WdK Tag 6: „Taumel/Vertigo“ – Im Tanz der Nebensachen: Lass den Sommer nie wieder kommen von Alexandre Koberidze

Ein junger Mann kommt vom Land in die Stadt, hält sich mit illegalen Straßenkämpfen und Prostitution über Wasser während er eine Anstellung als Tänzer sucht, verliebt sich in einen Offizier mit dem er einige Zeit verbringt und verlässt die Stadt am Ende des Films wieder um zur Familie zurückzukehren. So in etwa ließe sich die Erzählung des über zweihundert Minuten langen Lass den Sommer nie wieder kommen zusammenfassen. Der Film wäre dennoch verfehlt.

Noch einmal anders. Stark verpixelte Bilder eines Marktes in Tiflis, harte Kontraste und knallige Farben, Menschen erstrahlen im Licht und verschwinden im Schatten, irgendwo im Hintergrund taucht der junge Mann auf, geht durchs Bild und ist wieder weg. Er kauft eine Wurst, dann folgen wieder einige Einstellungen in denen er gar nicht zu sehen ist, sondern dicke Verkäuferinnen, rauchende alte Männer, schlafende Hunde und endlos kreiselnde Limonademixer. Wie passt das mit dem ersten Beschreibungsversuch zusammen?

Der amerikanische Filmemacher und Filmverleger Pip Chodorov beschreibt dieses Problem in der anschließenden Debatte als die ständige Präsenz einer Absenz. Der junge Mann soll Kämpfer und Tänzer sein, so erfahren wir durch den gelegentlichen Off-Kommentar, aber nie sehen wir ihn kämpfen oder tanzen. Der junge Mann soll ein Liebhaber sein, aber nie sehen wir ihn lieben. Er soll einen Brief von zu Hause bekommen haben, der ihn schließlich überzeugt zurückzukehren, aber nie sehen wir diesen Brief, ein Zuhause oder gar eine Familie. Doch die Feststellung, dass der Film ständig auf ein Nicht-Sehen, Nicht-Hören und Nicht-Wissen verweist, geht über die instabile, elliptische Erzählhaltung hinaus und formuliert einen Zweifel der selbst schon integraler Bestandteil der Bilder und Töne ist. Auch die österreichische Künstlerin und ‚Taumel‘-Forscherin Ruth Anderwald beschreibt die grob verpixelten Bilder – der Film ist mit einer pre-HD Handykamera entstanden – als „layer of doubt“, als die konstante Verunsicherung einer Repräsentation im Geiste einer Abstraktion, die das Bild auf seine Textur zurückführt. Im Flyer zur Woche der Kritik ist die Rede von explodierenden Pixeln und einem Stummfilm-Kosmos.

Ich halte diese Beobachtungen für sehr zutreffend. Tatsächlich verzichtet Koberidzes Film in seinen ständigen Abschweifungen auf eine zuverlässige Narration, in den pixelsprühenden Bildern auf die Klarheit der Repräsentation und im Ton, der oft die Geräusche der Straße, Stimmgewirr oder vielfach Musik aufnimmt, auf die Verständlichkeit von Sprache. Und doch bleibt die Frage: ist das ein Verzicht? Lässt sich der Film als Dekonstruktion, gewissermaßen als Negativbestimmung des Filmischen fassen?

Let the Summer Never Come Again - Still II

Mit dem von der Moderation vorgeschlagenen Konzept des ‚Taumels‘ rückt eine positive Bestimmung des Filmes näher. ‚Taumel‘ beschreibt den Zustand einer absoluten Destabilisierung, eines vollkommenen Zweifels, der zum einen Kontrollverlust impliziert, aber in der Überantwortung an das Verlorensein eine absolute Harmonie mit der Welt und dem Rhythmus des Lebens verspricht, die etwas Neues hervorzubringen vermag. Exakt diese Gleichzeitigkeit von Zerstörung und Produktion macht Koberidzes Film aus.

Als hätte Koberidze die Szene aus Sauve quit peut (la vie) in der Nathalie Baye/Godard sagt: „Ich möchte einen Film nur aus Nebensächlichkeiten machen“ auf drei Stunden gedehnt, erzählt Lass den Sommer nie wieder kommen ein Daneben und eine Gleichzeitigkeit. Erzählt von den spielenden Kindern im Hof, von den Katzen auf dem Dach, von den Schattenspielen, die das Riesenrad auf die Straße malt und befreit dabei die Bilder aus allen hierarchischen Abhängigkeiten. Die Kinder im Hof sind nicht das Ausweichziel eines Blicks, der sich verschämt vom Liebesspiel der Männer im Haus abwendet. Ist das überhaupt der Hof desselben Hauses? Ist das derselbe Tag, dieselbe Stunde? Oft lässt sich das nicht sicher sagen, das Daneben ist ebenso wenig nur räumlich, wie die Gleichzeitigkeit nur zeitlich ist. Die Beziehungen der Bilder sind eher rhythmischer als logischer Natur.

Der Pixelsturm ist nicht nur Auflösung, Abstraktion oder Dissoziation des Bildes sondern bringt einen Eigenrhythmus hervor, ein regelmäßiges Pixelflackern, einen Herzschlag, der sich überträgt auf die Welt aus gleißendem Licht und tiefschwarzen Schatten, der pulsiert in den Farben und Menschen und Lichtern von Tiflis. Die Bilder finden im Rhythmus der Bewegungen eine absolute Präsenz, statt nur auf Abwesendes zu verweisen. Wir sehen den junge Mann nie tanzen? Die ganze Welt tanzt zur Musik der Stimmen und Geräusche. Da warten Welche auf den Bus und statt einer logischen Montage, von leerer Straße, Busankunft und Einstieg sehen wir die Füße der Wartenden in Pirouetten kreisen und einen Stepptanz aufführen. In der einzigen Szene, in der es klar vernehmbaren Dialog gibt, fehlen die Untertitel. Der Sound der georgischen Sprache ist hier nicht mehr sekundär oder nebensächlich, sondern wird zum bestimmenden Rhythmus der Szene.

Während eines anderen, unvernehmbaren Gesprächs der beiden Liebenden auf einem Balkon über der Stadt führt ein Schwenk vom klassischen Two-Shot über die lichtverliebte Hand des jungen Mannes hinunter in die Autoschlangen auf der großen Ausfallstraße. Die folgende Montage von fahrenden Autos und Landstraßen zu den Rhythmen eines Popsongs endet mit Bildern von Wellen, die an das Ufer eines Schwarzmeerstrandes rollen. Obwohl der Film uns nie ein Bild von den Beiden im Auto oder am Strand gibt, ist hier nichts mehr Abwesend. Das war eine Reise ans Meer, allerdings außerhalb einer strengen Repräsentationslogik, vielmehr als Rhythmus einer Erfahrung. Bilder von ephemeren Nichtigkeiten verbinden sich zu einem bedeutenden Weltverhältnis. Die anfangs beschrieben Szene auf dem Markt in Tiflis bildet ein bestimmtes Erleben, vielleicht „Das Kennenlernen einer Stadt“, ohne dabei eines klar definierten Subjekts zu bedürfen. Hier wird nicht in Paaren getanzt, sondern im Fluss; alle Bilder miteinander. 

Selten habe ich mich der Strömung eines Filmes derart hingegeben und dabei so geborgen gefühlt, dass da gar kein Ärger und Kampf war als ich nach knapp zweieinhalb Stunden für einige wunderbar lange Minuten sanft weggedämmert bin. Doch wird der schöne ‚Taumel‘ in diesem Moment nicht wieder zur Gefahr? Zur Gefahr einer Selbstaufgabe und Kritiklosigkeit, die in letzter Konsequenz aus der vollkommenen Immanenz einer Welterfahrung folgt? Koberidze unterbricht den Bilderstrom immer wieder in Momenten der Distanzierung. Mitten im Film eine Schwarzblende und folgender Titel: „Sehen sie jetzt einen Mann der bemerkt, dass er etwas vergessen hat und auf halbem Weg umkehrt.“ Es folgt die zweisekündige Einstellung eines Mannes der bemerkt, dass er etwas vergessen hat und auf halbem Weg umkehrt. Das ist Youtube-Clip Logik und gleichzeitig deren Persiflage. Jetzt kann ich euch alles andrehen, scheint Koberidze hier schelmisch lächelnd zu sagen. Ja, bitte, möchte ich antworten.  

Viennale 2014: Weimar 101010

Die Hand über der Stadt aus "M"

Hin und wieder gelingt es ein persönliches Festivalprogramm so zusammenzustellen, dass sich zwischen zwei oder mehr Filmen spannende Synergien ergeben. Noch interessanter wird das, wenn sich diese Filmfolge nur rein zufällig aus dem Programm ergibt und nicht von den Kuratoren vorhergesehen ist. Montagabend war eine dieser Gelegenheiten, als um 18 Uhr im Urania-Kino in Von Caligari zu Hitler feierlich auf die Filme der Weimarer Republik zurückgeblickt wurde, und es quasi im Anschluss im unweit gelegenen Metro-Kino die Möglichkeit gab einen dieser Filme, Georg Wilhelm Pabsts Die Büchse der Pandora, zu bewundern. Pabsts Stummfilmklassiker lief im Rahmen des Special Programs zu Ehren des österreichischen Schauspielers Fritz Kortner, der im Film eine der Hauptrollen innehat.

Von Caligari zu Hitler ist, wenn man so will, das perfekte Vorprogramm zu quasi jedem Film dieser Ära. Zwar erreicht der Film nicht die Höhen wie Martin Scorseses Aufarbeitung der amerikanischen beziehungsweise italienischen Filmgeschichte und schon gar nicht die von Mark Cousins 15-stündigem magnum opus The Story of Film: An Odyssee, aber er macht Lust darauf diese Filme (wieder) zu sehen, und das ist denke ich einmal das wichtigste an einer Filmdokumentation über Film. Szene aus

An dieser Stelle eine Randbemerkung über Restaurations- und Aufführungspraktiken: Die Büchse der Pandora wurde in einer 2009 restaurierten Version mit Live-Klavierbegleitung gezeigt. Es handelt sich dabei um eine digitale Restauration, so weit so gut. Ich bin davon überzeugt, dass von dieser Restauration auch 35mm-Vorführungskopien gezogen wurden, im Metro-Kino wurde an diesem Abend allerdings digital projiziert. Einmal abgesehen davon, dass es mir etwas überkompliziert vorkommt eine DCP ohne Tonspur zu produzieren, da in diesem Fall die Verkleinerung des Bildkaders durch Hinzufügen einer Tonspur, wie es bei einem 35mm-Print der Fall wäre, wegfällt, halte ich es für bedenklich, dass hier einem Proxymedium der Vorzug gegeben wird. Gerade ein kanonischer Klassiker wie Die Büchse der Pandora muss doch in passabler Qualität als 35mm-Print verfügbar sein, und dann muss es im Sinne der Veranstalter, wie des Publikums sein, eine Präsentation im Originalmedium zu gewährleisten. Ich lasse mir hier gern Purismus vorwerfen, aber wenn schonl zu Beginn des Films Texttafeln anpreisen, dass durch die Möglichkeiten der digitalen Technik, das Gefühl der Montage, wie Pabst sie im Sinn hatte rekonstruiert werden konnte, dann ist eine solche Präsentationsweise einfach unehrlich. Und da steht nicht nur die Institution unter Kritik, die diese Schau organisiert, sondern vor allem die verleihende Institution, die solch eine DCP überhaupt anbietet. Erschwerend hinzu kommt noch, dass diese technisch gar nicht auf dem neuesten Stand ist und auf der Basis eines 2k-Scan hergestellt wurde. Für die technischen Möglichkeiten von 2009 sieht die DCP sogar sehr gut aus, den Vergleich mit einer Vorführungskopie in 35mm dürfte sie jedoch nicht wagen. Kortner und Brooks in

Das alles ist sehr schade, denn der Film entpuppte sich als ein sehr erfreuliches Kinoerlebnis. Die Büchse der Pandora ist zurecht ein kanonisiertes Werk der Filmgeschichte und zählt nicht umsonst zu den bekanntesten Filmen des Weimarer Kinos. Pabst gelingt es wie anderen großen Meistern der Filmkunst klassische Stummfilmästhetik hinter sich zu lassen und stattdessen eine universale Filmsprache zu sprechen. Deshalb war der Film zur damaligen Zeit wohl ein kommerzieller Flop – der Film ist ganz einfach zu progressiv. Psychologisch motivierte Charaktere, komplexe moralische Fabeln, ein bitterböses Ende und ein Hauptcharakter, der zur Hälfte des Films ganz einfach verstirbt – was aus heutiger Sicht recht banal klingen mag ist für die Weimarer Kinoindustrie geradezu avantgardistisch. Aber nicht nur das Drehbuch hält dem heutigen Erzählstandard stand, vor allem in Sachen Montage kann jeder (angehende) Filmemacher noch einiges von Pabst lernen. Mit einer unvergleichlichen Flüssigkeit und Leichtigkeit schreitet der Film voran und schafft es die Opulenz eines großbürgerlichen Penthauses mit einer kümmerlichen Dachgeschosswohnung zu verbinden, ohne dabei mit seinem visuellen Stil brechen zu müssen. Als einziger Wermutstropfen bleibt, dass gerade einem Film wie Die Büchse der Pandora das Glänzen und Flackern einer Zelluloidprojektion sehr stark abgeht – gerade wenn man sich nach Von Caligari zu Hitler, der verständlicherweise aus digitalisierten Filmausschnitten besteht, auf „the real thing“ freut.

PS: Kommt es nur mir so vor oder verringert sich tatsächlich die Zahl der läutenden und vibrierenden Mobiltelefone in den Kinosälen? Kann es sein, dass es zumindest in Festivalkreisen nun endlich dazu gekommen ist Awareness für solche Störungen zu schaffen? Das Kino als Ort, wo man noch Ruhe hat, vor der Welt, die einem ständige Erreichbarkeit abverlangt.