Die 13 Kinomomente des Jahres 2014

Horse Money

Wie jedes Jahr möchte ich auch 2014 meine Kinomomente des Jahres beschreiben. Diese Liste ist keineswegs endgültig, da ich sicher in den kommenden Jahren viele Schätze entdecken werde, die es verdient gehabt hätten, auf meiner diesjährigen Liste zu stehen. Ich beschreibe ausschließlich Momente aus Filmen aus dem Jahr 2014. Dabei gehen natürlich eine Menge Filme verloren, die ich dieses Jahr zum ersten Mal gesehen habe und die mir vielleicht die wahren Kinomomente des Jahres bescherten. Damit meine ich zum einen die zahlreichen Retrospektiven im Österreichischen Filmmuseum (hier vor allem jene von John Ford, Hou Hsiao-Hsien und Satyajit Ray), im Stadtkino Wien (Tsai Ming-liang), im Metrokino Wien (Peter Handke Schau), auf Crossing Europe (Joanna Hogg) oder der Diagonale (Agnès Godard). Außerdem gibt es natürlich Filme, die erst dieses Jahr regulär oder nicht-regulär ins Kino kamen, die ich aber zum Jahr 2013 rechne. Dazu gehört allen voran die Entfremdungshypnose Under the Skin von Jonathan Glazer oder der zugedröhnte Scorsese-Zirkus The Wolf of Wall Street.

Dies ist also weder eine subjektive Liste der besten Filme des Jahres noch gibt es in ihr irgendeine relevante Reihenfolge. Vielmehr ist es eine Liste, die in mir geblieben ist. Die kleinen Erinnerungen, die Träume, die man nach den Filmen hatte, die Ekstase, die man manchmal an Sekunden und manchmal an Stunden eines Films festmachen kann. Es geht um diese Atemzüge, in denen mein Herz aufgehört hat zu schlagen und ich das Gefühl hatte, etwas Besonderes zu sehen. Wenn Film in seiner Gegenwart schon wieder verschwindet, dann bekommt unsere Erinnerung daran eine besondere Bedeutung. Die Erinnerung speichert, verändert oder ignoriert einen Film. Sie ist nicht denkbar und nicht lenkbar. Genau hier trifft uns das Kino mit seiner Wahrheit. In der Erinnerung liegt auch die Fiktion, die im diesjährigen Kinojahr eine solch große Rolle gespielt hat. In vielen Filmen wurde die Frage gestellt, wann und wie Geschichten entstehen, wie sie an unsere Lügen, unsere Vergangenheit und an unsere Träume gebunden sind. Das Kino existiert zweimal. In der Gegenwart seiner Projektion und in der Gegenwart unserer Erinnerung.

Cavalo Dinheiro von Pedro Costa – Ventura spuckt

Horse Money Pedro Costa

Eigentlich ist Cavalo Dinheiro ein einziger Augenblick, in dem jedes Blinzeln zu einer filmischen Sensation wird. Wenn ich mich allerdings für einen dieser Flügelschläge der Augenlider entscheiden muss, ist das jene Szene, in der wir aus einer weiteren Einstellung den erschöpften Ventura sehen. Er hat einen Husten- und Spu(c)kanfall und steht im Schatten einer Lichtung. Mit gebeugter Haltung bebt er zwischen Häusern, Welten und Zeiten. Dabei sind Vögel zu hören, wie ein Moment des Friedens in der (körperlichen) Revolution. Ein derart poetisches Leiden habe ich selten gesehen und gehört.

Feuerwerk am helllichten Tage von Diao Yinan – Die Zeit springt

Feuerwerk am helllichten Tage

Es ist dieser Sprung in die Zukunft, der mit einem Moped in einem Tunnel beginnt, der den Schnee, den verdreckten Schnee in die schwarze Kohle bringt. Das Moped verlässt den Tunnel und fährt an einem Betrunken vorbei. Es wird langsamer, dreht um. Hier beginnt das virtuose Spiel der Perspektivwechsel, eine Verunsicherung, eine Leere in der Stille und eine Anspannung im Angesicht der Mitmenschen. Es ist ein Phantom Ride, der umdreht, um zu stehlen. Am Straßenrand liegt völlig betrunken in einem Winterschlaf unsere Hauptfigur. Wir passieren ihn nur als Randfigur, aber wir ergreifen die Gelegenheit. Ab diesem Zeitpunkt herrscht ein Schleier der Verunsicherung über Bilder, Figuren und den Film selbst, der einen kaum mehr loslassen kann.

P’tit Quinquin von Bruno Dumont – Van der Weyden schießt in die Luft

Kindkind Dumont

In Bruno Dumonts Unfassbarkeit P’tit Quinquin herrscht eine anarchistische Derbheit, die sich in der ironischen Umarmung einer Absurdität und Deformation entlädt wie man sie wohl noch nie gesehen hat. Der Naturalist hat sich in einen Surrealisten der Realität verwandelt und mit der zuckenden und stolpernden Figur des Polizisten Van der Weyden hat er die perfekte Verkörperung seiner Welt erschaffen. In einer der vielen irrsinnigen Szenen dieser Figur schießt der gute Mann zum Schrecken seiner Umgebung spontan in die Luft. Es gibt keinen Grund dafür, außer vielleicht den Knall selbst, die Freude und das Adrenalin daran und genau hierin liegt der neue Existentialismus des Bruno Dumont. Man muss lachen und dann fühlt man sich ganz alleine.

Maidan von Sergei Loznitsa-Die Kamera bewegt sich

Maidan Loznitsa

Mein formalistisches Herz erlitt einen Orgasmus als ich sah wie sich der Fels in der revolutionären Brandung, der von einer statisch-poetischen Kamera verkörpert wurde, dann doch dem Schicksal seiner Lebendigkeit ergeben musste und sich ob der zahlreichen Angriffe, dem Chaos der politischen Ungerechtigkeiten und den Prozessen einer Gemeinschaftlichkeit bewegen musste. Mitten im Kampfgeschehen stehend, flieht die Kamera hektisch wackelnd einmal in eine andere Position. Es ist die einzige Kamerabewegung im Film, an die ich mich erinnern kann. Alles andere ist statisch. Fast erstickende Sanitäter torkeln um sie herum und im nebeligen Hintergrund offenbart sich langsam eine schwarze Wand aus Polizisten. Stimmen sind zu hören und immer wieder ein Knall und plötzlich wird uns klar, dass wir gefährdet sind. Denn die Distanz, die wir haben, kann nur gebrochen werden, wenn sie eine Distanz bleibt und in ihrer Distanz angegriffen wird.

Jauja von Lisandro Alonso-Dinesen zieht seine Uniform an

Jauja Alonso

Jauja ist ein Film voller Erinnerung. Vielleicht nehme ich aus diesem Grund ein Bild aus dem Film, das darüber hinausgeht, weil es neben dem somnambulen Aussetzen einer zeitlichen Regung auch einen einsamen Stolz erzählt, der so wichtig ist für unsere Wahrnehmung einer Person, sei es in Träumen, durch die Augen eines Hundes oder im Kino. Kapitän Dinesen (der aus undefinierbaren Gründen für mich beste Name einer Figur im Kinojahr 2014) hat festgestellt, dass seine Tochter in der Leere der Wüste verschwunden ist. Im murnauesquen Mondlicht macht er sich hektisch auf den Weg. Dann bricht er plötzlich ab. Ganz langsam richtet er seine Uniform her. Er kleidet sich. Er bereitet sich vor. Aus der Panik erwächst die Spiritualität, aus dem Mond wird ein entstehender, glühender Feuerball.

La meraviglie von Alice Rohrwacher-Bienenschwarm

Land der Wunder Rohrwacher

La meraviglie ist wohl der einzige Film auf dieser Liste, der dem Leben nähersteht als dem Tod (obwohl er vom Tod erzählt…). Eine schier unendliche Energie geht durch die Alltäglichkeit des Kampfes dieser Bienenzüchterfamilie. Wie ein Sinnbild ohne Metaphorik fungieren dabei die Einstellungen, die sich im Surren und Treiben der Bienenschwärme verlieren. Denn die Lebendigkeit des Films und die organisierte und nur scheinbare Richtungslosigkeit finden sich auch in den schreienden Massen an Bienen. Aber welch Wunder dort wirklich möglich ist, zeigt sich in der Zärtlichkeit des Umgangs der älteren Tochter, die in einem perfekten Erklingen von Schönheit inmitten des Chaos eine Biene aus ihrem Mund klettern lässt. Magie und das ewige Summen bis die Zeit vorbei ist.

Turist von Ruben Östlund-Der POV Hubschrauber

Höhre Gewalt

Ruben Östlund beherrscht in seinem Turist die Psychologie seiner Figuren und jene des Publikums zur gleichen Zeit. Diese zynische Souveränität korrespondiert in ihrer perfiden Perfektion mit dem Inhalt und so ist es nur konsequent, dass Östlund sie mindestens an einer Stelle zusammenbrechen lässt. Diese Stelle findet sich im schockierendsten Perspektivwechsel des Kinojahres. In einem Moment der völligen Erbärmlichkeit, des grausamen Schweigens nach einer Offenbarung des Geschlechterkrieges, fliegt ein Spielzeugufo durch das Zimmer im Touristenhotel. Östlund schneidet in einen POV aus dem Gerät und bricht damit nicht nur die Anspannung sondern zeigt welch sarkastischer Horror sich hinter dieser Psychologie verbirgt. Ich springe jetzt noch, wenn ich mich daran erinnere. Es ist wie eine Erinnerung an die Welt inmitten des Dramas. Es sei natürlich gesagt, dass Turist ein Film ist, der sich mit der Bedeutung eines einzigen Moments befasst. Aber er sucht vielmehr die Momente, die aus einem Moment resultieren.

Journey to the West von Tsai Ming-liang – Lavant atmet

Denis lavant Tsai

Im Fall der Meditation Journey to the West ist es ein Ton, den ich nicht vergessen kann. Es ist das ruhige Atmen des schlafenden Denis Lavant. Seine vibrierenden Nasenflügel, sein Erwachen, das antizipiert wird. Seine ruhende Kraft, die alles mit ihm macht, was es in den Bewegungssinfonien bei Carax kaum geben kann. Ich höre es. Es ist gleichmäßig und es ist von einer ähnlichen Schönheit wie jede Sekunde in dieser Rebellion der Langsamkeit.

Winter Sleep von Nuri Bilge Ceylan – Der verbale Tod

Winterschlaf Ceylan

Nuri Bilge Ceylan erforscht in seinem Winter Sleep die Kraft von Film als Literatur. Er bewegt sich auf einem philosophischen Level mit großen Schriftstellern und macht fast unbemerkt auch noch ungemein gute Dinge mit dem Kino. Ein solcher filmischer Augenblick findet sich in der plötzlichen Abwesenheit der Schwesterfigur nach einem intensiven Dialog mit ihrem Bruder, einem verbalen Mord der Widerwärtigkeiten, Lügen und grausamen Wahrheiten. Sie befindet sich hinter einer geschlossenen Türe und die wie das so ist mit Worten, wird einem die Tragweite von ihnen zumeist nicht im Moment ihrer Aussprache bewusst, sondern im Moment der Reaktion. Hier ist die Reaktion eine Abwesenheit. Im Dunst eines erdrückenden Winters des Selbsthasses.

Phantom Power von Pierre Léon – Die Hände von Fritz Lang

Pierre Léon

Man ist schon trunken, ob der Musik und der Worte, dann kommen die Bilder. Es sind nicht jene Bilder von Léon selbst, sondern es ist dies eine Liebeserklärung an Fritz Lang. Die Hände von Fritz Lang, die zärtlich krallen, die halten und fallen, vielleicht töten, manchmal lieben. Sie sind Bewegung und Erinnerung, in ihnen findet sich ein Stottern im Angesicht einer Sucht, sie sind wie eine Unmöglichkeit zu berühren, sie berühren.

Al doilea joc von Corneliu Porumboiu – Die Angst von Porumboiu

Porumboiu Bukarest

Es ist nur eine kleine Randbemerkung, man bemerkt sie kaum, aber sie ist entscheidend. In diesem Gespräch zwischen Vater und Sohn, im Angesicht eines verschneiten Fußballspiels äußert Corneliu Porumboiu, dass er als Kind Angst hatte vor dem Fernseher. Diese Angst wird nicht weiter erläutert und sein Vater, der das Spiel als Schiedsrichter leitete, geht nicht weiter darauf ein. Aber in dieser Formulierung liegen die Unheimlichkeiten und dir Zärtlichkeit des Films zur gleichen Zeit. Ist es die Angst des Sohnes, wenn er seinen Vater unter Druck sieht? Ist es die politische Angst eines Rumäniens kurz vor der Revolution? Ist es die Angst vor dem Schnee, der Kälte, dem Ende der Welt? Ist es die Angst vor der Zeit, die Angst vor der Erinnerung, ist es gar keine Angst sondern eine Illusion? Ist es eine Vorteilsregelung, wenn der Vater darauf nicht eingeht, ermöglicht er so das Leben und das Spiel, den Fortgang von allem?

From What is Before von Lav Diaz – Es beginnt der Regen

Lav Diaz Locarno

Ich war mir plötzlich ganz sicher, dass es Geister gibt. Vor kurzem war ich in einem Wald und alles war ganz still. Plötzlich hörte man einen Wind kommen und erst eine halbe Minute später erreichte dieser Wind die Bäume unter denen ich wartete. Er zog durch sie hindurch und weiter in die Tiefen des dunklen Dickichts. Bei Diaz kommt so der Tod. Zunächst sehen wir einen Mann und eine Frau im digitalen schwarz-weiß einer übermächtigen Umwelt an einem Fluss. Plötzlich sieht der Mann etwas Off-Screen, ein unheimliches Gefühl entsteht. Dieses Gefühl entsteht alleine aus der Zeit, die Diaz fühlbar macht. Es beginnt zu regnen. Etwas ist passiert, wir haben es gespürt. Es wirkt als würde ein böser Geist erscheinen, man bekommt es mit einer unsichtbaren Angst zu tun. Dabei denke ich an den Wind im Wald. Dann erscheint im Bildhintergrund eine leidende Frau. Sie bricht zusammen und beklagt weinend den Tod ihres Sohnes. Kurz darauf sitzt sie in einem Kreis und singt über den Tod ihres Sohnes und ihr Schicksal. Die Frauen und Männer, die um sie sitzen beginnen nach und nach zu weinen. Es läuft einem kalt den Rücken herunter, man muss selbst weinen, man spürt jeden Tropfen Verlorenheit, persönlich und politisch.

Leviathan von Andrey Zvyagintsev – Das Meer

Leviathan

Immer wenn Zvyagintsev das Meer filmt, findet seine Kamera das profunde Wesen seiner Ambition und erreicht eine spirituelle Kraft, die dem modernen Kino ansonsten aufgrund seines reflektierten Zynismus abgeht. Leviathan ist ein Film wie die Philosophie einer brechenden Welle, ein wundervolles Monster im Ozean, es treibt dort seit Jahrhunderten. Es ist ein suizidaler Magnet, eine andere Welt, eine Grenze. Das Meer ist auch trügerisch, denn hier finden sich zugleich der Tod und das ewige Leben. Es ist eine sehnsuchtsvolle Lüge und in der Weite erblickt man entweder die Hoffnung oder die Hoffnungslosigkeit. Das Meer kann uns alles geben und alles nehmen. Hier ist die Natur, die Bewegung und die Reise in einem Bild.

Feuerwerk am helllichten Tage von Diao Yinan

Es gehört normalerweise zur Politik von „Jugend ohne Film“, Filme mit ihrem Originaltitel zu benennen beziehungsweise, bei Sprachen, die nicht westliche Schriftzeichen verwenden, den englischen Verleihtitel. Im Fall des Berlinale-Gewinners „Feuerwerk am helllichten Tage“ müssen wir aber eine Ausnahme machen, da der deutsche Titel hier zum einen deutlich näher an der Übersetzung des Originaltitels ist und zum anderen deutlich näher am Film. Denn zum einen prasselt ein regelrechtes Feuerwerk der Wendungen und Überraschungen auf den aufmerksamen Zuschauer ein und zum anderen steht das Feuerwerk am helllichten Tage für Orte und Ereignisse im Film und vor allem für dieses andauernde Gefühl, dass da etwas ist, was man sieht, aber nicht völlig erkennen kann. Das politische Potenzial dieses chinesischen Films ist auf ein ungutes Gefühl verlagert. Damit manövriert sich Diao Yinan so gut es eben geht vorbei an der Zensur seines Landes und macht einen Film, indem es immer noch einen doppelten Boden zu geben scheint bis wir von unserem Verhältnis zu den Bildern selbst sprechen können, das nie ganz sicher ist.

Black Coal, Thin Ice

Der Film erzählt von einer Mordserie in einer trostlosen Arbeitsgegend im Norden Chinas. Es gibt die Neonlichter, die wir aus chinesischen Filmen kennen, aber sie sind spärlich und sie stehen oft als trostlose Dekorationen in den Ecken der grauen Innenräume. Die Handlung beginnt im Jahr 1999 mit der Entdeckung einer zerstückelten Leiche und führt mit fünf Jahren Verspätung auf die Spur einer Frau, die in einem Reinigungsgeschäft arbeitet. Zuvor erlitt Polizist Zhang Zili ein Trauma, da bei der versuchten Verhaftung eines Verdächtigen zwei Kollegen erschossen wurden. Ganz im Stil alter Noir-Klassiker, versucht er seine Sorgen zunächst mit Alkohol in den Griff zu bekommen. In einer beeindruckenden Szene entdecken wir den zerstörten Mann im Jahr 2004 wieder. Wir verlassen einen Tunnel mit einer POV-Einstellung von einem Moped. Wir wissen nicht, wessen POV wir sehen. Plötzlich liegt da Schnee auf der Straße, ein kleiner Schock. Rechts taucht ein Mann am Straßenrand auf. Er liegt völlig betrunken neben seinem Motorrad. Unser POV fährt an ihm vorbei, verlangsamt dabei sein Tempo und dreht langsam um. Erst jetzt erfahren wir, dass es sich um das Jahr 2004 handelt, eine Grafik zeigt es uns an. Wir fahren noch kurz im Kreis und halten dann. Der POV ist jener eines Unbekannten, der das Motorrad des Mannes am Straßenrand stehlen wird und ihm dafür sein Moped überlässt. Wie wir inzwischen erwartet haben, ist der Mann am Straßenrand unser Protagonist. In der Folge rutscht er wieder in die düsteren Welten der Verbrechensbekämpfung und lernt eine gerade durch ihr scheinbare Unscheinbarkeit unberechenbare Femme Fatale kennen: Wu Zhizhen. Sie ist die Hauptverdächtige.

Immer wieder fließen die Übergänge kaum merklich, aber doch fatal durch den Film. Die Zeit ist eine Frage bei Diao Yinan. Nacht und Tag verschwimmen. Der Winter droht, eine ewige Jahreszeit zu werden. Auch der Zeitsprung von 1999 auf 2004 ist ein in sich gekehrtes Gefängnis. Durch den neuen Präsidenten und die damit einhergehenden politischen Veränderungen hat Diao Yinan sicherlich eine bewusste Entscheidung für einen solchen Zeitsprung gewählt, aber er verkehrt sich in einen nostalgischen Existentialismus und ein Überdauern der Zeit, denn unter dem Schutt verbergen sich noch Verbrechen genau wie unter den Bäumen und in den Erinnerungen. Der Film steckt voller vergrabener Dinge, die zwar von der Zeit gezeichnet werden, aber dennoch nie ganz an ihr vorbeihuschen können. Ganz so wie das Moped schon an dem Mann vorbeigefahren ist, aber dann doch noch einmal umdreht. Die Handlungen selbst ereignen sich oft als Zufälle. So geschieht der Mord an den beiden Polizisten zu Beginn nur durch einen Zufall, da die Pistole des Verbrechers aus seiner Jacke vor seine Füße fällt und auch die Ermittlungsarbeit von Zhang ist geprägt von intuitiven Aktionen und spontanen Einfällen und Beobachtungen. Sämtliche Nebenfiguren und Schauplätze sind derart deformiert, dass man irgendwann dem eigenen Blick nicht mehr traut. In einer Dusche bei Arbeitern der Kohlefabrik duscht ein Mann mit T-Shirt über den Kopf gezogen, ein anderer liegt nackt mitten im Raum. So blicken wir auch immer wieder durch angelaufene Fenster, Spiegel oder in Dutch-Angle Perspektiven (ein weiterer Noir-Verweis) auf das Geschehen. Die Wäschereinigung selbst wird nie in derselben Einstellung zweimal gezeigt. Jeder Establishing-Shot des Gebäudes liefert eine neue Perspektive und vielleicht auch eine neue Wahrheit. Wahrscheinlich geht es zu weit das eindrücklichste Mordinstrument des Films, nämlich Kufen von Schlittschuhen, als eine solche neue Perspektive zu betrachten. Schließlich ist es nicht nur eine Zweckentfremdung eines Gegenstandes, sondern dieser Gegenstand befindet sich gewöhnlich unter unseren Füßen, jenseits unserer Blicke. Einmal sehen wir dann, was ein Kollege von Zhang nicht sieht. Ein klassischer Suspense-Moment als ein potenzieller Mörder sich hinter dem Rücken des Polizisten auf einen Angriff vorbereitet in einer rot-beleuchteten Ecke am Rand der Welt.Die Einstellung ist wie so oft im Film eine tableauartige 2er-Einstellung in einer Halbtotale. Handlungen vollziehen sich immer im Raum, nie nur für die Kamera.

Black Coal, Thin Ice3

„Feuerwerk am helllichten Tage“ entfaltet eine Sogwirkung als Fest des Neo(n)-Noir-Thrillers. Fast in jede Szene packt der Regisseur einen kleinen oder großen Twist und vor allem seine Raumsprache ist beeindruckend. So offenbart fast jeder Raum im Film noch ein Geheimnis. Dieses wird manchmal durch Blicke aufgelöst, beispielsweise als Zhang und Wu in einem Riesenrad sitzen und erst nach einiger Zeit klar wird, was man von dort sehen kann und warum sie überhaupt dort sitzen. Zum anderen natürlich durch Bewegung der Figuren wie als sich plötzlich ein kleiner Weg abseits der Eislauffläche offenbart oder durch die Flucht aus einem Restaurant in einen Tanzkeller. Schließlich werden die Räume auch durch Montage und die effektiven Kamerabewegungen, die oft der Logik des Blicks (= Logik des Kinos) folgen, dynamisiert. Immer wenn man glaubt, dass man einen Raum wahrgenommen hat, gibt es einen Schnitt oder eine Bewegung, die einen alles anders sehen lässt. Das fesselnde Ende des Films steckt voller solcher Momente bis man nur noch festhalten kann, dass man nie alles sehen wird. Oder? Sinnbildlich dafür steht eine bemerkenswerte Einstellung in einem Zug. In der Tiefe des Bildes ist durch den Übergang zwischen zwei Wägen, der hintere Wagen zu sehen, der sich aufgrund der kurvigen Gleise immerzu dreht und somit immer wieder unseren Blick auf den Raum verändert. Ähnlich verhält es sich auch auf dramaturgischer Ebene mit den Figuren und ihren Relationen. Die Neigung des Films zu absurden Situationen (man hat das Gefühl, dass frühe Coen-Filme hier Pate standen) und Over-the-Top Momenten hilft dabei, die Unberechenbarkeit aufrecht zu erhalten. Wer hätte gedacht, dass es im Riesenrad zu einer Sexszene kommen würde? Wer hätte gedacht, dass Zhang einen Denis Lavant-Gedächtnis-Tanz hinlegt? Schwarzer Humor dringt immer in das größte Drama und plötzliche Spannung in eigentlich entspannte Szenen. Erwartungen werden in fulminanter Art pulverisiert und alles was einem bleibt, ist dabei zu sein.

Dabei setzt Diao Yinan im Casting und beim Setting auf eine sozialrealistische Alltäglichkeit, die seine Figuren zu irrelevanten Geistern werden lässt. Gefesselt an den Schnee, der heftig vom Himmel kommt, sind sie nicht strahlend, sie bekommen keine Highlights, sie stehen in der Landschaft, die immer ein wenig größer ist als sie selbst. Vielleicht geht dabei ein wenig Noir-Glamour verloren, weil die Faszination an der geheimnisvollen Frau eher aus einer Langeweile und Frustration geschieht, aber vielleicht liegt genau darin auch eine weitere große Qualität des Films. Ein Noir, der außer in einer Szene fast komplett auf Augen verzichtet, der die Zeit nicht mit dem Rauch aus den Mundwinkeln verlangsamt und der nicht schön sein will, sondern es einfach ist. Bei allter Nüchternheit dringt Poesie und ästhetische Schönheit trotzdem durch jedes Bild. Bei aller Kritik, der sich die Berlinale immer wieder stellen muss, sei gesagt, dass sie in diesem Jahrzehnt bei fünf Goldenen Bären, viermal große Filme ausgezeichnet haben, die einen solchen Preis auch absolut verdienen: „Bal“ von Semih Semih Kaplanoğlu, „Nader and Simin, A Separation“ von Asghar Farhadi, „Poziția Copilului“ von Călin Peter Netzer und 2014 „Feuerwerk am helllichten Tage“ von Diao Yinan. Cannes und Venedig scheinen mir keine solche Quote zu haben. Aber so richtig wird man das erst in 50 Jahren wissen.