanken zwischen den Extremen, zwischen Komik und Tragik, zwischen Heurigen und katholischer Kirche; die wunderbar präzise eingefangene Tonalität des Wienerischen. Ganz ohne eigene Qualitäten wäre ich aber nicht mit dem Gefühl aus dem Kino gegangen, dass Horváth hier eine Würdigung Referenz erfahren hat. Der Film ist erstaunlich gut gecastet, die Dialoge muss man auch erstmal so inszenieren, dass sie der Textvorlage gerecht werden und das Location-Scouting und Szenenbild fand ich überhaupt herausragend. Das sklavische Festhalten am Szenenaufbau des Stücks sehe ich da schon kritischer. Da hätte dem Film etwas mehr Eigenständigkeit tatsächlich gutgetan.

Geschichten aus dem Wienerwald von Maximilian Schell

PH: Hanno Pöschl, in dessen Tribute der Film ja gezeigt wurde, sagte, dass er die Ulrichsgasse (die war es glaube ich) als Drehort für die Straßenecke mit Fleischerei und so weiter sehr schlecht gewählt fand, weil sie keine Perspektive böte, also auch da sehr theaterhaft gescoutet. Da bin ich bei ihm, war fast erschrocken wie sehr die Sets so aussahen wie jene, die man im Theatermuseum bei der Horváth-Ausstellung aufstellte. Dabei beginnt der Film ja noch ganz anders, ganz gegenteilig möchte man fast sagen, mit dem Theater im Film in Schönbrunn und einer Kamerafahrt hinein in die Realität. Das Versprechen löst Maximilian Schell dann nie ein, finde ich. Bei den Darstellern und Dialogen bin ich schon bei dir, vor allem die Badesequenz ist fantastisch. Was mich mal wieder gestört hat in der ganzen Moderation und auch im Gespräch danach ist diese Betonung von Aktualität. Warum ist das immer so wichtig beziehungsweise ist das nicht selbstverständlich bei einem guten Stück oder Film?

RK: Vielleicht hätte mich das Bühnenbild-artige dieses Hauptspielorts deshalb nicht gestört, weil die Josefstadt (dort spielt es ja) tatsächlich so aussieht. Und ich vermute in den 30ern gab’s sogar noch mehr dieser Ecken. Gerade deshalb fand ich die Wahl des Hauptschauplatz so gut gewählt – und das trifft auch ein wenig auf den ganzen Film zu –, weil es einerseits unglaublich theaterhaft wirkt, andererseits aber so tief in der (historischen) Realität verwurzelt scheint. Zu deiner Frage: Ich wüsste nicht, wann das Stück oder Film in den letzten 80 Jahren nicht aktuell gewesen wäre… Es ist ein Armutszeugnis des Schreibens über und Zeigens von Filmen, dass es sich an den Strohhalm der vermeintlichen Aktualität klammert, in der Hoffnung auf öffentliche Wahrnehmung, Wertschätzung und Relevanz.

PH: Ja, dem ist wenig hinzuzufügen. Noch eine andere Sache. Hast du schon einen besseren männlichen Badeanzug gesehen? Stichwort: Projizierte Männlichkeit.

RK: Sicherlich noch keinen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich je einen besseren weiblichen Badeanzug gesehen habe. Die gelb-schwarzen Querstreifen, die aus dem ohnehin üppigen Qualtinger ein Koloss machen, dass sich dann auf die überraschend willige Trafikantin stürzt. Ein großer Moment für einen großen Körper! Mittlerweile lebst du ja schon ziemlich lang in Österreich, wie innig ist deine Beziehung zu diesem Titanen der österreichischen Populärkultur des 20. Jahrhunderts?

PH: Gar nicht so innig. Diese Dinge gehen immer sehr an mir vorbei, ich sehe sie dann kurz, erkenne, so meine ich zumindest, doch recht schnell, um was es ungefähr gehen könnte und ziehe weiter. Ist das denn ein Film, den du als typisch österreichisch oder wienerisch einschätzen würdest? Habe selbst darüber nachgedacht, diese Lokalspezifik von Horváth erlaubt mir nämlich letztlich ein universales Verstehen.

Geschichten aus dem Wienerwald von Maximilian Schell

RK: Es ist denke ich beides. Das ist einer der Gegensätze, zwischen denen sich Horváth so gekonnt bewegt. Einerseits die Universalität dieser Geschichte, die wohl auch deshalb so universal zu verstehen ist, weil es sehr stark um die Rolle der Frau in der Gesellschaft geht und die ist praktisch überall auf der Welt dieselbe (mit Abstufungen) und andererseits das Lokalkolorit, das nur wenig Autoren so trefflich in ihre Literatur einfließen zu vermögen (und das der Film auch sehr gut überträgt). Aber ist es nicht oft so, dass die scheinbar lokalen Geschichten oft eine bessere Interpretation des großen Ganzen zulassen, als jene, die von Anfang an auf ein möglichst universales Verstehen ausgelegt sind?

PH: Ja natürlich. Das ist es ja auch, was vieles im Hollywoodkino heute so unerträglich macht. Dass man sich von Anfang an ans Universale richtet und dann eigentlich von gar nichts handelt. Haben wir noch etwas zu Hanno Pöschl zu sagen? Er hat mich mit seiner Kleidung und Art etwas an Dirk Bogarde in Morte a Venezia erinnert, wenngleich jünger und weniger sterblich.

RK: Ich weiß nicht. Hanno Pöschl ist für mich kein wirklicher „household-name“. Ich war eher verblüfft, welch beachtliche Leibesfülle er sich in den letzten 40 Jahren angefuttert hat. Im Film selbst fand ich Birgit Doll, Götz Kauffmann und Helmut Qualtinger eigentlich weitaus interessanter. Hast du eigentlich noch etwas aus dem Tribute-Programm gesehen?

PH: Nein, leider nicht. Ich kenne ihn ja sonst nur aus dem Kleinen Café. Aber Revanche, Querelle und Exit … Nur keine Panik habe ich ohnedies schon gesehen. Finde ja, dass das ein sehr schlauer, demütiger, bewundernswerter Charakter ist. Alles, was er so von sich gibt, scheint mir aufrichtig. Entsprechend präsent und stark scheint er mir auch immer in den Filmen. Tatsächlich in Geschichten aus dem Wienerwald am wenigsten. Aber er hat ja auch darüber gesprochen wie schwer es für ihn war am Set mit Schell. Ich will das alles gar nicht bewerten, steht mir nicht zu, aber inspirierend finde ich ihn und von daher absolut schön, dass er gewürdigt wird.

Diagonale 2019: Avantgarde-Rundschau

ORE von Claudia Larcher

Wie immer habe ich meinen persönlichen Diagonale-Spielplan rund um die Programme des „Innovativen Kinos“ (wie hier jene filmischen Formen heißen, die sich weder sauber als Spielfilm, noch als Dokumentarfilm einordnen lassen – innovativ sind sie nicht immer) aufgebaut. Und trotzdem eines dieser Programme verpasst. Da diese „Rundschau“ keinen Anspruch auf enzyklopädische Vollständigkeit erhebt, sondern (ohnehin subjektive) Wahrnehmungen präsentieren will, störe ich mich aber nicht weiter daran.

Ich habe schon im Rahmen früherer Diagonale-Ausgaben darüber geschrieben – und ich bin bei weitem nicht der einzige, der diese Meinung teilt –, dass Österreich als Filmland vor allem im Avantgarde-Bereich überdurchschnittliche Leistungen erbringt. Das hat sich auch 2019 nicht groß geändert. Problemlos ließe sich das untenstehende „Best of“ um zusätzliche Titel erweitern, ohne dass die Qualität massiv abfallen würde.

animistica von Nikki Schuster

animistica von Nikki Schuster

Unstet und sprunghaft schleicht die Kamera über den Boden. Die Pflanzen- und Tierwelt der mexikanischen Wüste zeigt sich in voller Pracht. Ornamentale Strukturen schmücken die Leinwand, sie sind nicht von menschlicher Hand geschaffen. Aus nächster Nähe werden hier die Oberflächen organischen Lebens (und Todes) untersucht. Was aus der Ferne als kompaktes, glattes Ganzes erscheinen mag, entpuppt sich durch die Lupe als porös und zerfurcht. Dünne Stacheln werden zu monströsen, furchterregenden Gebilden, das Fell von Säugern wird zu einem ruppigen Teppich. Begleitet werden diese Bilder von einem Sounddesign, dass ihnen eine weitere Dimension hinzufügt. Die Bewegungen der Kamera entlang der wundersamen Oberflächenstrukturen werden durch den Ton zum Horrortrip. Als würde sich ein mittelalterlicher Krieger am Ende einer blutigen Schlacht über Leichenberge kämpfen, wird der suchende Blick der Kamera von Knack- und Matschgeräuschen zu einer Studie des Ekels umgedeutet. Die Natur erscheint alles andere als unschuldig. Sie entblößt ihre hässlichen Seiten, zeigt ihre furchterregendsten Formen. animistica ist kein wissenschaftlich-objektiver Blick durch das Mikroskop, kein Naturfilm, der seinem Zuseher neue Perspektiven auf die Welt näherbringen will, er ist ein Test der Wahrnehmung, der zur Diskussion stellt, ob Schönheit und Grausamkeit nicht zwei Seiten einer Medaille sind.

Antarctic Traces von Michaela Grill

Antarctic Traces von Michaela Grill

Die Durchlässigkeit der verschiedenen filmischen Kategorien hat zugenommen, seit Sebastian Höglinger und Peter Schernhuber die Diagonale leiten. Der zunehmenden Menge an dokumentarisch-fiktionalen Hybriden und essayistisch-experimentellen Formen kommt eine solche Auflösung der starren Grenzen entgegen. So wird Antarctic Traces von Michaela Grill im Katalog etwa als Dokumentarfilm geführt, aber in einem Programm des „Innovativen Kinos“ zusammen mit Avantgarde-Filmen gezeigt. Hier ist Grills Film sehr gut aufgehoben. Ein filmischer Essay über die South Georgia Islands und vor allem über den Walfang, der dort in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts betrieben wurde und beinahe zur Ausrottung der ganzen Spezies geführt hat. Eine Frauenstimme liest Exzerpte aus Logbüchern, wissenschaftlichen Abhandlungen und Erfahrungsberichten zum Thema. Dazu sieht man die Ruinen der verlassenen Walfangstationen an der Küste, die von der Natur (namentlich von Robben, Seeelefanten und Pinguinen) wiedererobert wurden und Fotografien des Meeres. Eindringlich und bildlich wird die Jagd auf die Riesen der Meere geschildert, ohne dass je Fotos oder Bewegtbilder von Walfängern zu sehen sind. Erst zu den Credits bieten historische Fotografien die Gelegenheit des Abgleichs der Schilderungen mit konkreten Bildern. Man ertappt sich dann beim Gedanken, dass es diese Bilder gar nicht gebraucht hätte. Die Wortgewalt der Erzählung vermag es, einen Film zu tragen (Duras wird in diesem Text auch noch Thema sein).

Armageddon von Kurdwin Ayub

Armageddon von Kurdwin Ayub

Gäbe es bei der Diagonale eine eigene Programmreihe für Animationsfilme, wäre Armageddon dort wohl am besten untergebracht. Da Kurdwin Ayub seit Jahren zu den Konstanten des „Innovativen Kinos“ gehört, hat man ihren doch recht konventionellen Animationsfilm Armageddon ebenfalls dort geparkt. Obwohl ich diese kuratorische Entscheidung nicht ganz nachvollziehen kann (wäre er nicht besser in einem Kurzspielfilm-Programm aufgehoben), gibt es mir immerhin Gelegenheit an dieser Stelle darüber zu berichten. Denn das Ergebnis – unabhängig von seiner leidlichen Kategorisierung – überzeugt durch Humor mit Stirnrunzelfaktor. Die Ausgangssituation ist einfach erklärt: Wir schreiben das Jahr 2138, die beiden Wiener Vampire Anton und Franz sitzen auf einer Couch und werden interviewt. Sie berichten von der Islamisierung des Landes und von der unterschiedlichen Blutqualität verschiedener Ethnien (Asiatinnen sind am begehrtesten, treten sie unseren Breiten doch nur in Gruppen auf). Gefährlich nah am Abgrund der political uncorrectness bewegt sich dieses Gespräch. Jede Pointe lässt einen unwillkürlich zusammenzucken: Es geht um Geschlecht, Ethnien, Religion – ist Lachen darüber überhaupt erlaubt? Das Fazit: Anton und Franz sind zwar keine Puppen, sondern aus Knetmasse geformt, doch was vor 40 Jahren bei Waldorf und Statler funktioniert hat, ist heute ungebrochen effektiv.

Cavalcade von Johann Lurf

Cavalcade von Johann Lurf

Eine Art Wasserrad in einem Bach. Es ist Nacht. Das Rad erwacht zum Leben. Immer schneller und schneller dreht es sich, bis es schließlich wieder zum Stillstand kommt. Dazwischen ein Test menschlicher Wahrnehmung und der Leistungsfähigkeit des Kinoapparats. Denn dieses Wasserrad ist kein normales Wasserrad, sondern mit verschiedenen visuellen Elementen besetzt und mit mathematischer Präzision ausgetüftelt. So scheinen die Schaufelräder ab einem gewissen Tempo stillzustehen (wenn sich ihre Umdrehungsanzahl mit der Aufnahmegeschwindigkeit der Kamera deckt), der Ring aus Farbfelder im Inneren verändern je nach Drehgeschwindigkeit scheinbar ihre Anordnung und die Spiralen verändern scheinbar ihre Drehrichtung. Man hätte daraus einen anschaulichen Lehrfilm über optische Wahrnehmung machen können, Lurf hat einen Abenteuerspielplatz für die Augen angelegt.

It has to be lived once and dreamed twice von Rainer Kohlberger

It has to be lived once and dreamed twice von Rainer Kohlberger

Rainer Kohlbergers Filme zählen zum außergewöhnlichsten, was das österreichische Kino zu bieten hat. Es ist eine Mischung aus technologischer Konzeptkunst und irren Herausforderungen an die menschliche Wahrnehmung. Mithilfe von Algorithmen verformt Kohlberger das Bild bis zur totalen Unkenntlichkeit. Mal sieht das aus wie ein TV-Testbild, mal wie eine fehlerhafte VHS und mal entsteht originär digitale Pixelkunst. Dazu dröhnende elektronische Musik, die sich nahtlos an den Rhythmus der Bilder schmiegt. Im spezifischen Fall von It has to be lived once and dreamed twice wird die Bild-Ton-Wucht durch ein Voice-over ergänzt. Letztlich wirkt die Stimme aber eher störend, verhindert das Versinken in Bild und Ton, lässt nicht zu, dass man sich voll und ganz auf das Wahrnehmungsexperiment konzentriert. Und zugleich lassen es die mächtigen Bildkompositionen nicht zu, dass man sich auf den Text konzentriert. Überfülle kann höchst befruchtend sein, hier entkräftet sie sich selbst.

Muybridge's Disobedient Horses von Anna Vasof

Muybridge’s Disobedient Horses von Anna Vasof

Anna Vasofs Muybridge’s Disobedient Horses ist die Dokumentation verschiedener para-kinematografischer Formen. Versteht man Kino und Film als etwas, das über die Grenzen des Kinosaals und die Versuchsanordnung Projektor-Leinwand-Publikum hinausgeht, dann handelt es sich hier quasi um einen Film im Film. Vom Daumenkino über das technisierte Daumenkino (bemalte Geldscheine in einem elektrischen Zählgerät) zum aufwendigeren Versuchsaufbau mit Pappbechern, Taschenlampen und Pendeln, setzen sich hier unbelebte Bilder in Bewegung (oder werden in Bewegung gesetzt). Die Kamera imitiert dabei nur die Rolle des menschlichen Auges und fängt diese Bewegung ein. Und verdoppelt somit das Spiel mit Licht, Zeit und Bewegung. Auf den ersten Blick wirkt das alles einfach und simpel – nicht mehr als ein show reel der eigenen Basteleien. Und doch mehr als das. Denn die Vorführung der Apparaturen vor dem Kameraauge werden verdoppelt durch die Vorführung des Films vor dem Menschenauge. Ein filmisches Impulsreferat über Wahrnehmung und Dispositivtheorie.

ORE von Claudia Larcher

ORE von Claudia Larcher

ORE beginnt in höchster Höhe. Aus der Vogelansicht wirft die Kamera einen Blick auf das weiter unter ihr liegende Erzabbaugebiet. Langsam wandelt sich der Drohnenblick in einen (unmöglichen) Kameraschwenk. Nahtlos geht die Vogelperspektive in einen irdischeren Blick auf die Maschine der Bergbaulandschaft über. Ebenso nahtlos bahnt sich der Blick schließlich seinen Weg von der Oberfläche tief ins Innere des Bergs. In den Stollen. In nur sechs Minuten von höchsten Höhen in tiefste Tiefen.

Rising von Stefan-Manuel Eggenweber

Rising von Stefan-Manuel Eggenweber

Ein gutturaler Vortrag eines scheinbar dadaistischen Gedichts: „From the stomach in your chest through your throat to the world.” Immer und immer wieder wird dieser Satz vom etwas abgerissenen Mann in Rising wiederholt. Dabei filmt er sich mit einer Videokamera selbst. Was dieser Satz bedeuten soll, wird erst nach einiger Zeit deutlich. Er ist durchaus buchstäblich zu verstehen. Dann nämlich steckt sich der Protagonist den Finger in den Hals und erbricht. Und erbricht wieder. Bis man vor lauter Dreck auf der Linse kaum mehr etwas erkennt. Dazwischen manifestartig die Erklärung dazu. Das Kotzen soll das Sprechen als Kommunikationsmittel ersetzen. Nach wenigen Minuten ist der Spuk vorbei. Man weiß nicht so recht, was man mit dieser Performance anfangen soll. Im Publikum hat sie gleichermaßen für Gelächter als auch zu geekelter Ablehnung geführt. Eine Reaktion ist dem Film in jedem Fall gewiss.

Victoria von Lukas Marxt

Victoria von Lukas Marxt

Ein Ford Crown Victoria ist der titelgebende Protagonist dieses einstündigen Films von Lukas Marxt. Er durchquert das kalifornische Hinterland. Weite, eintönige Steppen, durchbrochen nur von Eisenbahnschienen. Schier endlose Kolonnen von Güterzügen durchtrennen die gleichsam endlose Landschaft und bilden einen visuellen Referenzrahmen, den sonst nur der verlorene, fahrerlose PKW liefert, der immer wieder auf oder neben der Straße die Landschaft durchzieht. Begleitet wird die Fahrt dieses ungewöhnlichen Protagonisten von Untertiteln, die Filmklassikern entnommen sind und eine humoristische Annotation des Geschehens liefern. Irgendwo an der Schnittstelle von Landscape Art, Structuralist Film und Film-Essay bewegt sich Marxt durch Kalifornien. Und obwohl man anhand der obigen Beschreibung meinen könnte, dass sich der Versuchsaufbau schnell erschöpft, erzeugt er einen immens starken Sog. Die verschiedenen textuellen Ebenen erleben gerade genug Abwechslung, dass es immer etwas Neues zu sehen oder hören gibt, wenn das Bildfeld erschöpft scheint. Ein bisschen (und nicht nur wegen der Züge) erinnert Victoria an die früheren, analogen Arbeiten James Bennings (als dieser noch nicht so sehr von seiner eigenen künstlerischen Brillanz eingenommen war).

W O W (Kodak) von Viktoria Schmid

W O W (Kodak) von Viktoria Schmid

Man denkt sofort an Lumière: Die Explosion eines Fabriksgebäudes wird zeitlich umgekehrt. Aus der Implosion richtet sich das Gebäude wieder auf. Die Gebäude, um die es sich handelt, sind Anlagen von Kodak in Rochester, New York. Bei den Aufnahmen handelt es sich um Youtube-Clips von der Sprengung von Teilen des Werks im Rahmen der Konsolidierungsmaßnahmen des Unternehmens. Nur mit Ach und Krach hat Kodak den unaufhaltsamen digital turn in der Filmindustrie überlebt. Zum Zeitpunkt der Aufnahmen dieser Videos war das Überleben keineswegs gewiss. Die Ungewissheit über die Zukunft des Kinos und des Analogfilms und die Erinnerung an seine frühesten Gehversuche gehen hier Hand in Hand. In kurzer und recht simpler Form errichtet Viktoria Schmid hier ein turmhohes Gedanken- und Referenzgebilde.

WHERE DO WE GO von Siegfried A. Fruhauf

WHERE DO WE GO von Siegfried A. Fruhauf

Aufnahmen aus dem Zugfenster gehören zu den Konstanten der Filmgeschichte. Siegfried A. Fruhauf liefert eine doch recht ungewöhnliche Variation dieses Motivs. Er zerschneidet die Aufnahmen der Zugfahrt und ordnet sie neu an, lässt sie tanzen im Takt der gleichnamigen Schlagzeugkomposition von Jörg Mikula. Der Wirbel der Zugfahrt-Bilder steigert sich bis hin zum Fast-Flicker. Umso schneller, desto mehr scheint Fruhaufs Ästhethik in ihrem Element. Und bald geht es nicht mehr um Züge, sondern um das Blitzen und Blinken der Bilder auf der Leinwand.

Neregių žemė von Audrius Stonys

Honourable Mention: Mavericks

Es ist fast unfair, diesen Vergleich anzustellen, aber das beste Programm „Innovativen Kinos“ wurde gar nicht in dieser Programmschiene gezeigt. Im Rahmen der Personale zu Ludwig Wüst, bekam der Filmemacher auch Gelegenheit eine Carte Blanche zu programmieren. Das Resultat war eine Reihe von vier fulminanten mittellangen Filmen, die jeder für sich das meiste, was sonst so am Festival gezeigt wurde, mit Leichtigkeit in den Schatten stellte: ob das betont unsaubere Porträt des Zeitungsboten Bobby in Robert Franks Paper Route, die dystopisch anmutenden Industriebrachen in Audrius Stonys‘ depressiv-melancholischem Neregių žemė, die philosophische Bild-Text-Juxtaposition in Marguerite Duras‘ L’homme atlantique oder Artavazd Peleshians große Armenien-Symphonie Menq. Selten war auf der Diagonale 2019 ein klareres Bild filmischer Haltung zu erkennen, selten wurde das Publikum so auf den Prüfstand gestellt – denn die Aneinanderreihung der drei Filme am Ende in ihrer ultimativ Schwere und Schwermütigkeit in Kombination mit der akuten Sauerstoffnot und der Sauna-Atmosphäre im Rechbauer-Kino (könnte man hier vielleicht eine Lüftung einbauen?) erforderte einiges an Durchhaltevermögen. Wer blieb, wurde belohnt.

Diagonale 2019: Bewegungen eines nahen Bergs von Sebastian Brameshuber

Bewegungen eines nahen Bergs von Sebastian Brameshuber

Ein „Hanging-Out-Film“ in Reinkultur. Man verbringt Zeit mit Cliff, einem Nigerianer in seiner Lagerhalle am Fuße des Erzbergs in der Steiermark, in der er an Autos herumschraubt, sie zerlegt, ihre metaphorischen Eingeweide ausnimmt, um sie für den Markt in Nigeria vorzubereiten. Dazwischen wird gekocht, telefoniert, einige Kunden kommen vorbei, wollen Autos oder Teile kaufen bevor sie nach Nigeria exportiert werden. Außerdem bringt Cliff kleine Kärtchen an parkenden Autos an. Die Kamera blickt durch die Frontscheibe. Es ist still, man sucht nach einem Film, einer Nähe. In erstaunlicher und jederzeit zärtlicher Geduld begleitet die Kamera diesen Mann zwischen den Kulturen. Gefangen in der sogenannten Freiheit, dem Ende einer Sklaverei. In seinem dritten Langfilm Bewegungen eines nahen Bergs verbindet Sebastian Brameshuber die formalistische Strenge und konzentrierte Neugier, die sich bisher in all seinen Arbeiten unterschiedlich stark ausgeprägt getroffen haben. Ganz direkt kann man den Film auch als Fortsetzung zu seinem Kurzfilm Of Stains, Scrap & Tires verstehen, aber dazu geht die neue Arbeit eigentlich zu weit.

Weniger studiert der Blick der Kamera dabei Cliffs Körperlichkeit, als sich aus größerer und wohl überlegter Distanz, um die Zeit selbst zu kümmern. Diese Zeit ist auch ein Raum. Sie dehnt sich und verengt sich in Bewegungen, die mal eine selbstgenügsame Friedlichkeit am Rande der neoliberalen Hektik entdeckt und mal erstickt inmitten kapitalistischer Mechanismen einer Verarmung am großen Sinn, die sich im Bild der im Staub liegenden Autoteile, die in einer Art Kokon aus Plastik nach Nigeria gebracht werden, manifestiert. Jede Sekunde mit dem Film ist zugleich Ausdruck einer Erfahrung der Einzigartigkeit eines Moments sowie einer Monotonie der Zeit. Dazwischen gibt es eine Illusion. Sie verpufft in diesem Film hin zu einer Wahrheit und Ohnmacht.

Bewegungen eines nahen Bergs von Sebastian Brameshuber

Erst nach und nach zeigt Brameshuber mehr von der dem Ort, an dem sein Film zu größten Teilen spielt. Die Lagerhalle in der Steiermark verliert erstaunlicherweise an Leben, je mehr man von ihr sieht. Erst die Totale des Ortes offenbart die wahrhaftige Sackgasse, die endgültige Stille des Nicht-Ortes am Rande einer vielbefahrenen Straße, am Fuße eines Berges, von dem man sich durchaus fragt, was er zu alldem sagen würde, könnte er sprechen. Gäbe es nur ein Echo wäre da nur Lärm. Wie gelenkt dieser Blick auf Cliff und sein Arbeitsleben ist, macht der Filmemacher einmal mehr als deutlich, als er Cliff und einen Freund oder Kollegen dabei filmt wie sie über die Paintballakteure sprechen, die auf dem Gelände vor der Lagerhalle spielen. Es gibt Schwenks zwischen den Sprechenden und keinen Gegenschuss auf das, was besprochen wird. Erst später im Film folgt eine Aufnahme der Paintballspieler. Stattdessen folgt nach dem Gespräch ein 360 Grad-Schwenk. Eine große Geste in einem Film, der sich sonst in bewundernswerter Zurückhaltung übt. Sie macht die Existenz des Blickenden bewusster. Vielleicht wäre das gar nicht notwendig. Man spürt diese Präsenz in der Konzentration des Films an sich. Gleichzeitig aber hängt an ihr die Balance des Films, die sich zwischen einer recht direkten Tatsachen-Beobachtung und einer ins Poetische ragenden Zärtlichkeit aufhält.

Wäre Bewegungen eines nahen Bergs direkter in seiner Art könnte Cliff sowieso mit der Kamera agieren, wäre er abstrakter würden die Einschübe rund um die Legende der Entdeckung des Erzbergs, in der ein gefangener Wassermann „Gold für einen Atemzug, Silber für ein Menschenleben oder Eisen für immer“ verspricht, dominanter oder häufiger sein, es gäbe mehr stilisierte Bilder wie jenes als Cliff sich auf einer Fronthaube sitzend den Schädel rasiert. So aber hängt der Film zwischen den Wahrnehmungen. Zum einen, das was man von Cliff sehen kann und zum anderen, das was dieses Sehen mit sich trägt. So etwas nennt man schnell Plot und Subplot, aber bei Brameshuber verdichten sich diese Begriffe eher auf der Bildebene als in der Narration. Es sind diese gezielt gesetzten Licht- und Farbstimmungen, die aus der Arbeit am Prozess gesetzt wirkenden Schnitte, die beinahe motivisch und strukturalistisch wiederholt zu bestimmten Bildtypen zurückkehren, die Zeit und Raum und damit auch das Leben von Cliff so greifbar machen. Man spürt, dass sich der Filmemacher immer auch selbst vor Cliff positioniert, ja sucht, es gibt verschiedene Anläufe, etwas greifbar zu machen, um die darunter liegende Wahrnehmung zu retten. Sinnbildlich dafür steht der nur von einer suchenden Taschenlampe unterstütze Blick in die Nacht. Das ganze läuft allerdings in großer Sicherheit ab. Die Bestimmtheit des Films droht das Prozesshafte hie und da zu erdrücken, der so affirmative Blick auf das Fremde zittert unter der Gesetztheit der Bilder, Töne und Schnitte.

Im dokumentarischen Kino scheint es oft entscheidend, einen Zutritt zu haben. „Access“ nennt das die anglophone Filmkritik und es ist eine große Leistung von Bewegungen eines nahen Bergs, dass er zeigt, dass dieser „Access“ eine Frage der Art und Weise ist und nicht nur der Besonderheit einer Person, des Spektakels einer Landschaft und so weiter. Ganz im Gegenteil beginnt Bewegungen eines nahen Bergs erst mit dem Zutritt, dort wo es einen Menschen, sein Leben und eine Kamera gibt. Die großen Ideen dahinter filtern sich derart beinahe organisch aus den Beobachtungen.

Ein wenig blieb die Frage einer ausbleibenden emotionalen Nähe nach dem Kinobesuch. Diese erklärt sich zumindest für mich so, dass Brameshuber einen Film gemacht hat, in dem man erst im Nachdenken darüber spürt, wie traurig das war, was man gesehen hat. Vielleicht weil man nicht so sehr daran gewöhnt ist hinzusehen, hinzuhören und dann zu fühlen.

„Ob man die Welt mit dem Blick der Komödie oder des Dramas betrachtet, ist ja nur eine Frage der Perspektive“: Ein Gespräch mit Albert Meisl

Die Last der Erinnerung von Albert Meisl

Der „lustige Kurzfilm“ ist – etwas allgemeiner gesprochen – oft eine jener Filmformen, die bei Festivalbesuchen im deutschsprachigen Raum aus gutem Grund zu den zu meidenden Programmpunkten gehört. Eine Ausnahme bildeten in den letzten Jahren Die Last der Erinnerung und Der Sieg der Barmherzigkeit des Regiestudenten Albert Meisl. Mit Die Schwingen des Geistes läuft in diesem Jahr der dritte Teil der Reihe auf der Diagonale, die von einem weiteren merkwürdigen Abenteuer der ungleichen Musikwissenschaftler Fitzthum und Szabo erzählt. Ein Anlass für ein längst überfälliges Gespräch.

 

Alejandro Bachmann: Dein neuer Film Die Schwingen des Geistes erzählt von der dritten Begegnung der Musikwissenschaftler Szabo und Fitzthum, die zuvor schon in Die Last der Erinnerung und Der Sieg der Barmherzigkeit aufeinander getroffen sind. Mit jedem Mal, so kam es mir vor, konturiert sich klarer, wer die beiden Figuren sind, wie sich ihr Verhältnis gestaltet und es erscheint mir absolut konsequent, dass es diesmal darum geht, dass der eine als der andere auftritt, seine Rolle übernimmt: Zum einen, weil das ja auch die Ausgangskonstellation im ersten Film war – Fitzthum übernimmt die Rolle der wissenschaftlichen Assistenz Szabos, da dieser zu lange an seiner Doktorarbeit sitzt – zum anderen, weil sich in dieser Figur des Doppelgängers auch etwas über die beiden ausdrückt. War dir von Anfang an klar, dass es mehrere Filme zum Verhältnis dieser beiden geben wird?

Albert Meisl: Nein, das war nie geplant. Der erste Film Die Last der Erinnerung ist für eine Ausschreibung für die Sommerakademie der Universität für Musik und darstellende Kunst, zu der auch die Filmakademie gehört, entstanden. Das – etwas Eigenartige – Thema der Sommerakademie war „Cultural Memory / Jubilee“. Zu gewinnen gab es 1000 Euro Budget und die Möglichkeit einen quasi irregulären Film an der Akademie zu drehen, also einen Film, für den man keine Produktionserlaubnis der Professoren braucht und einfach machen kann, was man will, also auch scheitern kann. Dieses Geld wollte ich also und so kam es zu der Geschichte, die das Thema konterkariert und ironisiert. Cultural Memory – das verlegte Notenblatt – ein bisschen wie ein Themenaufsatz in der Schule, den man gleichzeitig erfüllt und unterläuft. Also, dass sie mir das Geld geben müssen, weil es das Thema so brav erfüllt.

Die Schwingen des Geistes von Albert Meisl

Die Schwingen des Geistes von Albert Meisl

AB: Stecken also schon in der Produktion des Films sowohl Fitzthum – der Konforme, der Fleißige — und Szabo – das Widerständige und Subversive?

AM: Das ist eine lustige Frage. Kann sein. Denn da wir eine strikte Deadline hatten, musste der Film gedreht werden, also keine Zeit für unkonforme Zweifel und Selbstquälereien. Da es kein wirklich offizieller Film war, sondern so ein kleiner, dazwischen, dachte ich mir aber auch, wenn es nicht gelingt oder nur den Beteiligten gefällt, dann werfen wir ihn einfach weg und es gibt den Film einfach nicht. Das war wie eine Rückkehr zum Filmemachen vor der Filmhochschule. Einen immens großen Anteil – dass wir überhaupt gedreht haben und dass es etwas geworden ist – hat Alexander Dirninger, der die Kamera gemacht hat. Ich kannte ihn schon lang, aber wir haben nie in der Paarung Regie-Kamera zusammengearbeitet. Ich wusste, dass wir einen ähnlichen Humor und eine ähnliche, naturalistische Ästhetik haben. Er ist auch schuld, dass ich die Figur des Szabo spiele, das war nicht intendiert von mir. Wir haben aber schlicht und einfach niemanden gefunden, der gepasst hätte und Zeit hatte. Und dann hat Alex gesagt: „Dann musst du das halt machen“. Da ist er der Subversive. Hätte er Sorgen gehabt, dass das mit Regie und Schauspiel in einer Person funktioniert, dann würde es diese Filme vielleicht gar nicht geben, weil ich dann weiter gesucht hätte und möglicherweise niemanden gefunden hätte und das ganze wäre abgeblasen worden.

AB: Eine glückliche Fügung, auf so vielen Ebenen: Wenn man sich beispielsweise ansieht, wie Szabo und Fitzthum miteinander umgehen, auf irre Weise eingespielt und zugleich im permanenten Aneinander-reiben, die ständigen, teilweise minimal kleinen Sticheleien, die Momente der Zuneigung. Was macht das aus, diese Chemie – zum einen bei dir und Rafael Haider, zum anderen zwischen Szabo und Fitzthum? Und was genau daran ist naturalistisch?

AM: Naturalistisch habe ich eher in Bezug auf die Bildgestaltung und Kameraarbeit gemeint. Also auf den ersten Blick zurückhaltend, nahezu dokumentarisch, das Artifizielle nicht ausstellend, sondern verbergend, oft mit Handkamera und available light – dass sich das Komisch und Eigenartige darin ereignen kann, als wäre es ganz normal. Ganz alltäglich. Deutsche Komödien sind oft schon im Bild extrem künstlich, so nach dem Motto: Das hier ist „bigger than life“, ist lustig und würde deshalb eh nie wirklich so stattfinden. Mein Ansatz war eher, dass das realistische Filme sind, die auch Dramen sein könnten, würde es um höhere Konflikte gehen.

Ja, und Rafael Haider, ohne ihn würde es die Filme auch schlicht und einfach nicht geben. Wir kennen uns schon sehr lang durch unser gemeinsames Regiestudium, er hat meinen Dokumentarfilm Vaterfilm geschnitten und ich habe Herrn Fitzthum praktisch für ihn geschrieben. Das war von Anfang an klar, dass er das spielen muss. Dass wir ein großes Vertrauensverhältnis haben und zugleich wissen, wie die Figuren funktionieren, wo sie mit uns Ähnlichkeiten haben und wo nicht, macht es möglich, dass das Verhältnis der beiden – hoffentlich – eine gewisse Komplexität hat. Viele Ideen, wie dass Fitzthum den Kaffee einfach selbst kauft und verbirgt, dass er bei Frau Paulus gescheitert ist, kommen direkt vom Rafael.

Was die Chemie der beiden Figuren betrifft: Sie sind ja wie zwei gegensätzlich Pole und sich zugleich gar nicht so unähnlich. Sie sind beide Musikwissenschaftler, also Kollegen. Da gibt es einen gewissen Respekt. Und ich glaube auch, dass Szabo in seinem Scheitern eine Art potenzielles Horrorszenario für Fitzthum darstellt, dass es ihm auch einmal so ergehen könnte. Vielleicht lässt er sich auch deswegen immer wieder auf ihn ein. Aus Mitleid. Es sind beide ja auch sehr religiöse Charaktere.

Der Sieg der Barmherzigkeit von Albert Meisl

Der Sieg der Barmherzigkeit von Albert Meisl

AB: Wie kommt das bei Fitzthum zum Tragen? Im dritten Teil gibt es ja den Moment, wenn Szabo aus der Polizeistation flüchtet und Fitzthum alleine lässt. Da sehen wir ihn dann kurz vor einer Kirchenmauer stehen, da materialisiert sich sein (schlechtes) Gewissen.

AM: Das kommt besonders im zweiten Teil zum Tragen. Wenn Fitzthum denkt, dass Szabo seine letzte Jacke für Fitzthums Befreiung gegeben hat, da steckt ein bisschen der Heilige Martin drin, das hat Fitzthum sicher im Religionsunterricht in Salzburg gehört. Auch dass man Menschen in Not helfen muss, ist ja so ein Grundanspruch, beim Einsteigen in die Kleider-Sammelstelle etwa geht Fitzthum dem nach. Beim dritten Teil ist das dann eher Szabo, der mit seinem katholischen schlechten Gewissen ringt – weil er einen Kollegen verraten hat, bevor der Hahn überhaupt zu krähen begonnen hat.

AB: Szabo wirft Fitzthum ja unter anderem die Nichtmiteinbeziehung der Popularmusik in seinen Studien vor, das passt irgendwie gut zu Salzburg… Wie ist Szabo denn groß geworden?

AM: Das ist mir selber etwas schleierhaft. Er hat gar keinen so expliziten Hintergrund. Er ist für mich eher wie ein Gewitter, oder ein saurer Regen, also ohne Biographie, jedenfalls ohne eine, die mir bekannt ist. Fitzthum kommt übrigens aus Salzburg Land – ich denke so Richtung Elsbethen. Die Popularmusik, die dort gehört wird, ist auch eher abschreckend. Deshalb verstehe ich ihn schon, dass er sich eher auf E-Musik spezialisiert hat.

AB: Das ist interessant, dass ausgerechnet Szabo ohne Biographie ist, ein Typ, der in so massiver Weise mit Geschichte umgeben ist, in seiner Wohnung, den Schallplatten und Büchern…Das bringt mich aber zu einem etwas allgemeineren Punkt: Du hast vorhin gesagt, deine Filme könnten auch Dramen sein, wenn es um höhere Konflikte ginge. Mit den Begriffen der „Barmherzigkeit“, der „Erinnerung“ oder des „Geistes“, die in den Titeln vorkommen, ist da ja schon auch eine solche Größe angedeutet, die Titel klingen nach großer Bühnenkunst. Und deine Filme bewegen sich da für mich an einer Grenze – zwischen dem sehr genau Durchdachten, dem sehr gut (in einem klassischen Sinn) geschriebenen Dialog, der immer (mindestens) doppelten Bedeutung der Dinge und des Gesagten – und einer großem Lässigkeit, die sich in der Alltäglichkeit der Szenerien, der Freude am Albernen, solchen Dingen eben äußert…

AM: Zu den Titeln kann ich nur sagen, dass ich, beginnend mit Die Last der Erinnerung, versucht habe, den Filmen keine Komödientitel zu geben, sondern ernste Titel, die Fragen aufwerfen. Dass der Zuschauer dann überrascht ist, was für eine Art von Film es ist. Bei einem Langfilm wäre das wohl dysfunktional, weil da der Titel mehr Auskunft über das Genre geben muss, damit die Leute überhaupt reingehen. Aber Kurzfilme laufen in Blöcken, die Zuschauer haben kein Vorwissen, lesen die Titel im Programm und meistens nicht mehr als nur die Titel. Dass die Filme komisch sind, müssen sie erst feststellen. Das finde ich einen guten Effekt, dass man am Anfang nicht weiß, wohin die Reise geht und das Genre erst entdeckt. Und das Gravitätische der Titel ist natürlich auch parodistisch gemeint. Beim ersten Film haben Leute gesagt, dass der Titel unpassend für eine Komödie sei und nach etwas mit Vergangenheitsbewältigung klingt. Das hat mir gefallen, weil es darum ja auch geht. Der zweite erinnert mich an einen Bibelfilm und der dritte an etwas aus dem Eso-Laden, eine DVD, die man neben das Osho-Tarot oder die Ambient-Platte stellt.

Zum ernsten Kern, dem Drama nochmal: Komödien, die mich interessieren, haben ihn eigentlich immer. Ob man die Welt als Komödie oder Drama betrachtet, ist ja nur eine Frage der Perspektive. Ich hänge in der letzten Zeit beim Erzählen mehr dem komödiantischen Blick an, das heißt aber nicht, dass man die Dinge, die um uns herum passieren, leichtnimmt oder weglacht, ganz im Gegenteil. Natürlich gehört das präzise Geschriebene dazu, da die Filme stark dialogbasiert sind und Dichtheit nötig ist, damit sie nicht fad oder breiig werden. Gleichzeitig ist es – unter einem realistischen Ansatz – oft sehr bemerkenswert, wie präzise und pointiert das Leben komödiantische Situationen hervorbringt. Oder wie pointiert man anderen sein Leben erzählt, daraus wieder eine Geschichte macht, aus dem was einem widerfahren ist. Ich glaube nicht, dass die reine Realität unpointiert ist. Was das Leben nicht hat, ist eine dichte Dramaturgie, in der in kurzer Zeit sehr viel passiert, oft passiert ja tagelang einfach gar nichts. Diese Dramaturgie in Zusammenhang mit dem dichten Dialog ist die Hauptarbeit beim Schreiben der Filme.

Und dann wird der Film – en detail – im Schneideraum noch einmal neu geschrieben. Da ist die Rolle unseres Cutters Sebastian Schreiner besonders wichtig. Da ich ja auch vor der Kamera stehe, sichtet er das Material und erstellt einen ersten Schnitt ganz allein. Er ist somit der erste wirkliche Zuschauer – und erspart mir damit, vieles, was nicht gelungen ist, zu sehen. Und wenn ihm Dinge gefallen, weiß ich dass sie gut geworden sind. Das ist extrem wichtig für meine Schaffensfreude. Das Glück, das ich habe ist, dass Sebastian, Rafael, Alex, unsere Produzentin Lena Weiss und ich uns lange kennen, einander zutiefst vertrauen und einen ähnlichen Humor haben. Sonst wäre es auch nicht möglich gewesen, diese Filme zu machen, die ja auch unter großen kräftemäßigen Belastungen in einem sehr kleinen Team entstehen. Jeder hat da seinen eigenen, sehr großen eigenen Anteil daran.

Noch eine Sache, die Perspektive und den Ansatz des realistischen Humors betrifft: Ich habe vor Kurzem im Fernsehen zufällig einen Film von Wolfgang Staudte wieder gesehen Die Herren mit der weißen Weste von 1970, ein Film, der in Staudtes Werk nicht  besonders gewertschätzt wird und eher als Konfektion gilt. Ich habe diesen Film als Kind im Fernsehen oft gesehen, der war wohl in diesem Kirch-Paket. Und mir fiel auf, dass ich den Dialog teilweise präzise mitsprechen konnte. Ich habe in diesem Film auf einmal einiges entdeckt – Konstellationen, Figuren – was in anderer Form in den Szabo-Fitzthum-Filmen vorkommt. Dinge von denen ich ursprünglich gedacht habe, sie kämen aus Alltagsbeobachtungen. Der Blick aufs Leben und der Blick durch Filme auf ein virtuelles Leben fallen zusammen. Und die Filme, die man früher gesehen hat, sprechen aus einem, man verwechselt sie mit Erfahrungen und Beobachtungen.

AB: Auf welche Filmerfahrungen, die sich über die Zeit manchmal in einem als gelebt ablagern, beziehst du dich denn in der Trilogie? Ein wenig vermeint man ja in den Situationen und Dialogen etwas vom deutschen Kino der 50er Jahre zu verspüren, Heinz Erhard war etwas, was mir in der Art wie eine Pointe vorgetragen wird, im Kopf rumspukte – vielleicht im Wortwitz, dem Betonen des Witzigen. Damit scheint mir aber vor allem auf das Dramaturgische und Dialogische verwiesen, wie sieht es denn mit dem Formalen aus? Irgendwie sind diese Filme ja Dialogfilme, was eine gewisse ökonomische Verwendung der filmischen Mittel, ein Zurücktreten und Unauffällig-werden mit sich bringt. Und dann gibt es doch auch Momente, wo der Humor aus einer Dynamik des Bildes entsteht, wenn man das so sagen will: Ich denke an die Szene, in der Fitzthum die Treppen im ersten Teil hinunterläuft oder daran wie Szabo im dritten Teil auf die Polizeistation zurennt. Und schließlich gibt es noch die Tücke der Objekte, Szabos Kampf mit dem Kaffeeautomat im zweiten Teil, Fitzthums Irritation über den hüpfenden Karton, in dem der Papagei aufbewahrt wird im dritten, das hat fast was von Slapstick-Komödien…

AM: Mit Heinz Erhardt habe ich eher so meine Probleme, bzw. finde ihn nicht besonders lustig, mit Ausnahme des grandiosen Werks Drillinge an Bord, in dem er dreimal vorkommt und Trude Herr im Liebesrausch erst mit Rosen und dann einer Vase bewirft. Das sind oft so Situationen und Sequenzen, die ich mir von diesen Filmen gemerkt habe. Ich habe natürlich Unmengen dieses Kinos gesehen – im Fernsehen, das waren ja damals schon eher Kinderfilme. Auch von der Programmierung her. Sonntag Mittag sind die ganzen Pepe, der Paukerschreck-Filme gelaufen, ich weiß gar nicht, wie oft ich die gesehen habe. Später war es dann aber eher amerikanisches Kino, Billy Wilder oder Howard Hawks Man’s Favorite Sport?, eine meiner Lieblingskomödien überhaupt. Das ist dann ein anderes Niveau, das geht tiefer und ist kompromissloser. Ich habe dialoglastige Filme immer sehr gemocht. Screwball-Comedies oder die Filme von Karl Valentin. Aber wenn man Film studiert, dann kommt man ja sehr schnell an diese Regel „show, don’t tell“. Zumindest habe ich am Anfang versucht, eher wortkarge Filme zu machen, weil ich dachte, das hat so zu sein. Beim ersten Szabo-Fitzthum-Film wollte ich dann ganz bewusst einen in dieser Hinsicht unfilmischen Film machen, der durch Dialoge angetrieben wird. Das entspricht auch der dargestellten, prekären Schicht, der ich mich auch zugehörig fühle. Dass man sich hinter Worten verstecken kann. Und dass man die Worte hat, etwas zu benennen, aber nicht die Kraft, es zu verändern. Beim zweiten Teil ging es mir dann ganz bewusst um Körperliches, um physische Komik, wobei Slapstick ja immer von sehr körperbewussten, sportlichen Komikern gemacht wird. Da Rafael Haider und ich sehr unsportlich sind, war das auch ein Experiment in Selbstverletzung, wobei das leider eher ihn betroffen hat als mich. Das sind auch so Dinge, die man mit Schauspielern einfach nicht machen kann. Aber als Regisseur, was Rafael ja ist, weiß man, dass nichts besser ist als echte Gefühle, echte Pannen und eben auch echter Schmerz.

Die Last der Erinnerung von Albert Meisl

Die Last der Erinnerung von Albert Meisl

AB: Ich denke jetzt an die großartig ausgespielte oder eben tatsächlich durchlebte Szene, wo die Räuberleiter in den Charity-Laden einzusteigen herhalten soll in Der Sieg der Barmherzigkeit. Neben der Nähe zum Wort auch der Bezug zum Körper. Was meinst Du genau mit der prekären Sicht? Das Prekariat Szabos oder wirklich einen bestimmten prekären Blick auf das Leben?

AM: Diese Szene gebe es in dieser Art und Qualität nicht ohne Alexander Dirninger. Inhaltlich, aber auch formal. Die Idee, dass Fitzthum die Klappe öffnet, war von ihm und es war mein Wunsch, dass wir die ganze Szene bis zum Sturz der beiden in einer Einstellung halten, eben um das Physische, das Ungelenke spürbar zu machen. Wir haben das ziemlich oft gedreht, natürlich Sicherheitseinstellungen gemacht, falls man doch Takes kombinieren will. Dass wir das nicht mussten, verdanken wir Alex. Er ist ein begnadeter Handkameramann, schaut durch die Kamera auf die Situation und lebt sie mit. So war es in dieser Szene möglich zu improvisieren, sie auszuspielen, ohne abbrechen zu müssen – wobei viel Unvorhergesehenes passiert ist. Übrigens ist die Einstellung im Film, in der ich Rafael – natürlich unabsichtlich – real auf den Fuß trete, weswegen er sich so komisch vorbeugt und ich mich bei ihm erst entschuldige und ihn dann doch angehe. Ja und dieser prekäre Blick aufs Leben, das Interesse an Nischen, an Grenzgängern, an unaufgeräumten Wohnorten, aber auch Figuren, der verbindet uns alle, das ganze Team. Als Filmstudent hat man da ja einen Sinn dafür, man lebt dieses Leben.

AB: Und zudem lebst du – lebt das Team – ja mehrheitlich in Wien. Das ist auch so etwas, was ich mich gefragt habe beim Sehen der Filme: Gibt es etwas Wien-spezifisches an dieser Trilogie, oder könnte sie für dich potenziell auch in anderen Städten stattfinden? Das Element der Musik – im Film, aber auch als Thema (die E-Musik, aber auch die Single, die Fitzthum im dritten Teil als Karriereschmiermittel von Szabo erstehen will) – scheint mir sehr anschlussfähig an diese Stadt, sind es die Orte oder andere Dinge darüber hinaus aus Deiner Sicht auch?

AM: Klar, zu den Wien-Klischees gehört natürlich Musik. Also klassische Musik. Dass Szabo sich der Popularmusikforschung verschrieben hat, hat etwas Widerständiges, vielleicht auch etwas Klägliches. Denn die relevanten popularmusikalischen Aufnahmen aus Österreich aus den 60er und 70er Jahren sind jetzt nicht so zahlreich wie in anderen Ländern. Das liegt an der damaligen Randlage Österreichs am EisernenVorhang, von vielen Entwicklungen abgeschnitten. Und auch Szabos Lebensform, das Prekäre, aber doch am Stadtleben partizipierende – er lebt ja nicht in einer WG oder in einem Sozialbau am Stadtrand – wäre in einer Stadt wie München oder Stuttgart kaum mehr möglich. Dort könnte es keine Prekariatskomödien geben, nur Prekariatsdramen. Gentrifizierung ist zum Glück – noch – in Wien kein großes Thema. Hoffen wir, dass es noch lange so bleiben wird. Denn dass es eine Stadt der Nischen, der Koexistenz von Begüterten und Prekären ist, das macht Wien für mich aus. Es ist ja gerade zu sehen, wie Berlin unter Hipstertum und neoliberalem Geld zusammenbricht und seinen Reiz verliert. Diese Liebe zum grauen, altmodischen, devianten Wien der Randexistenzen, der bizarren Zwischenräume und unsanierten Altbauten ist neben dem Humor auch das, was mein Team und mich verbindet.

Diagonale 2018: Vom Zeitbezug

Die bauliche Maßnahme von Nikolaus Geyrhalter

Ob das im Kino nun schon immer so war oder ob es eine Frage nachträglicher Eindrücke ist.
Ob besondere und/oder problematische politische Situationen ein Kino der Aktualität, des Zeitbezugs, der kritischen Gesellschaftsreaktion fördert.
Ob bestimmte Förderstrukturen zu einem Kino führen, dass in mancherlei Hinsicht beinahe Newsreel-Qualitäten aufweist.
Ob das Kino immer im Jetzt verankert ist.
Die Diagonale 2018 machte ein eindrückliches Statement dafür.
Hat sich deshalb was verändert?

Zwei Beispiele großer Namen des österreichischen Films: Ruth Beckermann und Nikolaus Geyrhalter. Beide waren mit faszinierenden dokumentarischen Arbeiten auf dem Festival vertreten. Beckermann mit ihrer treibenden Found-Footage-Arbeit Waldheims Walzer und Geyrhalter mit seiner Bestandsaufnahme rund um den geplanten oder angedrohten Zaunbau am Brenner, Die bauliche Maßnahme.

Waldheims Walzer von Ruth Beckermann

Waldheims Walzer von Ruth Beckermann (© Ruth Beckermann Film)

Auf den ersten Blick also zwei sehr unterschiedliche Arbeiten mit zwei verschiedenen Beziehungen zur Zeit. Zunächst Geyrhalter, der tatsächlich versucht im Hier und Jetzt zu operieren, der den politischen Geschehnissen vor Ort folgt und seine Kamera dem Diktat der Zeit unterwirft. Zu diesem Diktat gehört auch – und das zeichnet den Film gewissermaßen aus – ein Diskurs, der Gespräche zwischen Links und Rechts fordert. Die bauliche Maßnahme ist ein Stück Direct Cinema, aber er wirkt sehr überlegt, fast vorsichtig (wenn auch sehr ehrlich) im Austarieren zwischen dem, was man findet und dem, was man darüber vorher zu wissen meint. Sein Prinzip ist das Gespräch, das Erklären und Nachfragen. Mit erstaunlicher Objektivität folgt Geyrhalter diesen Möglichkeiten, durch die eine Haltung scheint, ohne sich je über den Film zu stülpen. An seinen besten Stellen zeigt er tatsächlich ein mögliches Zusammensein an, einen anderen Blick auf die festgefahrene und durch die Absurdität des Maschendraht-(kein Stacheldraht-)Zauns auf den Punkt gebrachte politische Situation Österreichs. Es ist natürlich auch deshalb aktuell, weil sich nicht wirklich was geändert hat.

Von dem, was sich nicht wirklich geändert hat, handelt auch Waldheims Walzer. Beckermanns Arbeit beleuchtet den Mann und den Fall Kurt Waldheim und die sogenannte Waldheim-Affäre in den 1980er Jahren. Eigentlich ein recht großer Schritt in die Vergangenheit und dennoch ein Film voller Zeitbezug. Die bequemliche Opferrolle Österreichs im Bezug zu den Verbrechen des Zweiten Weltkriegs wurde in jener Zeit erstmalig erschüttert. Ein unpräziser, sich windender, sofort falsch wirkender Umgang mit der eigenen Nazi-Vergangenheit entblättert sich Stück für Stück an Waldheim. Beckermann wählt einen für sie überraschend geradlinigen Zugang, der mit mal trockenen, mal wütenden, mal pointierten Finten durch die Geschichte führt. Es ist ein Film der Faktentreue, aber unter diesen Fakten lodert ein Feuer, das man gar nicht aussprechen muss. Es hat mit Analogien zu tun, mit Zeitbezug. Auch dieser Film ist natürlich deshalb aktuell, weil sich nicht wirklich was geändert hat. Selbst wenn das etwas unscharf formuliert ist, man kann sich im Groben doch darauf einigen.

Nun ist es für gewöhnlich beinahe immer so im Kino, das es einen bewussten oder unbewussten Bezug zur Zeit gibt. Viele Filmemacher in Graz und eben auch Geyrhalter und Beckermann gehen da aber noch einen Schritt weiter. Sie sehen das Kino als Stimme im Diskurs. Dabei stellen sie einen ganz bewussten Bezug zur Realität und zum politischen Diskurs her. Beckermann hat bereits in frühen Arbeiten die Nähe von Aktivismus und Kino praktiziert, an einer schönen Stelle in Waldheims Walzer sagt sie, dass sie sich entscheiden musste: Demonstrieren oder Dokumentieren. In mancher Hinsicht hat man den Eindruck, dass das Dokumentieren bereits ein Demonstrieren ist. Es macht sichtbar, sucht eine Auseinandersetzung, einen Blick, ein Gespräch. Prozesse, die sonst oft gescheut werden. Das Kino kann hier auch ein idealer Raum werden, ein Raum, der vieles möglich macht.

Die Bauliche Maßnahme von Nikolaus Geyrhalter

Die Bauliche Maßnahme von Nikolaus Geyrhalter (© Geyrhalter Film)

Doch wie schon in Diskussionen rund um das Dritte Kino in Ländern wie Algerien, Argentinien oder Kuba und vielen Formen des politisch engagierten Kinos stellt sich auch immer die Frage: Für wen diese Filme? Wie werden sie gezeigt? Wo werden sie gezeigt? Die Diagonale scheint trotz oder gerade wegen ihre tadellosen Haltung zum Kino ein merkwürdig flauschiger Ort zu sein. Man kennt sich eben, man ist sich in den großen Fragen auch grundsätzlich einig. So verfällt man dann beim Sehen der Filme und bei ihrem Besprechen in pure Spekulation, über das, was diese Filme anderswo bewirken könnten. Wobei man festhalten muss, dass dies mehr für Beckermann gilt als für Geyrhalter. Letzterer bringt nämlich Stimmen in die Diagonale, die dort eigentlich nicht gehört werden: Menschen, die Angst vor „Flüchtlingen“ haben, Menschen, die um ihre Traditionen fürchten. Bei Beckermann dagegen gibt es mehr Bestätigung, was im Publikumgsgespräch zur durchaus merkwürdigen Betonung der Heiterkeit des Films führte. Frei nach dem Motto: Wir wissen ja alle, dass das sehr heftig war und nicht gut, aber interessant, dass es so unterhaltsam und lustig gezeigt werden kann.

Gegen diese Einstimmigkeit kann man vielleicht noch weniger tun als gegen die politischen Situationen. Es gibt natürlich Festivals, auf denen es andere Formen von Gesprächen gibt, diese unterliegen aber nicht den Vorgaben eines nationalen Festivals. Es ist spannend, in welcher Bestimmtheit sich die Diagonale zur Zeit positioniert. Der Spagat ist groß. Hier der Aufruf zum politischen Festival, dort die Verpflichtungen mit Verleihern. Hier der Wunsch nach Diskurs, dort die große Party in der Stadt. Nichts davon widerspricht sich wirklich, ein Gefühl des gemeinsamen „Klappe auf“ entsteht dennoch selten. Vielleicht auch, weil das Festival, so wie Geyrhalter und Beckermann trotz aller, wirklich großartiger Qualität, ein wenig zu klug ist. Die Spuren sind schon gelegt, sie machen sich selbst bemerkbar. So sagte Beckermann, dass sie diesen Film „für Österreich“ machen wollte und bringt damit zugleich sich selbst als Zuseherin mit ins Spiel. Die Filmemacher werden zu ihrem eigenen Publikum, generieren bereits den Diskurs, das Festival arbeitet zugleich am industriellen wie kuratorischen Zeitbezug und alles fließt in den Mühlen einer vorgefertigten Diskurslandschaft. Man spricht nicht immer weil man muss, sondern weil es Q&As gibt.

Nur was könnte man anderes erwarten? Sollen Filme auch dem Nichts erscheinen, soll jemand nach Jahren aus dem Wald auftauchen und etwas Wertvolles bringen? Selbst für die kuriosen Entdeckungen gab es mit Olaf Möller den entsprechenden Kurator (selbst wenn seine Entdeckungen berechenbar geworden sind) auf dem Festival. Es ist ja kein wirkliches Beschweren, nur eine Feststellung, die sich fragt, warum alles so gut angelegt, durchdacht und ausgeführt ist in Graz und man trotzdem nicht das Gefühl hat, dass sich wirklich was ändern könnte.