Am 1. Februar 2016 setzte sich in Wien eine weitere Generation von Interessierten, Cinephilen und Zufälligen in die Gegenwart einer Vorführung des Films Hurlements en faveur de Sade von Guy Debord. Der Film besteht im Wesentlichen nur aus schwarzen und weißen Screens, wobei in den weißen Debord beziehungsweise seine lettristischen Kollegen allerhand Zitate, Absurditäten, Provokationen und philosophische Gedanken von sich geben, während in den schwarzen Phasen eine totale Stille herrscht (eine Stille auf Tonebene wohlgemerkt, denn man hört den Film und das Publikum). Der Höhepunkt dieses „Nicht-Films“ sind dann die 24 Minuten schwarze Stille am Ende. Es scheint daher zunächst nicht verwunderlich, dass der Film bei seinen ersten Aufführungen 1952 für Skandale sorgte. Das erste Screening wurde abgebrochen, beim zweiten Screening, bei dem Debord zusammen mit Michèle Bernstein Mehl vom Balkon auf das Publikum warf, kam es zu heftigen Ausschreitungen des Publikums.
In Wien war das Unsichtbare Kino von Peter Kubelka gut genug gefüllt, um einiges zu erwarten. Ich selbst kannte davor drei Filme von Debord, von denen ich zwei an den vorhergegangenen Tagen in Anwesenheit von Olivier Assayas und Alice Debord sehen durfte. Ich kenne einige der schriftlichen Gedanken von Debord, wenn auch nicht genug. Ich wusste auch von der Skandalträchtigkeit des Films. Mein Eindruck war immer, dass der Skandal eine Sache der Gegenwart ist. Er hängt am Verhältnis zur Gegenwart. Ich frage mich, ob das Kino – bei aller Gegenwärtigkeit – nicht automatisch den Effekt verliert, wenn ein Skandal sozusagen Teil der Geschichte ist. Ein Skandal im Museum verliert oft an Kraft. Es hängt wohl letztlich am Wissensstand des Publikums (das gilt im Endeffekt wohl für alle Künste). Und bezüglich dieses Wissenstandes offenbarte sich an diesem Abend eine Wahrheit, die ich als post-cinephilen Zustand umschreiben würde, einen Zustand der die cinephile Situation selbst als Geschichte betrachtet und uns in unseren Rollen heute nur mehr zu Re-enactments bewegen kann und uns damit oft am Ausleben einer eigenen Sprache hindert. Als ich einmal eine heftige Reaktion begleitet von Aufschreien in einem Studentensaal erlebte, als man die Rasiermesserszene aus Luis Buñuels Un chien andalou zeigte, war ich eher darüber entrüstet, dass so wenige diese Szene bereits kannten. Dennoch könnte mich dieses Beispiel Lügen strafen.
Alexander Horwath, der Direktor des Filmmuseums betrat an diesem Tag äußerst gut gelaunt das Kino, um eine Einführung zu geben. Er war verdächtig guter Stimmung. Zusammen mit einigen Freunden haben wir immer das Verlangen nach diesen Präsentationen. Bei Debord ist das einfach wunderbar. Da das Filmmuseum als erste Institution weltweit die Filme Debord für die eigene Sammlung erwerben konnte, bekommen wir das Gefühl, dass dem Haus diese Filme besonders am Herzen liegen. Es ist dieses romantische Langlois-da Costa-Gefühl, wenn Herr Horwath den Saal betritt um uns/dem Publikum etwas über das Kino zu erzählen, über die Schätze, die er gefunden hat und über den Prozess, der sie letztlich zu uns gebracht hat. Er scheint immer wieder neuen Gedanken zu folgen und statt – wie er es oft tut, wenn Gäste im Haus sind – sich in höflichen Notwendigkeiten zu verlieren, spricht er dann wirklich über das Kino, das er gleichzeitig lebt und liebt. Es ist in diesen Augenblicken, in denen das Kino wirklich zum Erlebnis wird, in dem eine Gesellschaft nur an diesem Ort besteht. Zunächst sprach er über den etwas schwierigen Kopienzustand des Films (den er als Zwischenzustand bezeichnete), der ursprünglich auf 16mm gedreht wurde, aber uns in 35mm gezeigt wurde, weil die einzige 16mm-Kopie im Besitz von Alice Debord ist. Eine Kopie des Originalformats müsse noch hergestellt werden. Was wir an diesem Abend zu sehen bekamen war eine 35mm-Kopie, die ein Freund und Wegbestreiter Debords hergestellt hatte mit neuen schwarzen und weißen Platten, was also fehlte, waren die Spuren der Zeit auf dem Film. Herr Horwath beschrieb den Unterschied en detail. Es ist bezeichnend, dass sich der eigentliche Skandal in der Publikumsreaktion auf diese lange Beschreibung mit objektbezogenen Informationen zum Film zeigte. Eine Ungeduld machte sich im Saal bemerkbar, sodass Herr Horwath sich am Ende seiner großartigen Ausführungen sogar genötigt sah, sich für deren Länge zu entschuldigen. Allerdings mit dem Zusatz (in einer mir unbekannten, tief österreichischen Formulierung, die ich daher nur paraphrasieren kann): In diesem Haus gehört es zur Philosophie, dass wir sie nicht anlügen bezüglich dessen, was sie zu sehen bekommen. Desweiteren holte Herr Horwath groß aus und erzählte allerhand Anekdoten über die Lettristen, Debord und begründete seine eigene Programmierung (die Reihenfolge, in der die Filme gezeigt werden), die zwei Tage zuvor von Assayas etwas hinterfragt wurde. Es war die beste Einführung, die ich in regulären, öffentlichen Vorführungen seit langer Zeit gehört habe. Viele im Publikum haben kein Verständnis dafür. Man fragt sich ernsthaft, ob sie nur mit ihrer Uhr und ohne ihren Kopf ins Kino gehen. Ganz ähnlich trug es in einem anderen Kontext vergangenes Jahr zu, als Christoph Huber eine grandiose Einführung zum Werk Sacha Guitrys gab und sich eine ähnliche Unzufriedenheit im Publikum ausbreitete. Dieses Verhalten hat dann nichts mit einer post-cinephilen Situation zu tun, sondern schlicht mit Ignoranz.
Als Herr Horwath dann fast am Ende angelangt war, machte er in meinen Augen einen folgenschweren Fehler bezüglich des Potenzials eines Eindrucks des folgenden Screenings von Hurlements en faveur de Sade, der letztlich genau auf das eingangs geschilderte Problem einer post-cinephilen Situation verweist. Er erwähnte, dass der Film auch bei seiner Vorführung im Lincoln Center im März 2009 für einen Skandal sorgte, dass der Film also auch Jahrzehnte später noch das Potenzial für einen Skandal in sich trage. Er berief sich dabei – ohne sich genau zu erinnern – auf den Text Howls for Debord von Zack Winestine (pdf hier), der dieses Screening beschrieb. Herr Horwath forderte das Publikum dazu auf, Unzufriedenheiten oder Kommentare auch während der Vorführung zu äußern. Man merkte ihm die Begeisterung, ob der Möglichkeit einer solcher Vorführung an. Es wirkte ein wenig wie die Hoffnung auf eine cinephile Situation, die bewiesen hatte, dass sie sich wiederholen lässt. Aber hatte nicht Herr Horwath in seinem Enthusiasmus die Unschuld einer möglichen Reaktion des Publikums gebrochen? Die Philosophie einer Einzigartigkeit und Gegenwärtigkeit der filmischen Vorführungen wurde hier bereits vor dem Beginn in einen geschichtlichen Kontext gesetzt, der natürlich nicht auf Wiederholung setzt, aber doch auf ein Muster, dass es im Bewusstsein der Geschichtlichkeit nur schwer geben kann. Damit wurde an diesem Abend absichtlich oder unabsichtlich doch etwas Neues gewagt, nämlich der Versuch ein Publikum im Bewusstsein eines Skandals zu skandalisieren. Die Frage an den Film war: Kann er im Moment seiner Aufführung zu Reaktionen bewegen, die man eigentlich bereits kennt? Löscht also die filmische Vorführung gewissermaßen das geschichtliche Bewusstsein oder besser: Entsteht aus dem geschichtlichen Bewusstsein eine Situation, die dieses Bewusstsein überrumpelt? Das ist natürlich auch insofern spannend, da die Antizipation auf diesen und auch andere Filme ja genau mit der Erwartung eines solchen Skandals zusammenhängt. es ist also ein zweischneidiges Schwert, wenn man etwas sieht, wegen des Skandals und dann schreit: „Skandal!“.
Das Problem des post-cinephilen Zustands ist klar: Es ist die Verortung aller Handlungen im Vergleich zu den Göttern der Cinephilie. Wenn ich also diesen Text schreibe, dann schreibe ich ihn nicht nur als unschuldige Reaktion auf das Screening, sondern auch als Reaktion auf Texte und Aussagen, die darüber bereits gemacht wurden. Dasselbe gilt für Entscheidungen von Filmemachern, die Einführung von Herrn Horwath und bewusst oder unbewusst (aufgrund der Aussagen von Herrn Horwath) für jede getätigte Handlung oder Aussage des Publikums während der Vorführung. Jene, die den Saal während des Films verließen, zeigten damit nicht (nur) ihre Abneigung gegen das Gezeigte, gegen den Moment, sondern auch gegen die Geschichtlichkeit des Moments, sie reagierten nicht direkt, sondern vermittelt. Eine Frau begann während des Films in den Schwarzphasen zu sprechen. Als sie aufgefordert wurde, ruhig zu sein, giftete sie (in einem österreichischen Dialekt, dessen Wiedergabe mir erneut nicht möglich ist): „Du hörst doch jetzt eh nichts.“ und später: „Wir sind doch nicht in der Kirche.“. Aber waren ihre Aussagen eine direkte Reaktion oder eine von Herr Horwath vermittelte, denn wie könnte man einer Aufforderung zum Skandal folge leisten, wenn doch das Wesen eines Skandals wäre keinen Aufforderungen Folge zu leisten. Eine skandalöse Reaktion wären wohl eher Tränen der Identifikation, ob der Bilder gewesen. Noch deutlicher wurde dieser Widerspruch als ein Mann in der Mitte des Films den äußerst sorgsam formulierten Cliffhanger: „Ein unsichtbarer Film im Unsichtbaren Kino. Ist das die Essenz?“ von sich gab. Mein Kollege Rainer dagegen beschäftigte sich in den Schwarzphasen auffällig mit dem Licht im Saal, das trotz völliger Dunkelheit zeigte, dass es mit diesem unsichtbar schon lange vorbei ist. Er bewegte seine Hände und betrachtete sie wie eine Sensation. Dann blickte er wieder zur Decke. Die Frau vor mir umklammerte den ganzen Film ihre Plastikflasche und als vor ihr ein paar jüngere Zuseher begannen zu reden und auf ihren Handys zu schauen, bemerkte sie: „Wie in der Schule.“ und hörte zwei Minuten nicht auf zu flüstern. Später schaltete sich auch noch Harry Tomicek ein, der von hinten etwas unverständlich nach einem Applaus verlangte, den es dann am Ende auch gab. Ansonsten blieb es es ruhig und nach einem weiteren Debord-Film, Réfutation de tous les jugements, tant élogieux qu’hostiles, qui ont été jusqu’ici portés sur le film „La société du spectacle“ und einer Vorführung der obszönen Nahaufnahmen von Giulietta Masina blieb wieder nur die Sehnsucht nach der cinephilen Unschuld in einem Kino, in dem man es irgendwie gewohnt ist, dass man Filme sieht, die aus schwarzen und weißen Bildern bestehen.
Vielleicht liegt es an uns oder der Tatsache, dass Kinoliebe insbesondere in diesen Tagen darin besteht, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Aber oft verwechseln wir die Hoffnung auf einen cinephilen Augenblick mit dessen Existenz. Man könnte es auch die Fallstricke einer Über-Reflektion nennen und wahrscheinlich werden wir in einigen Jahren erst wissen, was diese Jahre im Österreichischen Filmmuseum, auf den Festivals, vor den Laptops und Sozialen Medien wirklich für Jahre waren im Leben mit der Kinoliebe. Dann wird man auch die Gedanken von Girish Shambu oder Adrian Martin zu diesem Thema anders betrachten können. Dieser Abend war einzigartig, so viel steht fest.