Alterserscheinungen

Es gibt Filme, die wir an irgendeinem Punkt im Laufe unseres Lebens ins Herz geschlossen und in den Kammern „schönes Erlebnis“, „wichtiger Film“ oder „formal spannend“ verwahrt haben. Diese Bilder und Töne trafen zu einer bestimmten Zeit einen Nerv, der eine drängende Nähe zu unserem persönlichen Befinden, brisanten gesellschaftlichen Themen oder einer gerade erst aufblühenden Entdeckung von filmischen Herangehensweisen hergestellt hat. Die besondere Beziehung zu diesen Filmen entstand zu einem Zeitpunkt, der kurz darauf – das Grundprinzip der Zeit liegt schließlich in ihrem Vergehen – schon immer bereits unseren vergangenen Ichs angehörte. Dieser Film und das Ich haben eine prägende Zeit miteinander erlebt, sie sind quasi lebensabschnittsverpartnert. Aber woran ist uns am meisten gelegen – an einer Aussage, an einem Bild, an einer Emotion – was hat uns damals begeistert, erregt, aufgeregt? Eine Begegnung Jahre oder gar Jahrzehnte nach dem letzten Aufeinandertreffen kann wie das Wiedersehen einer alten Liebe sein: herzerwärmend, voller Sehnsucht, ernüchternd oder enttäuschend.

Weil viele Kulturkritiker*innen ihre romantische Ader (und damit meine ich auch die Liebe zu einzelnen Momenten und spezifischen Formen von Filmen) selten zur Schau stellen, fragen sie bei einer solchen Wieder-Begegnung mit filmischen Vertrauten vielleicht „Und, ist der gut gealtert?“ Unter Filmrestaurator*innen mag diese Frage passionierte Diskussionen über den Zustand des Materials hervorrufen, aber im Falle der Kritiker*innen entsteht oft eine vernunftorientierte Spannung zwischen Ratio und Emotion. Die Seherfahrung wird nüchtern in Worte gepackt und die kulturelle Prägung urteilt über die ästhetische Erfahrung mit. In dem Moment, in dem ein Film gesellschaftliche Kontexte sichtbar werden lässt, wird die Altersfrage lauter. Die Entscheidung bei der Frage zwischen gutem und schlechtem Altern – alles zwischen diesen beiden Polen wirkt eher uninteressant – fällt meist zugunsten der Ratio aus, die persönlichen Emotionen schweben als Faktor vielleicht mit, sollten sich aber lieber in inoffiziellen Gefilden bewegen. Als gut gealtert erkläre ich einen Film, weil ich ihn selbst noch so spüre wie früher, sondern viel mehr, wenn ich seine gesellschaftspolitisch offene Haltung erkennen kann, die die Relevanz seines Hineinreichens in die Gegenwart unterstützt. Lese ich auf der erzählerischen Ebene stark konservative Werthaltungen heraus, mögen diese zwar als Indikator einer bestimmen Zeit und politischen Richtung für den historischen Blick interessant werden, aber nicht mit dem liberalen Fortschrittsblick meiner gesellschaftsoptimistischen Seele einhergehen. Die Feststellung eines guten Alterns bezieht sich also viel weniger auf eine messbare Distanz zum Zeitpunkt der Entstehung, sondern erweist sich als Spiegel gegenwärtiger Themen, die in der Vergangenheit schon einmal auf eine ähnliche Weise erfahrbar waren. Nicht die Filme verändern sich, sondern die Welt und unsere persönlichen Mikrokosmen, in denen wir sie erleben. Aber wohin gelangen die Emotionen, mit denen wir noch einmal den Geschmack von Nostalgie auf der Zunge spüren? Sammeln sie sich mit dem Prozess des Alterns an, um heimlich die Herzkammern zu befüllen und in ungeahnten (Film-)Momenten plötzlich hervorzuquellen? Gerade Filme, mit denen wir aufgewachsen sind und die uns besonders geprägt haben, konfrontieren wir oft vorsichtig mit der Altersfrage. Es besteht die Gefahr, sich von diesem Teil unseres alten Ichs mit Trennungsschmerz zu lösen, denn das Ich ist nicht mehr, wie es mal war. Doch wohin mit diesen Filmen, die einmal Teil von uns selbst waren, von denen wir uns eigentlich nicht ganz trennen wollen, die wir aber auch nicht mehr so schätzen und lieben wie einst? Wie verändert sich unser Umgang mit Emotionen mit fortschreitendem Alter? Wie begegnen wir unseren Lieblingen von damals? Ich schreibe von einem wir, weil ich recht sicher bin, mit meiner Erfahrung nicht alleine zu sein.

Für die Retrospektive „Young at heart – Coming of Age at the Movies“ der diesjährigen Berlinale wählten 26 Filmschaffende ihre „persönlichen Lieblinge“ unter den Coming-of-Age-Filmen aus. Viele von ihnen mögen hier ihrem vergangenen Ich wiederbegegnet, erneut berührt worden oder enttäuscht gewesen sein. Eine andere Emotion, die uns beim Wiedersehen mit Filmen begleiten kann, sind Wut oder Frustration. Wut, weil wir so viel Zeit mit diesen Filmen verbracht haben, deren Werthaltungen, die wir längst ablehnen, uns persönlich beeinflusst haben. Frustration, weil wir in diesen Filmen unserem alten Ich begegnen und es am liebsten mit anderen Filmen, die wir jetzt ästhetisch oder inhaltlich weit mehr schätzen, konfrontieren würden, von denen wir damals aber einfach nicht wussten oder zu denen wir keinen Zugang hatten.

Céline Sciamma entschied sich im Rahmen der Retrospektive für Martha Coolidges Not A Pretty Picture aus dem Jahr 1976. Sie begründete, dass sie das Werk der US-Amerikanerin als Teenagerin selbst gern gesehen hätte. Kristen Stewarts Entscheidung beispielsweise fiel auf eine Filmerzählung, die sie als Mädchen tatsächlich verehrte: Now and Then von Lesli Linka Glatter, der knapp zwanzig Jahre später erschien. Ich habe beide Filme erst im letzten Jahr gesehen und wäre ihnen, genau wie die beiden Filmemacherinnen, auch gern früher, mit meinem alten Ich begegnet. Doch hätten mich Not A Pretty Picture und Now and Then im Teenagerinnen-Alter ebenso nachhaltig beeindruckt, sodass ich sie als „wichtige Filme“ oder „schöne Erlebnisse“ abgespeichert hätte? Gibt es Filme, für die wir den Moment verpasst haben? Können wir Filme zu spät sehen? Mein gealtertes Ich wird niemals eine Antwort auf diese Frage geben, sondern lediglich Bedauern fühlen können.

Die Aussagekraft von Not A Pretty Picture vermittelt sich für mich heute durch seine dokumentarisch angelegte Form, die ihn an eine nicht abgerissene Dringlichkeit – hier mischen sich Bedauern und Wut angesichts des fehlenden Alterns so mancher darin verarbeiteter Problematik – an feministische Diskurse bindet. Coolidge dokumentiert, wie sie als erwachsene Frau ihre eigene Vergewaltigungserfahrung als High-School-Schülerin filmisch zu erzählen versucht. Indem sie Situationen mit jugendlichen Darsteller*innen inszeniert, teilt sie sich als Opfer mit, kreist um den Hergang der Tat und dekonstruiert seine Bedeutung auf gesellschaftspolitischer Ebene. Die Szenenarbeit wechselt Not A Pretty Picture mit Gesprächen zwischen Coolidge und den Darsteller*innen ab. Darin treffen Ansichten, indirekte Haltungen und Verhaltensweisen der Mädchen und Jungen aufeinander. Coolidge misstraut dem illustrativen Kino, macht ihre Interventionen zum Gegenstand des Films selbst. Es ist der Versuch, Bilder und Worte für etwas zu finden, was tiefe Narben hinterlassen hat. Das reinszenierte individuelle Erleben von Coolidge schlägt die Brücke zu einem schmerzvollen Empfinden der Seele, das die Aussagekraft der Momente emotional und rational aufnimmt. Immer wieder stelle ich mir die Frage, ob ich diese Bedeutungsebenen damals, als Feminismus mehrheitlich als Beleidigung eingesetzt wurde und Feministinnen am Schulhof für unattraktiv erklärt wurden, überhaupt greifen hätte können. Ob ich über die Form des Films, die sich in Handkameraaufnahmen von längeren Gesprächen niederschlägt, einen Zugang gefunden hätte? Ist dieser Film in meinen Augen deshalb gut gealtert, weil ich die Intentionen und Gedanken der Filmemacherin jetzt viel mehr zu verstehen glaube, als ich es damals getan hätte? Wie gut ein Film in unseren Augen gealtert ist, hängt vom persönlichen Umgang mit Diskursen ab, genauso wie von unserer Wahrnehmung seiner formalen Einzigartigkeit. Hier treffen sich Emotion und Ratio. Wenn gewisse Themen, die selten filmisch verarbeitet wurden, durch einzelne Werke Sichtbarkeit erfahren, dann können sie schnell einen Platz im Herzen erobern. Denn im Herzen findet sich mit dem Altern, basierend auf den Erfahrungen, auch die Sehnsucht nach Themen und Diskursen. Genauso aber macht sich die Sehnsucht nach einer Bereicherung durch die Form breit, je häufiger wir, die wir im Kino auch die Kunst suchen und nicht nur den Konsum, sie schmerzlich vermissen müssen. Mit dem Prozess des Alterns mag sich schlicht verändern, wofür wir brennen, was uns frustriert und in welchen Kinoerlebnissen wir uns besonders genüsslich verlieren. Insofern wohnen einem Rückblick, alleine in den eigenen vier Wänden oder im Rahmen einer Retrospektive, stets Freude oder Frust, Genuss oder Mühsal, Wiedersehenseuphorie oder endgültige Trennung bei. Im Fall von Not A Pretty Picture vermag ich mir dieses Wiedersehen nur vorzustellen. Aber selbst in der Vorstellung spüre ich das in mir, was man Altern nennt.

Einige Gedanken zu Friederike Pezolds Canale Grande

In den 1980ern im Rahmen des Forums der Berlinale hochgelobt, fristete Canale Grande von Friederike Pezold in den letzten 40 Jahren ein Schattendasein. Nun wurde er im Zusammenhang des Programms „Sehnsucht 20/21“ der diesjährigen Diagonale fast beiläufig, wenn man der Erzählung der Festivalintendanz Glauben schenken mag, wiederentdeckt. Nach einer Odyssee, die laut Sebastian Höglinger einem Agentenfilm geähnelt hätten, konnten schließlich die Rechte für eine erneute Aufführung gesichert werden. Dem Mythos um diesen Film hat diese Geschichte mitnichten geschadet. Man soll sich wohl glücklich schätzen, diesen Film sehen zu dürfen.

Wie ein Manifest beginnt der Film. Pezold, die sich selbst vor der Kamera als Protagonistin des Films inszeniert, überstreicht mit schwarzer Farbe zuerst die Fenster ihrer Wohnung sowie anschließend die Mattscheibe des Fernsehers. Dort flimmert noch die Übertragung einer Karnevalssitzung. Im Bild  ein bietrunkenes Männergesicht, dazu volkstümelnde Beschallung. Pezold will sich damit lossagen von der überfüllten Welt der Bilder und Wörter – oder wie sie es nennen würde: der ganzen Scheiße. Sie fasst den Entschluss, von nun an ihr eigenes Fernseh-Programm zu gestalten, das sie aber stattdessen als Nah-Sehen bezeichnet. Für ihren Sender „Radio Freies Utopia“ muss sie sich nur noch die entsprechenden Produktionsmittel beschaffen. Wenig erfolgsvorsprechend versucht sie sich öffentliche Überwachungstechnik aus Bank und U-Bahn anzueignen. Aber schließlich wird sie in einer Psychiatrischen Klinik fündig. Georg Orwell oder Michel Foucault scheinen verstummt in Rufweite zu sein.

Von da an sendet sie ihr Programm direkt aus der Kamera über ein einziges Kabel auf einen Monitor. Das Studio wird kurzerhand mobil gemacht, indem Pezold alles auf einer Trage zusammen schnürt. So kann das Nahseh-Programm wie das Fernsehen überall hingelangen – aber jeweils nur an einem Ort, nicht an allen gleichzeitig. Pezold zitiert damit eine ihrer medienkünstlerischen Arbeiten (Radio Freies Utopia), mit der sie schon einige Jahre zuvor bekannt geworden war. Mit einem gewissen anarchischen Geist, der vielleicht an die Filme des neuen deutschen Films – insbesondere Herbert Achternbusch – erinnert, zieht die Regisseurin durch die Straßen von Wien und Berlin. Begleitet wird sie dabei permanent von einer zweiten Kamera (Elfi Mikesch), die des Films. Zwei Medien – Film und Video – begegnen sich. Das eine elektronisch-ephemer, das andere körnig-materiell. Für Pezold lösen sich so im Video Utopien ein, während diese im Realismus des Films vermeintlich schon verloren gegangen sind. Höglinger sprach im Vorfeld davon, bei dem Film handele es sich um eine Revolution. Diese gilt es jedoch nicht im geschichtlichen Sinne zu suchen, vielmehr handelt es sich um die Bildwerdung der feministischen Losung: Das Private sei Politisch.

Canale Grande scheint sich allerdings der Schwierigkeiten, die Utopie zu verwirklichen, bewusst zu sein. Auch, wenn das wahrscheinlich der geläufigen Lesart dieser oder ähnlicher Filme zuwiderläuft, so könnte man meinen, Pezold versuche eher die Kehrseite des Politischen zu zeigen. Der Akt der Aneignung gerät zur Farce, nämlich dann, wenn auch der eigene Leib zum Produktionsmittel verdinglicht wird. Emanzipation und Verhängnis sind sich dabei mindestens so nah, wie die Kamera dem Körper. Befreiung, bloß positiv zu denken, wie es die Katalog-Texte suggerieren, sitzt damit unweigerlich dem Missverständnis von Brechts Radiotheorie auf, die Enzensberger einmal, beflügelt von den naiven Hoffnungen der 68er, in die Welt gesetzt hatte.

Anstatt sich die Frage zu stellen, was es bedeutet, diesen Film 40 Jahre später wieder aufzuführen, wird er als zeitlos, ja gerade zeitgenössisch verschrien. So als würde ihn das in irgendeiner Weise wertvoller machen oder aus seiner verstaubten Archivecke holen können. Was das Anliegen des Films betrifft, sollte so eine Aussage wohl eher erschüttern. Wer glaubt, den Vergleich so ohne weiteres ziehen zu können, hat sich vielleicht schon mit der Musealisierung der Avantgarden gemein gemacht und die implizite Frage hinter der Antwort, die Pezold bereit hält, nicht verstanden. Die utopische Sehnsucht nach Nähe vollzieht sich notgedrungen durch Abtrennung beziehungsweise Vereinzelung. Doch was ist das Versprechen davon? Müsste man nicht diese Zurichtung zum Individuum, das sich selbst zu Markte trägt, infrage stellen, gerade im Jahr 2021? Was für den Film als revolutionär erscheint, zeigt sich doch gegenwärtig als banales Einverständnis mit der Wirklichkeit. Das Bild mag das selbe sein, aber die Bedingungen haben sich verändert.

So sehr ein Film auf die Realität einwirken mag, wird er im Getöse des Betriebs zum Mythos idealisiert, um ihn letztlich handhabbar zu machen. Das zählt wahrscheinlich auch für Canale Grande. Den Film wie auf einem Servierteller präsentiert zu bekommen, mutet an, wie ein Ereignis, an dem man Teil hatte, hinter dem jedoch die Erfahrung zurück fällt. Man wird aber nicht schlauer aus einem Film, wenn man sich vorhält, wie besonders er sein möge. Im Gegenteil, es zeigt wohl eher, welcher Stellenwert ihm in einer total vereinzelten Welt zukommt. Wo sich dort noch Sehnsucht auf eine bessere Welt verbergen soll, bleibt mir vorerst unerklärlich.

 

Der ominöse „weibliche Blick“

Eva Bosáková in O něčem jiném

Im Zeughauskino in Berlin zelebriert man dieser Tage die erste Welle von weiblichen Filmemacherinnen, die sich in den 60er Jahren in der männerdominierten Filmwelt durchsetzen konnten. Fünfundzwanzig Filme von zwanzig europäischen Regisseurinnen werden mit umfangreichem Begleitprogramm präsentiert. Viele dieser Filme sind Wiederentdeckungen, die lange nicht mehr zu sehen waren oder überhaupt zum ersten Mal auf deutschem Boden gezeigt werden. Sie sind in einer Welt entstanden, in der Frauen in der Produktion und Distribution von Filmen benachteiligt werden. Die jahrelange Marginalisierung von Frauen in der Filmkunst, die wie keine andere Kunstform von finanziellen Rahmenbedingungen abhängt, ist beklagenswert. Wie viele Meisterwerke sind durch die Ausgrenzung großer Künstlerinnen verloren gegangen?

O něčem jiném von Věra Chytilová

O něčem jiném von Věra Chytilová

Immer wieder wird in Diskussionen dabei der „weibliche Blick“ beschworen. Dieser ominöse „weibliche Blick“ soll Filmemacherinnen ureigen sein und sich als ästhetische Konstante durch deren Werk ziehen. Wenn auf den großen Festivals ein Film einer Regisseurin für Furore sorgt, oder sich in den Arthauskinos ein Film einer Frau besonders gut verkauft, dann dominiert er die Berichterstattung. Ähnlich wie Filmemacher mit Migrationshintergrund oder nicht-weißer Hautfarbe gerne auf diese Eigenschaft reduziert werden, ist es im filmischen Diskurs gelungen Filmemacherinnen auf den „weiblichen Blick“ zu reduzieren. Nach einem Screening ihres Films Le Meraviglie konstatierte Alice Rohrwacher, selbst wenn sie einen Film machen würde, indem pausenlos Menschen mit Maschinengewehren niedergemäht werden, wäre nur eine Aufnahme einer Blumenwiese im Film, würde man ihr einen „female gaze“ unterstellen. Dabei wird dann gerne darauf vergessen, dass diese Filme nicht ihre „Weiblichkeit“ auszeichnet, sondern ihre Qualität. Als kürzlich nach dem Tod Chantal Akermans hervorgehoben wurde, dass sie die bedeutsamste feministische Filmemacherin war, wurde ganz darauf vergessen, dass sie darüber hinaus „eine der größten und bedeutendsten Künstlerinnen (unabhängig ihres Geschlechts)“ war, wie es Patrick in seinem Nachruf für kino-zeit.de formulierte. Am Beispiel Akermans wird ohnehin deutlich, dass eine Filmemacherin, auch wenn sie als größte feministische Filmemacherin gepriesen wird, nie nur Frau ist, sondern sich ihre Perspektive (oder ihr Blick, wenn man so will), immer aus verschiedenen Erfahrungen zusammensetzt; Akerman ist Frau/Mädchen, Jüdin, geprägt durch ihre Kindheitstage in Armut und ihr wechselvolles Verhältnis zu ihren Eltern. Der Begriff des „weiblichen Blicks“ ist insofern irreführend, als er dazu verleitet anzunehmen, dass Frauen durch ihr zartes, feinfühliges Innenleben automatisch eine bestimmte Form von Filmbildern, eine bestimmte Ästhetik bevorzugen. Das ist bullshit. Genauso fehlgeleitet, wie der Versuch, die restlichen 90 oder mehr Prozent, aller gedrehten Filme unter dem Begriff eines „männlichen Blicks“ subsumieren zu wollen. Ohne Zweifel wird man die Blumenwiese finden, wenn man sie sucht, genauso den Phallus. Geht man in der Thesenbildung von einer patriarchalischen Struktur im „männlichen Blick“ aus, so wird man fündig werdenSelbstverständlich unterscheiden sich Filme von Frauen in gewissen Punkten von den Werken ihrer männlichen Kollegen und selbstverständlich ähneln sie sich dafür untereinander in sehr vielen Punkten, aber das liegt weniger an einer verborgenen Sentimentalität oder typisch weiblichen Charakterzügen, die ihre Filme prägen, sondern an der Welt in der sie leben. Mit der Marxismus-Keule in der Hand könnte man von Determinierung sprechen.

Ein Künstler oder eine Künstlerin (es gibt sicherlich Ausnahmen) projiziert immer Bestandteile ihres Lebensumfelds in ihr Werk. Bei manchen ist das offensichtlich, bei manchen wirkt es verborgen. Frauen leben in einer Welt, die es ihnen in vielerlei Hinsicht nicht leicht macht. Dies trifft umso mehr auf Frauen in den 60er Jahren zu. Dementsprechend findet sich in Filmen von Frauen oft ein Abbild dieser Verhältnisse. Sie verarbeiten ihre Lage, ihre Ängste, ihre Probleme mittels ihrer Filme. Bei den Pionierinnen weiblichen Filmschaffens, denen diese Schau gewidmet ist, finden sich vermehrt solche Motive, denn die Lebenserfahrung dieser Frauen als Filmemacherinnen war bestimmend für ihr Filmschaffen. Diese Erfahrungen unterschieden sich sehr stark von jenen ihrer männlichen Kollegen – Frauen arbeiteten in einem fremden und diskriminierenden Umfeld, ob in Frankreich, Ungarn oder der Tschechoslowaki, deshalb finden sich trotz nationaler und kultureller Unterschiede Verbindungslinien zwischen ihren Filmen. In Opposition zu den Filmen männlicher Regisseure, wo es zumeist um Männer geht, handeln ihre Filme oft von Frauen und ihren Alltagserfahrungen, im Speziellen ihrem Arbeitsleben und ihren (sexuellen) Sehnsüchten. Die Andersartigkeit dieser Filme ist also bedingt durch die alternative Perspektive auf die Welt, die diese Frauen mittels ihrer Filme teilen, und nicht mit einem „weiblichen Blick“, der eine bestimmte Ästhetik zur Folge hat. In weiterer Folge werde ich also vermeiden einen „weiblichen Blick“ in der Bildsprache dieser Filmemacherinnen herbeizuimaginieren, sondern ihre Filme als das zu beschreiben, was sie sind: gute, mitunter auch großartige Werke.

Neun Leben hat die Katze von Ula Stöckl

Neun Leben hat die Katze von Ula Stöckl

Věra Chytilovás O něčem jiném ist ein Musterbeispiel für einen Film, der die Lebenswelt der Frau thematisiert und fassbar macht. Ursprünglich als Film über die damalige Weltklasseturnerin Eva Bosáková konzipiert, geht Chytilová weit über die Konventionen des biografischen Films hinaus. Zwar lässt sich der Film problemlos innerhalb der Nová vlna verorten – reduzierte, kontraststarke Schwarz-Weiß-Bilder, eine nicht ungetrübte Sicht auf die Lebensverhältnisse in der damaligen Tschechoslowakei und eingestreut, ein paar formal sehr wagemutige Montagesequenzen und raffinierte Kameraeinstellungen – doch im Umgang mit seinen Figuren und deren Lebenswelt ist der Film außergewöhnlich. An die Seite Bosákovás, die sich im Film selbst spielt, stellt Chytilová eine zweite weibliche Figur. Die beiden Frauen begegnen sich nie, ihre Geschichten laufen parallel nebeneinander, führen nie zusammen, kommentieren sich jedoch gegenseitig. In beiden Fällen geht es um den Terror der weiblichen Existenz. Zum einen manifestiert sich dieser Terror in Evas täglichem Training, der Monotonie, den Erwartungen, die in sie gesetzt werden und die sie ermüden, die Fremdbestimmung durch ihre Trainer. Zum anderen ist da die tägliche Hölle der Věra, die als Hausfrau für ihren Sohn sorgt und gleichzeitig auch ihren Ehemann bemuttern muss. Chytilová zeichnet die ständig wiederholenden, entwürdigenden und nervenaufreibenden Alltagstätigkeiten der Věra in hektisch geschnittenen Montagesequenzen nach, wohingegen das Training der Eva in langen Einstellungen gezeigt wird, in denen sich die gleichen Bewegungsmuster wiederholen. Beide hadern sie mit ihrem Schicksal – Eva kündigt schließlich ihren Rücktritt vom Leistungssport an, Věra nimmt sich einen Liebhaber – schlussendlich können sie ihrem Leben aber beide nicht entfliehen. Eva arbeitet nach ihrer aktiven Laufbahn als Trainerin weiter, Věra bettelt ihren Ehemann an, bei ihr zu bleiben, als dieser ihr von seiner eigenen Affäre berichtet. Es gelingt ihnen also nicht die diskriminierenden Strukturen zu durchbrechen, doch sie testen ihre Grenzen aus und nehmen sich innerhalb des einengenden Systems ihre Freiheiten. Chytilovás zeichnet ihre Frauenfiguren weder als Revolutionärinnen, noch als Märtyrinnen, sondern die Veränderung im Kleinen ist ihr Programm, ähnlich wie in anderen Filmen der Reihe, wie Nelly Kaplans La fiancée du pirate, Ula Stöckls Neun Leben hat die Katze oder Lina Wertmüllers Il mio corpo per un poker. Es gilt, das System von innen heraus zu verändern.

Im Zeughauskino in Berlin zelebriert man dieser Tage die erste Welle von weiblichen Filmemacherinnen, die sich in den 60er Jahren in der männerdominierten Filmwelt durchsetzen konnten. Fünfundzwanzig Filme von zwanzig europäischen Regisseurinnen werden mit umfangreichem Begleitprogramm präsentiert. Viele dieser Filme sind Wiederentdeckungen, die lange nicht mehr zu sehen waren oder überhaupt zum ersten Mal auf deutschem Boden gezeigt werden. Sie sind in einer Welt entstanden, in der Frauen in der Produktion und Distribution von Filmen benachteiligt werden. Die jahrelange Marginalisierung von Frauen in der Filmkunst, die wie keine andere Kunstform von finanziellen Rahmenbedingungen abhängt, ist beklagenswert. Wie viele Meisterwerke sind durch die Ausgrenzung großer Künstlerinnen verloren gegangen?

O něčem jiném von Věra Chytilová

O něčem jiném von Věra Chytilová

Immer wieder wird in Diskussionen dabei der „weibliche Blick“ beschworen. Dieser ominöse „weibliche Blick“ soll Filmemacherinnen ureigen sein und sich als ästhetische Konstante durch deren Werk ziehen. Wenn auf den großen Festivals ein Film einer Regisseurin für Furore sorgt, oder sich in den Arthauskinos ein Film einer Frau besonders gut verkauft, dann dominiert er die Berichterstattung. Ähnlich wie Filmemacher mit Migrationshintergrund oder nicht-weißer Hautfarbe gerne auf diese Eigenschaft reduziert werden, ist es im filmischen Diskurs gelungen Filmemacherinnen auf den „weiblichen Blick“ zu reduzieren. Nach einem Screening ihres Films Le Meraviglie konstatierte Alice Rohrwacher, selbst wenn sie einen Film machen würde, indem pausenlos Menschen mit Maschinengewehren niedergemäht werden, wäre nur eine Aufnahme einer Blumenwiese im Film, würde man ihr einen „female gaze“ unterstellen. Dabei wird dann gerne darauf vergessen, dass diese Filme nicht ihre „Weiblichkeit“ auszeichnet, sondern ihre Qualität. Als kürzlich nach dem Tod Chantal Akermans hervorgehoben wurde, dass sie die bedeutsamste feministische Filmemacherin war, wurde ganz darauf vergessen, dass sie darüber hinaus „eine der größten und bedeutendsten Künstlerinnen (unabhängig ihres Geschlechts)“ war, wie es Patrick in seinem Nachruf für kino-zeit.de formulierte. Am Beispiel Akermans wird ohnehin deutlich, dass eine Filmemacherin, auch wenn sie als größte feministische Filmemacherin gepriesen wird, nie nur Frau ist, sondern sich ihre Perspektive (oder ihr Blick, wenn man so will), immer aus verschiedenen Erfahrungen zusammensetzt; Akerman ist Frau/Mädchen, Jüdin, geprägt durch ihre Kindheitstage in Armut und ihr wechselvolles Verhältnis zu ihren Eltern. Der Begriff des „weiblichen Blicks“ ist insofern irreführend, als er dazu verleitet anzunehmen, dass Frauen durch ihr zartes, feinfühliges Innenleben automatisch eine bestimmte Form von Filmbildern, eine bestimmte Ästhetik bevorzugen. Das ist bullshit. Genauso fehlgeleitet, wie der Versuch, die restlichen 90 oder mehr Prozent, aller gedrehten Filme unter dem Begriff eines „männlichen Blicks“ subsumieren zu wollen. Ohne Zweifel wird man die Blumenwiese finden, wenn man sie sucht, genauso den Phallus. Geht man in der Thesenbildung von einer patriarchalischen Struktur im „männlichen Blick“ aus, so wird man fündig werden; dieses Verzetteln in absurden geschlechterspezifischen ästhetischen Kategorien, das ist die große Verirrung der feministischen Filmtheorie. Selbstverständlich unterscheiden sich Filme von Frauen in gewissen Punkten von den Werken ihrer männlichen Kollegen und selbstverständlich ähneln sie sich dafür untereinander in sehr vielen Punkten, aber das liegt weniger an einer verborgenen Sentimentalität oder typisch weiblichen Charakterzügen, die ihre Filme prägen, sondern an der Welt in der sie leben. Mit der Marxismus-Keule in der Hand könnte man von Determinierung sprechen.

Ein Künstler oder eine Künstlerin (es gibt sicherlich Ausnahmen) projiziert immer Bestandteile ihres Lebensumfelds in ihr Werk. Bei manchen ist das offensichtlich, bei manchen wirkt es verborgen. Frauen leben in einer Welt, die es ihnen in vielerlei Hinsicht nicht leicht macht. Dies trifft umso mehr auf Frauen in den 60er Jahren zu. Dementsprechend findet sich in Filmen von Frauen oft ein Abbild dieser Verhältnisse. Sie verarbeiten ihre Lage, ihre Ängste, ihre Probleme mittels ihrer Filme. Bei den Pionierinnen weiblichen Filmschaffens, denen diese Schau gewidmet ist, finden sich vermehrt solche Motive, denn die Lebenserfahrung dieser Frauen als Filmemacherinnen war bestimmend für ihr Filmschaffen. Diese Erfahrungen unterschieden sich sehr stark von jenen ihrer männlichen Kollegen – Frauen arbeiteten in einem fremden und diskriminierenden Umfeld, ob in Frankreich, Ungarn oder der Tschechoslowaki, deshalb finden sich trotz nationaler und kultureller Unterschiede Verbindungslinien zwischen ihren Filmen. In Opposition zu den Filmen männlicher Regisseure, wo es zumeist um Männer geht, handeln ihre Filme oft von Frauen und ihren Alltagserfahrungen, im Speziellen ihrem Arbeitsleben und ihren (sexuellen) Sehnsüchten. Die Andersartigkeit dieser Filme ist also bedingt durch die alternative Perspektive auf die Welt, die diese Frauen mittels ihrer Filme teilen, und nicht mit einem „weiblichen Blick“, der eine bestimmte Ästhetik zur Folge hat. In weiterer Folge werde ich also vermeiden einen „weiblichen Blick“ in der Bildsprache dieser Filmemacherinnen herbeizuimaginieren, sondern ihre Filme als das zu beschreiben, was sie sind: gute, mitunter auch großartige Werke.

Neun Leben hat die Katze von Ula Stöckl

Neun Leben hat die Katze von Ula Stöckl

Věra Chytilovás O něčem jiném ist ein Musterbeispiel für einen Film, der die Lebenswelt der Frau thematisiert und fassbar macht. Ursprünglich als Film über die damalige Weltklasseturnerin Eva Bosáková konzipiert, geht Chytilová weit über die Konventionen des biografischen Films hinaus. Zwar lässt sich der Film problemlos innerhalb der Nová vlna verorten – reduzierte, kontraststarke Schwarz-Weiß-Bilder, eine nicht ungetrübte Sicht auf die Lebensverhältnisse in der damaligen Tschechoslowakei und eingestreut, ein paar formal sehr wagemutige Montagesequenzen und raffinierte Kameraeinstellungen – doch im Umgang mit seinen Figuren und deren Lebenswelt ist der Film außergewöhnlich. An die Seite Bosákovás, die sich im Film selbst spielt, stellt Chytilová eine zweite weibliche Figur. Die beiden Frauen begegnen sich nie, ihre Geschichten laufen parallel nebeneinander, führen nie zusammen, kommentieren sich jedoch gegenseitig. In beiden Fällen geht es um den Terror der weiblichen Existenz. Zum einen manifestiert sich dieser Terror in Evas täglichem Training, der Monotonie, den Erwartungen, die in sie gesetzt werden und die sie ermüden, die Fremdbestimmung durch ihre Trainer. Zum anderen ist da die tägliche Hölle der Věra, die als Hausfrau für ihren Sohn sorgt und gleichzeitig auch ihren Ehemann bemuttern muss. Chytilová zeichnet die ständig wiederholenden, entwürdigenden und nervenaufreibenden Alltagstätigkeiten der Věra in hektisch geschnittenen Montagesequenzen nach, wohingegen das Training der Eva in langen Einstellungen gezeigt wird, in denen sich die gleichen Bewegungsmuster wiederholen. Beide hadern sie mit ihrem Schicksal – Eva kündigt schließlich ihren Rücktritt vom Leistungssport an, Věra nimmt sich einen Liebhaber – schlussendlich können sie ihrem Leben aber beide nicht entfliehen. Eva arbeitet nach ihrer aktiven Laufbahn als Trainerin weiter, Věra bettelt ihren Ehemann an, bei ihr zu bleiben, als dieser ihr von seiner eigenen Affäre berichtet. Es gelingt ihnen also nicht die diskriminierenden Strukturen zu durchbrechen, doch sie testen ihre Grenzen aus und nehmen sich innerhalb des einengenden Systems ihre Freiheiten. Chytilovás zeichnet ihre Frauenfiguren weder als Revolutionärinnen, noch als Märtyrinnen, sondern die Veränderung im Kleinen ist ihr Programm, ähnlich wie in anderen Filmen der Reihe, wie Nelly Kaplans La fiancée du pirate, Ula Stöckls Neun Leben hat die Katze oder Lina Wertmüllers Il mio corpo per un poker. Es gilt, das System von innen heraus zu verändern.

In Neun Leben hat die Katze sehen sich die Protagonistinnen schließlich mit einem ähnlichen Dilemma konfrontiert. Die Welt geht einfach weiter, das System beschneidet weiter ihr Leben, die Welt ist ein Kreislauf, doch dieser schließt Veränderung und Ausbrechen nicht kategorisch aus. Der Film beginnt im Auto, Katharinas französische Freundin Anne ist gerade in München angekommen. Nur langsam erschließt sich durch die sprunghafte, episodische Struktur das Umfeld dieser vielschichtigen Frauen. Sie sind der Fokus des Films, die Männer sind schablonenhafte, farblose Stereotypen; die Kräfteverhältnisse sind also umgekehrt. Während im Film zumeist Frauen auf bestimmte Rollenbilder reduziert werden, und dadurch wenig lebendig wirken, sind es hier die Männer (ein ähnliches Schicksal erleiden die Männer in O něčem jiném). Die Umkehrung der Verhältnisse ist ein Hauptmotiv in Neun Leben hat die Katze. In surrealistischen Einschüben werden die verborgenen Sehnsüchte, die Fantasien (keine Männerfantasien) von Anne und Katharina präsentiert. Sie unterhalten sich in einem Jargon, der typisch ist für die Generation junger Filmemacher der 60er Jahre, die durch die Nouvelle Vague inspiriert sind, und auch aus der Feder Godards stammen könnte. Beide Frauen sind emanzipiert und nehmen sich Freiheiten, aber auch sie müssen sich schließlich dem System geschlagen geben. Der Film endet wieder mit einer Autofahrt, diesmal sind es aber zwei Männer, die wir auf einer Sonntagsfahrt begleiten. Das Roadmovie durch das Leben der beiden Frauen nimmt schlagartig ein Ende. Sie haben die Oberhand über die Narration verloren, auch sie konnten die Strukturen nur biegen, Grenzen austesten, aber nicht zerschlagen. Veränderung findet auch hier nicht als Revolution, sondern im Kleinen statt.

Ähnlich verhält es sich bei Belle Starr, der Heldin in Lina Wertmüllers Spaghetti-Western Il mio corpo per un poker, dem einzigen Film dieses Genres, der von einer Frau gedreht wurde. Belle ist eine berüchtigte Revolverheldin, sie pokert, raucht Zigarren, duelliert sich und steht ihren männlichen Kontrahenten in nichts nach. Sie nimmt sich in der Männerdomäne des Wilden Westens was sie will, denn dort gilt nur das Gesetz der Waffe. Ihre Freiheit hat sie mit einem hohen Preis bezahlt: sie hat den Tod ihres Vaters und ihres besten Freundes verschuldet. Sie kann als Frau in dieser Männerwelt nur überleben, indem sie ihre Weiblichkeit bis zu einem gewissen Grad aufgegibt. Belle trägt Männerkleidung, ordnet sich dem Gesetz des Westens, dem ewigen Schwanzvergleich unter. Als sie ihre weiblichen Seiten wieder zulässt, endet sie wie dutzende andere „Belles“ des klassischen Westerns: sie opfert sich auf für einen Mann, lässt sich kleinkriegen, verzichtet auf ihre Selbstbestimmheit, um es dem Mann zu ermöglichen, in den Sonnenuntergang zu reiten. Il mio corpo per un poker ist der Versuch einer Revolution, die sich Kompromiss verliert; eine Revolution des Scheiterns.

Top Girl von Tatjana Turanskyj

Top Girl von Tatjana Turanskyj

Berlin, Januar 1919. In den Straßen wüten Aufstände. Seit Ende des Großen Kriegs durch den Waffenstillstand von Compiègne am 11. November kämpfen kommunistische Organisationen um die Etablierung einer Räterepublik. Was Anfang Januar mit Arbeiterstreiks begonnen hat, entwickelt sich zu einem bewaffneten Konflikt, der Aufstand der Arbeiter wird von KPD und Spartakusbund unterstützt. Karl Liebknecht hat sich für diese militante Vorgehensweise entschieden – Rosa Luxemburg setzte sich für eine gewaltfreie Lösung ein. Gegen 12. Januar marschieren regierungstreue Truppen in Berlin ein und schlagen den Aufstand brutal nieder. Der Aufenthaltsort von Liebknecht und Luxemburg wird ausgeforscht, die beiden werden festgenommen und erschossen. Genau 96 Jahre nach der Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs, am 15. Januar 2015 feiert Tatjana Turanskyjs neuer Film Top Girl in der Volksbühne Berlin Kinopremiere. Die Berliner Volksbühne steht am Rosa-Luxemburg-Platz schräg vis-à-vis vom Karl-Liebknecht-Haus, dem Parteisitz der Parlamentspartei Die Linke. Am Nordwestrand des Platzes steht seit 2010 das L40, ein markanter schwarzer Klotz, ein Musterstück moderner Städtearchitektur, mit eindrucksvollem Blick auf die imposante Fassade der Volksbühne. In diesem Wohn- und Bürogebäude ist die Escort-Agentur untergebracht, der Helena, die Protagonistin von Top Girl, angehört. Ein Zufall? Wohl kaum, denn Top Girl versucht nicht bloß die Geschichte einer Endzwanzigerin zu erzählen, sondern auch ein Statement zur Lage der Nation abzugeben – das gelingt mäßig.

Julia Hummer in Top Girl

Julia Hummer ist Helena, in Teenagerjahren als Schauspielerin halbwegs erfolgreich, mittlerweile nur mehr gelegentlich bei Castings zu finden. Ihre Brötchen verdient die Alleinerzieherin als Escort-Dame. Das erlaubt Turanskyj einen Blick auf die Sexarbeit-Branche, und wie man es aus Filmen dieser Art kennt, darf auch hier die Montagesequenz der seltsamen Gestalten mit noch seltsameren sexuellen Vorlieben nicht fehlen – ein Schaulaufen der Freaks, die sich bei Fräulein Helena ihre perversen Wünsche erfüllen lassen. Das klingt rassig und sexy, ist es aber nicht. Selten hat man in einem Film über Sexarbeit so wenig Sex zu sehen bekommen, und tatsächlich gehören die Szenen, wo am meisten Haut zu sehen ist Helenas Mutter Lotte, die in einem total irrelevanten Subplot eine Affäre mit einem jüngeren Gesangsschüler beginnt. Lotte soll uns wohl etwas über die Rolle der Frau sagen, und dass es auch voll okay ist, wenn sich ältere Frauen jüngere Liebhaber nehmen und ihre Sexualität ausleben. Zur Sicherheit schiebt Turanskyj noch eine Szene ein, in der Mutter und Tochter einen Workshop zu genau diesem Thema besuchen – doppelt hält besser, Subtilität wird ohnehin überbewertet. Deshalb reicht es auch nicht, dass der Herr Gesangsschüler leicht zerrauft von Helena und ihrer Tochter in der Wohnung der Mutter vorgefunden wird, in einer voyeuristischen Einstellung durch einen Türspalt wird der „geheime“ Abschiedskuss gezeigt – doppelt hält besser.

Top Girl von Tatjana Turanskyj

Stichwort voyeuristisch: Mit der Vermeidung von expliziten Sexszenen umgeht der Film immerhin eine Art von Blickinszenierung, die die feministische Filmkritik gern „male gaze“ nennt. Dieser männliche Blick hat in einem Film, der so entschieden für die Ideale der feministischen Theorie eintritt (und auch das wiederum wenig subtil, durch seltsam eingeschobene Rezitationspartien à la Straub-Huillet) natürlich nichts verloren, womöglich fehlte aber schlicht die Befähigung eine Sexszene zu drehen, die ohne Pornokonventionen auskommt. Ein Blick auf die Arbeiten von Turanskyjs Kollegen und Kolleginnen der boomenden Feminist-Porn-Schiene hätte nicht geschadet. So wirkt das Ganze einfach zahnlos, ein weiterer Fall von „ich will, aber ich kann nicht“, wie man ihn in der deutschsprachigen Filmlandschaft nur zu oft findet. Eine Feminismus-Lehrstunde am Fallbeispiel der Helena, in der so offensichtlich keiner der Charaktere mit seiner Sexualität umgehen kann, dass es am Ende gar nicht mehr irritiert, wenn der Film so aufhört, wie er beginnt – mit nackten Frauen im Wald. Von  dieser exotisch-erotischen Rahmung darf man sich aber nicht täuschen lassen, denn so sehr der Film auch versucht eine Variation des Jeanne-Dielman-Effekts zu erzeugen, so wenig können diese entfremdet-distanzierten Gestalten und die platte, aufgesetzte Inszenierung irgendeine Art von emotionaler Reaktion hervorrufen.