Diagonale-Abschlussdialog

Lampedusa von Peter Schreiner

Mit etwas Abstand zum Geschehen und in ungewohnter Konstellation wird ein letztes Mal über die diesjährige Diagonale dialogisiert. Andrey und Rainer blicken eine Woche zurück und lassen die wichtigen Dinge im Leben Revue passieren.

Rainer: In meiner Kindheit wurde ich womöglich mit zu vielen Äpfeln konfrontiert, denn ich mag sie mittlerweile nicht mehr besonders. Bei den Gratissteireräpfeln an den Festivallocations habe ich dennoch zugegriffen und sie haben vermutlich dazu beigetragen, dass ich meine Erkältung während dieser vier Tage gut auskuriert habe. Magst du Äpfel?

Andrey: [lacht] Ein Apfel a day usw. Klar, ich habe diesbezüglich kein Trauma und habe mich auch immer wieder im Schubertkino bedient. Überhaupt macht Graz auf mich immer, wenn ich während der Diagonale dort bin, einen äußerst „gesunden“ Eindruck: Bioläden an jeder Ecke, Radhauptstadt Österreichs – aber zugleich werde ich weder in Wien, noch in Linz so oft mit Armut konfrontiert.

Rainer: Tatsächlich? Dass in Graz die Armut grassiert, wäre mir noch nicht aufgefallen (vor allem nicht im Vergleich zu Wien), einzig so manche Filme die dort gezeigt werden taugen als künstlerisches Armutszeugnis.

Andrey: Ich meine ganz konkret, dass der Kontrast zwischen Wohlstand und dem Gegenteil von Wohlstand mir dort im Stadtbild viel präsenter scheint als anderswo in Österreich, dass man beim Streifzug durch die fein herausgeputzte Stadt doch unentwegt Menschen begegnet und auch von diesen angesprochen wird, die einen daran erinnern, dass es sich um ein Trugbild handelt – aber auf welche Filme beziehst du dich?

Rainer: Naja, in der Natur der Sache der Diagonale – dieser freiwilligen Beschränkung auf österreichische Filme – liegt es, dass da auch zahlreiche Filme laufen, die auf einem ernstzunehmenden Festival eigentlich nichts zu suchen haben. Zwar versuche ich die immer zu umschiffen, aber allzu oft, findet man sich dann doch in einem Screening und beginnt sich zu fragen, ob es nicht vernünftiger wäre, in der Sonne einen Cappuccino zu genießen, als den Film zu Ende anzusehen. Prinzipiell ist dieses Phänomen natürlich nicht auf die Diagonale beschränkt, aber gerade hier habe ich bei meiner persönlichen Programmgestaltung oftmals das Gefühl, dass es aus Mangel an Alternativen eigentlich zu leicht ist, sich für oder gegen einen Film zu entscheiden.

Dreams Rewired von Manu Luksch/Martin Reinhart/Thomas Tode

Dreams Rewired von Manu Luksch/Martin Reinhart/Thomas Tode

Andrey: Ein Festival des Österreichischen Films hat aber doch die Aufgabe, möglichst das ganze Spektrum des heimischen Filmschaffens abzubilden, und nicht nur die eingebildete Crème de la Crème, oder? Es ist klar, dass dann auch vieles dabei ist, was man zurecht als mittelmäßig bezeichnen kann, aber auch dieses Mittelmaß ist womöglich repräsentativ für keimende Tendenzen und Strömungen. Im Grunde müsstest du versuchen, die Filme, die dich weniger begeistern, im Kontext eines größeren Ganzen zu sehen, um etwas daraus zu schöpfen – schließlich versuchen auch diese Filme etwas, und die Frage ist: Was versuchen sie, und warum?

Rainer: Ja, schon klar. Ich werfe dem Festival dieses Mittelmaß gar nicht vor, sondern konstatiere nur, dass es das gibt. Wenn wir schon dabei sind, könnten wir etwas konkreter werden: Welchen der Filme, die du gesehen hast, fandst du am mittelmäßigsten?

Andrey: Die, die ich wieder vergessen habe. Und du?

Rainer: [lacht] Du vergisst sehr schnell. Hätten wir diesen Dialog besser vor drei Tagen gemacht?

Andrey: Nein, Mittelmaß zeichnet sich ja zumeist dadurch aus, dass man nicht weiter darüber nachdenkt, insofern meine ich das durchaus ernst. Aber ich glaube nicht, dass da dieses Jahr soviel dabei war, auch, weil ich insgesamt nicht soviel gesehen habe und bei meiner Auswahl eher streng war, mich an Erwartungen und Empfehlungen gehalten habe. Interessanterweise war aber kein einziger konventioneller Spielfilm darunter. Vielleicht war das auch eine unbewusste Vorsichtsmaßnahme.

Rainer: Ich versuche auf der Diagonale ebenfalls Spielfilme tendenziell zu vermeiden, aber so haben mich nach einiger Zeit vor allem jene Dokumentarfilme genervt, die zu wenig in einen fruchtbaren Kontrast zwischen Bild- und Tonebene investiert haben. Da hört man eine Geschichte und sieht Bildmaterial, das bloß diese Erzählung bebildert und irgendwann will man einschlafen.

Andrey: Wobei ich mir teilweise – etwa bei Dreams Rewired – nicht so sicher war, was da am Anfang stand, der Text oder die Filmausschnitte. Was du meinst, ist wohl schlicht eine Tautologie der Bedeutungsebenen, wenn Bild und Ton dasselbe erzählen. Hast du wirklich so viele Arbeiten gesehen, die so vorgingen?

Rainer: Ja, du findest wie immer die eleganteren Worte für meine Gedanken. Dreams Rewired wäre eines dieser Beispiele, das trotz imposantem Bildmaterial wenig zu mir spricht. Die beiden Filme von Alfred Kaiser, die ich im Rahmen der kleinen Werkschau gesehen habe, die ihm gewidmet war, empfand ich als ähnlich lähmend. Jola Wieczoreks O que resta und auch Annja Krautgassers Waldszenen darf man getrost auch dieser Kategorie beifügen.

Lampedusa von Peter Schreiner

Lampedusa von Peter Schreiner

Andrey: Hm. Ich habe bis auf den Erstgenannten keinen dieser Filme gesehen, begegnete aber selbst immer wieder spannenden Versuchen, mit klassischen Bild-Ton-Verhältnissen zu brechen, etwa Hans Scheugls Dear John, auf den du ja schon in einem älteren Gespräch mit Patrick näher eingegangen bist, oder den Festivaltrailer von Lukas Marxt. Ich finde, dass die Diagonale allgemein – und das ist für ein derart kleines, nationales Festival schon beeindruckend – ein unfassbar breites Spektrum an filmischen Zugängen auffächert, auch wenn bei weitem nicht alles gelungen ist. Nur beim Genrekino könnte man eventuell klagen, aber selbst das wurde dieses Jahr mit der Verleihung des Großen Preises an Ich seh, ich seh zumindest nominell geehrt.

Rainer: Das es genügend gelungene Gegenbeispiele gibt steht außer Frage! Nur wenn du mich nach dem fragst, was ich bei diesem Festival am ehesten als Mittelmaß empfunden habe, dann sind es ohne Zweifel die Dokumentarfilme der angesprochenen Schlagart. Ich diskutiere ohnehin lieber über die Filme, von denen ich begeistert bin. Über die Ehrung von Ich seh, ich seh, bin ich ebenfalls sehr froh, zwar ist mir ziemlich egal, was das für die Entwicklung des österreichischen Genrekinos bedeutet, aber der Film an sich hat mich sehr begeistert und ist in vielerlei Hinsicht ein verdienter Sieger.

Andrey: Wenn du einen Diagonale-Film auszeichnen könntest, welchen würdest du wählen?

Rainer: Die Antwort ist allzu offensichtlich: Wie die anderen von Constantin Wulff, ein formidables Porträt einer Institution, ein formidables Porträt unterschiedlicher Menschen, ein Film, der die richtige Distanz zu seiner Materie findet. Wie sieht’s bei dir aus?

Andrey: Schwierig, aber ich denke, ich würde Lampedusa von Peter Schreiner den Vorzug geben, obwohl meine persönliche Sichtungserfahrung des Films nicht gerade die beste war. Ich bin davon beeindruckt, wie Schreiner im Laufe seiner letzten vier Arbeiten eine völlig eigenständige Ästhetik und Arbeitsweise ausgefeilt hat. Seine Filme gewinnen zusehends an existentiellem Gewicht und politischer Brisanz, und ich weiß, dass mir Patrick bestimmt auf die Finger klopfen würde, aber in gewisser Hinsicht kann man in ihm fast schon einen österreichischen Pedro Costa sehen – Giuliana Pachner ist seine Ventura-Figur, in deren Gesicht und Worten die ganze Welt steckt.

Diagonale 2015: Was bleibt von einem Festival?

diagonalestart

Was bleibt von einem Festival und seinen Filmen, wenn man zu spät kommt und zu früh wieder fährt, wenn man mit den Gedanken immer wieder woanders ist und sich nie voll und ganz konzentrieren kann auf den Moment, wenn man mehr schlecht als recht seinem eigenen Sichtungsplan hinterherhechelt? Es sind eher Eindrücke als Filme, eher Szenen als Sequenzen, eher Bilder als Atmosphären.

Das Gesicht Zakaria Mohamed Alis, frontal und zentral auf der viel zu nahen Leinwand des Schubertkinos, der mit traurigem Blick in die Kamera von der Unmöglichkeit spricht, die Gesellschaft zu ändern, in Peter Schreiners unverkennbar glänzendem, digitalem Schwarzweiß. Die Frage, zu wem er das sagt.

Die seltsame Trance eines späten Publikumsgesprächs mit einer dispersen Gruppe von FilmemacherInnen nach der gestaffelten Projektion ihrer kurzen Arbeiten in der Sektion „Innovatives Kino“, das absurde Frage-Antwort-Spiel, das mir plötzlich vorkommt wie eine improvisierte Performance und ihren Höhepunkt erreicht, als jemand eine Erkundigung mit den Worten beschließt: „Why does it hurt so much?“

Der Anblick des dementen Vaters aus Albert Meisls schonungslos-voyeuristisch-liebevoller Familiendokumentation Vaterfilm, der am Esstisch sitzend wirkt, als hätte man den Heiligen Jeremias aus dem Caravaggio-Gemälde in das Setting eines provinziellen Einfamilienhauses verpflanzt und auf Video aufgenommen, die Tragik, die Natürlichkeit, das Nicht-Wegschauen-Können.

Die endgültige Erkenntnis, dass es völlig absurd ist, das Kino-Dispositiv mit irgendeinem anderen zu vergleichen, als ich im Festivalzentrum an einer Sichtungsstation sitze und die bespielten Bildschirme links und rechts von mir nicht ausblenden kann, ohne meine Nase gegen das LCD zu drücken, aus dem Augenwinkel wahrnehmend, wie sich Kollegen fahrig durch ihre Filme klicken, auf der Suche nach ich weiß nicht was, dem Money Shot vielleicht?

Die widersprüchliche Erkenntnis, dass es dennoch funktioniert, wenn es funktioniert, als ich an der gleichen Sichtungsstation von der unheimlichen Montage-Musik, dem Sirenengesang der Studiologos in Johann Lurfs großartigem Twelve Tales Told gebannt werde, trotz Ramschqualität und Kleinbild im Kleinbild.

Die belebende Wirkung von Michael Glawoggers Haiku und Die Stadt der Anderen, zwei strahlende, zuckende, überschäumende Kurzfilme, die ihr Ziel in dem Augenblick vergessen, als sie darüber hinausschießen, die alles, alles, alles vom Kino wollen, das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit, aber auch die Melancholie und die Sehnsucht und die Trauer, am besten hier und jetzt sofort.

Der Anfang von Constantin Wulffs Ulrich-Seidl-Porträt, wo der Regisseur sich dem Blitzlichtgewitter der Fotografenmauer in Berlin stellt, bombardiert von unablässigen Signalrufen: „Hier! Ulrich! Herr Seidl! Herr Seidl!“ – eine Szene aus dem A-Festival-Alltag, die einem seiner eigenen Filme entstammen könnte.

Der Punkt in Ludwig Wüsts (Ohne Titel), an dem sich alles in konturlose Farbkleckse auflöst und Licht aus der Leinwand hervorzuquellen beginnt wie weißes Blut, womit es der Film nach zwei, drei misslungenen Versuchen doch noch schafft, mich zu überraschen und zu berühren.

Die schöne Heimfahrt, die im Halbdunkel beginnt und im Dunkel endet. Erst als ich zuhause in Wien bin, habe ich das beruhigende Gefühl, wirklich in Graz angekommen zu sein.

Diagonale-Dialog 4: Wahrnehmungen

Da man auf einem Festival besonders viele Filme sieht, beginnt man früher oder später auch über die eigene Wahrnehmung von und mit Film nachzudenken. Was sieht man eigentlich? Wie sieht man eigentlich? Warum sieht man eigentlich? Dabei zeigt sich auch wie Film und im Besonderen ein Filmfestival zu einer persönlichen Entwicklung beitragen kann, die nicht weltfremd ist sondern mitten hinein in die Welt zielt. Und das bedeutet bei Rainer und Patrick wie schon im vergangenen Jahr auch oft: Konflikt.

Patrick: Wie war das Michael Glawogger Memorial?

Rainer: Weniger deprimierend als ich erwartet hatte. Sich diese frühen Filme anzusehen ist in mehrerer Hinsicht spannend. Es zeigt wie sich langjährige künstlerische Kollaborationen gebildet haben (anders formuliert: wie die österreichische Filmszene miteinander verbandelt ist) und natürlich wie sich die Formsprache eines Filmemachers entwickelt hat. Glawogger hat in den 80er Jahren sehr interessante Dinge gemacht: das poetische Bildgedicht Haiku und die frühen Experimentalfilme aus seiner Zeit in den USA haben es mir besonders angetan. Diese Filme zeugen von einem irrsinnig feinen Gespür für visuelle Gestaltung.

Patrick: Inwiefern feinsinnig?

Rainer: Farben, Komposition, Licht und in weiterer Folge Rhythmus und Musikalität – nicht dass schon alles in jeder Hinsicht perfekt wäre, aber man sieht wo es hinführt. Du hast parallel das neue Werk eines anderen großen österreichischen Autorenfilmers gesehen, hast du darüber etwas zu berichten?

Patrick: Ja ich war in Ludwig Wüsts (Ohne Titel). Manche Bilder waren schön. Der Film hält für mich aber weder konzeptuell (wir haben eine Frau mit einer Kamera und sehen die Bilder dieser Kamera, aber wir sehen trotzdem immer genau das, was wir sehen sollen), noch rhythmisch (alles wirkt abgehackt und dieses Unabsichtliche wirkt so merkwürdig absichtlich, Szenen finden sich selbst zu gut und bleiben daher stehen ohne tieferen Grund), noch narrativ (Film spielt mit krassen Themen, aber macht nichts damit), noch bezüglich der Stimmung (durch die Verspieltheit in der Form wird das Drückende im Film unterwandert), noch ästhetisch (Oberflächen werden gefilmt, aber mit Material, das die Konturen gar nicht hervorbringt) zusammen. Ich war enttäuscht.

Ohne Titel

Rainer: War überhaupt ein krasser Slot gestern früh. Bo Widerbergs Ådalen 31 wurde ebenfalls zur gleichen Zeit gespielt – dafür habe ich um 16 Uhr gar nichts von Interesse für mich gefunden. In Zeiten, wo man von VOD und vollen Festplatten verwöhnt ist, finde ich solche Entscheidungen und Überlegungen sogar sehr erfrischend.

Patrick: Welche Entscheidungen meinst du?

Rainer: Einerseits die kuratorischen, andererseits die des Zusehers (also von mir selbst). So wie du gestern argumentiert hast, dass du nicht in die Glawogger-Filme gehst, weil du auch nicht gegangen wärst, wenn er nicht verstorben wäre. Dieses Entscheidungen und womöglich noch die Begründungen dazu.

Patrick: Jetzt wirft du aber viele Dinge durcheinander? Was hat denn das mit Festplatten zu tun? Da hast du doch auch die Qual der Wahl? Und außerdem ist ein Festival schon im Kern so verschieden davon, dass ich das einen sehr bizarren Vergleich finde. Und ich habe meine Entscheidung nicht damit begründet, dass ich nicht in das Glawogger Programm gehe, weil ich nicht gegangen wäre, wenn er nicht verstorben wäre. Das klingt ja gefährlich einseitig. Also deine Frage zielt ja ein bisschen darauf: Wie trifft man eine Entscheidung auf einem solchen Festival. Ich glaube, dass man eine Entscheidung immer für einen Film trifft und nie gegen einen anderen. So sollte es zumindest sein. Ich habe lediglich geäußert, dass mir das immer suspekt ist, wenn Filmemacher usw immer sichtbar werden, wenn sie verstorben sind. Das ist etwas, was mich traurig macht. Dann bekommen sie plötzlich Programme und Interesse als würde der Tod ihre Arbeit aufwerten. Daher machen mir solche Programme oder Events immer etwas Angst.

Rainer: Naja, aber die Filme auf der Festplatte verschwinden ja nicht. In diesen Fällen ist es eher ein Aufschieben, auf Festivals hat es etwas Endgültiges – das ist doch schon was anderes.

Patrick: Du findest also, dass eine solche Entscheidung zum einen eine endgültige ist und zum anderen, dass das eine kluge Sache aus kuratorischer Sicht ist? Ich habe das Gefühl, dass ich jeden Tag eine Auswahl habe und dass selbst bei Streaminganbietern Angebote verschwinden und ich eine Wahl treffen muss. Schon die Existenz der Zeit an sich, zwingt mich zu dieser Auswahl.

Rainer: Ja sicher gibt es das auf anderer Ebene auch, aber bei einem Festivals tritt es stärker ins Bewusstsein (zumindest bei mir) und ich mache mir dann Gedanken darüber und ich frage mich dann auch, was die Kuratoren zu diesen Programmen bewegt.

Patrick: Aber ist das, was man als sehenswert einschätzt nicht sowieso subjektiv? Also wie kann das eine kuratorische Entscheidung sein. Du behauptest jetzt, dass das lauter Highlights waren (gleichzeitig lief noch Wie die anderen), aber jemand anderer empfindet das vielleicht an einem anderen Slot so?

Rainer: Ja das ist ja gerade der Punkt. Dann überlege ich mir: Wie kann der Kurator das nicht auch so empfinden, dass das alles Highlights sind? Beziehungsweise, ob meine Vorlieben so anders sind. Für wen kuratiert der Kurator eigentlich. Das sind schon auch Fragen, die mich beschäftigen.

Patrick: Aber da stecken doch auch oft ganz praktische Überlegungen dahinter? Du vereinfachst gerade die Aufgabe des Kurators und reduzierst sie etwas, oder?

Rainer: Ich möchte mit meinen Überlegungen nicht das Berufsprofil des Kurators herabwürdigen. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass du meine Äußerungen etwas überinterpretierst. Ich wollte ganz einfach darauf hinweisen, dass ich den Entscheidungsprozess bezüglich der Filme, die man auf einem Festival ansieht sehr interessant finde – auch aus der Sicht des Kurators, der sich ja bestimmt ebenfalls mit solchen Fragen und Prozessen konfrontiert sieht.

Patrick: Ich mag den Gedanken des „Verpassens“ im Bezug zu Filmen nicht. Ich glaube nicht, dass man einen Film verpassen kann. Man kann ihn nur sehen. Natürlich gibt es auf einem solchen Festival einen Eventcharakter. Aber so ein Film besteht sowieso nur dann, wenn ich dort bin, wogegen ich zum Beispiel bei Ausstellungen oder Installationen das Gefühl habe, dass sie ohne mich weitergehen.

Black Rain White Scarfs

Rainer: Ich habe das Gefühl wir diskutieren schon zu lange über das Thema. Reden wir lieber über Lukas Marxt.

Patrick: Über den Trailer oder seinen Film im Programm?

Rainer: Beides?

Patrick: Beides sind sehr schöne Spiele mit der Wahrnehmung und dem Tondesign. Aus einfachen Set-Ups entstehen da Dinge, die man so nicht erwartet und ich glaube, dass das viel mit dieser Krise der Realität zu tun hat, die wir fast in allen Filmen des Innovativen Kinos beobachten können und auch in dokumentarischen und fiktionalen Programmen. In diesem Sinn ist Marxt wohl am Puls der Zeit, denn es scheint schon fast normal, dass aus einem Hochhaus ein Raumschiff wird, wie das vereinfacht in Black Rain White Scarfs passiert.

Rainer: Ok, diese Raumschiffanalogie habe ich so nicht wahrgenommen. Ich bin da vielleicht naiver und sehe „bloß“ ein phallusähnliches Hochhaus im Nebel und achte mehr darauf was der Film mit mir als Betrachter macht, als was im Film selbst stecken könnte.

Patrick: Du fragst dich nicht, was du siehst? Also ich behaupte nicht, dass das ein Raumschiff ist, aber natürlich überlege ich mir, was dort passiert.

Rainer: Ich sehe Häuser und später Nebel, lasse den Blick schweifen und versteife mich schließlich auf irgendein Detail oder bemerke, dass ich mit meinen Gedanken schon ganz woanders bin. Das ist eine schöne Form von Freiheit, die Marxt mir da ermöglicht. Der Trailer funktioniert für mich etwas anders. Da frage ich mich „Moment mal, irgendetwas stimmt da nicht im Zusammenspiel von Bild und Ton“. Mehr als eine solche Frage kann man von einem Einminüter wohl nicht verlangen.

Patrick: Aber du denkst an einen Phallus?

Rainer: Eines dieser angesprochenen Details.

Patrick: Ist das keine Interpretation?

Rainer: So tiefgehend ist es nicht, eher: „Oh witzig, das sieht aus wie eine Eichel.“ Ich integriere das ja nicht in eine feministische Filmanalyse. Was ich sagen will, ist dass ich bei Avantgardefilmen sehr viel stärker vom Bild an sich ausgehe und das perzeptive Stadium gar nicht verlasse – ich denke da nicht und das intensiviert meine Seherfahrung.

Patrick: Und wie kommst du dann damit klar, wenn Lurf in Embargo Waffenfirmen filmt? Glaubst du, dass das egal ist für den Film?

Rainer: Das wusste ich im Vorhinein nicht und es wurde durch den Film selbst auch nicht sichtbar. Dazu mache ich mir natürlich auch Gedanken, aber erst im Nachhinein. Ich fand den Film aber auch ohne dieses Zusatzwissen sehr meisterhaft – also rein viszeral.

Patrick: Ich verstehe das und ich glaube, dass das unglaublich faul ist. Ich glaube, dass man als Zuseher arbeiten sollte an einem Film. Sei es mit seinen Gefühlen, mit seinen Gedanken und vor allem mit der Auseinandersetzung mit dem, was man da sieht. Insbesondere für den Avantgarde-Film gilt das doch. Natürlich lädt da vieles und manches ein zum Abdriften, aber selbst das hat ja schon eine Bedeutung (zum Beispiel bei Lurf), weil man sich durchaus fragen kann (wie du richtig gesagt hast „im Nachhinein“), warum das mit einem passiert ist und so weiter. Film hat etwas mit Sehen und Hören zu tun. Sich hinzusetzen mit der Erwartung, dass man einfach Treiben kann, ist fatal. Dazu empfehle ich dir eine Massage. Das bedeutet nicht, dass gute Filme nicht solche Wirkungen erzielen. ganz im Gegenteil. Aber ein guter Film ist immer eine Form der Partizipation. Ich sehe, dass deine Art der Auseinandersetzung durchaus auch partizipativ ist. Aber wenn du solche Dinge sagst wie, dass dir wichtig ist, was der Film mit dir als Betrachter macht, dann fehlt mir da etwas. Du bist dann ja mehr mit dir selbst als mit dem Film beschäftigt. Und dazu musst du nicht unbedingt ins Kino, obwohl das Kino natürlich erst solche Reflektionen ermöglicht. Aber dann verwendest du diese Filme halt nur als Mittel, um über deine Wahrnehmung etc nachzudenken und denkst nicht intensiv an das, was sie machen, was sie sind.

Rainer: Genau die Frage was sie machen und was sie sind kann ich doch umso deutlicher ergründen, wenn ich mich zunächst einmal voll auf den Film einlasse und mich nicht sofort frage was das alles soll und welche Geschichte da dahinter steckt. Ich meine ja nicht, dass ich mich faul berieseln lasse, sondern dass ich mich voll auf den Film einlasse und ihn für das nehme was er ist: Licht, Schatten, womöglich Farben und Ton. Gerade ein Avantgarde begrüßt so einen Zugang, da man gewöhnlich keiner Handlung folgen muss. In einem weiteren Schritt kann ich mich dann aus dieser Immersion lösen und darüber nachdenken was nun eigentlich passiert ist und warum ich den Film so wahrnehme. Wenn ich dann vom Konzept erfahre und von den Ideen die dahinter stecken, kann ich danach noch immer darüber reflektieren und viele Filme profitieren zweifelsohne davon aber diesen ersten jungfräulichen Zugang, der oft ganz überraschende Dinge mit mir macht, würde ich nicht missen wollen.

Patrick: Das ist interessant. Du weißt ja, dass ich da ganz bei dir bin. Also mit dem Einlassen und so weiter, mit dem jungfräulichen Zugang. Aber warum erscheint es dir dann so fremd, dass ich da ein Raumschiff sehe? Warum glaubst du, dass ich deshalb mir weniger unschuldige Gedanken mache? Das passiert doch gleichzeitig, oder nicht? Ich kann doch nicht sehen und gleichzeitig ignorieren, was ich dazu fühle oder denke?

Diagonale-Dialog 3: Steckenbleiben

House and Universe von Antoinette Zwirchmayr

Tag 3 auf der Diagonale und nicht mehr ganz so frisch und munter machen sich Patrick und Rainer auf ein Neues daran zu ergründen, worauf es eigentlich ankommt.

Patrick: Ich habe jetzt schon dreimal Neil Young auf der Toilette gehört. Das ist beruhigend. Vor allem, wenn man aus dem Chaos des Schubertkinos kommt. Ich finde die Organisation mit den Tickets dort ja eigentlich untragbar. Aber vielleicht ermöglicht es die Architektur nicht anders. Trotzdem fehlt da auch eine Klarheit, wer sich wo und wann anstellen soll und wer vielleicht besser nicht da rum steht. Egal. Wo bist du gestern stecken geblieben?

Rainer: Für große Massen ist meinem Gefühl nach ohnehin nur das UCI ausgelegt, sobald eine Vorstellung ausverkauft ist, wird’s eigentlich bei allen knapp. Aber gehe ich richtig in der Annahme, dass sich deine Frage auch auf Filme bezog?

Patrick: Lass deiner Fantasie freien Lauf.

Rainer: Ich bin in einem Pub steckengeblieben und dementsprechend ist meine Fantasie noch am ausnüchtern. Ursprünglich wollte ich eigentlich ins Festivalzentrum gehen, aber dort ist es aus den gleichen Gründen, wie du sie angeführt hast nicht auszuhalten – zu viele Menschen, zu wenig Platz und man muss sehr lange anstehen um an Getränke zu kommen, die ohnehin zu teuer sind.

EMBARGO von Johann Lurf

EMBARGO von Johann Lurf

Patrick: Ja…und hast du dich in den Kinos wohler gefühlt?

Rainer: Bedingt. Die beiden Programme, in denen wir zusammen war haben mich nicht wirklich vom Hocker gehaut. Außer Johann Lurfs EMBARGO, fand ich da alles eher mau bis banal, dafür waren die beiden Filme von Mia Hansen-Løve sehr solide. Ich bin mir noch nicht sicher ob ich Eden verzeihen kann, dass er etwas disparat durch die zwanzig Jahre seiner Handlung hetzt und dabei zu oft Texteinblendungen à la „Zwei Jahre später“ verwendet, aber von der inszenatorischen Intensität hat er mich sogar mehr gepackt als Le père de mes enfants – beides in jedem Fall sehr persönliche, authentische (was auch immer das heißen mag) und demütige Filme.

Patrick: Ich fand im Programm mit Lurfs faszinierendem EMBARGO auch noch House and Universe von Antoinette Zwirchmayr hervorstechend. Sie hat da sehr zärtliche Bilder für die Nähe von Natur und Mensch gefunden, die sich über Formen und Assoziationen in einer Art Harmonie bewegen, die mich letztlich an Fotos von Saul Leiter erinnert haben. Nur spürt man bei ihr den Wind. Ich sehe hier allgemein sehr viele Sonnenaufgänge in den Filmen. Da bin ich mir aber nicht sicher, ob die demütig sind oder sogar forciert. Ich glaube, dass Mia Hansen-Løve vor allem demütig gegenüber der Realität ist mit ihren Filmen. Ein Sonnenaufgang wäre bei ihr keine große Symbolik sondern wohl einfach nur ein schöner Moment im Treiben der Welt.

Rainer: Das hast du schön gesagt. Was hältst du allgemein von ihr?

Patrick: Ich habe erst die Hälfte ihres Werks gesehen. Ich denke, dass sie eine sehr gute Filmemacherin ist mit ganz spannenden Entscheidungen. Man kann bei ihr beobachten, wie man eine Szene anfängt, wo man kleine Regungen finden kann, die vielleicht viel mehr über die Figuren sprechen als die großen Gefühle und man kann sehr gut sehen wie Bewegung vor und mit der Kamera etwas flüssiges bekommen kann, dass man als lebensnah bezeichnet. Aber mir fehlt manchmal ein zweiter Schritt. Bei ihr ist es oft: So ist das Leben! Das mag ich, aber wenn ich mir ganz ähnlich (damit meine ich mit Ellipsen, Natürlichkeit, Fluss) arbeitende Filmemacher wie Maurice Pialat oder Claire Denis ansehe, dann spüre ich da mehr Ebenen. Bei Denis sind das Körper zum Beispiel, bei Pialat eine Weltsicht und die schwimmen da einfach mit bei denen. Aber das ist vielleicht ein unfairer Vergleich. Es ist jedenfalls bewundernswert, was sie da macht. Und ich musste auch an deine Kommentare gestern zu Wie die anderen denken, da Tout est pardonné in Wien beginnt. Diese Faszination Orte zu sehen, die man kennt. Eigentlich unglaublich, aber da ist das Kino noch wirklich unschuldig. Da reicht es jedem plötzlich nur die Dinge anzusehen. Eigentlich absurd, weil man sie ja kennt.

Rainer: Diese Anziehungskraft bekannter Orte ist tatsächlich mysteriös. Ich würde sagen, da schwingt einerseits stolz mit, dass sich ein Filmemacher mit dem Ort befasst, an dem man lebt, oder den man kennt und andererseits das Fesselnde daran, diesen Ort über den Blick eines Anderen zu erfahren. Die feinen Unterschiede von Fremd- und Selbstwahrnehmung machen es denk ich aus.

Eden von Mia Hansen-Løve

Eden von Mia Hansen-Løve

Patrick: Da empfinde ich dich als sehr idealistisch, wobei ich hoffe, dass ein Funken Wahrheit mitschwingt. Ich glaube aber doch, dass es da um ganz einfache Dinge wie Verbindung mit dem, was man sieht und letztlich Identifikation geht. Die Bereitschaft sich mit etwas Fremden auseinanderzusetzen geht bei vielen leider nur so weit wie sie das Fremde kennen. Dann wird es sehr spannend, wenn jemand wie Manfred Neuwirth in Aus einem nahen Land diese Nähe derart verfremdet. Zeitlupen, asynchroner Ton. ich habe mich beim Film gefragt, ob das eine subjektive Wahrnehmung des Ortes ist. In seinem Film ja nicht mal durch die Augen eines Fremden sondern eines Mannes, der dort herkommt.

Rainer: Ein Film, den ich leider nicht gesehen habe, aber was du beschreibst klingt sehr spannend. Wobei ich zugeben muss, dass ich schon etwas ausgelaugt bin von diesen dokumentarischen, formalistisch angereicherten Filmen.

Patrick: Ja, ich verstehe das, aber ich glaube nicht, dass man das allgemein sagen kann. Der Punkt mit Form ist doch der (und es ist kein Zufall, dass wir hier auf der Diagonale darüber sprechen): Da gibt es die Form, die der Inhalt ist und die Form die mit oder fruchtbar gegen den Inhalt arbeitet. Dagegen kann nichts einzuwenden sein, denn Film ist immer auch Form. Das Problem entsteht dann, wenn die Form derart penetrant arbeitet, dass sie die Realität nicht zulässt wie zum Beispiel in Eden’s Edge und alles zu bloßen Ideen verkommen lässt statt zu Beobachtungen und Ästhetik. Neuwirth ist aber ein Beobachter und er findet seine Form erst mit den Orten statt sie auf den Ort zu setzen. Daher funktioniert das glaube ich.

Rainer: Ich wollte das gar nicht per se schlechtreden, sondern ein bisschen meine persönliche Filmauswahl hier am Festival kritisieren. Da ich der Meinung bin, dass im Dokumentar- und Avantgardebereich in Österreich interessantere Dinge entstehen, lege ich so meine Schwerpunkte und verzichte weitestgehend auf Spielfilme. Wenn dann aber mehrere Filme dieser Art (also formal experimentierfreudiger Werke) zusammenkommen, kann das schon anstrengend werden, zumal es natürlich nicht immer hundertprozentig aufgeht.

Diagonale-Dialog 2: Why does it hurt so much?

Wie die anderen von Constantin Wulff

Nachdem wir uns am ersten Tag gar nicht über den Weg gelaufen sind, gibt es mittlerweile einige Filme, die wir beide gesehen haben. Mehr noch als die Filme stehen heute aber die Besonderheiten eines Festivals zur Diskussion; Anlass dazu zwei kuriose Publikumsgespräche und Patricks wiederkehrendes Gefühl, dass die Sichtung so vieler Filme hintereinander womöglich den einzelnen Filmen schadet.

Patrick: Rainer, why does it hurt so much?

Rainer: [lacht] Eine Frage die zweifelsfrei öfter in Publikumsgesprächen gestellt werden sollte. Leider bin ich ratlos, wie man auf so etwas kommt.

Patrick: Gestern war für mich ein Tag der Publikumsgespräche. Peter Kerns Der letzte Sommer der Reichen wurde als Wichsvorlage beschimpft und am Ende wurde Randy Sterling Hunter gefragt, warum es so wehtue seine Bilder zu sehen. Man beachte: Aufgrund ihrer Farben. Mal abgesehen davon, dass diese Bilder überhaupt nicht unangenehm waren, fragt man sich schon, wer sich da um 23 Uhr ins Innovative Kino verirrt. Auf der anderen Seite ist das aber vielleicht sogar eine gute, philosophische Frage. Ich befürchte nur, dass sie nicht so gemeint war. Hat dir irgendwas wehgetan gestern?

Rainer: Ich bin mir nicht ganz sicher was du damit meinst, aber in gewisser Weise, ja. Wie die Anderen war einer der unangenehmsten Filme, die ich in letzter Zeit gesehen habe – im positiven Sinne. Der Film porträtiert Vorgänge in der Abteilung für Kinder- und Jugendpsychiatrie im Krankenhaus Tulln. Ehrlich gesagt, habe ich mir den Film in erster Linie deshalb angesehen, weil ich als gebürtiger Tullner unbedingt einen Film sehen wollte, der dort entstanden ist, aber persönlich berührt hat er mich schließlich aus ganz anderen Gründen.

Patrick: Welche Gründe?

Rainer: Da bin ich mir im Moment noch nicht ganz sicher, und ich denke, dazu wird noch ein längerer Text von mir entstehen, aber in manchen Szenen kam es mir vor, als wäre ich als Kind nur haarscharf an solchen Momenten vorbeigeschrammt. So ein Gefühl ist natürlich nur möglich, weil Regisseur Constantin Wulff einen objektiven, aber empathischen Blick auf das Geschehen wirft.

Patrick: Objektive Empathie hat immer etwas mit dem Abstand zu tun finde ich. Den Abstand, den man zwischen Kamera und Geschehen hat. In dem Zusammenhang hat Victor Kossakovsky ja von seiner Magnettheorie gesprochen. Also jenen Abstand, wo zwei Magnete genau in der Schwebe sind. Diese Distanz sollte man mit Filmen anstreben. Nikolaus Geyrhalter schafft damit auch große Momente. Ich habe immer das Gefühl, dass man auf einem Festival irgendwann deutlich zu wenig Abstand zu den Filmen hat als Zuseher.

Rainer: Die Distanz trifft Constantin Wulff in Wie die anderen auf den Punkt! Über Festivals kann ich mich nicht beschweren: ich mag die fragwürdige Lebensweise und Ernährung, die man dort an den Tag legt und nicht zuletzt den Trott, der sich nach ein paar Filmen ergibt, und der mich mit seinem Sog mehr hineinzieht, wie du oben beschreibst. Der Abstand zwischen Kamera bzw. Filmemacher und dem Gefilmten leuchtet mir ein, aber die Distanz des Zusehers zum Film würde ich als eine Frage des individuellen Zugangs nicht von vornherein festlegen wollen. Ich habe oft das Gefühl, dass ich sehr viel weiter von den Filmen entfernt bin als zum Beispiel du, wenn ich im Kino bin, da finde ich es sehr interessant und spannend mal weiter einzudringen.

Patrick: Ja, ich wollte damit nicht sagen, dass das irgendwas Festgelegtes ist. Ist auch nicht beim Filmen so, sondern auch da kommt es auf den individuellen Zugang und vor allem die beobachtete Realität an. Mit dieser Nähe meine ich, dass ich mich oft wundere, was mir auf Festival zu Filmen durch den Kopf geht, was ich über sie denke (im Vergleich zu danach) und so weiter. Ich frage mich halt immer ein bisschen wie man einen Film anschauen sollte. Das ist vielleicht eine anmaßende Frage. Aber wenn ich viele Filme hintereinander am Tag sehe, dann leidet das einzelne Werk manchmal daran, oder nicht? Natürlich gibt das auch eine neue Sicht, eine Erfahrung an sich, aber ich glaube irgendwie noch an das einzelne Werk. Niemand dreht ja einen Film und hat dabei im Kopf, dass der dann mit fünf anderen Filmen an einem Tag gesehen wird.

Rainer: Ja, aber da ziehe ich die Vorteile eines Festivals diesen Nachteilen vor. Im Zweifelsfall hast du immer die Möglichkeit den nächsten Film auszulassen, wenn du das Gefühl hast, dass du eine Pause brauchst (auch wenn Leute wie wir diese Möglichkeit wohl nicht nutzen würden).

Der letzte Sommer der Reichen von Peter Kern

Der letzte Sommer der Reichen von Peter Kern

Patrick: Findest du es berechtigt, wenn jemand Der letzte Sommer der Reichen als Wichsvorlage beschimpft?

Rainer: Mir gefallen die Frauen in dem Film nicht besonders… aber Geschmäcker sind ja bekanntlich verschieden. Aber mal im Ernst, dieser Vorwurf impliziert doch, dass der Film pornographisch ist, und dafür gibt es da viel zu wenig Sex zu sehen. Wenn Kern wirklich hart gewesen wäre, hätte er die Vergewaltigung des jungen Models in Großaufnahme gezeigt oder bei den Sexszenen etwas länger draufgehalten. So wird meines Empfindens die sexuelle Thematik ohnehin bloß gestreift und lässt sich ins gesellschaftliche Gesamtbild einordnen.

Patrick: Ich glaube es ist eine Mischung aus Provokation und einer klassischen Kapitalismuskritik, die ja oft über pervertierte Sexualität funktioniert. Der Provokationsteil daran löst halt solche Reaktionen aus.Ich finde eher bedenklich, dass diese Ideen hier als etwas besonderes verkauft werden und so unfassbar ausgelutscht sind. Wow, der Kunstmarkt ist korrupt, der Medienmarkt auch, die Politik und die Bänker, alle sind gierig und so weiter. Ich sehe mir das an und irgendwie habe ich dann das Gefühl, dass die Welt ja in ordnung ist, weil es schon immer so war und auch so thematisiert wurde. Also geht er mir vielleicht nicht zu weit der Film.

Rainer: Ich stoße mich eher daran, dass der Film mir so ins Gesicht brüllt was er zu sagen hat. Das ist zwar einerseits erfrischend, weil immerhin die Position nicht unter Symbolik o.ä. begraben wird, andererseits wirkt es an vielen Stellen ungemein hölzern und aufgesetzt.

Patrick: Ja das sowieso. Der Film ist wie ein dauernder Hammerschlag und das tut dann nicht mehr weh, sondern man hört es schlicht nicht mehr nach einer gewissen Zeit. Why doesn’t it hurt more?

Die wahren Kinomomente des Jahres 2014

Nun habe ich in meinem letzten Post etwas gezwungen die eindrücklichsten Momente des Kinojahres 2014, anhand von Filmen aus dem Jahr 2014 festgemacht und damit einen völlig falschen, aber vielleicht notwendigen Rahmen um ein Kinojahr gelegt. Ein Jahr mit, im und durch Film zeichnet sich natürlich durch mehr und vor allem durch Anderes aus als die Filme, die im jeweiligen Jahr geboren wurden. Ich habe das Gefühl, dass ich erst dieses Jahr begonnen habe, Film wirklich zu sehen. Vielleicht liegt es daran, dass ich auch gelernt habe wegzusehen. Damit meine ich, dass sich die Wirkung der Leinwand für mich über das Kino hinaus vergrößert hat. Mir wurde klar, dass dort meine Heimat ist. Der Ort, an dem mir plötzlich Vertrauen entgegenkommt, der Ort, an dem ich mich immer wohl fühle, der mich auffängt an zu schlechten und zu guten Tagen, der mich lehrt, belehrt, entschuldigt, entblößt, angreift, verteidigt, liebt, hasst, zerstört, aufbaut, antreibt, belebt. Dort werde ich immer verstanden. Es gibt tatsächlich noch einen Unterschied für mich im Vergleich zu den vergangenen Jahren. Es ist einfach so, dass ich nicht mehr nur aus dem Drang nach dem Sehen ins Kino renne, sondern dass ich auch außerhalb des Kinos mit dem Kino sehe. Das meine ich auf einer persönlichen, ästhetischen und politischen Ebene. Es ist nicht mehr wie eine Sucht, auch wenn ich noch mehr gegangen bin. Es ist wie die Freiheit, die es verspricht. Das Kino lebt immer in diesem Paradox. man lässt sich einsperren, um Freiheit zu erfahren. Diese Freiheit existiert in der Zeit. Diese Zeit ist – um Truffaut zu paraphrasieren – mit der Ausnahme weniger Dinge reicher als das Leben. Oder sie macht das Leben reicher.

Hou Hsiao-Hsien

Flowers of Shanghai von Hou Hsiao-Hsien

Denn 2014 ist das Jahr, in dem ich Jacques Tourneur habe flüstern hören. Seine Kamera ist die Zärtlichkeit gegenüber einer Angst. Ich bin aus The River von Tsai Ming-liang nicht mehr herausgekommen. Ich habe gelernt wie man Schmerzen filmt. Körperliche Schmerzen und imaginierte Schmerzen. Ich weiß noch wie wir in einer Gruppe fassungslos und hypnotisiert nach Flowers of Shanghai von Hou Hsiao-Hsien standen. Es war als hätten wir gerade zusammen Opium geraucht, der Asphalt und mit ihm die Mauern flossen statt zu stehen. Alles wurde in eine elegante Schönheit getunkt. Ich stand auf dem Crossing Europe in Linz und wartete bis ein Freund aus Under the Skin von Jonathan Glazer kam. Ich hatte den Film wenige Stunden zuvor gesehen, aber als er aus dem Kino kam, sah ich nicht nur sofort, dass er denselben Film gesehen hat sondern war auch selbst wieder mitten im Rausch der Töne und Bilder dieses großartigen Werks. Ich meldete mich, um Agnès Godard zu sagen, dass sie mit der Kamera nicht nur tanzt, sondern im Tanzen malt. Ich melde mich normal nie bei Publikumsgesprächen, aber nach der geballten Ladung ihrer Werke auf der Diagonale in Graz musste ich es tun. Ich weiß nicht, ob es was gebracht hat, aber ich empfand es als gerecht. Meine Mütze ist bei Jean-Luc Godard verschwunden. In Nouvelle Vague hat jemand meine Mütze geklaut, in Adieu au Langage 3D hat mir ein Zuseher gedroht, dass er mir den Schädel einschlägt, weil ich zu groß bin, ich nahm meinen Kopf nach unten und lehnte mich nahe an meine Freundin, um nicht im Kino zu sterben, obwohl ich im Kino sterben will…

The Music Room Ray

Jalsaghar von Satyajit Ray

Nach Winter Sleep von Nuri Bilge Ceylan fuhr ich mit dem Rad durch eine Herbstnacht. Ich konnte nicht fassen wie viel in diesem Film war und wie wenig man selbst ist und immer sein wird. Ich hatte Fieber nach Jalsaghar von Satyajit Ray. Ich bin mir ganz sicher, dass dieses Fieber aus dem Film kam. Ich hatte es bis zum nächsten Film. Es war wundervoll und unerträglich. Wir haben Tsai Ming-liang und Pedro Costa über ihr Kino sprechen hören. Das Kino war ganz leise als Henry Fonda auf der Veranda sitzt in My Darling Clementine. Es war einfach still. Wir waren Stunden mit Jakob Lass am Tisch gesessen und haben mit ihm über Love Steaks gestritten. Es wurde klar, dass es Blickwinkel gibt, denen man nicht mit Unzufriedenheit begegnen darf und es vielleicht gerade deshalb muss. Danach waren wir alle zusammen in Dracula 3D von Dario Argento und das Publikum war euphorisch (vor dem Film). Eine Euphorie, in der ich mich mehrmals fand im Angesicht der schrillenden Filme des Altmeisters und in der ich mich immer fremd fühlte. Dennoch und gerade deshalb bleiben sie in meinem Gedächtnis.

Immer wenn jemand Antonioni sagt, dann springe ich.

Zangiku monogatari

Zangiku monogatari von Kenji Mizoguchi

Ich habe Tokyo Story zum ersten Mal auf einer Leinwand gesehen und ich habe geweint. Zu den wenigen Filmen, die ich mir 2014 zweimal im Kino ansah, gehörte Maurice Pialats L’enfance nue. Ich musste verstehen, was er mit dem Schnitt macht, seine schneidenden Ellipsen erreichen einen poetischen Kern, der mit Wahrheit, Realität und Weltsicht zusammenarbeitet. Ich war ein nacktes Kind im Angesicht seiner Bilder. Ganz anders und doch ähnlich beeinflussend war die Größe von Wim Wenders in seiner Pracht Der Stand der Dinge. Wir haben Kubelka reden hören mit einer kräftigen Wut, die durch ein Glänzen in den Augenwinkeln befördert wird. Bei den Fahrradständern hat er über Straub&Huillet geschimpft. Wir haben ihn belauscht, ich habe Kubelka belauscht. In den ersten 103 Minuten von Cavalo Dinheiro habe ich nicht geatmet. Ich habe über Carax gelesen, von Carax gelesen. Er hat Recht. Wir wurden nicht müde in P’tit Quinquin. Es war zu unglaublich. Ich habe langsame Boote in nächtliche Bilder fahren sehen bei Kenji Mizoguchi. Es waren Augenblicke, in denen ich ganz einfach nicht mehr existierte. Sie lösten mich auf und ich berührte nichts mehr. Elegischer Rausch, es war ein asiatisches Jahr. Die endlosen unscharfen Schwenks in Millenium Mambo, die Nostalgie in Goodbye Dragon Inn, der Nebel in Zangiku monogatari.

Chelsea Girls Warhol

Die mich auffressende Nacktheit in Andy Warhols Chelsea Girls, die Performance einer Projektion, wir waren nicht viele im Kino und wir saßen ausnahmsweise ganz weit hinten, ungestört und ohne Pause. Es war genauso unglaublich wie alles von Warhol, was ich dieses Jahr sehen durfte. Danach wollten meine Beine weiter schauen. In Wavelenght von Michael Snow bröckelten die letzten Fassaden meiner Wahrnehmung. Sie fielen in tausend glitzernden Blüten auf ein Erdbeerfeld. Sehr viel habe ich mich mit Ingmar Bergman beschäftigt. Wenn man ihn sieht, wenn man über ihn liest, dann erkennt man, dass sich das Kino bewegt. Und etwas im Kino bewegt sich in uns weiter. Deshalb kann das Kino auch etwas zur äußeren Bewegung bringen, was in uns passiert. Pasolini hat mir in zwei Atemzügen gezeigt, dass ich Katholik und Atheist bin. In seinem Il vangelo secondo Matteo erfuhr ich die Kraft einer Spiritualität, die unseren Gefühlen und unserem Denken vielleicht etwas abhanden gekommen ist. Es ist eine politische Spiritualität. Ich habe seine Gedichte gelesen. Er hat Recht.

Dovzhenko ist auch so ein Name, wenn seine Frauen stehen, wenn sein Wind durch die Gesichter weht, wenn seine Geschichte einfriert in einem Moment voller Würde. Die Dokumentationen von Jean Eustache haben mir zusammen mit jenen von Sergei Loznitsa einen neuen Blick auf die Frage nach Perspektive, Erzählung und Film gegeben. Ich habe viele Menschen sterben sehen. Manchmal ganz beiläufig wie bei Hou Hsiao-Hsien, manchmal sind sie wieder gekommen, sie sind gar nicht gestorben, vielleicht waren sie schon tot, vielleicht war alles ein Traum, ein Wort, ein Film. Ein Mann saß neben mir in Four Sons von John Ford und er lachte sehr laut und eigentlich durchgehend. Er war ein wenig zu breit für seinen Sessel, aber ich fühlte mich wohl, denn es war Ford im Kino. Auch Resnais habe ich gesehen. Alain Resnais, er ist verstorben. Aber er konnte gar nicht wirklich sterben. Wir haben im Freiluftkino Chris Marker gesehen. Ihre Erinnerungen, diese Erinnerungen, jetzt meine Erinnerungen, keine Erinnerungen sondern Fiktionen, ich habe sie gesehen, sie haben mich gesehen, wir haben uns nicht gesehen.

Tagebuch eines Landpfarrers Bresson

Journal d’une curé de campagne von Robert Bresson

Dann gab es diesen magischen Moment am Ende von Non si sevizia un paperino von Lucio Fulci als die Musik nach dem Abspann nicht aufhören wollte und uns in einer epischen Dunkelheit erglühen ließ, die das Kino niemals enden lassen wollte, obwohl Ignoranten es verließen, weil sie im falschen Glauben leben, dass ein Film mit seinem Bild aufhört und beginnt. Ich will immer tanzen nach Claire Denis. Verblüfft hat mich der grandiose Voy-age von Roberto Capanna und Giorgio Turi. Er lief vor Antonioni. Ich springe.

Robert Bresson hat mich mit seinen Händen getötet. Er war ganz alleine und ich war ganz alleine.

Es gab noch viel mehr im Kino 2014. Es gibt auch meine Träume vom Kino. Diese könnte ich aber nicht aufschreiben.

Die rote Wüste Antonioni

Il deserto rosso von Michelangelo Antonioni