Postkarten aus dem Off: Chris Marker auf DocAlliance

Lettre de Sibérie von Chris Marker

Zum 50. Geburtstag der Viennale hat Chris Marker 2012 den Festival-Trailer gestaltet. Diese rund 100 Sekunden hat man als passionierter Viennale-Besucher sicher einige dutzend Male gesehen; zudem ist Kino (so der Name des Trailers) im Internet frei zugänglich, um ihn sich wieder und wieder ansehen. Das habe ich getan, als Einstieg für meine Beschäftigung mit Marker und es ist verblüffend, wie viele lose Enden und potentielle Anknüpfungspunkte in diesem kurzen Trailer stecken. Wenn man sich durch Markers Oeuvre bewegt (und darüber nachdenkt/schreibt), lohnt es sich immer wieder darauf zurückzukommen.

Kino ist zugleich ein kleiner, persönlicher Rundgang durch die Filmgeschichte, eine mediale Spielerei, eine Übung in Non-Konformität, eine Karikatur und eine politische Attacke. Marker begibt sich auf die Suche nach dem idealen Zuschauer und findet Mitstreiter in Georges Méliès, D.W. Griffith, Orson Welles und Jean-Luc Godard. Recht krude animierte Bildcollagen zeichnen die Entwicklung der Kinotechnik und der Rezeptionsweise von Filmen nach. Am Ende findet Marker (und das Kino) seinen perfekten Zuseher in Osama Bin Laden, der auf einem Fernseher Tom & Jerry-Cartoons schaut. Eine einigermaßen irritierende Abhandlung der Filmgeschichte findet ihren Abschluss in einer etwas platten Spitze gegen den amerikanischen Imperialismus.

Kino ist

Ich kann nicht so recht festmachen weshalb, aber immer wieder zieht es mich zu diesem Trailer zurück, wenn ich über Marker nachdenke. Vielleicht, weil Kino ein geradezu exemplarisches Werk in Markers Filmographie ist, genauer in einer Reihe von kleineren Arbeiten, die ich liebevoll als Kleinode bezeichnen würde. Mal irritieren sie, mal faszinieren sie, mal können sie einen nicht so recht überzeugen, aber auf jeden Fall füllen sie den filmischen Kosmos Markers mit Leben. Es sind kleine Eindrücke der Welt, die Marker sammelt (in dieser Hinsicht ist er seiner Freundin Agnès Varda nicht unähnlich): der angeschwemmte Müll in der kalifornischen Bay Area in Junkopia, die Vision der Gewerkschaft der Zukunft in 2084, die eigenwillige Konfrontation von politischem Protest und Katzengraffitis in Chats perchés; man könnte diese Liste noch weiter fortsetzen, wenn man tiefer in diese Filmographie eintaucht.

Diese kleineren Werke, oft nur wenige Minuten lang dienen als Brücken, als Staffage zwischen den großen Antipoden politischen Filmemachens, die Marker einen vorderen Rang im Pantheon des Autorenkinos eingebracht haben. Manchmal scheint es mir, dass diese kleinen Übergangswerke, dieses filmische Füllmaterial eine Art Schlüssel darstellt, um den roten Faden in Markers Gesamtwerk zu erkennen. Während er in seinem (je nach Version) zweieinhalb- oder dreistündigen Film Le joli mai ein Stimmungsbild von Paris (und eigentlich von ganz Frankreich) im Mai 1962 zeichnen will, oder im (je nach Version) drei- oder vierstündigen Le fond de l’air est rouge eine ganzheitliche Erklärung der Linken Internationalen im Sinn hat, oder in seiner Fernsehserie L’Héritage de la chouette nichts weniger als die Aufarbeitung der gesamten Aufarbeitung der abendländischen Philosophiegeschichte anstrebt, sind seine kürzeren Werke kleinteiliger organisiert. Es sind kleinere Episoden, Fundstücke der Reisebewegungen, die Marker für seine Filme rund um die Welt geführt haben, oftmals in humorvollem Ton erzählt und mit allerlei Absurditäten versetzt.

Dimanche à Pékin von Chris Marker

Dimanche à Pékin von Chris Marker

Gruß aus Sibirien

Markers Filme anzusehen, fühlt sich ein wenig an, wie mit ihm auf Reisen zu gehen. Diese Reisen führen direkt vor die Haustüre (Le joli mai), in fremde Länder (Dimanche à Pékin) oder durch die Zeit (La jetée). Die Online-Retrospektive zu Chris Marker von DocAlliance bietet im Moment Gelegenheit eine solche Reise zu starten.

Ein möglicher Ausgangspunkt dafür ist Lettre de Sibérie, ein filmischer Reisebericht aus dem sowjetischen Sibirien. Es beginnt mit Landschaftsaufnahmen der eisigen Weiten, dazu meldet sich eine Stimme aus dem Off zu Wort. Was zunächst eine trockene ethnografische Studie erwarten lässt, kippt schon bald in ein absurdes Kuriositätenkabinett. Marker schildert die aussichtslosen Versuche der zivilisatorischen Expansion der Sowjets in die unwirtliche Natur. Mit ironischem Ton erzählt der Film vom müßigen Ankämpfen gegen die klimatischen Bedingungen und zeigt die charmant-schrulligen Auswüchse des sibirischen Frontier-Lebens: ein zahmer Bär wird an der Leine durch die Stadt geführt; Nomadenstämmen werden feste Wohnorte zugeordnet, an denen sie sich jahrelang nicht blicken lassen; dem Rentier, Alleskönner der subpolaren Zone, werden Loblieder gesungen.

Marker bewegt sich auf einem schmalen Grat zwischen einer genuinen Faszination für das Exotische und paternalistischem Belächeln, zwischen Sympathie für kommunistische Ideen und der Erkenntnis, dass sie nur schleppend umgesetzt werden, zwischen sorgfältig recherchierter Reportage und satirischer Ethnografen-Parodie. Obwohl die Bilder und der Kommentar von einer Zuneigung für diese Orte und die Menschen zeugen, bleibt der Film nicht kritiklos. Obwohl diese Kritik oft in komödiantischer Form vorgebracht wird, ist sie nicht frei von politischer Bissigkeit. Das gibt dem Film eine Ambivalenz, die weit über oberflächliche politische Satire hinausgeht, da letztendlich immer der Respekt für das Sujet spürbar bleibt und der Film seine eigene manipulative Kraft selbst zum Thema macht: in einer berühmten Sequenz wird die gleiche Sequenz dreimal mit unterschiedlichen Kommentaren wiederholt.

Man könnte sagen, Markers Reisefilme wie Lettre de Sibérie, Dimanche à Pékin oder Description d’un combat gipfeln in Sans soleil, wo nicht mehr die Reise zum Film wird, sondern der Film die Reise ist, eine physische Reise rund um den Erdball und zugleich eine gedankliche Reise durch die Ideenwelt von Chris Marker.

Das Spiel, ein Leben

Weniger buchstäblich ist „Reise“ in Level Five zu verstehen. In einem Dialog zwischen der Protagonistin Laura (Catherine Belkhodja) und Markers Voice-over-Kommentar wird die Schlacht von Okinawa aus dem Zweiten Weltkrieg aufgearbeitet. Der Film folgt dabei lose der Dramaturgie des imaginären Videospiels, an dem Laura arbeitet. Das Spiel muss unvollendet bleiben, weil der Computer, die Rechenmaschine, das ultimativ Rationale keinen Eingriff in die Geschichte zulässt. Die amerikanischen und japanischen Truppen lassen sich nicht einfach hin- und herschieben, der Verlauf der Geschichte darf nicht verändert werden.

Die Vorgehensweise des Films präzise zu beschreiben fällt schwer. Denn die Spiele-Metapher kreuzt sich mit Archivaufnahmen, kruden Animationen, Interviews und reportageartigen Bildern des Okinawa von heute. Das Spielemenü dient schließlich nur mehr als Kapitelmarke, als Skelett, an dem sich die verschiedenen audiovisuellen Materialien festklammern. Level Five hat vieles, was den meisten Arbeiten aus dem Bereich der artistic research fehlt: der Film ist eine Aufforderung an sein Publikum die Materialien mental selbst zu montieren, gibt aber zugleich unterschiedliche Interpretationsvorschläge. Im Zwiegespräch von Markers Kommentar und Lauras Monologen entsteht daraus eine selbstreflektierte Kritik am eigenen Material. Level Five vermittelt ohne zu schulmeistern, konfrontiert Bilder mit Bildern, Töne mit Tönen und Bilder mit Tönen, initiiert ein Versteckspiel der Bedeutung, so wie Markers gesamte Karriere ein Versteckspiel (hinter Katzen und Eulen) ist.

Manakamana von Stephanie Spray & Pacho Velez

Mit der Arbeit des Sensory Ethnographic Lab in Harvard hat ethnographisches Filmemachen an den Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation in den vergangenen Jahren neue Höhepunkte erreicht. Zurzeit widmet Doc Alliance diesem Schaffen eine umfassende Retrospektive. Zweifellos ist Manakamana von Stephanie Spray und Pacho Velez einer der eindrucksvollsten Filme, die bislang unter dem Label dieser filmischen Forschung entstanden sind.

Zu sehen sind unterschiedliche Menschen und Tiere, die mit einer Seilbahn hinauf zum und hinab vom Manakamana Tempel in Nepal fahren. Dort huldigt man die Hindu-Göttin Bhagwati. Dabei folgt die 16mm-Kamera der jeweils ca. 10-11minütigen Fahrt bis das Magazin leer ist (was in einem formalen Geniestreich ungefähr derselben Länge entspricht). In diesem festgesetzten Zeitrahmen bekommen wir also die Chance Menschen kennenzulernen. Auf diese Weise kreiert der Film eine eigene Zeiteinheit und zieht diese ganz wie in der großartigen Uhrzeigerszene in Ingmar Bergmans Vargtimmen kompromisslos durch. Dadurch, dass wir wissen wie lange wir Zeit haben, die Personen oder Tiere zu betrachten, können wir diese Zeit gleichzeitig vergessen, als dass sie uns erst richtig bewusst wird. Es ist eine Frage der Akzeptanz und der Wahrnehmung. Respektieren wir diese Zeit?

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Manakamana spielt ständig mit Gegensätzen, die ein Erfahren menschlicher Gesichter ermöglichen und dadurch auch Ethnographie als solche zum Thema machen.

1. Aktivität und Passivität

Ein erster Gegensatz findet sich in der Aktivität einer Pilgerreise und der Passivität des Transports zum Tempel. Eine Frau sagt, dass es gut sei etwas zu machen, raus zu gehen, während sie machtlos im Wagen sitzt. Die Fahrt gleicht – wenn man sie in katholischen Terminologien betrachtet – einer Himmelsfahrt. Dadurch wird das Spirituelle nicht durch die körperliche Anstrengung spürbar sondern wird zu einem inneren Prozess. Aber auch beim Zuseher stellt sich dieser Gegensatz ein. Betrachtet man die Gesichter über die gesamte Zeit aktiv oder driftet man ab? Wie blickt man auf die Personen gegenüber, wie viel Zeit glaubt man, dass man braucht, um jemanden einschätzen zu können? Nicht nur deshalb ist Manakamana auch ein Film über Casting. Die beiden Filmemacher mussten Personen finden, die eine Neugier des Blicks wecken und zwar nicht, weil sie eine interessante Geschichte zu erzählen haben, sondern weil sie durch ihr Aussehen etwas erzählen, etwas auslösen.

2. Eindruck und Ewigkeit

Vor allem der erste Eindruck ist es, der hier zählt und mit dem auch gespielt wird. Die im Schwarz fließenden Übergänge zwischen den Passagieren, der die eingangs beschriebene Zeit außer Kraft setzt, sie gleichzeitig zurück- und vorspult und uns hilflos im Raum schweben lässt, führt uns die Figuren zuerst als Schatten, als Silhouette, seltener als Stimme vor. Mit der Veränderung des Bilds verändern sich auch die Figuren. Dann plötzlich sitzen sie vor uns und alles scheint normal und doch überraschend. In wenigen Augenblicken stellt man sich darauf ein, wen man nun beobachten wird. Dabei spielen Spray und Velez mit den Erwartungen. Zum einen wird erst nach gut 20 Minuten im Film zum ersten Mal gesprochen und zum anderen verhalten sich auch die einzelnen Individuen anders als man zunächst glaubt. Bestes Beispiel dafür sind zwei Frauen, die lange Zeit nichts sagen, bevor sie sich plötzlich auf Englisch unterhalten. Es ist klar, dass solche Szenen eine Kritik an einem dominanten westlichen Blick sind, da wir zu wissen glauben und uns überlegen fühlen, obwohl wir weder wissen noch überlegen sind. Wenn wir dann plötzlich die dominante Sprache unserer Welt hören, fühlen wir uns ertappt. Ähnlich verhält es sich mit der Selbstironie zweier Frauen, die ein Eis essen und dem latenten Humor, der auch andere Szenen des Films durchzieht. Trotz des hermetischen, an Andy Warhols Screen Tests erinnernden Aufbaus, herrscht hier eine große Freiheit der Gesichter und Bewegungen, die zwar wohlüberlegt ausgesucht wurden, aber immer gegen die Einfachheit einer Kategorisierung arbeiten. Die Ewigkeit als Gegensatz ist dabei natürlich dem religiösen Unterfangen geschuldet. Vielleicht ist die Ewigkeit die Kamera. Aber das ist ein anderes Thema.

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3. Tradition und Modernität

Ein durchaus offensichtliches Thema des Films ist dabei der Gegensatz von Tradition und Modernität. Das beginnt schon beim Setting an sich, denn schließlich sitzen die Figuren in einer Seilbahn auf dem Weg zum Tempel. Immer wieder wird erwähnt, dass man den Weg früher auf einem Pfad zurückgelegt hat, nun würde gar eine Straße gebaut werden. Auch das penetrante Handyfotografieren einer jungen Rockmusiker-Gruppe wirkt paradox angesichts des Settings. Es fällt auf, dass häufig über diese Veränderungen gesprochen wird, aber sie von niemand gewertet werden. Eher herrscht Verwunderung für die Tatsache, dass man den Weg zum Tempel früher zu Fuß zurücklegen musste. Natur und Kultur existieren hier in einer nicht immer harmonischen, aber notwendigen Zweisamkeit.

4. Primärton und Tondesign

Ein spannender Gegensatz offenbart sich auch im Ton. Die Zusammenarbeit mit Ernst Karel, der nicht nur viele der Filme aus der Sensory Ethnographic Lab vertonte, sondern auch an einem Seilbahn-Sound-Projekt arbeitete, ermöglicht es den Filmemachern eine ganz eigene Stimmung zu entwerfen, die in sich selbst als ethnographische Forschung funktioniert. Dabei fallen vor allem die krachenden Übergänge an den einzelnen Zwischentürmen auf und der fast traumartige Übergang zwischen den Passagieren, der kaum merklich in unseren Ohren zergeht. Eine gewisse Bedrohung entsteht dabei zum Beispiel, als wir zusammen mit den Ziegen auf den Berg fahren. Insbesondere zu Beginn, als noch nicht gesprochen wird, kann jedes Geräusch zu einem kleinen Ereignis werden. Ein Husten, ein Rascheln. Die Frage, ob wir manipulierten oder primären Ton hören, erzeugt eine Spannung, der man im Lauf der Fahrten immer wieder verfallen kann. Schließlich liegt dort auch eine ethische Frage, die so sehr den fiktionalen und dokumentarischen Kern der Arbeit von Spray und Velez trifft. Den Gegensatz zum Tondesign bildet immer wieder die Sprache, die jedoch erst nach einer gewissen Zeit zum ersten Mal erklingt. Sobald die Menschen sprechen überraschen sie uns. Ein unüberwindbares Tal tut sich da auf zwischen unserer Antizipation durch das Sehen und unserer Wahrnehmung durch das Hören. Sprache und Bild können hier gar nicht zusammengehen. Es stellt sich natürlich die Frage worin mehr oder welche Wahrheit liegt. Darin liegt wiederum die philosophische Frage nach unserem Umgang mit dem Fremden und der Möglichkeiten, diesen filmisch festzuhalten. Denkt man an Arbeiten von Robert Flaherty wird man immer feststellen können, dass das Fehlen der Sprache das Mythologische geradezu provoziert, das der Filmemacher dann häufig durch seine Narrative oder Zwischentitel verstärkt hat. Ist Manakamana also ein Film über die Fehlbarkeit des Sehens? Wohl kaum, denn die Sprache ist ähnlich löchrig. So muss man natürlich immer von einer Selbstdarstellung ausgehen, die sich durchaus bewusst ist, dass sie aufgenommen wird. Sprache versteckt, Sprache verschleiert. Nebeneinander und hintereinander jedoch kommen die beiden Kategorien von Bild und Sprache einer Wahrheit nahe, die exakt mit dem ethnographischen Interesse harmoniert.

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5. On und Off

Der Ton hängt natürlich auch mit dem Gegensatz von On- und Offscreen zusammen, der in Manakamana vielfach und verschieden eingesetzt wird. So gibt es einmal jenen Offscreen, den die Figuren sehen. Effektiv sehen wir nie, was die Figuren sehen. Sie blicken aus ihrer Bahn und kommentieren immer wieder, was es dort gibt: Häuser, Menschen, der alte Pfad, die schönen Hügel. Wir können diese nur erahnen und dadurch bekommen nicht die Dinge an sich eine Bedeutung sondern die Haltung der Menschen dazu. Ein weiterer Offscreen betrifft das Unten. Wir können oft nicht genau erkennen, was Figuren in der Hand halten, werden manchmal davon überrascht. Noch viel heftiger wirkt allerdings das zeitliche Off. Nach der Hälfte der Zeit bewegen wir uns nicht mehr auf den Berg hinauf sondern fahren hinunter. Wir sehen also Menschen nach ihrem Kontakt mit der Göttin. Nun sind wir nicht sonderlich überrascht, dass es keine großen Symptome einer solchen Begegnung gibt, aber da der Film in seiner letzten Fahrt auf ein älteres Paar zurückkommt, dass wir bereits auf dem Weg nach oben begleiteten, stellt sich durchaus die Frage, was ihnen in der Zwischenzeit widerfahren ist. Ähnlich verhält es sich auch mit den Tieren, die nach oben fahren. Hier fragt man sich, was mit ihnen dort passieren wird. Es ist ein Wechselspiel aus Antizipation und Unwissenheit und wie so oft rückt der Tempel gerade dadurch in den Fokus unserer Neugier, weil wir ihn nie sehen.

6. Präsenz der Kamera und Abwesenheit eines Eingriffs

Ein weiteres prominentes Element des Offscreens in Manakamana ist die Kamera beziehungsweise die Personen hinter der Kamera. Beim Sehen des Films glaubt man eigentlich, dass die Kamera im Wagen montiert wurde und sonst niemand dort ist. Die Figuren agieren allesamt äußert unaufgeregt. Niemand spricht jemals mit der Kamera oder einer Person dahinter. Ich habe auch keinen Blick dorthin gesehen. Zwar schauen die Passagiere von Zeit zu Zeit in die Kamera und kommentieren diese sogar kurz, aber die Ruhe und Natürlichkeit der Laiendarsteller, die jederzeit Passagiere einer Seilbahn und nie Darsteller vor einer Kamera scheinen, ist bemerkenswert. Dennoch bestätigen die Filmemacher in Interviews ihre Präsenz in der Bahn während der Takes. Obwohl die Auswahl und auch manches Schweigen durchaus gewollt wirkt, erwecken Spray und Velez den Eindruck, dass sie Vieles geschehen lassen. Hier befinden wir uns genau am Kern dieser schmalen Nonfiction-Linie, die niemals vollständig erkennen lässt, ob wir es mit einer Inszenierung oder einer Beobachtung zu tun haben. Durch dieses Vorgehen dürfte auch dem letzten Verfechter von schon bei ihrer Erfindung überholten Prinzipien klar sein, dass diese Unterscheidungen keine Rolle spielen. Das Fiktionale ist in das Dokumentarische eingeschrieben und das Dokumentarische in das Fiktionale. In dieser Kombination kann eine filmische Wahrheit entstehen, die im Fall des Sensory Ethnography Lab immer auch wissenschaftliche Rückschlüsse zulässt beziehungsweise parallel zu Forschungen entsteht. Die Ethik gilt dabei immer den Dingen vor der Kamera und nicht dem Zuseher. So ist die scheinbar offensichtlichste Gegensatz, nämlich jener zwischen dem Bekannten (der Kamera) und dem Fremden (den Passagieren), gar nicht so eindeutig, was zum einen daran liegt, dass die Kamera natürlich nicht einfach „bekannt“ ist sondern eher eine Beziehung zum Fremden aufbaut, die das Bekannte im Fremden offenbart beziehungsweise das Fremde im Bekannten. Außerdem gibt es bereits bevor die Kamera läuft ein Verhältnis zwischen Filmemacher und Passagieren. Viele der Figuren waren sogar schon teil vorheriger Projekte von Stephanie Spray, womit auch klar wird, dass der Film nicht unbedingt Forschung ist sondern ein künstlerischer Ausdruck der Ergebnisse dieser Forschung. Natürlich dreht sich dadurch auch ein weiteres Fremdheitsverhältnis und zwar jenes zwischen den Passagieren und der Kamera, da diese bereits Erfahrung mit ihrer eigenen filmischen Präsenz haben.

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7.Bewegung und Stillstand

Augenscheinlich bewegt sich die Kamera immerzu, ohne dass sie sich bewegt. Der Film ist ein ewiger Phantom Ride mit blockierter Sicht, ein Schwebezustand, der zunächst einen Einblick verschafft, dann aber auch darauf verweist, dass der Boden verlassen wird, die Zeit außer Kraft gesetzt wird, um eine Art Standbilder der Gesellschaft zu bekommen. Das Bild von Bewegung und Stillstand verweist natürlich auch auf die bereits angesprochenen Dichotomien von Tradition und Moderne, Aktivität und Passivität. Allerdings versteht Manakamana diese Ideen als ästhetische Kategorie.

Statt einiger Forscher mit Kameras sehen wir hier Filmemachern zu.

Noch bis zum 29.März kann man Manakamana und weitere Filme des Sensory Ethnography Lab kostenlos bei Doc Alliance sehen.

Kossakovsky-Retro: Losev

Den letzten Atem filmen in einem Moment, in dem keiner hinsieht. Die letzten Blicke und die letzten Gedanken festhalten. Dann zum filmischen Ritual erheben, was nicht vergehen darf, jemanden wiederbeleben, wie Carl Theodor Dreyer, in erhabener Stille, ihn weiter leben lassen. Intimität und Gott sein, nicht Gott spielen, nein Kossakovsky will Gott sein und er will auf keinen Fall Gott sein. Es ist sein erster Film. Er beginnt mit einer langen und fiebrigen Blende und der aufgehenden Sonne. Diese Sonne beleuchtet aber einen Friedhof. Es ist die Geburt eines Todes und der Tod einer Geburt. Man erkennt nichts und alles und immer wieder neu. Als würde mit Kossakovsky das Licht neu geboren werden. Es ist nicht gerade Bescheidenheit, die den Filmemacher auszeichnet. Der letzte Atem und das erste Licht gehen schließlich einen Weg unter die Erde, der an etwas glaubt, das größer ist als das Irdische.

Hier kommen wir zu Punkt 9, der von Kossakovsky aufgestellten Regeln für Dokumentarfilmer: “Documentary is the only art, where every esthetical element almost always has ethical aspects and every ethical aspect can be used esthetically. Try to remain human, especially whilst editing your films. Maybe, nice people should not make documentaries.” In Losev besucht Kossakovsky seinen Mentor, den Philosophen Alexey Fedorovich Losev am Sterbebett und begleitet ihn gewissermaßen in den Tod. Dabei vermag Kossakovsky immer wieder äußert, nennen wir sie „heilige“ Momente einzufangen, Augenblicke, in denen die Stille und die Erhabenheit eine Anwesenheit der Kamera eigentlich untersagen. Nun vermag Kossakovsky durch seine gewählte Position, durch seinen Abstand, durch seine Montage und Musik allerdings filmisch etwas „Heiliges“ hinzugeben statt das „Heilige“ der Realität zu entweihen. Ein gutes Beispiel findet sich in der langen Totenwache. Es ist nicht nur derart, dass man den ganzen Raum zittern spürt, sondern auch so, dass man ein Gefühl für die Ewigkeit bekommt. Die Ethik untersagt es Kossakovsky nicht zu filmen, sondern lässt ihn ästhetische Entscheidungen treffen. Ganz ähnliches konnten wir in Pavel i Lyalya sehen als die Kamera von der weinenden Lyalya abwich und über das Schattenspiel einer sommerlichen Wand hinweg schwenkte. Die Fragen sind immer: Wann macht man die Kamera an? Wie macht man die Kamera an? Wo macht man die Kamera an? Weshalb macht man die Kamera an? Dabei geht es eben nicht nur um diese dokumentarische Angst vor dem Verpassen eines entscheidenden Augenblicks, sondern auch und vermehrt um die Frage, wann und wie ein Augenblick besser unberührt bleiben sollte. Das ist nicht nur eine ethische Frage im Bezug zur Realität, sie stellt sich tatsächlich dem Film. Denn wenn eine ethische Grenze überschritten wird, dann ist auch die ästhetische Wirkung verändert und in den meisten Fällen zum Schlechten. Wir sprechen dann von billiger Sensationsgier oder ähnlichem.

Losev ist auch ein Film über die letzten Gedanken, die bleibenden Gedanken eines Mannes. Er stellt die Frage wie ein Lebenswerk im Tod aussieht und wie sich menschliche Ängste mit der eigenen Philosophie vertragen im Angesicht des eigenen Endes. Losev ist fasziniert von der Vorstellung, dass man wissenschaftlich nicht in der Lage ist das Eintreffen eines Todes vorherzusagen. Daher muss es so etwas wie Schicksal geben. Der Tod trifft für ihn ähnlich ein wie für Kossakovsky der Film. Zum einen stellt sein Werk immer wieder die Frage wie der Blick der Kamera sich im Augenblick seines Vollzugs mit dem Wissen und den vorgefertigten Ideen und Konzepten verträgt und zu anderen ist das Eintreffen einer Emotion, eines Films, eines Ausbruchs keine Sache der Planung. Es ist eine Sache der Reaktion, des Zufalls und des Schicksals. Kossakovsky zielt mit seinen Filmen in einen Himmel, den er nicht kennt. In Losev beginnt er mit seiner Suche und er beginnt am Ende der Zeit und er stellt fest: Es gibt kein Ende der Zeit. Zumindest keines, das man filmen könnte.

Kossakovsky-Retro: Kossakovsky sehen

Meta

Wir schreiben hier auf dem Blog sehr oft über Filme und bemühen uns dabei einen möglichst „puren“ Zugang zu wahren. Das heißt weniger theoretisieren als beobachten, weniger Produktionskontexte referieren, als den Film selbst sprechen zu lassen. Oft geht es auch darum, zu beschreiben was ein bestimmter Film, eine bestimmte Szene, mit uns als Betrachter macht. Das sind subjektive Beobachtungen, denn schließlich können wir nicht sicherstellen, dass ein Film jeden Zuseher gleich anspricht (im doppelten Wortsinn). Ich denke, es ist sehr deutlich, dass es uns in unseren Besprechungen und Essays eher um die Beschreibung eines möglichen subjektiven Zugangs geht, als um Publikumsforschung und doch bleibt bei einer solchen Herangehensweise etwas auf der Strecke: das Kino als Ort der Massen. Das Kino als Ort, nicht bloß der solitären Rezeption, sondern des gemeinschaftlichen Erlebnis.

Meta

© Daniel Bogan/Flickr

Zu Beginn der Retrospektive zu Victor Kossakovsky auf Doc Alliance trafen wir uns zu viert zu einem Filmeabend, um uns dem Regisseur gemeinsam anzunähern. Für drei von uns war Kossakovsky überhaupt Neuland, einzig Patrick hatte schon zuvor zwei seiner Filme gesehen. Wir einigten uns mit Svyato zu beginnen (Patricks Besprechung dazu hier), ohne wirklich zu wissen was auf uns zukommt – um Kossakovskys Sohn sollte es gehen, eine persönliche Geschichte also.

Der Film beginnt abstrakt, mit einem Textzitat, einigen langen Einstellungen und etwas Musik. Schließlich das Bild eines spielenden Kindes in einem Korridor, nach einer Zeit beginnt die Kamera langsam wegzuzoomen. Plötzlich, ein Rahmen! Das Kind wurde über einen Spiegel gefilmt. Ein echter Schockmoment, mir fällt die Kinnlade herunter, den anderen, so stellte sich später im Gespräch heraus, ging es ähnlich. Eine halbe Stunde später ist der Film zu Ende, man schenkt sich ein Glas Wein ein, lässt den Film etwas auf sich wirken oder macht sich sogleich daran zu diskutieren. Während ich mir also noch ein Glas Wein einschenke, unterhalten sich Patrick und Andrey schon angeregt über den Einsatz von Musik und die Bedeutung bestimmter Szenen und Sequenzen (was haben diese verträumten, poetischen Passagen am Teich mit dem Kind im Spiegel zu tun?). Die beiden kommen langsam zu einem Ende, wir wollen mit Pavel i Lyala fortsetzen, ich habe bis dahin nicht mitdiskutiert, denn ein Gedanke geht mir nicht aus dem Kopf: Kossakovskys lange Einstellung des spielenden Kinds, das er über den Spiegel aufnimmt, wird irgendwann von einer anderen Kameraperspektive abgelöst, die scheinbar frontal in den Korridor filmt – die Einrichtungsgegenstände sind allerdings in dieser Einstellung nicht spiegelverkehrt – der Gang sieht aus, wie zuvor in der Spiegeleinstellung.

Ich teile meine Beobachtung, und wir alle sind zunächst ratlos. In einer ad-hoc Filmanalyse sehen wir uns die betreffenden Stellen noch einmal an. Sind da Schnitte? Wechselt er die Linse? Macht das überhaupt einen Unterschied? Aus der ad-hoc Analyse wird eine ad-hoc Recherche: das Internet wird befragt, wie dieser Film gemacht worden ist, ob das irgendjemand anderem auch aufgefallen ist. Wir kommen nicht voran, immer weiter versuchen wir den Raum dieses Films nachzuvollziehen und immer weiter verknoten sich unsere Gedankengänge. An Pavel i Lyala denkt nun keiner mehr, zu wissensdurstig sind wir. Wie lang dauerten die Diskussionen? Zehn Minuten vielleicht, wir kommen noch immer nicht weiter, ich resigniere, Andrey resigniert, Patrick kann nicht loslassen. Ein letzter Versuch: Youtube! Dort findet sich eine Masterclass von Kossakovsky aus dem Jahr 2012. Das Video dauert fast zwei Stunden aber Patrick lässt sich von unseren Protesten nicht abhalten. Aus wenigen Ausschnitten schließt er, dass das Gespräch chronologisch vorgeht und findet tatsächlich die Stelle, wo Svyato besprochen wird. Der Moderator stellt die „richtigen“ Fragen. Es wird spannend für uns. Und tatsächlich, die Auflösung: drei HD-Kameras, vier Spiegel. Wir sind baff. Wir geben uns geschlagen. Das hätten wir aus den Bildern selbst nie herausfinden können. Aber wir sind auch zufrieden, in nur wenigen Minuten haben wir eine Antwort gefunden, wenngleich das Rätsel dadurch nicht gelöst ist, denn wie Kossakovsky nun genau gearbeitet, seine Kameras und Spiegel positioniert hat, lässt sich nicht erschließen – das muss man aber auch gar nicht, das kann man vielleicht gar nicht, darum geht es nicht. Es geht vielmehr um das Verblüffen, die Multiplikation von Aha-Effekten. Die Vielschichtigkeit, die Rezeptionsebene, den Austausch, die Auflösung. Cinephilie ist nicht nur Filme zu schauen, sondern auch Filme zu befragen. Nicht nur das fertige Produkt zu betrachten, sondern auch die Arbeit die dahinter steckt. Nicht nur Svyato, sondern auch Kossakovsky zu sehen.

Kossakovsky-Retro: ¡Vivan las Antipodas!

Vivan las Antipodas Kossakovsky

Leider ist ¡Vivan las Antipodas! bei der der noch bis 1. Februar laufende Kossakovsky-Retrospektive auf Doc Alliance weder in Deutschland noch in Österreich verfügbar. Jedoch wollten wir auf keinen Fall auf eine Besprechung des außergewöhnlichen Films verzichten.

In seinem bis dato letzten Film ¡Vivan las Antipodas! hat Victor Kossakovsky gleichzeitig jegliche Banalität aus seinem Ansatz verdrängt und sie dennoch in Form einer so kindlichen wie wundervollen Faszination bestehen lassen. Der Film blickt auf insgesamt vier Ortspärchen, die sich auf gegenüberliegenden Seiten unseres Planeten befinden, die sogenannten Antipoden. Es ist eine ganz einfache Frage, die man sich trotzdem kaum stellt. Wie leben die Menschen wohl auf der exakt gegenüberliegenden Seite der Erde, wenn man einfach durch sie hindurch fahren würde? So dreht sich die Kamera und windet sich in Splitscreen-Aufnahmen, die man in dieser Form noch nie gesehen hat. Plötzlich steht alles auf dem Kopf. Im Film ist es nur ein Schnitt, um einmal um die Welt zu reisen. Und ¡Vivan las Antipodas! gibt uns das Gefühl, dass man auch nicht mehr braucht bei all den Schönheiten und untereinander und übereinander verlaufenden Existenzen, die sich doch immer wieder berühren. Kossakovsky dokumentiert damit auch eine Reise um die Welt, aber vor allem einen poetischen Blick nach Formen, Farben und Rhythmen, die erstaunliche Analogien entstehen lassen und den Betrachter in eine Stimmung der Zufriedenheit und Ruhe versetzen. Wenn das die Welt ist, dann lebe ich gerne hier. Es ist schon eine spannende Frage, die sich der Regisseur auch in dem ebenfalls in der Retrospektive (ebenfalls leider nicht in Österreich oder Deutschland) zu sehenden Where the Condors Fly von Carlos Klein stellt: Warum beruhigt einen der Gedanke, dass etwas auf der anderen Seite der Erde just im selben Moment passiert, der Gedanke, dass dort die Sonne aufgeht, wenn ich mich schlafen lege, dass dort jemand ganz ähnliche Sorgen hat?

Vivan las Antipodas Kossakovsky

So sehen wir zwei merkwürdig inszenierte Argentinier in Entre Rios im Nichts. Sie thematisieren ein wenig den Film selbst und das kommt durchaus überraschend bei einem Regisseur, der so stark an die Macht von Bildern jenseits der Erzählung glaubt. Ihr Dahinleben ist von einem milden Zynismus geprägt, sie denken darüber nach, was es in der großen Welt, die ihnen verborgen bleibt, so gibt. Ihre Antipode ist Shanghai. Bei diesen beiden Orten arbeitet Kossakovsky noch eher mit Gegenätzen als mit Parallelen. Hier wird eine vom (künstlich hergestellten) Smog vernebelte Rush Hour in China mit der Leere der argentinischen Wüste kombiniert. Anders sieht es da bei den Antipoden Spanien und Neuseeland aus. Hier montiert Kossakovsky sozusagen als Höhepunkt des Films eine unfassbare Ähnlichkeit zwischen einem gestrandeten Wal in Neuseeland und einer genauso aussehenden Felsformation in Spanien. Bei solchen Wundern geht es weniger um die Wunder der Natur, als um die Wunder des Sehens. Kossakovsky selbst betrachtet den Film nicht als eine dokumentarische Auseinandersetzung mit der Wahrheit seiner Protagonisten und Orte, sondern als etwas Spirituelles, Größeres. Der entsprechende Gestus von Größe ist von der ersten Einstellung spürbar. Der Film ist voller Kranfahrten, extravaganten Kamerabewegungen und Beauty-Shots. ¡Vivan las Antipodas! sieht eigentlich zu gut aus. Man hat die Erde anders kennengelernt. Man kann nicht anders, als die Lüge des Films sofort zu durchschauen. In der angesprochenen Dokumentation von Carlos Klein, die den Regisseur bei den Dreharbeiten begleitet, sieht man wie er jedes Detail mit inszeniert und wie viele Szenen in einer Art manipuliert werden, die die Faszination an den Antipoden erst richtig möglich macht. Aber dann gibt es da auch dieses unheimliche Auge für die Ähnlichkeit vulkanischer Gesteine auf Hawaii und der Haut von Elefanten in Botswana, die einsamen Existenzen in Chile und am Baikalsee. Es entfaltet sich ein gewaltiger Sog, der sich, wie immer bei Kossakovsky, direkt auf die eigene Wahrnehmung der Welt überträgt.

Vivan las Antipodas Kossakovsky

Alles ist bedeutender und größer hier. Die Musik ist ein symphonisches Meer. Sie betont und verschleiert das ewige Spiel aus Gegensätzen und Reimen, aus Ideen und Schönheiten. Besonders beeindruckend dabei ist wie hoch die Konzentration auf das Bild ist trotz all dieser Stilisierung. Damit meine ich, dass Kossakovsky es immer wieder schafft, ein Gefühl für die Individuen und Objekte zu finden, das sich auch jenseits ihrer Antipoden entfaltet. Hervorstechend dabei ist die enigmatische Gestalt in Chile, die verkrampft und doch entspannt mit schwarzer Sonnenbrille vor ihrem Backofen wartet und ein Dutzend strolchender Katzen mit einem Messer verscheucht. Auch ein Chorgesang in Russland, eine fliegende Kamerafahrt durch die engen Gassen eines chinesischen Markts, ein einsamer Hund auf einem Stein im Lavameer auf Hawaii, der Versuch, den gestrandeten Wal zu zersägen oder der majestätische Flug eines Vogels sind kinematographische Ereignisse, die Ihresgleichen suchen.

Irgendwann verschwinden die Bedeutung von oben und unten und damit auch jene der Grenzen. Es ist ein verführerischer Gedanke, der hier zum Vorschein kommt. Es geht um die Verabsolutierung der Welt durch eine visuelle Wahrnehmung und in diesem Sinn unterliegt dem Film eine existentialistische Identitätslogik, die so fest an die Kunst des Films glaubt, dass sich die Widersprüche der Realität darin auflösen. Denn der Gedanke, dass man alles Leben in einer Metamorphose zu einer größeren Wahrheit vereinen könnte, ist eine dialektische Lüge. Dennoch funktioniert sie für die Dauer eines Films. Denn Film ist eine Illusion. Wenn es die zwei Pole Wahrheit und Illusion gibt im Film, dann ist Kossakovsky mit ¡Vivan las Antipodas! klar auf die andere Seite gekippt, auf die Antipode der Wahrheit, die (zumindest seiner eigenen poetischen Logik nach) sehr viel mit der Wahrheit selbst zu tun hat. Im Angesicht dieser Perfektion und atemberaubenden Schönheit muss man ihm glauben.

Kossakovsky-Retro: Caught My Own Reflection: Svyato

Svyato Kossakovsky

Man kann von zwei Dingen ausgehen in der Betrachtung des verstörenden Films Svyato von Victor Kossakovsky, den es bei der noch bis zum 1. Februar laufenden Retrospektive auf Doc Alliance zu sehen gibt. Zum einen davon, dass die Anwesenheit oder der Glaube an unsichtbare Kräfte und Welten eine besondere Aufmerksamkeit generiert, die uns in Zustände der Angst, der Liebe und des fantastischen Staunens versetzt. Der andere Gedanke ist jener der filmischen Antizipation und ihrer Wirklichkeit, die so gar nichts mit der Aufmerksamkeit zu tun haben, aber doch völlig abhängig von ihr sind. In Svyato filmt der Regisseur seinen Sohn, als dieser sich zum ersten Mal in einem Spiegelbild sieht. Seit dessen Geburt hatte der Filmemacher sämtliche Reflektionen vor dem 2jährigen versteckt. In einer speziellen Vorrichtung mit vier Spiegeln (von denen man als Zuseher nur einen wahrnimmt, was uns nach der gemeinsamen Sichtung in nervöse Rage versetzt hat) und drei Kameras folgt der Regisseur jenen ersten Begegnungen zweier Welten, nämlich jener Welt des Ichs und der Spiegelwelten. Nun sind die psychoanalytischen Konnotationen kaum zu übersehen, aber Kossakovsky überlegt sie mit einem fantastisch-magischen Schleier, den man als subjektive Wahrnehmung seines Sohnes oder auch als Spleen für Antipoden im Werk des Regisseurs auffassen kann. Der Junge spielt in einem Haus, hinter ihm ein weißer, im Wind tuschelnder Vorhang, hinter dessen Durchsichtigkeit sich der Schatten einer Pflanze abzeichnet. Neben ihm ein beständiger Zwerg mit blauen Augen und einer Laterne, unter ihm ein hellbrauner Parkettboden voller Spielzeug, seine Mutter ist aus dem Off zu hören, das Spielzeug singt, es ist friedlich und in, um und vor ihm sind Spiegel und diese Kameras, die mit seiner und unserer Wahrnehmung spielen. Die besondere Faszination für die Spiegelwelten offenbart sich nicht nur in der Wichtigkeit, die Kossakovsky diesem Augenblick im Leben seines Sohnes beimisst, sondern auch in der letzten Szene des Films, als eine Spiegelung in einem See ein Eigenleben beginnt.

Svyato Kossakovsky

Es ist wie eine Erinnerung an eine kindliche Faszination, an den Glauben, dass das was wir im Spiegel sehen, eine andere Welt ist. Darin liegt nicht nur eine Analogie zum Kino sondern zur Wahrnehmung an sich. Kossakovsky erinnert einen daran, wie abgestumpft man sieht. Der Junge schreit sein Spiegelbild an, er hämmert mit Spielzeug gegen die Fläche, er küsst es, er blickt unter dem Spiegel hindurch, er betrachtet sich/es stumm. Wann erkennt er sich selbst? Gleichzeitig werden wir als Zuseher, ob der Spiegel und Reflektionen verunsichert (und schließlich ist es ja auch ein Film). Wir müssen uns fragen, ob das was wir sehen eine Spiegelung ist oder nicht. In jenem Moment, in dem wir an das Neue, Eigene und Besondere in der Welt glauben, blicken wir genauer hin und in diesem Blick liegt die ganze Faszination des Lebens. Gehen wir von dieser Faszination an Gegenwelten aus, die ja nicht zuletzt auch in Kossakovskys ¡Vivan las Antipodas! eine entscheidende Rolle spielen, dann verstehen wir, dass der Blick auf die Welt einer ganz bestimmten Wahrnehmung unterliegt, ganz bestimmten Emotionen, Formen und Ideen, die sich in filmischer Sprache manifestieren können. So sehen wir, was wir alle kennen, aber nicht in unserem Bewusstsein tragen. Wir können staunen, lieben oder uns fürchten. Der Regisseur spricht selbst gerne von seiner Magnettheorie und meint damit eigentlich den Abstand zwischen Kamera und Protagonist. Dieser magnetische Grenzbereich, indem die Anziehung zwischen zwei Polen gerade so ist, dass sie spürbar wird, ist auch der aufmerksame Blick. Kossakovsky ermöglicht uns dieses Miterleben durch seine Freiheit der Antizipationen. Damit meine ich, dass er sich in einem bestimmten Versuchsfeld bewegt, das er selbst nicht vorhersehen kann. In allen seinen Filmen gibt es eine bestimmte Idee, eine Antizipation dessen, was passieren kann, und in jedem Fall wird diese von der tatsächlichen Handlung übertroffen. In seiner aufwendigen Konstruktion, dem Vorbereiten seines Sohnes auf diesen Tag und seiner Positionierung hat Kossakovsky einen Raum und eine Zeit für eine filmische Wahrnehmung geschaffen. Mit seiner Antizipation hat er nicht vorgefertigte Welten erschaffen oder sich auf Ideen versteift, sondern ein Umfeld geschaffen, indem man sich fokussieren kann, in dem die Aufmerksamkeit für den Blick, die Menschen und die Welt gewährleistet ist. Wenn es im Zeitalter der völligen visuellen Überflutung mehr als jemals zuvor darum geht, im Kino eine Konzentration zu schaffen, eine Neugier des Blicks zu provozieren, dann ist dieser Ansatz ein goldener Kelch des Filmemachens. In diesem Sinn baut er in Svyato einen Kinosaal im Kinosaal und ermöglicht uns so seine Welt und unseren Blick zu fühlen. Es beginnt ein Wechselspiel zwischen dem verspielten, magischen Glauben an eine Illusion und jenem Bruch mit ihr, der uns klar macht, dass wir blicken, der uns klar macht, was wir sind und der uns einsam zurücklässt bis wir wieder glauben.