“In other words, this morning, I went to church alone”

Forum Expanded Gruppenausstellung: An Atypical Orbit

von Florian Weigl

Der Eingang ist ein Abstieg. Ich scanne mein Ticket und gehe im sanften Gefälle einen Schacht hinunter, der mich tiefer unter die Erde des ehemaligen Krematoriums im silent green trägt. Der Tod ist hier längst Event geworden, nahtlos eingefädelt in die Pragmatik eines Kulturquartiers. So wie das silent green mit seiner Kuppelhalle seit seiner Einweihung in 2013 ein fester Spielort des Forum Expanded ist, ist auch die Betonhalle — ein unterirdischer Hallenkomplex unter dem silent green — seit ihrer Fertigstellung in 2019 fester Ort für die Gruppenausstellung. Das Forum Expanded hat sich mit seiner Gründung 2006 vor allem den Spielweisen des Films verschrieben, die dessen Zwischenräume ausloten. Dies meinte immer auch Installationen, Videoarbeiten und eine allgemeine Nähe zu den Galerien als Orte, die sich mit dem Kino überschneiden. Dieses Jahr steht die Ausstellung unter dem Titel An Atypical Orbit und beschäftigt sich mit „künstlerische Positionen, die sich mit zeitlichen und räumlichen Gräben konfrontiert sehen, die überbrückt oder ausgehalten werden müssen.“

Die erste Installation ist am Ende des Schachts über den Eingang zu der Halle projiziert. Man sieht ein mittelaltes vietnamesischen Paar, auf einer Matratze träumen. Es sind langsame, schlafsichere Bilder, die einen beruhigen, aber in der Weite des Gangs etwas verloren gehen. (Es handelt sich wie ich auf dem Rückweg herausfinde um Dreams – der ersten von fünf Arbeiten Tenzin Phuntsongs.) Etwas versteckt in der Ecke und nicht offiziell Teil des Programms wartet zuerst eine Installation von Michael Snow, Puccini Conservato, die als eine posthume Würdigung für den kürzlich verstorbenen Filmemacher und Künstler ausgestellt ist. Das Werk wird hier tonlos auf einem alten 4:3 Röhrenfernseher gezeigt. In dem Film spielt Snow etwas Puccini auf einem PANASONIC-CD-Spieler und versucht, den Rhythmus der Musik mit seiner handgeführten Kamera nachzuahmen, ehe er Versatzstücke von Naturaufnahmen zwischenschneidet: eine Blumenwiese, Brennholz im Kamin. Nimmt man diesem Konzept jedoch die Musik, bleibt nur eine schnelle Abnutzung von Oberflächen, die sich nur begrenzt von selbst poetisieren.

Im Foyer mit seiner verlassenen Bar ist ein Tribut für den 2022 verstorbenen Takahiko Iimuras aufgebaut. Eine Sechs-Kanal-Videoinstallation versucht, das erste vom Arsenal aufgeführte Programm seiner Werke zu rekonstruieren. Iimura war einer der Pioniere der Videotechnik, das Arsenal aber damals noch nicht in der Lage, diese auf eine Leinwand zu projizieren. So wurden kurzerhand sechs Röhrenfernseher angeschafft und miteinander verbunden, um die Werke zeigen zu können. Eine Anordnung, die auch im silent green reproduziert wird. Gezeigt werden vier Arbeiten – A Chair, Blinking, Time Tunnel und I Am (Not) Takahiko Iimura, I Am (Not) Akiko Iimura – von denen ich Blinking, einen zweiminütigen Flickerfilm, der die üblichen Fernsehtestbilder in seine Frequenz einarbeitet, am besten finde. I Am / I Am (Not) ist die Art von struktureller Arbeit, die in der Formstrenge ihrer Konzeption ihre Schönheit und Schwäche hat. Die Kamera rotiert um Takahiko und Akiko Iimura, während jede Einstellung mit einem Sprechakt gleichgesetzt wird, der die Identität entweder negiert, auffängt, spiegelt, oder auf den Zuschauer abschiebt. Der Witz ist, dass es keine lineare Korrelation zwischen der Einstellung und der Einschreibung gibt, sondern jede Perspektive einmal durchgespielt wird, was das Endergebnis aber auch wortwörtlich um sich selbst kreisen lässt. Time Tunnel, der mit 32 Minuten längste Film im Programm, verfolgt einen ähnlichen strukturellen Ansatz. Als Zeitreisefilm mit Licht und Countdown, entfaltet er schnell einen hypnotischen Sog. Es sind die Verstolperer, die Ungereimtheiten in denen sich der Rhythmus zurücksetzt und neu formatiert, die mich einnehmen. Menschen kommen, setzen sich, gehen wieder. Erst nach etwa zwanzig Minuten löse ich mich, gehe weiter in den Hauptraum und bin überfordert.

Time Tunnel: Takahiko Iimura at Kino Arsenal, 18. April 1973

Der Ton ist ein Zusammenprall aller Werke. Er schwimmt von einer Installation zur anderen, mischt sich ein, zieht dann auch wieder ab, nur um an anderen Orten erneut überraschend aufzutauchen. Es ist diese Gleichzeitigkeit an Gefühlen und Eindrücken, die es auszuhalten und einzuordnen gilt. Die Werke sind jeweils auf einer der drei Wände verlagert. Links Eduardo Williams A Very Long Gif, mittig Wali Raads Comrade leader, comrade leader, how nice to see you und rechts die verbleibenden Arbeiten von Tenzin Phuntsong; eine Zwei-Kanal-Videoinstallation namens Father Mother und drei Einzelkanalinstallationen (Summer Grass, Dancing Boy und Achala). Williams Werk ist mit Abstand das bekannteste der drei Künstler und mit 72 Minuten auch das längste Werk der Ausstellung. Es ist entgegen des Titels kein .gif, sondern eine Videoinstallation mit drei teilweise changierenden Kreisen. Der größte, mittlere Kreis zeigt Aufnahmen einer pillenförmigen Kamera, die Williams geschluckt hat und die ihren Weg durch seinen Verdauungstrakt macht. Die beiden kleineren Kreise sind Loops von Alltagsszenen, aufgenommen mit einem Teleobjektiv. Ein Wechselspiel der Intimitäten. Die Aufnahmen haben einen Grad der Abstraktheit, der die Verortung unmöglich macht, ohne komplett die Körperlichkeit aufzugeben. Hier wird das Bild im wörtlichsten Sinne produziert.

A Very Long Gif

Die Arbeit wurde wegen der abstrakten Qualität der Körperaufnahmen mit Lucien Castaing-Taylors und Véréna Paravels De Humani Corporis Fabrica verglichen, findet im Kontext der Ausstellung aber seine natürliche Spannung im Dialog mit Phuntsongs Einzelinstallationen, zu denen ich nach einer Weile hinüberwandere. Braucht Williams für seinen Intimitätsentwurf die Größe der Galerie, bleibt Phuntsong bei den Smartphones. Durch das einjährige Verbot von WeChat in den USA, das die Kommunikation zwischen Phuntsong und seiner Familie abschnitt, wird das Alltägliche hier zum Schatz erhoben und die Kästen teilweise mit Jade verziert. Die Aufnahmen haben eine Unmittelbarkeit, die seinen Videoarbeiten durch ihre Bildgröße schlicht fehlt. Meine liebste dieser Aufnahmen ist Summer Grass. Man sieht Eindrücke aus der Mongolei, das Weideland, die Schafe, die Herdenhunde, die Arbeit. Einmal gibt es einen Cut und wir sehen eine handgehaltene Einstellung, während die Kamera auf dem Pferd mitreitet. Das Kernproblem in der Rezeption ethnographischer Arbeiten ist oft, dass man tendenziell mehr in den Bildern lesen will, als was sie eigentlich zeigen wollen oder können. Ich lächle und schaue zurück zu A Very Long Gif, wo der Körper nun dem Ozean gewichen ist, in einer noch größeren Bewegung aufgeht. Die beiden äußeren Kreise wechseln Positionen, entfernen sich langsam aus dem Frame, doch die Wellen bleiben beständig. Dann wird der Bildschirm schwarz. Der Film startet von vorne. Ich sehe einen Raum in einem Krankenhaus, Williams und seinen Partner, ein Doktor. Die pillenförmige Kamera wird dem Filmemacher gereicht, ein kurzes Lächeln, dann ist sie geschluckt und die Körperwelten beginnen von vorne. Ich frage mich, wo die Grenzen dieses „Aushaltens“ sind, wo die Arbeiten sich erlauben zusammenzubrechen und nicht mehr von vorne beginnen, aber finde keine Antworten.

Zwischen den Arbeiten Williams und Phuntsong, spielt Wali Raads Comrade leader, comrade leader, how nice to see you ein einminütiger Zwei-Kanal Loop. Raad projiziert Wasserfälle an die Wand, die von der Decke zum Boden fließen und wegen ihrer Größe bereits aus der Vorhalle erkennbar sind. Nähert man sich ihnen, erkennt man kleine Pappstatuen ehemaliger Anführer, die am Boden positioniert sind und von der Wassermenge erschlagen wirken. Die Tafel auf der Seite erklärt, dass die zahlreichen Milizen, die sich während den libanesischen Kriegen formten, die Wasserfälle nach den politischen Anführern der Länder benannten, die sie unterstützen. Als sich die Allianzen änderten, wurden die Wasserfälle schlicht umbenannt. Wieder und wieder und wieder. Heute sind die Wasserfälle im Lebanon als „Fickle Falls“ bekannt. Raad versucht bewusst nicht Bedeutungshoheit zurückzugewinnen, sondern die Ironie dieses Unterfangens aufzuzeigen. Eine kleine, große Arbeit.

Comrade leader, comrade leader, how nice to see you

Etwas abgeschirmt am Ende des Rundgangs wird Tamer El Saids Borrowing A Family Album gezeigt. El Said arbeitet dabei mit Erinnerungsformationen, versucht das Persönliche im Familienarchiv einer griechischen Familie zu finden. El Said hatte eine Schwester, Eman, die, als sie vier oder fünf Jahre alt war, verschwand. Spielzeug, Bilder, Name. El Said war sich ihrer Existenz deswegen lange Zeit unsicher, erfand neue Erinnerungen und Projektionsflächen, um sie am Leben zu halten. Als er 14 wird, erwähnt ein Verwandter versehentlich ihren Tod. Borrowing A Family Album spielt mit diesen Ersatzerinnerungen, in denen die eigene Geschichte in den Dokumenten anderer fortgeschrieben wird.

Die Installation selbst ist raumgreifend und komplex. Es ist eine Sechs-Kanal-Videoinstallation von Super8-Aufnahmen des Familienarchivs. (Ein Kind lernt laufen. Der Vater lächelt breit und führt es an den Händen.) Ein Fototisch mit Aufnahmen aus dem Familienalbum und zwei kleinere Loops. Darauf ebenfalls zwei Fotoalben mit Abzügen aus dem Familienalbum und die Bitte an die Besucher, ihre Assoziationen zu den Bildern zu teilen. Die Fotoalben sind fast bis zum Ende hin gefüllt. In Chinesisch, Koreanisch, Deutsch, Spanisch, Italienisch und mehr oder weniger festem Englisch. Manche beschreiben nur die Bilder, andere schreiben aus der Perspektive der griechischen Familie, viele werden persönlich. Ich will diesen Beitrag, darum auch mit fremden Worten schließen. Sie gehören einem roten Buntstift, der circa fünf Einträge in dem Fotobuch hinterlassen hat. In Chinesisch und Englisch. Manchmal sogar in Ergänzung oder als Kommentar zu fremden Einträgen. Die Perspektive ist hier grammatikalisch nie so klar: es wird sowohl fantasiert als auch projiziert. Erzählt und erfunden. Der Eintrag und dessen Schlusszeile, die auch den Titel dieses Beitrags ausmacht, ist zu einem der bemerkenswertesten Bilder geschrieben worden. Ein Kind balanciert auf der Stange einer Brücke. Der Schritt ist gelangweilt, die Hände sacht an den Seiten gehalten. So selbstverständlich, als könnte es nie stolpern oder fallen. Der Text erzählt romantisch von der Freiheit und der Einsamkeit, beschreibt sie als allumfassend und uns strukturierend. “I find breath, I catch air. I see myself fully. Each silent moment. – ”

Borrowing A Family Album

Hin und wieder, Vergessen im Kino

Wann beginnt man, über einen gesehenen Film nachzudenken? Zumeist legen sich schon während des Abspanns andere Gedanken über die abflachende Konzentration. Weniges stiftet dazu an, unmittelbar nach dem Verlassen des Kinos, etwas zu notieren und festzuhalten. Der Film bleibt an seinem Ort, während ich mich von ihm entferne. Das Gespräch mit einem Freund im Anschluss mag vielleicht eher ein gegenseitiges Versichern sein, dass nun etwas aufgehört hat und etwas anderes beginnt. Oftmals wird dabei gerade das Ende des Films zum Thema gemacht. Etwas persönliches über die verbrachte Zeit mit dem Film zu sagen, fällt in diesem Moment alles andere als leicht. Doch irgendwann kommt der Film zurück, vielleicht aus Schuldbewusstsein, oder weil man erst etwas verstehen musste, bevor die richtigen Worte dafür gefunden waren. Das kann erst in einem anderen Film passieren, vor dem Schlafen oder im Zug nach Hause.

Versucht man sich an etwas Bestimmtes zu erinnern, will es meist nicht gelingen. So beginnt Unutma Biçimleri, Burak Çeviks Film auf der Berlinale 2023. Ein Fischer steht vor einem schmalen Eisloch. Nichts außer das bodenlose Schwarz umringt von schimmerndem Weiß ist zu sehen. Auf der Wasseroberfläche tänzelt eine Pose, an der ein Netz hängt. Fische sollen gefangen werden, doch gemeint sind Träume – die Erinnerung an Träume. Um die Flüchtigkeit des Traums zu bewahren, muss man ihn beredt werden lassen. Man muss Worte wählen, die geeigneter und weniger geeignet erscheinen. So tastet man sich an etwas heran, das man eigentlich nicht wirklich gesehen hat. Einiges ist restlos verloren, aber ein trübes Nachbild – manchmal eher Nachhall – blieb noch haften. Was der Film hier von Beginn an womöglich selbstreflexiv exponiert, entspringt dem Gespräch zwischen Nesrin und Erdem – einem Paar, das versucht sich an seine Beziehung und Trennung zu erinnern. Ihr Austausch wird ungeahnt intim, nicht wegen ausgesprochener Geheimnisse, sondern wegen ihrer Ungereimtheiten. Beide Menschen haben gänzlich verschiedene Erinnerungen an dieselben Begebenheiten. Erst in dem das Paar eine gemeinsame Sprache dafür findet, treten diese gegensätzlichen Erinnerungen zueinander in Beziehung. Vor allem für diese Suche im Dunkeln interessiert sich Çeviks Film. Ebenso könnte sich das Paar über einen Film unterhalten, den sie gesehen haben. Dort, wo ihre Erinnerungen an das Gesehene auseinanderklaffen, würden sie womöglich erkennen, dass beide einen anderen Film gesehen haben. Jeder für sich einen Film im Verborgenen mit anderen verschwiegenen Sehnsüchten und Ängsten. Es wäre nicht weniger intim.

Vielleicht hätte der Film hier stehen bleiben können, doch er zieht weiter und schichtet Material auf Material. Ganz so wie die Stadt – Istanbul, um die Unutma Biçimleri unaufhörlich kreist. Die Kamera verliert sich im Hafen, sucht dort nach der Geschichte des Ortes und findet lediglich Überreste statt Relikte. Es sind kleine Beobachtungen, wie der Rost an einem Schiff oder Arbeiter bei ihrer Pause an der Kaimauer. Alles Bilder, wie leere Hüllen, die nicht für sich selbst sprechen können, sondern erst lebendig werden müssen. Von Marc Augés Vorstellung (Les Formes de l’oubli), Erinnerungen seien wie Pflanzen, die sich immer höher überwuchern und verdecken, will auch der Film etwas über sich selbst erfahren. Kann sich ein Film erinnern oder vergessen? Filme, die mit einer essayistischen Form sprechen, wagen sich gern zu dieser Selbstüberschätzung hinaus. Sie laufen Gefahr, sich mit ihrem eigenen Interesse zu verwechseln. Also ist es Selbstvergessenheit? Weder kann sich ein Film erinnern noch vergessen, eher noch nachahmen beziehungsweise dazu anstiften. Dazu braucht er sein Gegenüber. Das Publikum, das Unutma Biçimleri erst gegen Ende wieder anspricht. Es drängt sich die Frage auf, wem Erinnerungen überhaupt gehören, was umgekehrt auch bedeuten könnte, ob Vergessen notgedrungen ein Verlust sein muss.

Spürbar wird das Erinnerte oder Vergessene erst, wenn es sein Gegenüber findet, beziehungsweise verfehlt. Vielleicht lässt sich das nur im Kino begreifen, und doch reicht es auch darüber hinaus. In Tatsunari Otas Film Ishi ga aru begegnen sich eine Frau und ein Mann ohne Namen in einem Flussbett. Ohne dass etwas Wichtiges passiert oder viele Worte gewechselt werden, wirkt es, als seien beide plötzlich aufeinander angewiesen. Das Warum muss nicht beantwortet werden, es genügt die Gewissheit des anwesenden Gegenübers. Sie teilen einen Nachmittag bis zur Dämmerung, während sie gemeinsam die karge Landschaft auf eine spielerische, naive Weise erkunden und immer wieder flussaufwärts oder -abwärts wandern. So selbstlos aber doch selbstzweckhaft, wie diese Beziehung zweier fremder Menschen entsteht, geht sie auch wieder auseinander. Irgendetwas bleibt, denn ihre Trennung, wenngleich ohne Abschiedsworte, fällt nicht leicht. Einige Momente später zeigt der Film den Mann in seinem Haus am Schreibtisch; er versucht, das Erlebte in seinem Tagebuch festzuhalten und zögert lang. So lang, als könnte man in dieser Pause seine eigenen Erinnerungen und Wünsche verstecken. Im gleichen Moment findet die Frau ohne Namen einen Ort, an dem sie den Akku ihres leeren Telefons aufladen kann. (Kaum etwas könnte gegenwärtig greifbarer beschreiben, wie man in einer Welt verlorengehen kann, die selbiges nicht mehr zulässt.) Die Frau schläft ein und erwacht am nächsten Morgen. Aus dem Zug zurück nach Tokio erhascht sie mit einem flüchtigen Blick den Mann erneut im Flussbett, wo er nach einem verlorenen Stein vom Vortag sucht. Was danach passiert, bleibt der Sehnsucht überlassen.

Beide Filme handeln von zwei Menschen, die sich begegnen und zurückschauen. Sowohl Ishi ga aru als auch Unutma Biçimleri wollen zwar vom Altern nicht viel wissen, doch es lässt sich unaufhörlich in ihnen wiederfinden. Unaufgeregt, in regelmäßigen Rhythmen reihen sich Bilder aneinander, so als blieben sie vom Lauf der Zeit außerhalb des Kinos unberührt. Doch anstatt weiterzugehen, besinnen sie sich vielmehr darauf, an einen verlassenen Ort zurückzukehren, um dort etwas Verlorenes aufzusuchen. So als würde man zum zweiten Mal in ein Gesicht blicken und erkennen, es hätte vorher anders ausgesehen. Dabei besteht die Intimität des Alterns vielleicht weniger darin, die Spuren der Veränderung zu entdecken, sondern etwas zu erahnen, das eigentlich dahinter liegt. Erkennt man, um was es sich handelt, gerät die Suche ins Stocken. Es breitet sich eine seltsame Beklemmung aus, über das Gesehene zu sprechen. So steht man nach Ende eines Films wieder vor dem Kino und stellt sich für einen Augenblick die absurde Frage: Was habe ich überhaupt gesehen? Aber ich schweige oder spreche von etwas Unbedeutendem.

*

Neulich begegnete ich auf einer Straße einer Frau, die für eine Umfrage von mir wissen wollte, ab wann man alt und wie lang man jung sei. Erst musste ich schmunzeln, da ich mir diese Frage selbst hin und wieder stelle, mich also ertappt fühlte. Meine Antwort schien sie wohl ebenfalls zu amüsieren, vielleicht nicht, weil es ihr ähnlich erging, sondern weil wir wohl gänzlich unterschiedlicher Auffassung waren. Im Kino kann man etwas sehen, das nicht der eigenen Wahrnehmung oder Erfahrung entspricht. Trotzdem ist es möglich, sie für eine bestimmte Zeit verstehen zu lernen. Auch wenn sich das Kino mit seinem Publikum immer wieder erneuern und Zurückliegendes vergessen will, gehört das Altern – also Suchen – dazu.

Alterserscheinungen

Es gibt Filme, die wir an irgendeinem Punkt im Laufe unseres Lebens ins Herz geschlossen und in den Kammern „schönes Erlebnis“, „wichtiger Film“ oder „formal spannend“ verwahrt haben. Diese Bilder und Töne trafen zu einer bestimmten Zeit einen Nerv, der eine drängende Nähe zu unserem persönlichen Befinden, brisanten gesellschaftlichen Themen oder einer gerade erst aufblühenden Entdeckung von filmischen Herangehensweisen hergestellt hat. Die besondere Beziehung zu diesen Filmen entstand zu einem Zeitpunkt, der kurz darauf – das Grundprinzip der Zeit liegt schließlich in ihrem Vergehen – schon immer bereits unseren vergangenen Ichs angehörte. Dieser Film und das Ich haben eine prägende Zeit miteinander erlebt, sie sind quasi lebensabschnittsverpartnert. Aber woran ist uns am meisten gelegen – an einer Aussage, an einem Bild, an einer Emotion – was hat uns damals begeistert, erregt, aufgeregt? Eine Begegnung Jahre oder gar Jahrzehnte nach dem letzten Aufeinandertreffen kann wie das Wiedersehen einer alten Liebe sein: herzerwärmend, voller Sehnsucht, ernüchternd oder enttäuschend.

Weil viele Kulturkritiker*innen ihre romantische Ader (und damit meine ich auch die Liebe zu einzelnen Momenten und spezifischen Formen von Filmen) selten zur Schau stellen, fragen sie bei einer solchen Wieder-Begegnung mit filmischen Vertrauten vielleicht „Und, ist der gut gealtert?“ Unter Filmrestaurator*innen mag diese Frage passionierte Diskussionen über den Zustand des Materials hervorrufen, aber im Falle der Kritiker*innen entsteht oft eine vernunftorientierte Spannung zwischen Ratio und Emotion. Die Seherfahrung wird nüchtern in Worte gepackt und die kulturelle Prägung urteilt über die ästhetische Erfahrung mit. In dem Moment, in dem ein Film gesellschaftliche Kontexte sichtbar werden lässt, wird die Altersfrage lauter. Die Entscheidung bei der Frage zwischen gutem und schlechtem Altern – alles zwischen diesen beiden Polen wirkt eher uninteressant – fällt meist zugunsten der Ratio aus, die persönlichen Emotionen schweben als Faktor vielleicht mit, sollten sich aber lieber in inoffiziellen Gefilden bewegen. Als gut gealtert erkläre ich einen Film, weil ich ihn selbst noch so spüre wie früher, sondern viel mehr, wenn ich seine gesellschaftspolitisch offene Haltung erkennen kann, die die Relevanz seines Hineinreichens in die Gegenwart unterstützt. Lese ich auf der erzählerischen Ebene stark konservative Werthaltungen heraus, mögen diese zwar als Indikator einer bestimmen Zeit und politischen Richtung für den historischen Blick interessant werden, aber nicht mit dem liberalen Fortschrittsblick meiner gesellschaftsoptimistischen Seele einhergehen. Die Feststellung eines guten Alterns bezieht sich also viel weniger auf eine messbare Distanz zum Zeitpunkt der Entstehung, sondern erweist sich als Spiegel gegenwärtiger Themen, die in der Vergangenheit schon einmal auf eine ähnliche Weise erfahrbar waren. Nicht die Filme verändern sich, sondern die Welt und unsere persönlichen Mikrokosmen, in denen wir sie erleben. Aber wohin gelangen die Emotionen, mit denen wir noch einmal den Geschmack von Nostalgie auf der Zunge spüren? Sammeln sie sich mit dem Prozess des Alterns an, um heimlich die Herzkammern zu befüllen und in ungeahnten (Film-)Momenten plötzlich hervorzuquellen? Gerade Filme, mit denen wir aufgewachsen sind und die uns besonders geprägt haben, konfrontieren wir oft vorsichtig mit der Altersfrage. Es besteht die Gefahr, sich von diesem Teil unseres alten Ichs mit Trennungsschmerz zu lösen, denn das Ich ist nicht mehr, wie es mal war. Doch wohin mit diesen Filmen, die einmal Teil von uns selbst waren, von denen wir uns eigentlich nicht ganz trennen wollen, die wir aber auch nicht mehr so schätzen und lieben wie einst? Wie verändert sich unser Umgang mit Emotionen mit fortschreitendem Alter? Wie begegnen wir unseren Lieblingen von damals? Ich schreibe von einem wir, weil ich recht sicher bin, mit meiner Erfahrung nicht alleine zu sein.

Für die Retrospektive „Young at heart – Coming of Age at the Movies“ der diesjährigen Berlinale wählten 26 Filmschaffende ihre „persönlichen Lieblinge“ unter den Coming-of-Age-Filmen aus. Viele von ihnen mögen hier ihrem vergangenen Ich wiederbegegnet, erneut berührt worden oder enttäuscht gewesen sein. Eine andere Emotion, die uns beim Wiedersehen mit Filmen begleiten kann, sind Wut oder Frustration. Wut, weil wir so viel Zeit mit diesen Filmen verbracht haben, deren Werthaltungen, die wir längst ablehnen, uns persönlich beeinflusst haben. Frustration, weil wir in diesen Filmen unserem alten Ich begegnen und es am liebsten mit anderen Filmen, die wir jetzt ästhetisch oder inhaltlich weit mehr schätzen, konfrontieren würden, von denen wir damals aber einfach nicht wussten oder zu denen wir keinen Zugang hatten.

Céline Sciamma entschied sich im Rahmen der Retrospektive für Martha Coolidges Not A Pretty Picture aus dem Jahr 1976. Sie begründete, dass sie das Werk der US-Amerikanerin als Teenagerin selbst gern gesehen hätte. Kristen Stewarts Entscheidung beispielsweise fiel auf eine Filmerzählung, die sie als Mädchen tatsächlich verehrte: Now and Then von Lesli Linka Glatter, der knapp zwanzig Jahre später erschien. Ich habe beide Filme erst im letzten Jahr gesehen und wäre ihnen, genau wie die beiden Filmemacherinnen, auch gern früher, mit meinem alten Ich begegnet. Doch hätten mich Not A Pretty Picture und Now and Then im Teenagerinnen-Alter ebenso nachhaltig beeindruckt, sodass ich sie als „wichtige Filme“ oder „schöne Erlebnisse“ abgespeichert hätte? Gibt es Filme, für die wir den Moment verpasst haben? Können wir Filme zu spät sehen? Mein gealtertes Ich wird niemals eine Antwort auf diese Frage geben, sondern lediglich Bedauern fühlen können.

Die Aussagekraft von Not A Pretty Picture vermittelt sich für mich heute durch seine dokumentarisch angelegte Form, die ihn an eine nicht abgerissene Dringlichkeit – hier mischen sich Bedauern und Wut angesichts des fehlenden Alterns so mancher darin verarbeiteter Problematik – an feministische Diskurse bindet. Coolidge dokumentiert, wie sie als erwachsene Frau ihre eigene Vergewaltigungserfahrung als High-School-Schülerin filmisch zu erzählen versucht. Indem sie Situationen mit jugendlichen Darsteller*innen inszeniert, teilt sie sich als Opfer mit, kreist um den Hergang der Tat und dekonstruiert seine Bedeutung auf gesellschaftspolitischer Ebene. Die Szenenarbeit wechselt Not A Pretty Picture mit Gesprächen zwischen Coolidge und den Darsteller*innen ab. Darin treffen Ansichten, indirekte Haltungen und Verhaltensweisen der Mädchen und Jungen aufeinander. Coolidge misstraut dem illustrativen Kino, macht ihre Interventionen zum Gegenstand des Films selbst. Es ist der Versuch, Bilder und Worte für etwas zu finden, was tiefe Narben hinterlassen hat. Das reinszenierte individuelle Erleben von Coolidge schlägt die Brücke zu einem schmerzvollen Empfinden der Seele, das die Aussagekraft der Momente emotional und rational aufnimmt. Immer wieder stelle ich mir die Frage, ob ich diese Bedeutungsebenen damals, als Feminismus mehrheitlich als Beleidigung eingesetzt wurde und Feministinnen am Schulhof für unattraktiv erklärt wurden, überhaupt greifen hätte können. Ob ich über die Form des Films, die sich in Handkameraaufnahmen von längeren Gesprächen niederschlägt, einen Zugang gefunden hätte? Ist dieser Film in meinen Augen deshalb gut gealtert, weil ich die Intentionen und Gedanken der Filmemacherin jetzt viel mehr zu verstehen glaube, als ich es damals getan hätte? Wie gut ein Film in unseren Augen gealtert ist, hängt vom persönlichen Umgang mit Diskursen ab, genauso wie von unserer Wahrnehmung seiner formalen Einzigartigkeit. Hier treffen sich Emotion und Ratio. Wenn gewisse Themen, die selten filmisch verarbeitet wurden, durch einzelne Werke Sichtbarkeit erfahren, dann können sie schnell einen Platz im Herzen erobern. Denn im Herzen findet sich mit dem Altern, basierend auf den Erfahrungen, auch die Sehnsucht nach Themen und Diskursen. Genauso aber macht sich die Sehnsucht nach einer Bereicherung durch die Form breit, je häufiger wir, die wir im Kino auch die Kunst suchen und nicht nur den Konsum, sie schmerzlich vermissen müssen. Mit dem Prozess des Alterns mag sich schlicht verändern, wofür wir brennen, was uns frustriert und in welchen Kinoerlebnissen wir uns besonders genüsslich verlieren. Insofern wohnen einem Rückblick, alleine in den eigenen vier Wänden oder im Rahmen einer Retrospektive, stets Freude oder Frust, Genuss oder Mühsal, Wiedersehenseuphorie oder endgültige Trennung bei. Im Fall von Not A Pretty Picture vermag ich mir dieses Wiedersehen nur vorzustellen. Aber selbst in der Vorstellung spüre ich das in mir, was man Altern nennt.

Viennale 2021: Bilder vom Rand des Vorstellbaren. Über die Filme von Fabrizio Ferraro

Einen Film könne man nicht frei von Erwartungen sehen, meinte Fabrizio Ferraro, dem die Viennale dieses Jahr eine Retrospektive widmete. Auch wenn sich ein innerer Widerstand aufbaut, bleibt nichts anderes übrig, als ihm zuzustimmen. Es fühlt sich an wie eine Kränkung, wenn die eigenen Träume im Kino plötzlich auf die der anderen treffen. Ferraros Arbeitsweise fordert die Begegnung zwischen Publikum und Leinwand immer wieder auf Neue heraus. Sieben seiner Arbeiten aus den letzten elf Jahren wurden von der Viennale ausgewählt und an vier aufeinander folgenden Tagen mit anschließenden Publikumsgesprächen gezeigt. Erst seit wenigen Jahren haben diese Filme internationale Aufmerksamkeit erreicht. Entgegen der üblichen Vorgehensweise zeigte man sie nicht in ihrer chronologischen Reihenfolge, womit eine klare Richtung in ihnen bestimmt worden wäre. Stattdessen verhalten sie sich zueinander wie schwingende Pendel, zusammengeschnürt mit seidenem Faden. In dieser Weise einem unbekanntes Werk zu begegnen, versetzt auch die Gedanken in einen webenden, wellenartig-wechselnden Zustand. Mit jedem gesehenen Film verändert sich die Sichtweise auf die anderen Filme. Eine gefunden Spur kann sich in jedem Moment wieder verlieren, verknüpfen oder zerteilen. Neugier wird zur Sucht und im selben Moment zur Skepsis. So lässt sich kaum sagen, am Ende einen klaren Eindruck von den Filmen erhalten zu haben. Eher besitzt man unscharfe, dunkle Umrisse, die vielleicht einigen seiner Bilder ähneln.

Wie und wo anfangen, sind Fragen, denen man sich oft, vielleicht sogar alltäglich, ausgeliefert sieht. Etwa beim Schreiben eines Textes. Jedes Wort erhält auf einmal unermessliche Bedeutung. Krampfhaft muss man an ihnen festhalten, als könnten sie die Bewegung der eigenen Gedanken bestimmen. Das Ergebnis ist nichts außer einer Lähmung, die sich nur zögerlich aufzuheben scheint. Nie verschwindet sie zur Gänze. Ich frage mich, ob es sich mit Filmen nicht ähnlich verhält, nur in umgekehrter Weise. Hinter gewissen „blinden Flecken“ steckt oft Starrsinn, der bis in alle Ewigkeit auf den richtigen Moment wartet, Erfahrung mit dem Unbekannten zu machen. Doch die Hoffnung darauf ist meist schöner, als es eine mögliche Einlösung wäre. Mit den Filmen von Fabrizio Ferraro konfrontiert zu werden, ist eine zweischneidige Erfahrung. Man begreift seine Bilder und stellt gleichzeitig die eigene Wahrnehmung infrage. Hinter der scheinbaren Unzugänglichkeit seiner Filme liegt ein Weg zu einem Ort, der bei den eigenen Erwartungen und Vorstellungen beginnt. Aber wo führt er hin?

*

Durch die Bilder seiner Filme ziehen sich immer wieder Wege. Manchmal menschenleer bis zum Horizont, ein andermal undeutlich und nur durch die Bewegung seiner Protagonisten zu erkennen. Ferraro zeigt malerische Feldwege, steinige Fluchtrouten, endlose Tunnel, Wege durch Wälder, überlaufene Straßen in Rom, Wege, die einen Kreis beschreiben und immer wieder Autobahnen. Vereinzelt haben diese Pfade ein Ende, meist führen sie ins Nichts. Der Weg beschreibt jenen schwebenden Zustand zwischen zwei Welten – einer Bekannten und einer Kommenden, den Ferraro durch permanente Wiederholung bis an die äußerste Grenze ausreizt. Hoffnung liegt stets nah bei der Verzweiflung.

Schon der erste Film des Programms Sebastian0 zeigt dieses Motiv mit aller Deutlichkeit. Zunächst folgt der Film zwei Touristen, die durch die Ruinen des antiken Roms schlendern. Spürbar belastet von der sengenden Hitze werden sie immer wieder zum Pausieren gezwungen. Die Kamera zeigt ihre Bewegung isoliert von den strömenden Massen um sie herum. Unverständliche Worte werden ausgetauscht – versteinerte Geschichte stumm betrachtet. Irgendwann gehen die Personen dem Blick der Kamera verloren, nur die überwucherte Monumentalität der Architektur bleibt zurück. So bildet sich für Ferraro eine Brücke zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Für sich betrachtet, ließen sich Filme wie diese vielleicht als Historienfilme begreifen. Allerdings neigen sie in keiner Weise dazu, historische Stoffe bloß nachzuahmen. Stattdessen glaubt man, dass jeder gefilmte Schritt bereits den Stoff als seinen Untergrund vorwegnimmt. Die strenge, eigenwillige Form, welche an Filme von Straub/Huillet erinnert, ist dabei notwendig, um zu einem Punkt vorzustoßen, wo die Erzählung des Vergangenen auf die Gegenwart zurückblickt. Wir sehen nun drei Männer, gekleidet im antiken Gewand des alten Roms, wovon einer in Fesseln gelegt wurde. Es handelt sich um den heiligen Sebastian, den man zum Ort seiner Hinrichtung begleitet. Die zermürbende Tortur zwischen Licht und Schatten endet nach seiner Rettung und seiner erneuten Tötung zwischen den Höhlen abseits der Stadt. Als würde sein Seele aus dem Unterholz zum Himmel emporsteigen können, gleitet die Kamera schließlich zwischen sonnendurchflutetem Geäst hindurch. Das Bild scheint wie in Checkpoint Berlin auf der Suche nach dem erlösenden Lichtstrahl zu sein. Auch hier besinnt sich Ferraro mit Thomas dem Zweifler auf eine heilige Figur. Der Film spaltet sich dabei in zwei ineinander verschlungene Bestandteile, worin die Trennung Berlins zum materiellen Ort der historischen Gegensätze wird. Wir folgen verschiedenen Spuren: Einerseits historischen Dokumenten, andererseits der Erzählung eines getrennten Paares beim Bau der Berliner Mauer. Beide Stränge winden sich umeinander, jedoch ohne eine konkrete, narrative Einheit zu spinnen. Stattdessen erscheint plötzlich ein trostloser Engel, der den geheimen Weg kennt, um das Land zu verlassen. Er begleitet ein Paar durch einen schier endlosen Tunnel unter dem Todesstreifen hinweg. Bald ist die permanent wiederholte Bewegung nicht mehr von ihrer unwirklichen Umgebung zu trennen. Als hätte die Leinwand ihre Bilder aufgesogen, drängt sich ein mulmiges Gefühl der Verlorenheit auf. Es stellt sich die Frage, wie viel dieser Erfahrung noch als filmisch zu begreifen ist. Im Moment, als sie überwältigt das Licht auf der anderen Seite erreichen, bleibt der Engel zurück und verschwindet wieder im Dunkeln. Die Wege, die Ferraro mit seinen Filmen beschreibt, beinhalten so gleichermaßen ein rettendes wie schicksalhaftes Moment. Dabei führt er sein Publikum in eine halbseidene Welt, welche die Bedingungslosigkeit einfordert, bis zum Abgrund zugehen. Es lässt sich so hinter dem idiosynkratrischen Formwillen eine gewisse Brutalität in seinen Bildern erkennen.

Der Film La veduta luminosa, der erst dieses Jahr seine Premiere feierte, ließe sich in dieser Hinsicht als einen vorläufiger Höhepunkt verstehen. So beginnt der Film mit klaren Linien, die sich zunehmend verflüssigen. Eine Assistentin – Catarina – und der eigensinniger Regisseur – Emmer – begeben sich gemeinsam auf eine tagelange Autofahrt aus Italien in Richtung Tübingen. Der konkrete Grund der Reise, abseits vom abstrakten Interesse an Hölderlin, der dort sein Leben bis zu seinem Tod in einem Turm, isoliert von der Gesellschaft, verbrachte, wird nie deutlich benannt. Das Ziel der Reise gerät allmählich aus dem Blick, während Emmer den Bezug zu seiner gesellschaftlichen Umgebung zu verlieren scheint. Er ist kindlich fasziniert von der unberührten Natur, als würde er sie zum ersten Mal erfahren. Beide verirren sich immer tiefer im Wald. Catarina, die ihm still und verzweifelt zwei Tage lang an den Rand ihres Verstandes beisteht, überlässt Emmer schließlich sich selbst. Minuten lang folgen die schummrigen Bilder der Kamera nur noch ihm, wie er, bewegt von einer unbegreiflichen Suche, wispernd, tranceartig zwischen Bäumen und Bildern herum wandelt – halb wach, halb im Schlaf. Endlos reihen sich so Eindrücke aneinander, die darauf drängen, die Grenze zwischen dem Bild und dessen Wahrnehmung zu verwischen. Die früheste Arbeit Ferraros dieser Reihe Piano sul pianeta (Malgrado tutto, coraggio Francesco!) spielt mit einem ähnlichen gearteten Zustand. Namenlose Menschen sind eingesperrt auf dem Gelände einer verlassenen psychiatrischen Anstalt in Rom. Auch wenn deren Tore offen stehen, befinden sie sich gegen ihren Willen verloren auf dem Gelände, stehen am Zaun, sitzen auf Bäumen. Unruhig und doch unbeweglich harren sie aus, als seien sie gelähmt. Auf den asphaltierten Wegen zwischen ihnen gehen Bewohner der Stadt spazieren oder treiben Sport. Am Gebäude macht sich Verfall bemerkbar, aber seine verhängnisvolle Bedeutung scheint für die Menschen nicht zu verschwinden. Es ließe sich denken, sie würden auf etwas Unbestimmtes warten, ja hoffen. Je länger der Film allerdings andauert, umso mehr lässt sich erkennen, dass es sich hier vor allem um den Zustand des Aushaltens handelt. Formal arbeitet Ferraro dabei konventioneller. Das Interesse des Film heftet sich vor allem an die Inszenierung der Darsteller, die oft an eine schaubildartige Bühneninszenierung erinnert. Schon hier wird greifbar, wie Ferraro danach sucht, einen Zustand menschlicher Erfahrung mit seinen Mitteln beschreiben zu können. Gerade ein Film wie Les unwanted des Europa, der schon eine gewisse Aufmerksamkeit in den vergangenen Jahren erhalten hat, erfüllt dies in virtuoser Weise. Ferraro zeigt die Fluchtgeschichte Walter Benjamins, der geplagt von einem Herzleiden Mühe hat, die Pyrenäen zu überqueren. Der Weg ist beschwerlich und nur durch die Hilfe Ortskundiger zu bewältigen. Während Benjamin gemeinsam mit einer weiteren Frau, ihrem Kind und Lisa Fittko vor den Nationalsozialisten von Frankreich nach Spanien ins rettende Portugal flieht, zeigt der Film eine Gruppe dreier Männer der Internationalen Brigade, die ebenso, nur in die entgegengesetzte Richtung, über die Grenze vor dem spanischen Faschismus flüchten. Ferraro beschreibt filmisch gewissermaßen eine Kreuzung, auf der sich Geschichten überqueren. Ihre Wege überlagern sich unabhängig von der Zeit. Als würde sich der Film unentwegt fragen, wer diesen Weg vor uns schon begangen haben könnte, verschränkt Ferraro Vergangenheit und Gegenwart in eindringlichen Bildern, welche die Verzweiflung nur erahnen lassen. Benjamin fällt es zunehmend schwerer, der Gruppe zu folgen. Schließlich legt er sich verloren abseits des Weges im Unterholz schlafen, um zu Kräften zu kommen. Das Ende ist, wie so oft, ungewiss.

Deutlich anders konzipiert, weisen die beiden verbliebenen Filme Quando dal cielo und Colossale sentimento dennoch ähnliche Merkmale auf. Auch in ihnen lassen sich Wege nachzeichnen, nur schlagen sich diese wesentlich abstrakter durch das dokumentarischen Material hindurch. Einerseits begleitet Ferraro aus beobachtender Distanz die Arbeit eines Jazz-Duos, immer wieder durchbrochen von Aufnahmen einer Kreuzfahrt. Andererseits folgen wir dem Weg einer ehemals verbannten Statue aus dem römischen Barock hin zu ihrem ursprünglichen Bestimmungsort. Beide Filme bilden einen Prozess ab, dessen Arbeiter so sehr in ihre Arbeit vertieft sind, als wären sie bereits selbst ein Teil davon. Mag sich die Akribie äußerlich unterscheiden, gleichen sich doch in beiden Fällen die Anstrengungen und das erlösende Ende. Dies scheint in der Musik versinnbildlicht, welche die Bilder der Filme schweben lässt, als würde sie die Gesetze der Gravitation aushebeln. Die improvisierten, vielschichtigen Melodien des Duos erfüllen, ausgehend vom Mittelpunkt, die Tiefen des unbeschreibbaren Raums und unterscheiden sich darin kaum von der barocken Formstrenge Corellis. Die Einfachheit beider Filme führt dabei die Schwere von Ferraros Kino an die Grenze des Vorstellbaren. Wo die Musik über eine Sprache zu verfügen scheint, muss das Bild immer wieder nach neuen Formen, nach neuen Wegen suchen.

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Man sollte sich in jeder Hinsicht die Frage stellen, was die Auseinandersetzung mit Filmen wie diesen notwendig macht. An vielen Stellen dringt eine charakteristische Kompromisslosigkeit heraus, die sich gar nicht für das zu interessieren scheint, was sich außerhalb davon befindet. Das gefährlich-leichtsinnig gebrauchte Wort: „prätentiös“, mag dabei vielleicht einigen geholfen haben, für das Gesehene eine Kategorie zu finden und darüber hinweg zu kommen. Insofern ließe sich Ferraro unterstellen, er benutze Figuren wie Hölderlin oder Benjamin als seine ästhetischen Gewährsmänner für einen intellektuellen Spleen. So eine Vermutung würde sich allerdings schnell in einer gewissen Ideenlosigkeit oder Beliebigkeit zu erkennen geben. Im Gegenteil sehen wir  eine Arbeitsweise, die von unerschöpflicher Besonnenheit erfüllt ist und der Formen von Improvisation fernliegen. Seine Filme tendieren auch nicht dazu, das theoretische Denken nur zu verkörpern, was ihnen jedoch zweifellos zugrunde liegt. Sie sind das Produkt eines unabgeschlossenen Reflexionsprozesses. Wo sich in seinen Filmen eine handhabbare Unmittelbarkeit einstellt, kippt das Bild augenblicklich um und flüchtet sich in transzendentale Welten. Damit ist Ferraro weder Hölderlin noch Benjamin unähnlich. So zeigt sich ein konkretes Interesse an der materiellen Welt der Dinge und gleichzeitig die verzweifelte Suche nach einem Ausweg. Man könnte vielleicht behaupten, der Film erhält dafür die Funktion einer möglichen Rettung, indem sich Erfahrung vermitteln lässt. Ist es die des Regisseurs oder doch des Publikums?

Kennzeichnend für Ferraros Filme ist ihre fast erschlagende Komplexität. Nichts, was er in ihnen verhandelt, wird dem Zufall überlassen. Dennoch vermag man sich an keinem greifbaren Gegenstand festhalten. Vielmehr verstehen sich die Filme als Andeutungen oder Annäherungen, die von einem historischen Strom, angefangen von römischer Antike, dem Barock, der deutsche Romantik bis hin zur Moderne mitgerissen werden. Die Arbeitsweise könnte so als ein Akt der Vergegenwärtigung verstanden werden, allerdings fehlt dafür ein konkretes Anliegen, das über das Kino hinaus weist. Jeder Film konzentriert sich stattdessen auf sich selbst und die Mittel, die ihm für seine Darstellung zur Verfügung stehen. Ferraro übt sich so besonders in der Reduktion seiner Inszenierungen, wodurch das Material offen sichtbar wird. Diese Wendung nach Innen ließe sich zunächst als ein verkopfter Standpunkt verstehen, worin der Zugriff auf den Stoff stets nur um sich selbst kreist. Immer wieder gelingt es allerdings den Filmen, diese empfindsame Verkapselung aufzubrechen. Nämlich dann, wenn ein gespannter, narrativer Bogen inmitten der Handlung zerrissen wird und die Bilder nur noch aus sich selbst sprechen.

Oft hat man es so bei Ferraros Filmen mit einer Zweiteilung zu tun, etwa bei der Gegenüberstellung von Vergangenheit und Gegenwart, Bewegungsrichtungen, Menschen oder einfach Orten, die sich in den Bildern annähern oder entfernen. Mögen diese Antagonismen auch noch so unversöhnlich sein, sieht man sich dennoch in der mimetischen Weise filmischen Denkens dazu veranlasst, einen Zusammenhang zu konstruieren. Wie in einem Organismus scheinen die Dinge ineinander überzugehen. Doch dieser Eindruck täuscht. Die Bilder verhalten sich zum gezeigten in vermittelter Form: Erfahrung, die durch Sprache lesbar wird. Gleichermaßen kann die Erfahrung, die einer fiktionalen, historischen oder realen Person sein. Sie braucht jedoch das Bild, um sich dieser zu vergewissern. So stellt die Bildsprache permanent ein Verhältnis zwischen Innen und Außen her. Die Grenze, die dazwischen verläuft, trennt das Publikum vom gezeigten Geschehen. Gerade die letzten beiden Arbeiten Ferraros spielen mit der Tendenz, Bild und Gegenstand – Subjekt und Objekt – miteinander ident zu machen, ohne dies tatsächlich zu verwirklichen. Die Bilder tasten sich an die Szenen heran, als wären sie blind und müssten beschreiben, was sie mit dem Gefühl ihrer Fingerspitzen erkennen. Beim Zusehen dieser Filme neigt man dazu, diesen Spalt zwischen Bild und seinem Inhalt überschreiten zu können, worin die eigenen Gedanken drohen von der strudelnden Bewegung des Erfahrungsstroms erfasst zu werden. Sobald sich jedoch dieser Zustand einstellt, scheint die Verbindung zertrennt zu sein. Das gewonnene Vertrauen in die Bildsprache Ferraros führt letztlich dazu, sich in ihr zu verirren. So wie seine Filme enden, wird deutlich, dass das gesuchte Ziel nie zu erreichen ist. Daraus entsteht ein Moment des Unbehagens. Der Weg führt am Ende ins Nichts.

Wieder sieht man sich mit den eigenen Erwartungen konfrontiert, nur ist man diesmal um die eigene Seherfahrung reicher. Aber was heißt Erfahrung in diesem Zusammenhang? Es liegt nahe, den Bildern dieser Filme, eine bestimmte Verdopplung ihrer Inhalte zuzuschreiben. Oft heißt es, ohne sich der Bedeutung gewahr zu werden, ein Bild könnte das, was es zeigt, verkörpern. Sie versuchen aber nichts anderes, als den Inhalt mittels ihrer Sprache zu beschreiben. Auch Ferraros Arbeiten tun dies, jedoch in so radikaler Form, dass es ihnen möglich wird, einen reflektierten, äußerlichen Blick auf sie zu werfen. Das wird besonders deutlich, wenn Bilder wiederholt werden. Es scheint zwar, als würden sie um sich selbst kreisen, aber mit jeder Wendung betrachten sie sich von Neuem. Von Erfahrung zu sprechen, könnte in dieser Weise nur noch eine spezifisch Filmische bezeichnen. Weniger ist es die des Publikums, als vor allem die des Regisseurs sowie seiner Mitstreiter, nähergebracht durch die verwendeten Werkzeuge. Gleichzeitig ist es jedoch kaum vorstellbar, das von der eigenen Erfahrung mit diesen Bildern klar zu trennen. Immer wieder hat man den Eindruck, die Bilder würden vor den eigenen Augen verschwimmen. So lassen sich noch für einzelne Momente Worte finden, was allerdings für eine ganzheitliche Betrachtung zunehmend schwerer fällt. Sich der Filme durch den Versuch einer Beschreibung zu vergewissern, unterläuft gerade das Verhältnis, dem Gesehenen nur als ausgesetzt gegenüberzutreten. Allen Widerständen zum Trotz darüber zu sprechen oder zu schreiben, heißt erst, die Erfahrung konkret zu machen.

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In der Verschrobenheit der Perspektive könnte man meinen, gegenüber dem konfektionierten Erzählkino, das ‚eigentliche Sehen‘ – etwas vermeintlich allgemein menschliches – entdeckt zu haben, so jedenfalls sinngemäß Bruno Roberti im Katalog-Text zum Programm. Ja, vieles in Ferraros Filmen trägt einen schleierhaften, mythischen Schein mit sich, der sich wohl auch als natürliche Ursprünglichkeit oder filmische Sinnsuche begreifen ließe. Das macht aber notwendig, Film in vitalistischer Weise eins mit dem Publikum werden zu lassen. Auffällig an Formulierungen, wie denen von Roberti, ist hinter den allfälligen Handlungsbeschreibungen, wie wenig indessen über das eigene Sehen gesprochen werden kann. Stattdessen der zwanghafte Versuch, Kategorien und Erklärungen zu finden. All das ist allerdings eher einschüchternd, als darstellend. Die eigenen Erwartungen bemessen sich unweigerlich daran, bis sie sich schließlich darunter in Deckung flüchten. Wie verhält sich das Programm dazu? Kinematografie heißt für die Viennale, einer Person eine Retrospektive zu widmen, ohne sie dem Dogma einer historischen Musealisierung oder Kanonisierung auszusetzen. Vielmehr scheint es darum zu gehen, außergewöhnliche Arbeiten zu zeigen, die sich gerade normativen Zuschreibungen entziehen. So handelt es sich um Programmpunkte, die zu einem gewissen Teil, konträr zur Viennale als Ganzes stehen. Gerade Fabrizio Ferraros Programm veranschaulicht Möglichkeiten, was Kino sein kann, die man mit einem Hang zum Pessimismus immer nur in der Vergangenheit sucht. Schnell kommt man in die Verlegenheit, alles, was nicht diesem Anspruch gerecht wird, abzulehnen. Es gibt sich in dieser Weise eine Selbstbezüglichkeit zu erkennen, die dem Sprechen, Schreiben, Kuratieren und vielleicht auch jenen Filmen selbst gemein ist. Aber was bedeutet das für das Sehen? Dem Konzept der Kinematografie gelingt es in dieser Hinsicht, vor allem den prozessualen Charakter filmischer Arbeiten zu vermitteln und sie als unabgeschlossen zu begreifen. Nicht selten stellen sich künstlerische Form nach außen hin als offen und durchlässig dar, um dann darin die spröde gewordene Reflexion des Immergleichen zu entbergen, worin man selbst nie erscheint. Gleichzeitig bildet der fragwürdige Ruf nach Tiefgründigkeit davon lediglich eine Kehrseite ab. Die Werkschau von Ferraros Filmen hat nicht nur den Prozess seiner Arbeit gezeigt, sondern auch den des Sehens. Nach und nach, je mehr man die Verschlossenheit dieser Filme aufbricht und sich auf die Offenheit zu bewegt, betrachtet man sich selbst beim Sehen. Es stellt sich so aber keine abschließende Erkenntnis ein, was es heißt Filme zu sehen, sondern die Frage, was dort möglich sein kann. Nach dem Anfang zu suchen, kommt mir rückblickend ziellos vor.

Im Dachboden vergessen. Trotzdem mitgenommen.

8mm-Filmstreifen

Vor kurzem half ich mit Freude einem Freund bei der Erschließung eines jahrelang unentdeckt gebliebenen Dachbodens in seinem Haus. Solche seltenen Vorstöße ins Ungewisse sind wirklich empfehlenswert, was vor allem daran liegt, dass sie die vielen Möglichkeiten eines Lebens ganz greifbar bewusst machen anstatt sie, wie meist, als anhaltendes Bedauern im Hinterkopf einer Existenz zu bewahren. Von dort klopfen sie bekanntermaßen an und münden von Zeit zu Zeit in das Verzagen einer Unmöglichkeit.

In diesem Dachboden aber, der sich tatsächlich als kleine Schatztruhe entpuppte, war alles möglich bevor wir die gerade einmal kniehohe Türe, die zu ihm führt, öffneten. Alles hätte in sich zusammenfallen können, mein Puls stieg merklich, vielleicht würden wir die Lösung für sämtliche Probleme finden, einen Jungbrunnen, Geheimnisse, Landkarten, verloren geglaubte Schriften oder einen Batzen Geld. Es erinnerte mich ein wenig daran, dass Filme für mich auch dieses Versprechen mit sich trugen, im Kinosaal, wenn die Lichter ausgingen und man daran glauben konnte, dass was man sah, eine Welt war. Ich habe oft darüber nachgedacht, warum mir dieses Gefühl mit dem Kino und auch im Leben ferner und ferner scheint. Es scheint geradezu so, als würden die Erfahrungen, die man mit den Dingen macht, zu einer Abstumpfung führen. Anders kann ich mir bis heute die geschmacklichen Extravaganzen mancher Kinoliebhaber nicht erklären, die tausende Filme gesehen haben und folglich nach besonders raren, außerordentlich frivolen Kicks suchen. Die normale Dosis wirkt nicht mehr. Man weiß, wie es ausgeht.

Mein Vater, der ein Mann beständigen Humors ist, wenn auch von jener deutschen Sorte, die ein Augenzwinkern braucht, damit man Bemerkungen wirklich als humoristisch versteht, hat an Sonnabenden vor dem TV-Film sitzend immer wieder gesagt: „Habe ich schon gesehen.“ Was mir lange Zeit vorkam wie ein Scherz, der seinen Reiz aus seiner beständigen Wiederholung gewann, erschien mir nach und nach wie unfreiwillige Kulturkritik. Oder gar eine Ermüdung im Angesicht der fehlenden Dachböden. Diese Bemerkungen haben ihn übrigens nie dazu veranlasst, nicht doch weiter zu schauen, um am Ende eines Films beiläufig zu bemerken, dass er gewusst habe wie es ausgehen würde. Dass er auch ein passionierter Fußballschauer ist, erscheint mir in diesem Licht beinahe noch bizarrer. Denn nur die Naiven unter den Fußballanhängern glauben, dass man Ergebnisse nicht vorhersehen kann, dass man nie wisse, was passieren würde.

In Wahrheit ist es immer dasselbe und wahrscheinlich liegt genau darin auch das Potenzial zur Verführung der Massen. Wie bei Restaurantketten sieht das Fußballfeld, egal ob im Stadion, im Fernsehgerät oder auf dem Platz, immer gleich aus. Es fühlt sich immer gleich an. Wenn dann einmal in zwanzig Jahren eine Überraschung geschieht oder gar etwas Verrücktes, dann sagen sie: Das ist Fußball. Als wäre es das Wesen dieses von allerhand Mächten gelenkten Sports zu überraschen. Unter dem Deckmantel dieser Unvorhersehbarkeit feiern die Besitzer des Geldes Triumph um Triumph. Wenn es dann mal zu einer Überraschung kommt, geben sie mehr Geld aus, um die Überraschungen auszuschließen. Noch viel schlimmer erging es mir als Jugendlicher, als ich Fußballvideospiele zu meinen Beschäftigungen zählte. Insbesondere in Spielen gegen computergenerierte Gegner hatte ich das Gefühl, dass das Spiel bereits vorher entschieden hat, ob ich gewinne oder verliere. Selbstredend hinderte mich diese Wahrnehmung nicht daran, der gegebenen Ungerechtigkeit und Willkür dieses Systems mit den größtmöglichen Gefühlen zu begegnen. Ich schrie, ich jubelte und zertrümmerte Gegenstände. Sie sagen, es wäre nur ein Spiel. Der Staat hat entschieden, er manipuliert, der Bürger spielt und kauft weiter. Es war eine Simulation. Vielleicht hätte ich die Verpackung lesen sollen.

Als wir auf allen Vieren kriechend den Dachboden betraten, war das anders. Natürlich war streng genommen auch dort in diesem Moment nicht alles möglich. Es gab Menschen, die vorher in diesem Haus lebten. Sie führten ein bestimmtes Leben, sammelten Objekte an, hatten dieses oder jenes Geheimnis, vergasen und erinnerten sich, bewahrten und warfen weg. Basierend auf weitgehenden Nachforschungen zu den Bewohnern des Hauses hätte man vermutlich einen Großteil der dort gefundenen Gegenstände vor dem Betreten des Dachbodens erahnen können. Nur wählten wir nicht nur notgedrungen den umgekehrten Weg, sondern auch weil es viel spannender ist, aus den Gegenständen auf die Menschen zu schließen. Im Kino geht es mir da ganz ähnlich. Ich folge lieber einer Bewegung, aus der ich einen Menschen oder Ort kennenlerne, als einen Menschen zu kennen und diesem dann in Bewegungen zu folgen. Dieser Rest, der bleibt, an Erkenntnissen, die ich nie gewinnen kann, macht für mich eine Begegnung aus. Sei es mit einem Film, einer Person oder einem Objekt. Im Fall meines Freundes gab es keinen wirklichen Kontakt zu den vorherigen Besitzern. Es ist eigentlich so, dass er nur deshalb dort leben darf, weil er im Rahmen einer Ausschreibung gewonnen hat, sich für drei Jahre um Haus und Garten, die beide Eigentum des örtlichen Kulturverbandes sind, zu kümmern.

In einem Dachboden warten oft Dinge, die sich im Schwebezustand zwischen ihrem Verschwinden und ihrer Bewahrung befinden. Objekte, die man verstaut. Man braucht sie eigentlich nicht, aber glaubt, dass man sie vielleicht eines Tages verwenden könnte. Oder es hängt einfach das Herz daran. Manche verdanken ihr Überleben dagegen einfach dem Vergessen. Man weiß gar nicht mehr, dass man etwas besitzt und genau deshalb wird es nicht entsorgt. Es scheint mir plötzlich sehr gut ins Bild zu passen, dass mein Vater Unbrauchbares mit rasender Geschwindigkeit entsorgt. Er besitzt keinen Dachboden. Zusammen mit meiner Mutter lebt er aber in einem. Man darf seine Eltern nicht in einem Dachboden bewahren. Wenn sie es freiwillig tun, darf man zumindest nicht vergessen, dass es den Dachboden gibt. In manchen Dachböden gibt es mehr als Erinnerungen und Stauraum.

Wir fanden allerhand, und da viele Gegenstände doch eine empfindliche Privatheit sprengen, von der ich zumindest aus solcher Nähe nicht berichten will, beschränke ich mich auf zwei, von denen einer auch der Grund ist, warum ich diesen Text an einer filmbasierten Adresse veröffentliche. Der eine Gegenstand war ein Koffer, in dem sich ein altes Tonabspielgerät und einige dazugehörige Tonträger befanden. Darauf aufgenommen fanden wir Chorgesang, es ist uns noch nicht ganz klar, woher dieser stammt und warum er aufgezeichnet wurde, aber all das klingt ganz wunderbar und harrt weiterer Forschung. Was mich allerdings sofort bewegte, war weniger die Tatsache, dass wir Stimmen aus einer vergangenen Zeit hörten, sondern dass sich jemand die Mühe machte, diese aufzuzeichnen.

In der intensiver werdenden Beschäftigung mit Formen des Heimkinos wird gerne das Argument eines kollektiven Gedächtnis gebraucht. Man sieht das Leben aus Sicht von Bürgern mit Kameras. Darüber gewinnt man Erkenntnisse über die Menschen und die Welt, in der sie lebten. Noch sehr wenig wird, so weit ich das überblicken kann, über jene schwarzen Flecken nachgedacht, die man nicht aus diesen Filmen erschließen kann. Gierig stürzt man sich stattdessen auf alles, was einem klar wird. Offen bleibt wie so oft, was unklar bleibt. Konfrontiert mit diesen Tonaufnahmen, die ich für durchaus vergleichbar mit einer 8mm-Filmrolle halte, faszinierte mich viel weniger das, was ich möglicherweise über den Chor, die Musik und die Aufnahmen würde herausfinden können, sondern was mir von Anfang an völlig unerreichbar schien. Also etwa die physische Anwesenheit von Aufnahmegerät und Stimmen im selben Raum. Die Unsicherheit darüber, ob man alles richtig eingestellt hat, nicht zu leise, nicht zu laut, jemand, den man mit den Aufnahmen beeindrucken wollte, der Moment, in dem man das Interesse daran verlor und sie in den Dachboden stellte.

Der andere Gegenstand war eine kleine, in einer staubigen Schachtel zwischen Einkaufszetteln und abgeschriebenen Gedichten aufbewahrte Notiz, die man als eine Form von tagebuchartiger Filmkritik auffassen könnte, die mir aber so noch nie begegnet ist. Berichtet wird in verschnörkelter Schrift von einem Filmerlebnis im Haus der Tante:

Wir waren bei Tante Hilde. Es gab Essen und dann einen Film. Niemand wollte ihn sehen. Der Film war schön. Ich kenne seinen Namen nicht. Ich glaube, dass ich ihn vergesse. Es gab einen Maler und eine Frau. Sie haben mir Angst gemacht, weil sie nie gelächelt haben. Papa sagt, dass der Schauspieler nicht wirklich malen konnte und dass man das gesehen hat. In seinem Gesicht habe ich aber gesehen, dass er malen kann. Es gab nicht viele Farben. Ich muss Mama fragen wie der Film heißt. Wenn ich mir den Namen nicht merke, vergesse ich auch alle Bilder. Es gab eines mit einem weißen Kleid, das sich in einem Baum verfing. Und einmal waren die Fingerkuppen des Mannes ganz rot und blutig, was vom Malen kommt. Es gab auch ein Meer. Ich weiß nicht, welches Meer. Ich glaube, dass der Film mehr im Norden spielt. Es wird viel gesprochen, das meiste habe ich vergessen. Es wird immer schlechter mit meiner Erinnerung. Das Aufschreiben macht auch nicht Spaß. Ich kann zu wenig schreiben, wenn ich keine Bilder mehr sehe. Papa sagt, dass es mir hilft. Es langweilt mich aber.

Jetzt, nachdem ich diese Fundstücke so beschrieben und wiedergegeben habe, scheint es mir zu wenig. Vielleicht, weil das was wir erwarten immer mehr ist, als das, was wir erzählen können. Weil die eigentliche Erzählung in dem liegt, was ich vergessen habe aufzuschreiben, während ich schrieb. Ich habe ein Foto der kleinen Notiz gemacht. Ich kann mich nicht entscheiden, ob es besser wäre, es dem Text beizulegen oder nicht. Ob ich die Evidenz betonen will oder die Möglichkeit einer Fiktion.