Notizen zu einem einzigartigen Screening des Films Hurlements en faveur de Sade von Guy Debord im Österreichischen Filmmuseum, das unter anderen Umständen und noch deutlich einzigartiger hätte sein können, wenn man Einzigartigkeit steigern könnte.

Am 1. Februar 2016 setzte sich in Wien eine weitere Generation von Interessierten, Cinephilen und Zufälligen in die Gegenwart einer Vorführung des Films Hurlements en faveur de Sade von Guy Debord. Der Film besteht im Wesentlichen nur aus schwarzen und weißen Screens, wobei in den weißen Debord beziehungsweise seine lettristischen Kollegen allerhand Zitate, Absurditäten, Provokationen und philosophische Gedanken von sich geben, während in den schwarzen Phasen eine totale Stille herrscht (eine Stille auf Tonebene wohlgemerkt, denn man hört den Film und das Publikum). Der Höhepunkt dieses „Nicht-Films“ sind dann die 24 Minuten schwarze Stille am Ende. Es scheint daher zunächst nicht verwunderlich, dass der Film bei seinen ersten Aufführungen 1952 für Skandale sorgte. Das erste Screening wurde abgebrochen, beim zweiten Screening, bei dem Debord zusammen mit Michèle Bernstein Mehl vom Balkon auf das Publikum warf, kam es zu heftigen Ausschreitungen des Publikums.

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In Wien war das Unsichtbare Kino von Peter Kubelka gut genug gefüllt, um einiges zu erwarten. Ich selbst kannte davor drei Filme von Debord, von denen ich zwei an den vorhergegangenen Tagen in Anwesenheit von Olivier Assayas und Alice Debord sehen durfte. Ich kenne einige der schriftlichen Gedanken von Debord, wenn auch nicht genug. Ich wusste auch von der Skandalträchtigkeit des Films. Mein Eindruck war immer, dass der Skandal eine Sache der Gegenwart ist. Er hängt am Verhältnis zur Gegenwart. Ich frage mich, ob das Kino – bei aller Gegenwärtigkeit – nicht automatisch den Effekt verliert, wenn ein Skandal sozusagen Teil der Geschichte ist. Ein Skandal im Museum verliert oft an Kraft. Es hängt wohl letztlich am Wissensstand des Publikums (das gilt im Endeffekt wohl für alle Künste). Und bezüglich dieses Wissenstandes offenbarte sich an diesem Abend eine Wahrheit, die ich als post-cinephilen Zustand umschreiben würde, einen Zustand der die cinephile Situation selbst als Geschichte betrachtet und uns in unseren Rollen heute nur mehr zu Re-enactments bewegen kann und uns damit oft am Ausleben einer eigenen Sprache hindert. Als ich einmal eine heftige Reaktion begleitet von Aufschreien in einem Studentensaal erlebte, als man die Rasiermesserszene aus Luis Buñuels Un chien andalou zeigte, war ich eher darüber entrüstet, dass so wenige diese Szene bereits kannten. Dennoch könnte mich dieses Beispiel Lügen strafen.

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Alexander Horwath, der Direktor des Filmmuseums betrat an diesem Tag äußerst gut gelaunt das Kino, um eine Einführung zu geben. Er war verdächtig guter Stimmung. Zusammen mit einigen Freunden haben wir immer das Verlangen nach diesen Präsentationen. Bei Debord ist das einfach wunderbar. Da das Filmmuseum als erste Institution weltweit die Filme Debord für die eigene Sammlung erwerben konnte, bekommen wir das Gefühl, dass dem Haus diese Filme besonders am Herzen liegen. Es ist dieses romantische Langlois-da Costa-Gefühl, wenn Herr Horwath den Saal betritt um uns/dem Publikum etwas über das Kino zu erzählen, über die Schätze, die er gefunden hat und über den Prozess, der sie letztlich zu uns gebracht hat. Er scheint immer wieder neuen Gedanken zu folgen und statt – wie er es oft tut, wenn Gäste im Haus sind – sich in höflichen Notwendigkeiten zu verlieren, spricht er dann wirklich über das Kino, das er gleichzeitig lebt und liebt. Es ist in diesen Augenblicken, in denen das Kino wirklich zum Erlebnis wird, in dem eine Gesellschaft nur an diesem Ort besteht. Zunächst sprach er über den etwas schwierigen Kopienzustand des Films (den er als Zwischenzustand bezeichnete), der ursprünglich auf 16mm gedreht wurde, aber uns in 35mm gezeigt wurde, weil die einzige 16mm-Kopie im Besitz von Alice Debord ist. Eine Kopie des Originalformats müsse noch hergestellt werden. Was wir an diesem Abend zu sehen bekamen war eine 35mm-Kopie, die ein Freund und Wegbestreiter Debords hergestellt hatte mit neuen schwarzen und weißen Platten, was also fehlte, waren die Spuren der Zeit auf dem Film. Herr Horwath beschrieb den Unterschied en detail. Es ist bezeichnend, dass sich der eigentliche Skandal in der Publikumsreaktion auf diese lange Beschreibung mit objektbezogenen Informationen zum Film zeigte. Eine Ungeduld machte sich im Saal bemerkbar, sodass Herr Horwath sich am Ende seiner großartigen Ausführungen sogar genötigt sah, sich für deren Länge zu entschuldigen. Allerdings mit dem Zusatz (in einer mir unbekannten, tief österreichischen Formulierung, die ich daher nur paraphrasieren kann): In diesem Haus gehört es zur Philosophie, dass wir sie nicht anlügen bezüglich dessen, was sie zu sehen bekommen. Desweiteren holte Herr Horwath groß aus und erzählte allerhand Anekdoten über die Lettristen, Debord und begründete seine eigene Programmierung (die Reihenfolge, in der die Filme gezeigt werden), die zwei Tage zuvor von Assayas etwas hinterfragt wurde. Es war die beste Einführung, die ich in regulären, öffentlichen Vorführungen seit langer Zeit gehört habe. Viele im Publikum haben kein Verständnis dafür.  Man fragt sich ernsthaft, ob sie nur mit ihrer Uhr und ohne ihren Kopf ins Kino gehen. Ganz ähnlich trug es in einem anderen Kontext vergangenes Jahr zu, als Christoph Huber eine grandiose Einführung zum Werk Sacha Guitrys gab und sich eine ähnliche Unzufriedenheit im Publikum ausbreitete. Dieses Verhalten hat dann nichts mit einer post-cinephilen Situation zu tun, sondern schlicht mit Ignoranz.

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Als Herr Horwath dann fast am Ende angelangt war, machte er in meinen Augen einen folgenschweren Fehler bezüglich des Potenzials eines Eindrucks des folgenden Screenings von Hurlements en faveur de Sade, der letztlich genau auf das eingangs geschilderte Problem einer post-cinephilen Situation verweist. Er erwähnte, dass der Film auch bei seiner Vorführung im Lincoln Center im März 2009 für einen Skandal sorgte, dass der Film also auch Jahrzehnte später noch das Potenzial für einen Skandal in sich trage. Er berief sich dabei – ohne sich genau zu erinnern – auf den Text Howls for Debord von Zack Winestine (pdf hier), der dieses Screening beschrieb. Herr Horwath forderte das Publikum dazu auf, Unzufriedenheiten oder Kommentare auch während der Vorführung zu äußern. Man merkte ihm die Begeisterung, ob der Möglichkeit einer solcher Vorführung an. Es wirkte ein wenig wie die Hoffnung auf eine cinephile Situation, die bewiesen hatte, dass sie sich wiederholen lässt. Aber hatte nicht Herr Horwath in seinem Enthusiasmus die Unschuld einer möglichen Reaktion des Publikums gebrochen? Die Philosophie einer Einzigartigkeit und Gegenwärtigkeit der filmischen Vorführungen wurde hier bereits vor dem Beginn in einen geschichtlichen Kontext gesetzt, der natürlich nicht auf Wiederholung setzt, aber doch auf ein Muster, dass es im Bewusstsein der Geschichtlichkeit nur schwer geben kann. Damit wurde an diesem Abend absichtlich oder unabsichtlich doch etwas Neues gewagt, nämlich der Versuch ein Publikum im Bewusstsein eines Skandals zu skandalisieren. Die Frage an den Film war: Kann er im Moment seiner Aufführung zu Reaktionen bewegen, die man eigentlich bereits kennt? Löscht also die filmische Vorführung gewissermaßen das geschichtliche Bewusstsein oder besser: Entsteht aus dem geschichtlichen Bewusstsein eine Situation, die dieses Bewusstsein überrumpelt? Das ist natürlich auch insofern spannend, da die Antizipation auf diesen und auch andere Filme ja genau mit der Erwartung eines solchen Skandals zusammenhängt. es ist also ein zweischneidiges Schwert, wenn man etwas sieht, wegen des Skandals und dann schreit: „Skandal!“.

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Das Problem des post-cinephilen Zustands ist klar: Es ist die Verortung aller Handlungen im Vergleich zu den Göttern der Cinephilie. Wenn ich also diesen Text schreibe, dann schreibe ich ihn nicht nur als unschuldige Reaktion auf das Screening, sondern auch als Reaktion auf Texte und Aussagen, die darüber bereits gemacht wurden. Dasselbe gilt für Entscheidungen von Filmemachern, die Einführung von Herrn Horwath und bewusst oder unbewusst (aufgrund der Aussagen von Herrn Horwath) für jede getätigte Handlung oder Aussage des Publikums während der Vorführung. Jene, die den Saal während des Films verließen, zeigten damit nicht (nur) ihre Abneigung gegen das Gezeigte, gegen den Moment, sondern auch gegen die Geschichtlichkeit des Moments, sie reagierten nicht direkt, sondern vermittelt. Eine Frau begann während des Films in den Schwarzphasen zu sprechen. Als sie aufgefordert wurde, ruhig zu sein, giftete sie (in einem österreichischen Dialekt, dessen Wiedergabe mir erneut nicht möglich ist): „Du hörst doch jetzt eh nichts.“ und später: „Wir sind doch nicht in der Kirche.“. Aber waren ihre Aussagen eine direkte Reaktion oder eine von Herr Horwath vermittelte, denn wie könnte man einer Aufforderung zum Skandal folge leisten, wenn doch das Wesen eines Skandals wäre keinen Aufforderungen Folge zu leisten. Eine skandalöse Reaktion wären wohl eher Tränen der Identifikation, ob der Bilder gewesen. Noch deutlicher wurde dieser Widerspruch als ein Mann in der Mitte des Films den äußerst sorgsam formulierten Cliffhanger: „Ein unsichtbarer Film im Unsichtbaren Kino. Ist das die Essenz?“ von sich gab. Mein Kollege Rainer dagegen beschäftigte sich in den Schwarzphasen auffällig mit dem Licht im Saal, das trotz völliger Dunkelheit zeigte, dass es mit diesem unsichtbar schon lange vorbei ist. Er bewegte seine Hände und betrachtete sie wie eine Sensation. Dann blickte er wieder zur Decke. Die Frau vor mir umklammerte den ganzen Film ihre Plastikflasche und als vor ihr ein paar jüngere Zuseher begannen zu reden und auf ihren Handys zu schauen, bemerkte sie: „Wie in der Schule.“ und hörte zwei Minuten nicht auf zu flüstern. Später schaltete sich auch noch Harry Tomicek ein, der von hinten etwas unverständlich nach einem Applaus verlangte, den es dann am Ende auch gab. Ansonsten blieb es es ruhig und nach einem weiteren Debord-Film, Réfutation de tous les jugements, tant élogieux qu’hostiles, qui ont été jusqu’ici portés sur le film „La société du spectacle“  und einer Vorführung der obszönen Nahaufnahmen von Giulietta Masina blieb wieder nur die Sehnsucht nach der cinephilen Unschuld in einem Kino, in dem man es irgendwie gewohnt ist, dass man Filme sieht, die aus schwarzen und weißen Bildern bestehen.

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Vielleicht liegt es an uns oder der Tatsache, dass Kinoliebe insbesondere in diesen Tagen darin besteht, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Aber oft verwechseln wir die Hoffnung auf einen cinephilen Augenblick mit dessen Existenz. Man könnte es auch die Fallstricke einer Über-Reflektion nennen und wahrscheinlich werden wir in einigen Jahren erst wissen, was diese Jahre im Österreichischen Filmmuseum, auf den Festivals, vor den Laptops und Sozialen Medien wirklich für Jahre waren im Leben mit der Kinoliebe. Dann wird man auch die Gedanken von Girish Shambu oder Adrian Martin zu diesem Thema anders betrachten können. Dieser Abend war einzigartig, so viel steht fest.

Musik schafft Bedeutung: Wagners Walkürenritt im Film

Im klassischen Hollywood-Kino wird Musik meistens eingesetzt, um die emotionale oder narrative Bedeutung einer Szene zu unterstützen. Die Musik verstärkt dadurch den Effekt der Szene auf den Zuschauer und bestätigt ihn in seiner Interpretation des Gesehenen. So wird sichergestellt, dass bestimmte Informationen eindeutig den Rezipienten erreichen. Es handelt sich hierbei natürlich um einen rein theoretischen Idealfall, der selbst in jenen Filmen, die streng den ästhetischen Vorstellungen des klassischen Hollywood-Kinos folgen, niemals eintritt. Musik schafft – wie Worte, Licht, Bildkomposition und Schauspiel – selbst Bedeutung, umso mehr wenn es sich um präexistente, also nicht eigens für den Film komponierte, Musik handelt. Die möglichen Konnotationen, die ein Zuschauer zur Musik haben kann, werden enorm vervielfacht, wenn es sich um ein Musikstück handelt, das dem Zuschauer andernorts bereits untergekommen ist. In vielen Filmen wird bei der Auswahl der Musik ebendiese Tatsache berücksichtigt, sodass bestimmte Musikstücke zu ambivalenten Reaktionen beim Zuschauer führen und als mehrfache Referenz verstanden werden können.

Man könnte diesen Prozess an vielen verschiedenen Beispielen verdeutlichen, aber das wohl bekannteste lässt sich im Präludium zum dritten Akt von Richard Wagners Walküre (komponiert 1852-56) finden, das häufig mit dem Titel Der Ritt der Walküren bezeichnet wird.

Die Walküre ist der zweite Teil des vierteiligen Opernzyklus Der Ring des Nibelungen, in dem die Handlung der Nibelungensaga, vermischt mit verschiedenen Figuren und Geschichten der nordischen Mythologie frei nacherzählt wird. Die Walküre handelt von der Walküre Brünnhilde, die durch Ungehorsam bei den Göttern in Ungnade fällt und daraufhin aus dem Göttersitz Walhall verbannt wird. In der ersten Szene des dritten Aktes treffen sich Brünnhildes acht Schwestern – ebenfalls Walküren – auf einem Felsen, berichten von ihren Erlebnissen und warten auf die säumige Schwester. Der Ritt der Walküren – ein zunächst rein instrumentales Stück – leitet diese Szene ein und illustriert die Ankunft der acht Schwestern auf ihren fliegenden Rössern.

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Ich wage zu behaupten, dass Richard Wagner, wäre er ein Filmregisseur gewesen, wohl nicht den Leitlinien des klassischen Hollywood-Kinos gefolgt wäre. In seinen Opern (oder Musikdramen, wie sie von ihm selbst genannt werden) steht die Musik nämlich ständig in krassem Gegensatz zur Handlung. Man könnte behaupten, dass die Handlung, die auf der Bühne stattfindet, zu jedem Zeitpunkt vom Orchester kritisch und distanziert kommentiert wird. Dadurch entfaltet die Musik aus sich heraus mehr Bedeutung und damit einen größeren Interpretationsspielraum, als es bei vielen anderen Komponisten der Fall ist. Es entstehen zwei Bedeutungsebenen der Musik: eine narrative und eine emotionale.

Auf der narrativen Ebene ist der Ritt der Walküren sehr illustrativ: Zunächst ist in den Streichern das Wiehern von neun Pferden zu vernehmen, in den Bläsern beginnt sich ein galoppierende Rhythmus auszuprägen. Schließlich symbolisieren abfallende, hohe Streicherbewegungen den Landeanflug der Walküren, der in den Beginn des berühmten Bläserthemas mündet, welches als Ausschmückung des galoppierenden Motivs verstanden werden kann. Auf einer emotionalen Ebene vermittelt die Musik eine furchteinflößende Macht, die von den halbgöttlichen Reiterinnen ausgeht. Eine Macht, die zwar zur Zerstörung fähig, aber trotz allem gemäßigt und nicht böse ist. In seiner Wirkung erweist sich das Präludium als sehr stark und direkt und wird deshalb gerne in Filmen verwendet.

Eines der ersten Beispiele für die Verwendung des Ritts der Walküren im Film ist David Wark Griffiths The Birth of Nation aus dem Jahr 1915. Im Finale des Films, der zur Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs spielt, wird eine Stadt, die von der rebellierenden schwarzen Bevölkerung belagert wird, durch den Ku Klux Klan, begleitet von Wagners Musik, befreit. Griffith nutzt hier die Dynamik des Musikstücks einerseits illustrierend – die Männer des Ku Klux Klans sind beritten – und andererseits zur Emotionalisierung der Szene: Im Kontext des Films wird die Aktion der Reiter als Befreiungsschlag wahrgenommen, die Musik verliert hier ihre – im ursprünglichen Kontext noch vorhandene – Neutralität und wird als Hymne zur Glorifizierung der „Befreier“ benutzt. Die furchteinflößende Macht, welche durch die Musik ausgestrahlt wird, wird kanalisiert und gegen den vermeintlichen Feind gerichtet, sodass sie als durchwegs positiv wahrgenommen wird. Wagners Walküren sind eine göttliche Macht, die sich für und gegen jeden Menschen wenden kann; Griffiths Reiter des Ku Klux Klan benutzen ihre Macht im Kampf gegen das Böse (zumindest nach seinem Verständnis). Die emotionale Bedeutung der Musik wird durch den Kontext des Films verändert.

Wagners Musik fand vor allem im deutschen Raum große Verwendung, er galt schließlich als einer der deutschen Nationalkomponisten. Unter der Herrschaft des NS-Regimes wurde der Ritt der Walküren als musikalische Unterlegung für Wochenschauaufnahmen des Krieges häufig verwendet. Gerade dieser Einsatz dieses Musikstücks brandmarkte es für die Zukunft und so wird Wagners Musik und insbesondere der Ritt der Walküren bis heute häufig mit Krieg und der NS-Zeit asoziiert.

Diese Verschiebung der Bedeutung des Ritts ins Negative machte sich auch Francis Ford Coppola in seinem Antikriegsfilm Apocalypse Now (1979) zunutze. Bei einem Helikopterangriff auf ein Küstenlager der Vietcong lässt der befehlstragende Lieutenant Kilgore aus den Lautsprechern des Helikopters den Ritt der Walküren spielen. Coppola macht sehr klar, dass es sich bei Kilgore offensichtlich um einen verrückten Masochisten handelt, für den Gewalt pure Banalität ist und der Freude an psychologischen Spielen mit seinem Feind empfindet. Den Ritt setzt Kilgore zur Demoralisierung der Vietcong ein; die Musik soll einschüchternd wirken und im Kontext der Gegebenheiten tut sie das auch. Der Einsatz von Wagners Musik als Abschreckungsmethode wäre ohne die historischen Entwicklungen der 30er und 40er Jahre völlig undenkbar und absurd gewesen. Allein das Bewusstsein der Geschichte lässt uns die Musik als potentiell abschreckend wahrnehmen, ob die Einschüchterung durch Wagner bei Vietcong, welche diese historische Verbindung vermutlich nicht ziehen können, tatsächlich funktionieren könnte, ist sehr fragwürdig.

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Der Film und insbesondere diese Szene erlangten einen solch hohen Bekanntheitsgrad, dass der Ritt der Walküren heute (besonders im Bereich des Kinos) primär nicht mehr mit Wagners Oper, sondern mit Coppolas Film in Verbindung gebracht wird. Die Bekanntheit dieser Szene geht so weit, dass heutzutage CD-Covers der Walküre mit Bildern aus Apocalypse Now versehen werden. Der Film trug also nicht nur zu einer emotionalen Bedeutungsverschiebung der Musik (von neutral/positiv hin zu angsteinflößend/negativ) mit bei, sondern verursachte auch eine weitere Umkehrung des Referenzsystems: die Walküre ist in der Auffassung vieler Zuschauer „die Oper, in der das Stück aus Apocalypse Now vorkommt“ und nicht umgekehrt. Nun ist dies keineswegs eine negative Entwicklung, es ist nur ein Aspekt, der bei der Analyse aller später produzierten Filme, die ebenfalls Gebrauch vom Ritt der Walküren machen, in Betracht gezogen werden muss. Es ist aber auch eine Tatsache, die es allen späteren Filmemachern ermöglicht, den Ritt in einem neuen Kontext einzusetzen, nämlich in Bezug auf Coppolas Film.

Der Einsatz des Ritts der Walküren in verschiedenen Filmen wie Blues Brothers (1978), Lord of War (2005), Watchmen (2009), Monsters (2010) kann als direkte Anspielung auf seine Verwendung in der NS-Zeit oder in Apocalypse Now verstanden werden; die verbindenden Motive in den einzelnen Filmen sind Darstellungen von Nationalsozialisten, Deutschland als Kriegsnation, Helikoptern, verrückten Soldaten oder dem (Vietnam)krieg. Fliegende Pferde oder Frauen in Männerrüstung tauchen in dieser Aufzählung nicht auf, obwohl sie der ursprünglichen Bedeutung des Musikstücks entsprechen.

Natürlich gibt es auch Beispiele, in denen der Ritt völlig unabhängig von seiner ursprünglichen Bedeutung und all diesen historisch gewachsenen Konnotationen zum Einsatz kommt. In Nicholas Rays Rebel Without a Cause (1955) – wohl der Film, der von allen hier gennannten, dem zu Beginn beschriebenen Ideal des klassischen Hollywood-Kinos am nächsten steht – summt der Protagonist Jim Stark zu Beginn des Films, als er in einer Polizeistation befragt wird, das Bläserthema des Ritts. Es handelt sich hier um die Szene, in der sein Charakter exponiert wird; alles deutet darauf hin, dass es sich bei seiner Figur um einen Rebellen handelt: er ist betrunken, obwohl viele Stühle im Wartezimmer frei sind, sitzt er erhöht auf einem Schuhputzstuhl; er steht als Außenseiter über der Gesellschaft. Wie passt der Ritt der Walküren in dieses Bild? Zunächst sei erwähnt, dass er mit dem Summen den Fragen des Polizisten ausweicht, also seine Rolle als Rebell bestätigt, doch verweist die Wahl der Melodie auf eine bedeutungsvollere Aussage. Es handelt sich hier um keine Anspielung auf den Ring des Nibelungen, die NS-Zeit, Krieg oder Deutschtum, vielmehr deutet sein Verhalten auf seine Bildung, die er vermutlich in seiner Kindheit und frühen Jugend genossen hat – er stammt schließlich aus wohlhabenden Verhältnissen. Möchte man noch auf weitere Deutungsmöglichkeiten eingehen, kann man zwischen Jim und der Person Richard Wagner eine Verbindung finden: der Komponist wird nämlich oft – stark romantisiert – als Rebell außerhalb der Gesellschaft dargestellt.

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Lässt sich in Rebel Without a Cause noch eine mögliche Verbindung zum Komponisten des Stücks finden, so setzt Federico Fellini den Ritt der Walküren in Otto e Mezzo (1963) völlig frei von jeglicher rationaler Konnotation ein. Eine Szene zu Beginn des Films zeigt den Regisseur Guido Anselmi, wie er sein Badezimmer betritt und sich im Spiegel betrachtet. Das Telefon klingelt, Guido hebt nicht ab, sondern beginnt mit jedem erneuten Klingeln tiefer in die Hocke zu gehen. Schnitt auf den Außenbereichs des Kurbades, in dem sich Guido befindet: Eine Menschenmasse (darunter viele Nonnen und Mönche) stehen in einer Reihe und warten auf ihr Glas Kurwasser. Diese beiden Szenen werden mit Wagners Musik unterlegt, die auf den ersten Blick nicht mit dem Geschehen vereinbar ist. Viele Fragen bei der Interpretation dieser Szene bleiben offen; nicht einmal die Frage nach der Quelle der Musik kann mit Bestimmtheit beantwortet werden. Im Außenbereich ist für einen kurzen Moment ein Dirigent zu sehen, der den Takt des Ritts passend angibt, es bleibt allerdings unklar, ob der Dirigent wirklich vor einem spielenden Orchester steht und welches Stück von dem Orchester gespielt wird – falls es denn überhaupt da ist. Des Weiteren bleibt offen, welche persönlichen Assoziationen Fellini mit dem Ritt und Wagner hat, es besteht im Fall von Otto e Mezzo nämlich die Möglichkeit, dass es sich hierbei um eine persönliche Entscheidung des Regisseurs handelt, dessen Begründung nur ihm bekannt ist. Tatsache ist jedoch, dass die Musik der Szene einen komisch-satirischen Charakter verleiht. Die Diskrepanz zwischen der Schwere der machtvollen Musik und der scheinbar leichten Idylle löst beim Zuschauer einer Irritation aus, die ihm eine kritische Distanz zum Geschehen verschafft (ein satirischer Effekt): Ist diese Idylle wirklich so, wie sie scheint? Nichtsdestotrotz handelt es sich hier um einen bewussten Einsatz der Musik gegen ihren ursprünglichen und historischen Kontext.

Die Bedeutungsverschiebung oder -vervielfachung eines Musikstücks im Film ist eine Tatsache, die oft aus (film-)historischen Umständen erwächst. Sie ermöglicht es, mit präexistenter Musik einen Bezug zur Geschichte oder anderen Filmen aufzubauen und so der Musik mehr Bedeutung als eine bloße Bestätigung des Handlungsgeschehens zukommen zu lassen. Behalten wir, als Zuschauer, also die geschichtlichen Entwicklungen im Hinterkopf, wird die Musik, wie bei Wagner, zum Kommentar und erzeugt Ambivalenzen, wo sonst keine dagewesen wären. Selbst der Einsatz der Musik gegen ihren historischen Kontext ist eine bewusste Entscheidung und schafft Bedeutung in der Nicht-Bedeutung.

Land of the Dead: The Horror of Film: Toby Dammit und Cuedecuc, Vampir

Kaum habe ich nach dem Screening von “Carrie” von Brian De Palma und “Suspiria” von Dario Argento im Rahmen der Land of the Dead-Schau im Österreichischen Filmmuseum meine Schwierigkeiten mit der filmischen Manipulation geäußert, schon sehe ich mit „Toby Dammit“ von Federico Fellini und „Cuadecuc, Vampir“ von Pere Portabella zwei Filme, die genau diese Manipulation thematisieren und in den wahren Horror der Filme drehen. In dieser äußerst spannenden Programmierung taten sich neue Aspekte des Genres auf, die sich mit der Konstruktion von Horror und dem (politischen) Horror, der dahinter lauert, beschäftigen und zudem auch Fragen an Rhythmus und Ton im Genre stellen. Schließlich verunsichern die beiden Filme ihre Zuseher mit ihren Blicken hinter die Kulissen und finden so den Horror der Konstruktion. Ganz beiläufig entdeckt man so noch ein fast vergessenes Fellini-Glanzstück.

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„Toby Dammit“, ist im Rahmen des Omnibusprojekts „Histoires Extraordinaires“ mit drei Edgar Allan Poe-Verfilmungen entstanden. Die anderen beiden Segmente, die uns nicht gezeigt wurden, stammen von Louis Malle und Roger Vadim. Auch Fellinis Episode „Toby Dammit“ ist eine solche Poe-Verfilmung, selbst wenn sich der italienische Meister nur in Ansätzen an der Vorlage „Never Bet the Devil Your Head“ bedient sondern eher ein freie Reflektion über den eigenen Motivkomplex (Traumwelten, existentialistisch-kriselnde Männer, in die Kamera blickende Frauen manchmal mit riesigen Hüten, extravagante Fahrten, High Society Blabla, Paparazzi, satirische Nonchalance, Rom bei Nacht, Nino Rota und einiges mehr) mit der makaberen Mystik von Poe kreuzt. Der britische Shakespeare-Filmstar Toby Dammit (Terrence Stamp) reist zu einer Preisverleihung nach Rom. Dort taumelt er durch die Hölle der gefälschten Oberflächen von Film und Fernsehen. Er bewegt sich wie ein Vampir, sieht auch so aus und hat Visionen von einem kleinen blonden Mädchen, das er in einem Interview als den Teufel bezeichnet. Der Film entwickelt sich zu einem Horrortrip. Mit einem rohrenden Ferrari jagt der nahe am Zusammenbruch stehende Mann nach einem Ausraster auf der Preisverleihung durch den nächtlichen Nebel und verliert sich völlig. Dann sieht er wieder das blonde Mädchen…Das alles funktioniert ganz außerordentlich gut. „Toby Dammit“ ist ein fast vergessener Schatz, ein großartiger Film, der sich wunderbar als Brücke zwischen der Hochphase von Fellini mit Filmen wie „La Dolce Vita“, „8 ½“ oder „Giulietta degli spiriti“ und der künstlerischen Umarmung des Artifiziellen in Filmen wie „Satyricon“ oder „Roma“ verstehen lässt. Hier ist ein Protagonist, der deutlich aktiver ist als die Marcello-Existentialisten bei Fellini. Seine Aktivität ist zwar von Surrealismus und Todestrieb bestimmt, aber sie macht am Ende des Films nicht genau dort weiter, wo sie angefangen hat, es gibt nicht das selbstbemitleidende Schulterzucken von Mastroianni, sonder die Flucht in die totale Fatalität. Folgerichtig schraubt Fellini sein sowieso schon hohes Tempo in Kamerabewegung und Schnitt nochmal nach oben. „Toby Dammit“ markiert auch die erste Kollaboration von Fellini mit Kameramann Giuseppe Rotunno, der menschlichen und gesellschaftlichen Verfall wie kaum ein zweiter in Schönheit portraitieren kann. (Man denke an seine Bilder in „Il Gattopardo“ von Luchino Visconti unter anderem). Hier wird Rom von der ersten Sekunde als Hölle gezeichnet. Ein orangener Dunst hängt über dem Flughafen, unheimliche Gestalten überall, manchmal sind es aufgemalte Figuren, manchmal echte Menschen, manchmal Attrappen, ich bin mir nie sicher, die Kamera passiert sie in einem schwindelerregenden Schönheitsrausch, der überwältigend unheimlich wirkt. In einer riesigen Summierung von POV-Schüssen aus dem rasenden Ferrari entsteht eine hypnotisch-hysterische Suche in der Dunkelheit über verlassene italienische Landstraßen, die einen völlig gefangen nimmt. Es entsteht ein Gefühl für Rhythmus, der einen in eine Horror-Trance versetzt. Wie wichtig Rhythmus und Trance für das Genre sind, zeigt sich dann vor allem in Verbindung zu „Cuadecuc, Vampir“ von Pere Portabella.

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Dieser ist zugleich ein eigenständiger Film des Horrors als eine Dokumentation des Drehs zu Jésus Francos „Count Dracula“ mit Christopher Lee. Dabei folgt der Film mit einer deformierten Tscherkassky-Romantik dem Dreh und der Geschichte um den Fürsten der Dunkelheit. In grenzwertig hohen Schwarz/Weiß Kontrasten entsteht ein Rauschen der Bilder und eines Noise-Trance Soundtracks (Elektro, Oper, Hämmer, eine Bohrmaschine???), der sich immer wieder in einer betulichen Melodie entblößt bis auch diese in ihre Einzelstücke zersetzt wird. Dabei wird bis zum Ende kein Wort gesprochen. Es ist ein Stimmungsbild eines Filmdrehs, das wie eine Erinnerung an Eindrücke von der Entstehung eines Films in uns überlebt. Hier vermischen sich Film und Nicht-Film zu einer fast ununterscheidbaren Poesie des Horrors. Es ist als würde Miguel Gomes einen Horrorfilm drehen.

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Die Bewegungen der Kamera und die Bewegungen vor der Kamera folgen dabei dramaturgischen Prinzipien des Horrors. Sie werden langsam schneller, es gibt einen Schockmoment, dann atmet man wieder durch. Einzig eine inhaltliche Verortung fehlt. Diese braucht man sich auch auf keinen Fall herstellen, denn „Cuadecuc, Vampir“ funktioniert nach einer inneren Logik über seinen Rhythmus. In beiden Filmen des Abends entsteht eine Trance, die man als Tanz mit dem Teufel bezeichnen kann. Im Gegensatz zu Argento verzichten Fellini und Portabella darauf ihre rhythmischen Horrorbewegungen mit platten Dialogen und albernen Momenten in das Reich des Trash zu überführen sondern bewegen sich entlang der Essenz des Genres. In einer Sequenz entsteht eine Erwartung an eine Katastrophe/einen Schock alleine durch den lauter werdenden Ton. Es ist natürlich kein Geheimnis, dass Ton eine der wichtigsten Rollen für das Horrorgenre spielt, aber es ist äußerst interessant, dieses Gefühl so nackt zu erleben.

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Und der Film wird zum Horror. So sind es bei Fellini die grell leuchtenden Fotoapparate, die oberflächlichen Fratzen der Filmproduzenten, das gelangweilte Nichts aus den weiblichen Darstellern und der geheuchelte Applaus einer Branche am dekadenten Abgrund während es bei Portabella das Schuss-Gegenschuss Prinzip von erschrockenen Gesichtern und der langsamen Bewegung eines Dollys um eine Ecke sind oder Hände, die aus dem Off mit Kunstblut auf Gesichter spritzen. Merkt man bei Fellini eine Bitterkeit über die grausamen Absurditäten der falschen Menschen so sucht Portabella immer wieder die wahren Momente dieser konstruierten Figuren und schneidet sie unbemerkt zwischen seine Bilder des diegetischen Geschehens: Ein kurzer Ekel über die Flüssigkeit nach dem Take, ein plötzliches Lächeln in die Kamera. Dabei manipuliert „Cuadecuc, Vampir“ auf seine ganz eigene Weise, denn er spielt bis zum Anschlag mit den Möglichkeiten der Montage. Gesichter und Ausdrücke werden gegeneinander geschnitten und erzeugen eine Angst, die nur vor dem Film selbst entsteht. So wird für einige Sekunden die Vorrichtung gezeigt, auf der sich die Fledermausattrappe vor und aus dem Fenster bewegt. Dies lässt uns zwar die Konstruktion durchschauen, aber Portabella schneidet die Bilder so in seinen Film, dass der Horror einfach weitergeht. Die Maske des Horrors fällt und bleibt gerade deshalb und wer will kann dabei vor allem bei Portabella eine anti-faschistische Allegorie sehen. Denn wer in Dracula die Verkörperung von General Francsico Franco sieht, der wird einiges über den Horror einer faschistischen Regierung erfahren, wenn dieser sich seine unheimlichen Augen aus dem Gesicht nimmt und als ganz normaler Mensch vor uns sitzt. Am Ende liest Chirstopher Lee dann aus dem Roman den Tod seiner ikonischen Figur vor. Er muss zweimal beginnen. Als er endet, wird seine Figur doch wieder zu Dracula. Es ist ein Spiel, wir durchschauen es, aber dennoch verunsichert es uns und macht uns Angst. Nur weil die Maske des Horrors fällt, fällt noch lange nicht der Horror darunter. Das Ende von „Cuadecuc, Vampir“ bricht mit dem Horror und bestätigt ihn zugleich.

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Ein faszinierendes Double-Screening, das den Spiegel auf den Horror richtete und nicht das offenbarte, was man erwartet hat.