Germaine Dulac. Filmemacherin

„Wie alle, dachte auch ich, dass die Werke der Leinwand sich der Entwicklung einer Handlung, eines Gefühls widmen müssten und dies eben durch das Trugbild der Aufnahme des unmittelbaren oder inszenierten Lebens, der menschlichen Gestalt in ihrer Einzigartigkeit oder ihrer Vielfalt; dass ihre affektiven Eigenschaften von der entsprechend ausgesuchten Zusammenstellung bewegter Bilder herrühren sollten, deren ursprüngliche und fortgesetzte Beweglichkeit zu einem mehr verständnismäßigen als sinnlichen Ergebnis beiträgt.(…) Aber bald wurde mir klar, dass der Ausdruckswert eines Gesichts weniger dem Charakter seiner Züge als der mathematisch messbaren Dauer der Reaktionen innewohnt, mit einem Wort, dass ein Muskel, der sich entspannt oder unter dem Eindruck eines Schocks verkrampft, seine volle Bedeutung nur durch die kurze oder lange Dauer der ausgeführten Bewegung erreicht.“ (Germaine Dulac, aus Von der Empfindung zur Linie)

Zum ersten Mal begegnet bin ich Germaine Dulac in ihrer Abwesenheit – und das ist womöglich kein Widerspruch, schließlich ist ihre Geschichte auch eine Geschichte des Verdrängtwerdens – in Jean-Luc Godards brillanten Film Deux fois cinquante ans de cinéma français. Dort kritisiert der Filmemacher die offiziellen Feierlichkeiten zum hundertjährigen Kinojubiläum in Frankreich und zeigt, was vergessen wurde von den Veranstaltern, das was laut Godard tatsächlich der Beitrag des französischen Kinos zur Filmgeschichte sei: Die Schreiber und Theoretiker, jene, die dem Kino einen Namen gaben. Seine Kinogeschichte reicht von Diderot über Epstein, Malraux, Bazin, Rivette, Duras bis zu Serge Daney. Dulac lässt er aus. Ein Übersehen, denn sie ist eine große Theoretikerin, die beständig auf der Suche dessen war, was man mit dem Kino anfangen kann, dessen, was das Kino jenseits seiner vom Theater und der Literatur übernommenen Elemente vom Leben zeigen kann. Dabei legt sie einen Grundstock für das Denken einer ganzen Filmkultur und arbeitet als Vorreitern im Bezug zur sogenannten Film-Avantgarde, die sie mit einem Begriff wie „integraler Film“ umschreibt. Ihr Schreiben, das in einem schönen Heft bei Synema nun ins Deutsche übersetzt wurde und ihr Filmemachen, das zu Beginn des Monats im Filmarchiv Austria begutachtet wurde, stehen in einem engen Dialog. Ihr Kino setzt sich zusammen aus Gedanken und Gefühlen, die mehr betreffen, als persönliche Empfindungen, sondern immer auf der kompletten Tastatur des Kinos spielen wollen: Die Industrie und die Bewegung (Musikalität), das Fiktionale (Traumhafte) und Dokumentarische.

Verlockungen

Thèmes et variations;  © Light Cone

Thèmes et variations; © Light Cone

Häufig setzen sich ihre Filme einer Verlockung aus: Das Hinfort-Treiben, hinaus aus der diegetischen Realität, hinein in andere Zustände, in denen ein anderes Leben möglich ist. Darin liegt natürlich ein politischer, feministischer Gestus, aber auch das Potenzial des Kinos: Die Reise, in das, was man sich wünscht. Einer von Dulacs besten Filmen heißt nicht umsonst L’invitation au voyage. Es geht um Traumhaftes und Begehren in einer an Kenneth Anger oder David Lynch erinnernden Bar mit dem titelgebenden Namen, deren Wände den Himmel offenbaren. Angesiedelt zwischen einem eleganten Klassizismus und einem dekadenten Lusttrieb einfacher Motivationen verwandelt sich die Bar und mit ihr die Protagonistin in eine zwischen Hingabe und Zweifeln oszillierende Nacht. Es zittert dort, wo die Männer in feinen Anzügen kommen, mit ihrem Von-Stroheim-Lächeln und den glasklaren Augen. Sie nehmen die Frauen an den Hüften und träumen sie hinfort, nicht an einen realen Ort, sondern zum Mond. Anhand solcher Beschreibungen merkt man bereits, dass Dulacs Kino oft eine Frage der Sinnlichkeit ist. Sie strebt nach einfachen Handlungen und Psychologien, die sich oft aus bürgerlichen Fassaden zusammensetzen und entwickelt aus diesen wankende, hochkomplexe Bilder.

Das gilt auch für ihre industrielleren Filme wie La cigarette, in dem ähnlich ihres La souriante Madame Beudet ein komödiantischer, bitterböser Suspensemoment gewonnen wird, weil man weiß, dass eine Pistole oder Zigarette lebensgefährlich sein könnte, das aber nicht unbedingt für die Figuren gilt. La souriante Madame Beudet gilt bei Schubladendenkern als der erste feministische Film der Geschichte. Basierend auf Guy de Maupassant geht es um eine Frau, die in den Netzen einer langweiligen Heirat gefangen ist. Das gilt für viele Dulac-Protagonistinnen. Es soll ein Anschein gewahrt werden und daraus entsteht ein doppelter Boden, der in diesem Film mit wundersam leuchtenden Tränen überbrückt wird, die gegen das sonnige Lächeln des Titels arbeiten. Hinter den Fassaden bürgerlicher Existenzen oder den Gefängnissen der Ehe lauern weniger Geheimnisse und Schmutzeleien wie bei vielen von Dulacs Zeitgenossen, sondern schlicht und ungreifbar Träume. Diese inszeniert sie mit einem Hang zum Fiebrigen, in Bildern die gleich Apichatpong Weerasethakuls Traumzuständen wie ein Echo in der Wahrnehmung hallen, so dass man bisweilen zu spät bemerkt, dass man eigentlich träumt und zu früh träumt, dass man wach ist. Diese durch das Kino evozierte Unsicherheit gegenüber Wachzuständen und Aggregaten des Realen vermag sie sowohl ganz narrativ wie in ihrem Princesse Mandane oder Le diable dans la ville als auch mit formaler Präzision wie in ihrem Âme d’artiste umsetzen.

Blicke

La Coquille et le Clergyman; © Light Cone

La Coquille et le Clergyman

In Dulacs Kino regt sich eine Bewusstsein für die Fähigkeit des Kinos, uns an andere Orte zu bringen. Das meint sie nicht als Ausgangspunkt für das Kino per se, es geht also nicht darum, dass ihre Filme im Stil von James Bond um die ganze Welt führen und uns zwangsläufig Existenzen zeigen, von denen wir nur träumen können. Nein, diese Fähigkeit schält sich nach und nach aus den Bildern und Geschichten, weil die Fantasien und Sehnsüchte der Protagonisten in filmischer Form manifestiert werden können. Eine andere Welt, eine Utopie muss kein schemenhafter Gedanke bleiben, sondern wird bildlich festgehalten und darf vor den Augen der Zuseher leben. Dulac verwendet für dieses Gleiten in andere Zustände ein enormes Spektrum filmischer Gestaltungsmittel von Cache-Effekten, Zeitlupen, über Doppelbelichtungen oder Überblendungen. Dabei vergisst sie nie auf die Ambivalenz der eigenen Illusion und Flüchtigkeit hinzuweisen. Oftmals mit erstaunlicher Trockenheit wie am Ende von Princesse Mandane.

Ein Blick trifft bei ihr weniger auf einen anderen Blick. Dieses Prinzip kinematographischer Wirkkraft, das von so unterschiedlichen Filmemachern wie Sergei Eisenstein, Robert Bresson oder Sharunas Bartas erforscht wurde, hebelt Dulac aus. Sie montiert nicht aufgrund des Sehens und Gesehen-Werdens, sondern ein Blick führt bei ihr oft in eine Imagination oder Erinnerung. Es gibt also einen Dialog zwischen der diegetischen Jetzt-Zeit und dem diegetischen Anderswo. Da liegt es nicht fern, dass Dulac oft mit motivischen Analogien arbeitet, die in ihrem Thèmes et variations am eindrücklichsten zur Geltung kommen, wenn erst Maschinen und schließlich Pflanzen mit Bewegungen einer Tänzerin in Verbindung gebracht werden. Diese Form der Montage erinnert an das sowjetische Kino jener Zeit, allerdings sind die politischen Implikationen – mit Ausnahme ihres Propagandafilms für die Volksfrontbewegung Le Retour à la vie – deutlich behutsamer und subtiler. Sie sind auch nicht unbedingt selbsterklärend, denn so ganz will sie nicht erschließen, warum die Maschinen und die Tänzerin sich genauso ähneln wie die Pflanzen und die Tänzerin. Man könnte eine allgemeinere Idee von Wachstum und Tanz vorbringen, aber das Ganze arbeitet eher als Sensation, denn als Argument. Oft geht es darum, einen Rhythmus zu sehen in den Bewegungen der Welt. Es ist keine Überraschung, dass Dulac nicht nur Tänzerinnen filmte, sondern versuchte sich der Musik selbst anzunähern, sei es Debussy, Chopin oder Fréhel. Die Musik, die das Kino ist. Die Hauptrolle in vielen Filmen von Dulac spielt die Bewegung selbst. In diesen Gedanken, die fast notgedrungen zu Überlegungen für ein abstraktes Kino führen, trifft sich bei Dulac aber weniger die formale Strenge eines Peter Kubelka oder auch (in manchen Fällen) Gregory Markopoulos, sondern ein deutlich freieres Gefühl. Man könnte Bruce Baillie als Vergleich bemühen.

Realismus

Princesse Mandane © Cineteca di Bologna

Princesse Mandane © Cineteca di Bologna

Nur schwer kommt man um den Vergleich mit Jean Epstein herum. Nicht nur wegen des geteilten Enthusiasmus für das junge Medium, der Gleichzeitigkeit von Schreiben und Drehen, sondern auch aufgrund einer späteren Hinwendung zum Dokumentarischen. Die Kuratorinnen Karola Gramann und Heide Schlüpmann erzählten im Filmarchiv, dass Epstein Dulac in seinen Gedanken des Kinos etwas unter den Teppich kehrte – wie viele. Mit Six et Demi, Onze zeigten sie einen Film von Epstein, der aufgrund der Hauptrolle, die eine Kodak-Kamera in ihm spielt, durchaus passend scheint für die Verbindung der beiden Filmemacher, die durch das Kino in eine neue Welt springen wollen. Nur Epstein hatte das formal deutlich interessanter und auch näher an Dulac in seinen späteren Werken wie Le Tempestaire unternommen. Ein Film, der auch seine Hinwendung ans Dokumentarische im Fiktionalen untermauert. Bei Dulac äußerte sich das vor allem in ihren „illustrierten Schallplatten“, die zu Beginn der Wende zum Tonfilm entstanden. In Filmen wie Autrefois…aujourd’hui, Celles qui s’en font oder Ceux qui ne s’en font pas bricht das Kino in eine dokumentarische Welt, die in spontanen Blicken musikalische Formen entdecken will. Es sind berührende Zeitdokumente, die in sich noch das Verlangen nach einer anderen Welt tragen, aber sie nicht mehr in glitzernden Kostümen, sondern in Bildern von der Straße finden. Es wirkt fast ein wenig so, als hätte Dulac zum Ende ihres Schaffens hin die Träume begraben und begriffen, dass das Kino in seinen Träumen tatsächlich den Menschen in seiner Zeit zeigen kann. Illusionslos wie im verzweifelten Ceux qui ne s’en font pas oder ganz sachlich wie in ihrem Wochenschau-Recut Le Cinéma aus service de l’histoire. Die Träume, aus denen die Figuren oftmals herausgeschmissen werden, sind ein Potenzial des Kinos, sie existieren aber immer in einem Dialog mit eines dokumentarischen Gestus. Nachträglich lässt sich das auch für ihre früheren Filme feststellen. Die Bar in L’invitation au voyage existiert zugleich als abstrakter Traumort und realer Ort in der Pariser Szene. So kann man Dulac am Ende tatsächlich in der französischen Schule des Realismus verorten. Sie sitzt dort irgendwo und träumt.

In La Coquille et le Clergyman träumt sie besonders laut. Es ist ihr berühmtester Film, weil es rund um die Surrealisten und Antonin Artaud einen Skandal gab. Man fühlte, dass Artauds Drehbuch betrogen worden wäre und dass die Träume hier nicht die gemeinsamen Träume wären. Vielleicht kann dazu Dulac selbst am besten Antworten: “Non pas un rêve, mais le monde des images lui-même entraînant l’esprit où il n’aurait jamais consenti à aller, le mécanisme en est à la portée de tous.” („Kein Traum, aber die Welt von Bildern selbst, die Gedanken an Orte bringen, wo sie niemals zugestimmt hätten zu landen, der Mechanismus ist für alle erreichbar.“).

„Der Film ist ein weit auf das Leben geöffnetes Auge, ein Auge, das mächtiger ist als das unsere, und das sieht, was wir nicht sehen.“ (Germaine Dulac, aus Das Wesen des Films: Die visuelle Idee)

Unfaithful Dance of Waves: Gardiens de phare von Jean Grémillon

Im Rahmen der Schau Last Silents im Filmarchiv Austria kam es zu einer tragischen Begegnung zwischen dem Licht und dem Schatten in Jean Grémillons Gardiens de phare. Es ist ein Film, der im enthusiastischen Dialog mit dem Aufbruch im französischen Kino jener Zeit steht (nicht umsonst heißt der Autor des Drehbuchs Jacques Feyder und einer der begeistertsten Kritiker Marcel Carné) und der die avantgardistischen und realistischen Strömungen dieser Zeit in einen dramatischen und abstrakten Strudel verdichtet.

Im Film gibt es einige Schauspieler, die eine Geschichte zeigen in Gesten und Bewegungen. Zwei Dinge, die späten Stummfilmen oft in großer Virtuosität gemein sind. Die Geste als ausformulierter Ausdruck des Stummfilms, die Bewegung als Versprechen einer neuen Ära. Diese Geschichte erzählt von Liebe, Einsamkeit, Sehnsucht, Krankheit, Isolation und Wahn. Es ist das schreckliche Gefühl eines Abschieds, einer notgedrungenen Trennung und eines Unfalls, die über dem Film schwebt. Ein Mann tritt seine Arbeit in einem Leuchtturm an und verlässt dafür seine Liebe für eine längere Zeit. Zusammen mit seinem Vater fährt er auf die kleine Insel, die man vom Festland aus sehen kann. Allerdings wurde er dort bei einem Spaziergang mit seiner Frau von einem tollwütigen Hund gebissen. Langsam kippt er in einen Wahnsinn, der ihn die Entfernung seiner Frau viel deutlicher spüren lässt, ihn von seinem Vater entfremdet und ihn schließlich in einen gewaltvollen, suizidalen Rausch versetzt. Diese Gewalt scheint jedoch viel weniger durch den tollwütigen Hund (der bis auf einen heftigen, wiederkehrenden Flashback äußerst unschuldig und ruhig unter einem Tisch liegend gezeigt wird) verursacht, als durch die beständige Brandung des Meeres, der Sturmgewalt, der Isolation im Leuchtturm, die schließlich tödlich endet.

Wenn die Geschichte hier nur so grob umrissen werden soll, dann hat das einen Grund, denn die eigentliche Geschichte spielt sich anderswo oder sagen wir besser: gleichberechtigt in dem ab, was um die Figuren existiert. Und dieses Um-die-Figuren ist auch In-den-Figuren: Das Meer. Hier furios, gewaltvoll, bedrohlich, aber auch still und fern. Man denkt unweigerlich an Jean Epstein, der in seinen bretonischen Gedichten wie Finis Terræ oder Le tempestaire ein ähnliches Meer gesehen hat. Ein Meer wie ein Spiegel für das Kino. Man kann sagen, dass Grémillon nicht ganz so weit geht wie Epstein mit dieser Poesie des Meeres, der Zeitlichkeit, die jene des Kinos wird und auch der dokumentarischen Kraft der Bilder vom Meer. Eher schon ist es ein Dialog zwischen den Figuren und dem, was um sie ist, was sie letztlich bestimmt, hypnotisiert und täuscht. Es ist als würde die Geschichte vom Meer unterwandert werden. Wellen peitschen gegen die Küste, die Gischt dringt wie eine Bedrohung ein, ein wunderschöner Abgrund. Dann wird dadurch ein Drama ausgelöst, das nicht wie bei Epstein im Meer und den Figuren gleichermaßen stattfindet. Eher ist das Meer, das Grémillon angeblich liebte (es ist schwer zu glauben in diesem brutalen Film, auch wenn man es sehen kann), eine Infusion des Dramas. denn es bringt Sturm, Isolation, Entfernung. Ein wenig spielt das Meer hier die Rolle des Windes aus Victor Sjöströms The Wind. Allerdings ist die Tollwuterkrankung dann doch ein nicht ganz so leicht ignorierterer Widerspruch zur abstrakten Angst von Lillian Gish beim schwedischen Filmemacher.

Dennoch, dieses Meer bestimmt die filmische Welt. Diese Welt setzt sich aus drei Elementen zusammen: Licht, Schatten und Schwindel. Man merkt nicht sofort wie sehr all das am Meer hängt, aber nach und nach zeigt sich, dass das Meer und das, was mit ihm kommt (vor allem der Wind) Schatten und Licht bewegen und zwar nach und nach in einer derartigen Geschwindigkeit, dass ein Schwindel im rauschenden Silhouettentanz des Films entsteht. Das augenscheinlichste Beispiel ist das Licht des Leuchtturms, der die Handlung und den Titel des Films prägt. Wir alles im Film und wie Leuchttürme allgemein, existiert er nur aufgrund des Meeres. Dort im Leuchtturm findet das Drama statt (egal ob aus der Nähe im Wahnsinn einer Isolation oder aus der Ferne in der sehnsüchtigen Liebe einer Hoffnung auf das Licht). Aus der Nähe filmt der überwältigende Kameramann Georges Périnal, dessen Kapazität für den Ozean und Poesie an diesen Ufern noch lange nicht erschöpft war (man denke an Bonjour Tristesse von Otto Preminger oder Le sang d’un poète von Jean Cocteau), die drehende Scheibe des Leuchtturmlichts, der Apparatur, die das Licht in Abhängigkeit der Gezeiten und Tageszeiten steuert. Er filmt die sich drehende Scheibe, die immer abwechselnd Schatten und Licht auf die Gesichter der Leuchtturmwärter wirft, als wäre das der Gang des Lebens. Nicht nur Tag und Nacht, sondern Gutes und Böses, Hoffnung und Tod. Aus der Ferne dagegen ist das blinkende Licht umrandet von einer ungewissen Dunkelheit. In einer anderen Szene kommt es zu einem Todeskampf zwischen den beiden Leuchtturmwärtern. Dieser findet hinter einer Tür statt, die immer wieder auf- und zuschlägt. Man sieht oder man sieht nicht. Die Kamera bewegt sich nicht, es gibt keinen Schnitt. Sie dokumentiert nur das, was man sehen kann und das was verborgen bleibt. Licht und Dunkelheit bestimmt vom Wind. Außerdem eine Art Traumsequenz (man ist vorsichtig mit diesem Begriff, da die Bilder des Films allesamt nicht aus der Klarheit eines Wachseins entwachsen) in der Licht und Schatten ein nächtliches Liebesbild bringen. Es ist als würde Périnal Wellen an die Wände werfen. Die Sehnsucht und die Seensucht verderben sich zu einer Krankheit, einer Angst. Fast perfide und in einer Grausamkeit, die man so selten gesehen hat, löst sich dieses Spiel am Ende des Films auf, als Grémillon zeigt, dass nicht das Licht die Hoffnung ist und der Schatten das Unheil, sondern beide diese nur repräsentieren. Was dann entsteht, ist eine Hoffnung, die eine Illusion ist. Verschluckt in der Dunkelheit eines einsamen Lichts, von dem wir wissen, das es zu spät kommt.

Der Schwindel, der die Krankheit und den Wahnsinn in Bildern zu fassen trachtet, entsteht durch die rasche Abfolge von Licht und Schatten. Er entsteht auch, weil Erinnerungen und Imaginationen sich zwischen den beiden Extremen des Sehens und des Nicht-Sehens entfalten. So sieht der Leuchtturmwärter einmal einen immer schneller werdenden Tanz mit seiner Frau, in dem sich alles dreht und dreht. Ein anderes Mal folgen wir den fiebrigen Erinnerungen an den Hundebiss mit einer superschnellen Parallelfahrt am Meer und den schnellen, wirren Bildern, die sich drehen und drehen. Das Meer selbst schleudert sich gleich eines Vertigo-Abgrunds in diesen Schwindel und verführt den jungen Mann beinahe mit Unschärfen in den Tod. Diese Inszenierungslinien zwischen Licht und Dunkelheit, die in Schwindel führen, erinnern an Les Amants du Pont-Neuf von Leos Carax. Dort setzt der Filmemacher ganz ähnlich wie Grémillon Licht und Dunkelheit, feste und flüßige Materialien gegeneinander. Adrian Martin und Cristina Álvarez López haben sich dazu Gedanken gemacht. Carax und Grémillon erzählen damit eine Geschichte, die sich nur auf der Oberfläche der Leinwand abzuspielen scheint, man möchte eigentlich sagen in abstrakter Manier, aber diese Abstraktion ist Teil einer Narration. Beiden geht es darum weder in einen blinden Abbildrealismus zu fallen noch das Potenzial des Kinos zugunsten einer Erzählung zu verneinen. Bei Grémillon ist es schließlich die Abstraktion einer Täuschung und Enttäuschung. Das Wechselbad aus Hoffnung und Verzweiflung vermag sich nur durch den Einsatz von Licht (ganz wie bei einem Leuchtturm) umkehren, sodass mit einem Schlag in der Hoffnung die größte Verzweiflung liegt.

Gardien de phare de Jean Grémillon from Ensemble Sillages on Vimeo.

Pabst-Retro: There Will Be Blood: A Modern Hero

In A Modern Hero zeichnet Georg Wilhelm Pabst auf den ersten Blick eine klassische amerikanische Aufstiegs- und Fall-Geschichte. Interessiert ist er aber eigentlich an dem, was sie antreibt: Der innere Zerfall durch Ehrgeiz. Es ist sein einziger amerikanischer Film geblieben. Wenn ich bisher nicht näher auf die problematischen biographischen Hintergründe von Pabst eingegangen bin, dann nicht weil ich sie ignorieren möchte, sondern weil ich mich der Politik aus Sicht der Ästhetik nähern möchte. Es ist erstaunlich, dass sich in A Modern Hero keines jener „deutschen“ Bilder findet, die noch wenige Jahre früher zum Beispiel seinen Die weiße Hölle vom Piz Palü bewegten. Es ist die (technische) Anpassungsfähigkeit, die erstaunlich bis abstoßend wirkt bei Pabst. Sein erster und einziger Hollywoodfilm ist stilistisch völlig dem amerikanischen Kino verschrieben. Zwar gibt es inhaltliche Auffälligkeiten mit europäischen Bezügen, aber darüber hinaus verschwindet die Seele des Filmemachers hier völlig. Seine Rückkehr ins Nazideutschland Ende der 1930er Jahre, seine wie auch immer geartete Zusammenarbeit mit Goebbels und seine ausbleibende Reue im Anschluss daran bleiben unverständlich, wenn man heute mit den linken Sentiments seiner früheren Arbeiten konfrontiert wird. Die Geschichten, die dazu geführt haben sollen, sind letztlich ohne Bedeutung.

A Modern Hero ist am Ende trotz seiner formalistischen Angepasstheit kein amerikanischer Film der Depressionszeit, er ist vielmehr ein Film über Amerika in der Depressionszeit (und darüber hinaus), den man im moderneren Kino vielleicht mit Dogville von Lars von Trier vergleichen kann.

a-modern-hero

Ein Zirkusartist gespielt mit anbiedernder, schmeichelnder und betörender Körperlichkeit von Richard Barthelmess (dem Chinesen aus Broken Blossoms ) möchte sein, in seinen Augen, niederes Dasein verlassen. Er klettert mit unbedingter Konsequenz die Karriereleiter nach oben und wird zu einem erfolgreichen Unternehmer. Alles am Körper dieser Figur ist der eleganten Unmöglichkeit des destruktiven Ehrgeizes untergeordnet. Man könnte es wohl mit einer Mischung aus gesenktem Haupt und funkelnden Augen beschreiben, die für Sekunden die Welt versprechen, aber letztlich nur in sich selbst verkrampfen. Parallel zu seinen beruflichen Errungenschaften und in einer Wechselwirkung, die ihm gleichzeitig Aufstiege und Bekanntschaften ermöglicht, nimmt er sich auf jeder Stufe dieser Leiter eine neue Frau. Er bleibt ein Artist. Bis eine Stufe bricht und mit ihr alles andere auch in einem Leben, das den Boden verlassen hat. Aber, so meint Pabst, es gibt ja noch die Mutter, die der Film als Figur und Idee liebt wie nichts anderes. Allgemein liegt ein aus heutiger Sicht merkwürdig erscheinender Fokus auf der Bedeutung von Blut als DNA. Figuren scheinen nur zu dem werden zu können, was ihnen durch die Adern fließt. Der junge Artist hat den Ehrgeiz seines erfolgreichen Vaters geerbt, aber auch das Durchhaltevermögen seiner Mutter. Sein eigener Sohn strebt ihm nach und wie er selbst muss er erkennen, dass im Aufstreben ein Abgrund wartet. Das ist streng genommen eine Umkehr des amerikanischen Traums. In der Unmöglichkeit des Ausbruchs findet sich dann Liebe und Durchhaltevermögen, die in der verzeihenden Mutterfigur gipfeln.

Das ganze wird in unsichtbarer, handwerklicher Perfektion gefilmt. Das klingt fast als wäre es nicht hier und da mit virtuoser Brillanz gesegnet, die sich vor allem in einer enormen Präsenz der Körper dieses amerikanischen Schauspieles wieder findet. Man spürt den Druck und die Ambivalenz, die über dem Geschehen lastet. Genau diese Präsenz wird leider etwas durchkreuzt von der extremen Kürze des Films (71 Minuten), die zwar erstaunlich ist, wenn man bedenkt, dass Pabst es schafft ohne einen Anflug von Hektik eine epische Geschichte zu erzählen, der aber dennoch das Gefühl des Alterns abgeht, dass wir in harten Schnitten hinnehmen müssen. Es ist dies eine Sache, der ich immer wieder – vor allem in amerikanischen Filmen – begegne. Die Idee des Zeitsprungs, der eine Idee bleibt. Es gibt eine sehr schöne Aussage von Quentin Tarantino, als der über einen anderen zerfressenen Ehrgeizigen des amerikanischen Kinos spricht, nämlich Daniel Plainview gespielt von Daniel Day-Lewis in There Will Be Blood von Paul Thomas Anderson. Tarantino spricht über den Anfang des Films und wie Plainview mit gebrochenem Bein durch den Staub robbt. Er sagt, dass es natürlich erstaunlich sei, dass dieser Mann alleine eine derartige Strecke mit einer derartigen Verletzung zurücklegen könne. aber alles, was Anderson bereits gezeigt habe von diesem Mann, alles was man in seinem Körper lesen könne, würde deutlich machen, dass wir alle wissen, dass dieser Mann diesen Weg zurücklegen kann. Und damit hat er Recht. Es geht hierbei um Notwendigkeit. Man muss nur zeigen, was man zeigen muss. Pabst ist ein Meister darin wie zum Beispiel sein grandioser Die Dreigroschenoper zeigt. In A Modern Hero jedoch scheint etwas zu fehlen. Vielleicht ist der amerikanische Traum zu leicht erreicht, vielleicht ist die Mutter nicht weit genug entfernt, um wieder nah zu sein. Vielleicht fehlt das Blut.

Pabst-Retro: Hybrid-Fever: Le Drame de Shanghai

Das Fieber, das westliche Regisseure mit ihren Blicken auf asiatische Metropolen und Stätten oft zu befallen scheint, ist voller Lust und Gefahr. Undurchschaubare Gesichter, die wir nicht kennen, Unbekanntes, der Abgrund fehlender Kommunikation. Eigentlich sind solche Inszenierungen heute nicht zuletzt aus politischer Sicht kaum mehr tragbar, aber es geht auch etwas daran verloren. Die Überhöhung und Fiktionalisierung des Blicks von Hollywood oder anderen westlichen Produktionen auf das Fremde ist mit problematischen Vorurteilen gespickt, sie ist aber auch voller Sehnsucht und Sensibilität. Heute haben wir eine Tendenz bei großen Produktionen gar keinen Blick mehr zu haben, also das Fremde einfach zu ignorieren statt zu versuchen ihm eine Materialität und/oder Stimme zu geben. Wenn jemand einen subjektiven Blick auf etwas Fremdes wirft, dann darf sich dieses Fremde natürlich als fremd offenbaren. Wichtig ist dann nur, dass der Blick als subjektiv reflektiert wird. Ansonsten scheint es mir essentiell, eine Anstrengung zu unternehmen. Die Bequemlichkeit einer Subjektivität muss hinterfragt werden. Nicht, weil man einen objektiven Film machen könnte, sondern weil man in die Subjektivität einen Zweifel legen muss. Man kann dem Fremden eine Stimme geben, man kann sich interessieren, zuhören, vielleicht darf erst dann Fiktion entstehen.

In Le Drame de Shanghai der bei der Retro im Filmarchiv Austria ohne Untertitel gezeigt wurde, findet sich die Tendenz des Fiebers genauso stark wie eine gegenläufige, die beständig die Handlung in einen geschichtlichen Kontext packen will. Dabei interessiert sich Pabst in dieser Adaption eines Romans von Oscar Paul Gilbert weniger für das Noir-Potenzial seiner mysteriösen Handlung als für eine Schicksalssinfonie zwischen Tochter und Mutter und dem Ziel diese Hölle zu verlassen. Doch die Schicksalssinfonie wird zu einem Echo und darin liegt die große Kraft des Films. Pabst macht hier ein Drama in Shanghai und ein Shanghai-Drama und sie gehen zusammen. Im Hinblick auf das moderne Kino, das sich solchen Orten nähert, wie jenes von Jia Zhang-ke oder jenes von João Rui Guerra da Mata & João Pedro Rodrigues macht Pabst hier einen großartigen Vorläufer, dessen Fiktionalität sich mehr und mehr auflöst bis sie in einem Messerstoß aus dem Film verschwindet, als hätte es sie nie gegeben. Die Emotion einer Identifikation wird von der Unaufhaltsamkeit einer Masse, die Geschichte repräsentiert, geschluckt.

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Das Gefühl des Eingesperrtseins durchdringt die ersten Filme der Pabst-Retrospektive mit Konstanz, es ist das Gefühl des machtlosen Wartens. Erzählt wird von Kay Murphy einer russischen Emigrantin und Sängerin und ihrer Tochter, die mit nervender Naivität in diese düstere Welt kommt, um sogleich wieder gehen zu wollen. Etwas hat sich verändert in Shanghai. Hinter den Kulissen tummeln sich Chinesen mit tödlichen Spritzen, kriminelle Organisationen, die sich mit schwarzen Drachen schmücken, lenken die Geschicke und letztlich auch das Schicksal der Sängerin. Manchmal fährt Pabst mit der Kamera durch die Menschen, die dem Gesang lauschen, manchmal brechen Unschärfen am Rand der Bilder die Gesichter der Massen auf. Diese Fahrten schaffen es allerdings nicht immer die etwas lieblosen Sets mit Gefühlen zu füllen. Dennoch sind es unruhige, bedrohliche Stimmungen, die sich etablieren und die spannenderweise in einem französischen Gesicht ihren ambivalenten Höhepunkt erreichen. Louis Jouvet (Entre onze heures et minuit ist er immer am schönsten) mit einer Narbe auf der Stirn, das Vertrauen einer Rasierklänge erweckend. Ansonsten lockert Pabst das geschehen über eine Howard Hawks-artige Journalismusgeschichte auf, die egal in welcher Situation möglichst unberührt von alledem abläuft. Was schon im Titel klar ist: Es ist ein Drama, keine Komödie und Pabst hält sich an diese Vorgaben aus dem Theater.

Nach und nach werden immer mehr Found Footage Aufnahmen aus China im Film integriert. Der Freiheitskampf, Menschen auf den Straßen, der Chinesische Bürgerkrieg in den 1930ern. Pabst vermischt virtuos melodramatische und journalistische Element bis alles zu einer einzelnen Bewegung, jener des Dramas wird. Was zunächst wie das große Drama inszeniert wurde in Nahaufnahmen der Augen von Christiane Mardayn, der Zusammenführung unterschiedlicher Linien zu einer Katastrophe, erscheint plötzlich trivial. Es ist nur, was man erzählen kann, nicht was wirklich war. Ein erstaunlich moderner Film.

Pabst-Retro: Stop n‘ Go: Der Letzte Akt

In den kommenden Tagen und Wochen findet im Filmarchiv Austria im Metrokino eine Retrospektive zum Schaffen von Georg Wilhelm Pabst statt. Hier sollen möglichst viele kürzere Texte über Filme und Motive seines Schaffens entstehen, die die Schau begleiten und aus ihr einen frischen Eindruck eines großen deutschen Filmemachers gewinnen wollen.

Wie zeigt man den Tod von Hitler? Um diese Frage kreist sich Pabsts Der letzte Akt, der eine frühere und in vieler Hinsicht bessere Variante von Oliver Hirschbiegels Der Untergang darstellt und dennoch untragbar scheint. Wie in der moderneren Variante spielt ein Volksschauspieler Hitler, Albin Skoda. Vielleicht ein logischer Schritt, vielleicht liegt schon hier eine Überhöhung. Auf den ersten Blick scheint es logisch, dass man für die Rolle des Hitler einen großen Darsteller braucht, auf den zweiten wäre ein kleiner oder keiner vielleicht auch interessant. Es geht um die letzten Tage im Bunker, die Pabst mit einer großen Liebe zum weitwinkligen Schattenreich früherer deutscher Bildstrategien inszeniert und mit mancher Brutalität beziehungsweise einem Moralapostel in Form eines völlig fehlbesetzten (Lukas Foerster empfand dieses Overacting als subversives und gelungenes Element im Film) Oskar Werner, aufweicht. Es sind die scheinbar gleichen Quellen auf die sich die Filme stürzen, es passiert das gleiche, nur dass bei Hirschbiegel mehr Emotionalität zugelassen wurde, vielleicht auch dem zeitlichen Abstand „geschuldet“. (Der Hund, zum Beispiel, stirbt nicht bei Pabst).

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Wie aber lässt man nun Hitler sterben? Der Vorschlag wäre und so wolle es auch Erich Maria Remarque, der die Filmnovelle schrieb, auf der Der letzte Akt beruht, dass Hitler stirbt wie eine Ratte im Keller. Nicht so mit Pabst, denn Pabst flirtet zwar mit der absurden Demaskierung, die Aleksandr Sokurov in seinem Moloch und auch The Sun praktiziert, aber am Ende macht er einen Film, der Hitler wohl gefallen hätte. Hitler stirbt nämlich nicht im Bild. Flammen bleiben, das Feuer und eine Warnung. Es ist sicherlich ein gut gemeinter Versuch, die Person gegen ihren eigenen Willen zu instrumentalisieren, als Mahnmal, aber dem Ganzen haftet so ein Geschmack von „Aus Fehlern lernt man.“ an, also auch ein Verzeihen, das absolut problematisch ist. Die Kamera spielt die Inszenierungsstrategien ihrer Subjekte hier mit. Sie blickt nicht durch sie hindurch, es ist ein Film, der immer noch paralysiert scheint von Nazideutschland, der auch ganz klar zeigt, dass Pabst unter anderem eng mit Leni Riefenstahl zusammenarbeitete in früheren Arbeiten und indem es keine Banalität gibt, sondern nur den Horror, die Ehre und die Angst.

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Wie sehr sich Pabst mit dem Rhythmus der Nazis identifiziert zeigt sich auch in seiner Montage beziehungsweise seinem Erzählrhythmus. So gibt es ein beständiges Stop n‘ Go, dass mit militärischer Präzision die zackigen Bewegungen der Soldaten und Offiziere nachempfindet, das „Jawohl“, das Pabst narrativ anprangert und die Stiefel, die gegeneinander schlagen bevor sie auf Befehle warten, zu einem ästhetischen Programm werden lässt. Ein Beispiel findet sich in der außergewöhnlichen Tanzszene der Schattenangst in der Schenke des Führerbunkers. Eine Frau beginnt einen wilden Striptease, die Zügel fallen auf den blutigen Boden und plötzlich knallt es, das Licht geht aus. Es ist ein Stop in dieser Bewegung, der sogleich weitergeht, wenn das Licht wieder angeht und wir uns im wilden Kuss zweier Verzweifelter finden. Immer wieder bewegt sich der Film so vorwärts. Warten-Gehen-Stoppen-Weitergehen-Warten-Gehen…das Problem ist, dass es immerzu eine Bewegung nach vorne gibt. Was wir vergessen in diesen Bewegungen, die nicht akzeptieren wollen, die sich in eine Körperlichkeit retten, um zu vergessen, dass sie sterben werden, ist dass sie selbst eine Schuld daran tragen. Die Flammen eines Fiebers scheinen hier zu glühen, als wäre alles nur ein Traum, eine Erinnerung aus dem Schattenreich. Eine verdrängende Erinnerung, die nach vorne gerichtet ist und daher zum Verschwinden verdammt ist. Was wir nicht vergessen sollen laut der expressionistischen letzten Szene, ist dass so etwas nie wieder passieren darf. Und man fragt sich tatsächlich, was Pabst meint: Man darf nie wieder blind solchen Leuten folgen? Okay. Aber auch: Deutschland darf so etwas nie wieder passieren? Die armen Deutschen und G. W. Pabst…

Der letzte Akt ist ein beeindruckender Film des Verdrängens, wo er es nicht sein dürfte. Am schlimmsten daran ist, dass er eine Attraktivität in diesen Bunker legt, die einen die Tabus überwinden lassen will. Eine Idee den Tod von Hitler zu zeigen, wäre es, den Tod von Hitler zu zeigen.

Benshi erzählt: Eine Reise in ein fremdes Land, eine Reise in die Vergangenheit

The Water Magician von Kenji Mizoguchi

Als leidenschaftlicher Kinogänger findet man mitunter nicht nur Gefallen an bestimmten Filmen, die entweder durch ihre Form oder ihren Inhalt hervorstechen, sondern auch an bestimmten Vorführungssituationen, man könnte auch sagen an Komponenten des medialen Umfelds, die einen Kinobesuch begleiten. Auch aus diesem Grund ist das Filmmuseum der Heilige Hain der Wiener Cinephilie; Perfektion in Sachen Vorführung wird dort durch die (beispielhafte) Loyalität des Publikums vergütet.

Im folgenden Text geht es aber (zur Abwechslung) nicht um das Österreichische Filmmuseum, sondern um das Metro Kinokulturhaus, die Spielstätte des Filmarchiv Austria. Das mag angesichts der obigen Einleitung seltsam erscheinen, zeichnet sich das Metro seit seiner Wiedereröffnung im Herbst dieses Jahres doch gerade durch Projektionsbedingungen aus, die einer Cinemathek unwürdig sind. Grausige Erfahrungen, wie das fahlgrüne Licht des Notausgangslichts, denkbar unglücklich direkt neben der Leinwand des Eric-Pleskow-Saals platziert, das Bressons Mouchette trübte, wiederholten sich glücklicherweise nicht. An anderer Stelle scheint den Leitern des Hauses die Überwindung der Kinderkrankheiten kein so großes Anliegen oder schlichtweg egal zu sein. Zum Beispiel könnte man mittlerweile den Projektionisten mitteilen erst dann mit der Projektion zu starten, wenn der Vorhang im Historischen Saal gänzlich zur Seite gefahren ist. Das ist zwar in den meisten Fällen irrelevant und „eigentlich eh egal“, aber einer solchen Institution ganz einfach nicht würdig. Nichtsdestominder, hat die Summe der kleinen Details, die „eigentlich eh egal“ sind, schon zu einem gewissen Antagonismus gegenüber dem Haus geführt, dessen Eröffnung ich damals als Erweiterung des Wiener Filmangebots sehr begrüßt hatte.

Historischer Saal des Metro Kinos

Als schwacher Geist mit inhaltistischen Begierden zieht es mich trotzdem immer wieder, an diesen verdammenswerten Ort (Nein, nicht wirklich verdammenswert, aber mir gefällt der Pathos, den das Wort mit sich bringt). In der Regel zieht es mich dann zu den kanonischen Klassikern, als zu den großen Retrospektiven, die der österreichischen Filmgeschichte gewidmet sind. Eines der Programme, das im Moment, und nur noch diese Woche, im Metro gezeigt wird, transzendiert aber die Grenzen von Filmkanon und österreichischer Filmgeschichte: „Benshi erzählt – Japanische Stummfilmtage“ nennt sich diese Schau. Zu sehen sind frühe Stummfilme von unter anderem Yasujiro Ozu, Kenji Mizoguchi und Mikio Naruse, aber, um wieder zum Eingangsparagrafen zurückzukehren, im Falle von „Benshi erzählt“ geht es nicht so sehr darum welche Filme gezeigt werden, sondern die Art und Weise wie sie gezeigt werden, denn Benshis sind Japanische Filmerzähler, also Angehörige jenes (ausgestorbenen) Berufsstandes, die in der Frühzeit des Kinos, die damals dramaturgisch noch unausgereiften Filme durch orale Narration begleiteten und erklärten. Während diese Kinoerzähler im westlichen Kulturkreis schon in den 1910er Jahren praktisch verschwunden waren, hielten sie sich in Japan bis in die 30er Jahre, was unter anderem dazu führte, dass dort erst Ende dieses Jahrzehnts der Tonfilm reüssieren konnte. In der Einführung vor dem diensttägigen Filmprogramm, wird erwähnt, dass es einigen Benshis zu verdanken ist, das der gezeigte Film, Die Wasserzauberin von Kenji Mizoguchi überhaupt die Jahre und Jahrzehnte überstanden hat; die Überlieferungsrate japanischer Stummfilme liegt bei nur drei Prozent (Nitrofilmlager und Erdbebenregionen vertragen sich schlecht). Ichiro Kataoka betritt in traditioneller japanischer Tracht die Bühne und nimmt auf der einen Seite der Leinwand Stellung, auf der anderen hat bereits Gerhard Gruber am Klavier Stellung bezogen. Zuerst erklingt bloß das Klimpern der Klaviertasten, bis die Erzählung einsetzt. Meister Kataoka spricht Japanisch, die Zwischentitel werden Englisch untertitelt, und obwohl man somit nur jene Passagen versteht, in denen der Benshi die Dialoge der Zwischentitel nachspricht, ist der Effekt ein ganz anderer. Verschiedene Stimmlagen, emotionale Aufladungen und allein schon die stimmliche Präsenz dynamisieren die Filmhandlung ungemein. Wie ein zweites Instrument ergänzt die Stimme des Erzählers die Tonebene. Das Klavier agiert sozusagen als Hintergrundmusik und die emotionalen Akzente werden durch den Sprecher gesetzt.

Das Resultat ist also einerseits wissenschaftlich-historisch interessant, da es einen Einblick gibt, wie Aufführungssituationen im frühen Kino womöglich vonstattengingen, andererseits bietet der Benshi schlicht und einfach eine tolle Show, die man als solche würdigen muss. Film als audiovisuelles Hörbuch in einer fremden Sprache, Kino um eine theatrale Dimension erweitert, und das ist nicht im negativen Sinne gemeint, ein Einblick in eine fremde Kultur und eine vielleicht weniger pure, aber dafür umso spannendere Filmerfahrung.

Kenji Mizoguchi am Set

Viennale 2014: Weimar 101010

Die Hand über der Stadt aus "M"

Hin und wieder gelingt es ein persönliches Festivalprogramm so zusammenzustellen, dass sich zwischen zwei oder mehr Filmen spannende Synergien ergeben. Noch interessanter wird das, wenn sich diese Filmfolge nur rein zufällig aus dem Programm ergibt und nicht von den Kuratoren vorhergesehen ist. Montagabend war eine dieser Gelegenheiten, als um 18 Uhr im Urania-Kino in Von Caligari zu Hitler feierlich auf die Filme der Weimarer Republik zurückgeblickt wurde, und es quasi im Anschluss im unweit gelegenen Metro-Kino die Möglichkeit gab einen dieser Filme, Georg Wilhelm Pabsts Die Büchse der Pandora, zu bewundern. Pabsts Stummfilmklassiker lief im Rahmen des Special Programs zu Ehren des österreichischen Schauspielers Fritz Kortner, der im Film eine der Hauptrollen innehat.

Von Caligari zu Hitler ist, wenn man so will, das perfekte Vorprogramm zu quasi jedem Film dieser Ära. Zwar erreicht der Film nicht die Höhen wie Martin Scorseses Aufarbeitung der amerikanischen beziehungsweise italienischen Filmgeschichte und schon gar nicht die von Mark Cousins 15-stündigem magnum opus The Story of Film: An Odyssee, aber er macht Lust darauf diese Filme (wieder) zu sehen, und das ist denke ich einmal das wichtigste an einer Filmdokumentation über Film. Szene aus

An dieser Stelle eine Randbemerkung über Restaurations- und Aufführungspraktiken: Die Büchse der Pandora wurde in einer 2009 restaurierten Version mit Live-Klavierbegleitung gezeigt. Es handelt sich dabei um eine digitale Restauration, so weit so gut. Ich bin davon überzeugt, dass von dieser Restauration auch 35mm-Vorführungskopien gezogen wurden, im Metro-Kino wurde an diesem Abend allerdings digital projiziert. Einmal abgesehen davon, dass es mir etwas überkompliziert vorkommt eine DCP ohne Tonspur zu produzieren, da in diesem Fall die Verkleinerung des Bildkaders durch Hinzufügen einer Tonspur, wie es bei einem 35mm-Print der Fall wäre, wegfällt, halte ich es für bedenklich, dass hier einem Proxymedium der Vorzug gegeben wird. Gerade ein kanonischer Klassiker wie Die Büchse der Pandora muss doch in passabler Qualität als 35mm-Print verfügbar sein, und dann muss es im Sinne der Veranstalter, wie des Publikums sein, eine Präsentation im Originalmedium zu gewährleisten. Ich lasse mir hier gern Purismus vorwerfen, aber wenn schonl zu Beginn des Films Texttafeln anpreisen, dass durch die Möglichkeiten der digitalen Technik, das Gefühl der Montage, wie Pabst sie im Sinn hatte rekonstruiert werden konnte, dann ist eine solche Präsentationsweise einfach unehrlich. Und da steht nicht nur die Institution unter Kritik, die diese Schau organisiert, sondern vor allem die verleihende Institution, die solch eine DCP überhaupt anbietet. Erschwerend hinzu kommt noch, dass diese technisch gar nicht auf dem neuesten Stand ist und auf der Basis eines 2k-Scan hergestellt wurde. Für die technischen Möglichkeiten von 2009 sieht die DCP sogar sehr gut aus, den Vergleich mit einer Vorführungskopie in 35mm dürfte sie jedoch nicht wagen. Kortner und Brooks in

Das alles ist sehr schade, denn der Film entpuppte sich als ein sehr erfreuliches Kinoerlebnis. Die Büchse der Pandora ist zurecht ein kanonisiertes Werk der Filmgeschichte und zählt nicht umsonst zu den bekanntesten Filmen des Weimarer Kinos. Pabst gelingt es wie anderen großen Meistern der Filmkunst klassische Stummfilmästhetik hinter sich zu lassen und stattdessen eine universale Filmsprache zu sprechen. Deshalb war der Film zur damaligen Zeit wohl ein kommerzieller Flop – der Film ist ganz einfach zu progressiv. Psychologisch motivierte Charaktere, komplexe moralische Fabeln, ein bitterböses Ende und ein Hauptcharakter, der zur Hälfte des Films ganz einfach verstirbt – was aus heutiger Sicht recht banal klingen mag ist für die Weimarer Kinoindustrie geradezu avantgardistisch. Aber nicht nur das Drehbuch hält dem heutigen Erzählstandard stand, vor allem in Sachen Montage kann jeder (angehende) Filmemacher noch einiges von Pabst lernen. Mit einer unvergleichlichen Flüssigkeit und Leichtigkeit schreitet der Film voran und schafft es die Opulenz eines großbürgerlichen Penthauses mit einer kümmerlichen Dachgeschosswohnung zu verbinden, ohne dabei mit seinem visuellen Stil brechen zu müssen. Als einziger Wermutstropfen bleibt, dass gerade einem Film wie Die Büchse der Pandora das Glänzen und Flackern einer Zelluloidprojektion sehr stark abgeht – gerade wenn man sich nach Von Caligari zu Hitler, der verständlicherweise aus digitalisierten Filmausschnitten besteht, auf „the real thing“ freut.

PS: Kommt es nur mir so vor oder verringert sich tatsächlich die Zahl der läutenden und vibrierenden Mobiltelefone in den Kinosälen? Kann es sein, dass es zumindest in Festivalkreisen nun endlich dazu gekommen ist Awareness für solche Störungen zu schaffen? Das Kino als Ort, wo man noch Ruhe hat, vor der Welt, die einem ständige Erreichbarkeit abverlangt.