Diagonale 2015: Avantgarde-Rundschau

Tiniest Dreams von Randy Sterling Hunter

Die Reihe der Programme zum „Innovativen Kino“ gehören für mich bei der Diagonale zu den Fixpunkten. Man könnte sogar sagen, ich baue mein Programm rund um diese Avantgarde-Filmblöcke. Das liegt zum einen an meinem grundlegenden Interesse an der filmischen Avantgarde, und zum anderen, dass hierin (wie auch in der dokumentarischen Form) die besondere Stärke des österreichischen Filmschaffens liegt. Hinzu kommt, dass die Macher dieser Filme oft aus dem Bereich der Bildenden Kunst stammen, sich selbst sehr viel stärker als Künstler wahrnehmen als so mancher Spielfilmregisseur und dementsprechend exzentrisch daherkommen, was die Publikumsgespräche oft zu äußerst erquickenden Angelegenheiten werden lässt. In der Natur der Diagonale, als Festival, das einen Querschnitt des österreichischen Films bieten soll, liegt es natürlich, dass nicht jeder Film, der gezeigt wird ein Knaller sein kann, jene Werke, die mir besonders imponierten, will ich aber im Folgenden hervorheben (und dabei alphabetisch vorgehen).

back track von Virgil Widrich

back track von Virgil Widrich

Meine Hirnwindungen werden überbeansprucht beim Versuch über diesen Film zu schreiben, denn trotz Erklärungsversuchen des Kameramanns und Set-Fotografien habe ich nicht ganz verstanden, wie back track entstanden ist. Das Ergebnis ist eine lose zusammenhängende Geschichte, aus verschiedenen Ausschnitten von Filmklassikern, doch das Narrativ ist vernachlässigbar, denn es geht vielmehr um die technische Interpretation des Originalmaterials, die Widrich vornimmt. Eine Kombination aus Rückprojektionen, Spiegeln und Requisiten, mit dem Ziel ein möglichst eindrucksvolles 3D-Erlebnis zu schaffen, und das obwohl nur eine einzelne Kamera eingesetzt wurde, mit der im Stop-Motion-Verfahren aus leicht versetzten Perspektiven Bild für Bild abfotografiert wurde. Film als Konzeptkunst, denn das Wissen um den Arbeitsprozess vollendet erst den Eindruck, den der Film hinterlässt.

Black Rain White Scars von Lukas Marxt

Black Rain White Scars von Lukas Marxt

Die Skyline Hongkongs, im Vordergrund Vegetation, im Hintergrund Bürotürme eklektischen Baustils. Ein statisches Bild, die Kamera wird sich für die nächsten neun Minuten nicht bewegen, zunächst passiert auch im Bild selbst nichts außergewöhnliches, doch dann zieht rasch ein Gewitter auf, dass das Stadtbild mit einem grauen Schleier überzieht. Die zuvor sommerliche Atmosphäre wird zusehends von einer ungesunden Düsternis übermannt, die Bürotürme werden zu Raumschiffen und Phalli. Mittlerweile hat sich auch der Charakter der Tonspur verändert, denn der anfängliche naturalistische Begleitton, der ohne weiteres aus der unmittelbaren Nähe der Kamera hätte stammen können, hat sich zu einem abstrakten Hintergrundlärm entwickelt. Marxt fängt die nackte Welt ein und vermag es, sie ganz ohne Kamera- oder Montagetricks zu einer dystopisch-mysteriösen Schattenwelt zu verfremden.

EMBARGO von Johann Lurf

EMBARGO von Johann Lurf

Ein Film, der für uns alle in der Jugend ohne Film-Redaktion zu einem Highlight des Festivals zählte. Die Unschuld der ersten Sichtung lässt Aufnahmen eines Industriekomplexes in der Nacht vermuten, der von energetischer elektronischer Musik unterlegt wird und durch visuelle Brillanz besticht. Bei intensiverer Auseinandersetzung stellt sich heraus, dass es sich bei diesem Industriekomplex um Rüstungsfirmen handelt, die Lurf auch deshalb aus der Distanz filmt, weil es schlicht keine Möglichkeit gibt, ihr Inneres zu erkunden. Das „Embargo“ des Filmemachers entpuppt sich aber als Glücksfall, denn als geübter Erforscher ungewöhnlicher Architekturen kreiert Lurf eine angemessen gespenstische Atmosphäre und spiegelt so in der Form seines Films, den Charakter dieser zwielichtigen Orte.

Empört Euch! von Friedl vom Gröller

Empört Euch! von Friedl vom Gröller

Auch dieses Jahr war wieder eine Auswahl von neuen Filmen von Friedl vom Gröller zu sehen. Der spannendste unter ihnen, zeigt eine Würgeschlange beim Verschlingen ihrer Beute. Das ist erschreckend einfach und einfach erschreckend, Bilder roher Gewalt, aufgelöst in schwarz-weißen 16mm-Glück.

Exhibition Talks von Sasha Pirker und Lotte Schreiber

Exhibition Talks von Sasha Pirker und Lotte Schreiber

Eine Studie der Ausstellungsräume des Architekturforums Innsbruck, das in einer ehemaligen Brauerei untergebracht ist. Die ursprüngliche Nutzung des Gebäudes ist in seiner Architektur eingeschrieben und wirkt nach dem Funktionswandel höchst ungewöhnlich, lässt es doch von außen Blicke bis tief in das architektonische Skelett zu. Die Filmemacherinnen bieten ausschnitthafte Fragmente der verschiedenen Räume und auch einige Außenansichten, die von einem gesprochenen Kommentar begleitet werden, der über die Geschichte des Hauses aufklärt. Der Kommentar wirkt jedoch nie redundant, sondern lässt den visuellen Fragmenten genug Platz zur Entfaltung, sodass man den Film auch getrost als sinnliches Bildgedicht in grobkörnigem Schwarzweiß wahrnehmen kann. Zieht man jedoch den Kommentar hinzu, verlässt man den Kinosaal nicht bloß ästhetisch beglückt, sondern auch um ein Stück schlauer.

Into the Great White Open von Michaela Grill

Into the Great White Open von Michaela Grill

Ein geradezu monumentales Landschaftsbild aus Eisschollen, Wolken und Meer, das von einer herumstreifenden Kamera immer so erfasst wird, dass man sich nicht ganz sicher sein kann, was man eigentlich gerade zu sehen bekommt. Der harte Schwarz-Weiß-Kontrast, der stellenweise ins Negativ umschwenkt, das Treiben der Eisschollen und das Treiben der Kamera. Ein Tanz am schmalen Grat zwischen Realität und Traum, am schmalen Grat des Horizonts, der die endlosen Wassermassen vom Himmel trennt. Dazwischen wir, dazwischen die polare Kälte, die sich in den Bildern materialisiert, dazwischen die unendliche Nichtigkeit des Seins, die im Aufeinanderprallen so substantieller Mächte wie Schwarz und Weiß, Licht und Schatten oder Himmel und Erde schmerzhaft deutlich wird.

moon blink von Rainer Kohlberger

moon blink von Rainer Kohlberger

moon blink ist ein Sonderfall in diesem Artikel, denn eigentlich habe ich den Film gar nicht gesehen. Wegen technischer Probleme, einer anscheinend fehlerhaften DCP, sah ich rund die Hälfte des Films gar nicht so, wie sie hätte sein sollen. Der Festivalkatalog beschreibt den Film als ein „codegeneriertes Gewitter, das dem Auge zunehmend den Halt versagt.“ Dieses Gewitter entwickelte sich in jenem Screening, bei dem ich anwesend war, zu einer Art statischem Rauschen, dass man von alten Röhrenfernsehern kennt. Kein „vibrierender Strobo-Bombast“, sondern eine farbintensive Halluzination, die aber ebenfalls als „lost in space and far beyond“ bezeichnet werden kann. Zeugt es von der Qualität eines Films, wenn er noch immer auf eine gewisse Art funktioniert, auch wenn die geheimnisvollen Algorithmen im Inneren des Computers verrückt spielen?

Odessa Crash Test von Norbert Pfaffenbichler

Odessa Crash Test (Notes on Film 09) von Norbert Pfaffenbichler

Eine humorvolle Studie zur berühmten Treppenszene aus Panzerkreuzer Potemkin. In unterschiedlichsten Versuchskonstellationen lässt Pfaffenbichler eine bemitleidenswerte Babypuppe die rasante Fahrt bergab nachspielen. Dabei wird deutlich, dass ein Kinderwagen keineswegs in geordneten Bahnen bergab fährt, sondern sich die Fahrt zu einem wilden, bockigen Ritt entwickelt, den mit der Kamera einzufangen, den Filmemacher vor einige Schwierigkeiten stellt – denn wie hält man diese Dynamik, diese Gewalt fest? Pfaffenbichler bedient sich ungewöhnlicher Kamerapositionen und einiger Montagetricks, die dem großen Sergei Eisenstein alle Ehre Wert sind.

Tiniest Dreams von Randy Sterling Hunter

Tiniest Dreams von Randy Sterling Hunter

Ein kunterbuntes stummes Kurzporträt einer Frau im Garten, gefolgt von einem kontraststarkem Musikvideo in Schwarzweiß mit imposanten Mehrfachbelichtungen. Zuerst also ein Musterbeispiel an innovativer Postproduktion, gefolgt von einem in der Kamera geschnittenen Werk allerhöchster Handwerksgüte. Hunter bewegt sich in beiden Fällen auf den breit ausgetretenen Pfaden der Avantgardefilm-Geschichte irgendwo zwischen Len Lye und Kenneth Anger, ohne sich jedoch sorgen zu müssen, in diesen Fußstapfen zu versinken.

Video1 von Kurdwin Ayub

Video1 von Kurdwin Ayub

Der Lauf der Dinge wird zeigen, ob die selbstreferentiellen, ironischen und medienkritischen Filme von Kurdwin Ayub Werke von großem künstlerischem Gehalt sind, oder bloß die kleinen naiven Spielereien, als die sie sie präsentiert. Ayub stellt sich in diesen Arbeiten radikal zur Schau, überlässt sie aber dem Festival- und Kunstmarkt, anstatt sie, ihren Inspirationsquellen gleich, ins Netz zu laden. Dahinter steckt mehr Berechnung als sie zugeben will, und wenn sie sich mit Weinglas und gelebtem Desinteresse dem Publikumsgespräch stellt, spielt sie ihre Fassade so eindrucksvoll weiter, dass man geneigt ist zu glauben, dass das alles womöglich doch nicht mehr als postmodernes Herumgealbere ist. Ich glaube aber, hinter diesem exzentrischen Gehabe steckt sehr viel mehr als jugendliche Wurschtigkeit – selbst mehr als eine feministische Agenda oder eine ironische Kritik an der herrschenden Netzkultur – was genau, diese Filme aber ausmacht, darüber bin ich mir selbst noch nicht sicher.

Diagonale-Dialog 3: Steckenbleiben

House and Universe von Antoinette Zwirchmayr

Tag 3 auf der Diagonale und nicht mehr ganz so frisch und munter machen sich Patrick und Rainer auf ein Neues daran zu ergründen, worauf es eigentlich ankommt.

Patrick: Ich habe jetzt schon dreimal Neil Young auf der Toilette gehört. Das ist beruhigend. Vor allem, wenn man aus dem Chaos des Schubertkinos kommt. Ich finde die Organisation mit den Tickets dort ja eigentlich untragbar. Aber vielleicht ermöglicht es die Architektur nicht anders. Trotzdem fehlt da auch eine Klarheit, wer sich wo und wann anstellen soll und wer vielleicht besser nicht da rum steht. Egal. Wo bist du gestern stecken geblieben?

Rainer: Für große Massen ist meinem Gefühl nach ohnehin nur das UCI ausgelegt, sobald eine Vorstellung ausverkauft ist, wird’s eigentlich bei allen knapp. Aber gehe ich richtig in der Annahme, dass sich deine Frage auch auf Filme bezog?

Patrick: Lass deiner Fantasie freien Lauf.

Rainer: Ich bin in einem Pub steckengeblieben und dementsprechend ist meine Fantasie noch am ausnüchtern. Ursprünglich wollte ich eigentlich ins Festivalzentrum gehen, aber dort ist es aus den gleichen Gründen, wie du sie angeführt hast nicht auszuhalten – zu viele Menschen, zu wenig Platz und man muss sehr lange anstehen um an Getränke zu kommen, die ohnehin zu teuer sind.

EMBARGO von Johann Lurf

EMBARGO von Johann Lurf

Patrick: Ja…und hast du dich in den Kinos wohler gefühlt?

Rainer: Bedingt. Die beiden Programme, in denen wir zusammen war haben mich nicht wirklich vom Hocker gehaut. Außer Johann Lurfs EMBARGO, fand ich da alles eher mau bis banal, dafür waren die beiden Filme von Mia Hansen-Løve sehr solide. Ich bin mir noch nicht sicher ob ich Eden verzeihen kann, dass er etwas disparat durch die zwanzig Jahre seiner Handlung hetzt und dabei zu oft Texteinblendungen à la „Zwei Jahre später“ verwendet, aber von der inszenatorischen Intensität hat er mich sogar mehr gepackt als Le père de mes enfants – beides in jedem Fall sehr persönliche, authentische (was auch immer das heißen mag) und demütige Filme.

Patrick: Ich fand im Programm mit Lurfs faszinierendem EMBARGO auch noch House and Universe von Antoinette Zwirchmayr hervorstechend. Sie hat da sehr zärtliche Bilder für die Nähe von Natur und Mensch gefunden, die sich über Formen und Assoziationen in einer Art Harmonie bewegen, die mich letztlich an Fotos von Saul Leiter erinnert haben. Nur spürt man bei ihr den Wind. Ich sehe hier allgemein sehr viele Sonnenaufgänge in den Filmen. Da bin ich mir aber nicht sicher, ob die demütig sind oder sogar forciert. Ich glaube, dass Mia Hansen-Løve vor allem demütig gegenüber der Realität ist mit ihren Filmen. Ein Sonnenaufgang wäre bei ihr keine große Symbolik sondern wohl einfach nur ein schöner Moment im Treiben der Welt.

Rainer: Das hast du schön gesagt. Was hältst du allgemein von ihr?

Patrick: Ich habe erst die Hälfte ihres Werks gesehen. Ich denke, dass sie eine sehr gute Filmemacherin ist mit ganz spannenden Entscheidungen. Man kann bei ihr beobachten, wie man eine Szene anfängt, wo man kleine Regungen finden kann, die vielleicht viel mehr über die Figuren sprechen als die großen Gefühle und man kann sehr gut sehen wie Bewegung vor und mit der Kamera etwas flüssiges bekommen kann, dass man als lebensnah bezeichnet. Aber mir fehlt manchmal ein zweiter Schritt. Bei ihr ist es oft: So ist das Leben! Das mag ich, aber wenn ich mir ganz ähnlich (damit meine ich mit Ellipsen, Natürlichkeit, Fluss) arbeitende Filmemacher wie Maurice Pialat oder Claire Denis ansehe, dann spüre ich da mehr Ebenen. Bei Denis sind das Körper zum Beispiel, bei Pialat eine Weltsicht und die schwimmen da einfach mit bei denen. Aber das ist vielleicht ein unfairer Vergleich. Es ist jedenfalls bewundernswert, was sie da macht. Und ich musste auch an deine Kommentare gestern zu Wie die anderen denken, da Tout est pardonné in Wien beginnt. Diese Faszination Orte zu sehen, die man kennt. Eigentlich unglaublich, aber da ist das Kino noch wirklich unschuldig. Da reicht es jedem plötzlich nur die Dinge anzusehen. Eigentlich absurd, weil man sie ja kennt.

Rainer: Diese Anziehungskraft bekannter Orte ist tatsächlich mysteriös. Ich würde sagen, da schwingt einerseits stolz mit, dass sich ein Filmemacher mit dem Ort befasst, an dem man lebt, oder den man kennt und andererseits das Fesselnde daran, diesen Ort über den Blick eines Anderen zu erfahren. Die feinen Unterschiede von Fremd- und Selbstwahrnehmung machen es denk ich aus.

Eden von Mia Hansen-Løve

Eden von Mia Hansen-Løve

Patrick: Da empfinde ich dich als sehr idealistisch, wobei ich hoffe, dass ein Funken Wahrheit mitschwingt. Ich glaube aber doch, dass es da um ganz einfache Dinge wie Verbindung mit dem, was man sieht und letztlich Identifikation geht. Die Bereitschaft sich mit etwas Fremden auseinanderzusetzen geht bei vielen leider nur so weit wie sie das Fremde kennen. Dann wird es sehr spannend, wenn jemand wie Manfred Neuwirth in Aus einem nahen Land diese Nähe derart verfremdet. Zeitlupen, asynchroner Ton. ich habe mich beim Film gefragt, ob das eine subjektive Wahrnehmung des Ortes ist. In seinem Film ja nicht mal durch die Augen eines Fremden sondern eines Mannes, der dort herkommt.

Rainer: Ein Film, den ich leider nicht gesehen habe, aber was du beschreibst klingt sehr spannend. Wobei ich zugeben muss, dass ich schon etwas ausgelaugt bin von diesen dokumentarischen, formalistisch angereicherten Filmen.

Patrick: Ja, ich verstehe das, aber ich glaube nicht, dass man das allgemein sagen kann. Der Punkt mit Form ist doch der (und es ist kein Zufall, dass wir hier auf der Diagonale darüber sprechen): Da gibt es die Form, die der Inhalt ist und die Form die mit oder fruchtbar gegen den Inhalt arbeitet. Dagegen kann nichts einzuwenden sein, denn Film ist immer auch Form. Das Problem entsteht dann, wenn die Form derart penetrant arbeitet, dass sie die Realität nicht zulässt wie zum Beispiel in Eden’s Edge und alles zu bloßen Ideen verkommen lässt statt zu Beobachtungen und Ästhetik. Neuwirth ist aber ein Beobachter und er findet seine Form erst mit den Orten statt sie auf den Ort zu setzen. Daher funktioniert das glaube ich.

Rainer: Ich wollte das gar nicht per se schlechtreden, sondern ein bisschen meine persönliche Filmauswahl hier am Festival kritisieren. Da ich der Meinung bin, dass im Dokumentar- und Avantgardebereich in Österreich interessantere Dinge entstehen, lege ich so meine Schwerpunkte und verzichte weitestgehend auf Spielfilme. Wenn dann aber mehrere Filme dieser Art (also formal experimentierfreudiger Werke) zusammenkommen, kann das schon anstrengend werden, zumal es natürlich nicht immer hundertprozentig aufgeht.