Filmfest Hamburg Tag 3: Vom Schaffen

Man könnte sagen, dass es einen neuen Schwung an Filmen gibt, die den Schaffensprozess des Kinos und der Kinomacher reflektieren. Man könnte auch sagen, dass man ein wenig satt ist von dieser Art Film, aber das würde zu kurz greifen. Es sind nämlich andere Filme, freiere Filme, die auch mit der Bildkultur unserer Zeit in Verbindung stehen. Filme wie Rester vertical von Alain Giraudie, O Ornitólogo von João Pedro Rodrigues oder By The Time It Gets Dark von Anocha Suwichakornpong treten zum einen in die Fußstapfen von Fellinis 8 1/2, zum anderen driften sie weit davon entfernt.

In den Filmen geht es letztlich mehr um eine Traumlogik der Zweifel, Ablenkungen und der Unmöglichkeit des Bildermachens/Geschichtenerzählens/Beobachtens. In allen drei Filmen hat man ab einem bestimmten Zeitpunk den Eindruck, dass man sich in die Köpfe der Filmemacher (im und außerhalb des Films) einschleicht. Es beginnen wilde Assoziations- und Traumlogiken, man wird konfrontiert mit Einsamkeit und Begehren, aber alles derart flüchtig und irgendwie narzisstisch verdorben, sich sicher nicht an klassizistische Logik haltend, dass einem letztlich oft das Vokabular zur Beschreibung solcher Filme fehlt. Vielmehr – und das ist sehr wohl begrüßenswert – muss man sich auf Erfahrungen, einzelne Momente und Anflüge eines erfühlten Verständnisses berufen. Es gibt eine neue Freiheit, ein Kino der Trance. Dabei wird der Prozess des Filmemachens nicht mehr anhand der eigentlichen Arbeit betrachtet, sondern in seinem Beginnen, seiner Inspiration und letztlich Essenz. Das Beobachten bei Rodrigues, das Leben bei Giraudie oder die Bildmechanismen bei Suwichakornpong, Eine Essenz, die ins Wanken gerät, weil man zum einen den Bildern nicht mehr traut und weil die Subjektivität der Filmemacher sich immer zwischen Auge und Objekt schiebt. Weil es zu viele Bilder gibt und zu wenig, das sie verbindet. Es ist auch ein wenig eine Romantisierung und Abstrahierung des Filmemachens, denn berechtigt könnte man einwenden, dass sich zwischen Auge und Objekt eigentlich eine Kamera befindet.

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Aber diese Dinge lösen sich auf in einem Rausch der Nicht-Greifbarkeit. Es gibt zwar gelegentlich ganz praktische Szenen, zum Beispiel ein Telefonat mit dem Produzenten bei Giraudie oder die Farbkorrektur in By The Time It Gets Dark, aber letztlich folgt die Logik dieser Filme nicht mehr jener der Arbeit am Film, sondern eher der Gedankenarbeit. By The Time It Gets Dark ist dabei das eindrücklichste Beispiel, weil er nicht mal eine Figur in sich trägt. Er wird zu einer Strawberry-Field-Pilz-Hypnose, die das filmische Begreifen der Vergangenheit als etwas Davonschwimmendes mit den weichen thailändischen Stimmen betrachtet, die wir auch von Apichatpong Weerasethakul kennen. Die Frage, die sich nach diesem und auch anderen Filmen stellt: Gibt es dort eine Dringlichkeit, eine Notwendigkeit hinter der scheinbaren Willkür? Wie kann man darüber sprechen? Es ist eine Sprache der Erfahrung, die dann hin zum Film führen muss. Der Sinn liegt in der Sinnlichkeit und in dieser muss sich auch das Politische, Philosophische, Reagierende aufhalten. Es entfalten sich wirkliche Trips, die ohne die Geilheit eines Gaspar Noés (zumindest bei Rodrigues und Suwichakornpong) wie das tatsächliche Erwachen vor dem Einschlafen von Eskapismus und Verlorenheit erzählen. Man glaubt sich noch in einem geradlinigen Film und plötzlich verschwindet der Halt, den man damit verbindet.Das fühlt sich gut an, man kann so wieder erfahren, dass Kino auch heißt, anders zu blicken, anders zu leben.

Allerdings muss man sich fragen, wie weit man mit diesen Auflösungserscheinungen gehen muss, damit sie in sich Sinnlichkeit ergeben. Zum Beispiel in By The Time It Gets Dark legt sich eine mehr oder weniger klassische Filmmusik über die Traumbilder, eine die aus einer anderen Zeit des Kinos zu stammen scheint, gefangen zwischen der Notwendigkeit verstanden zu werden, aber mit dem gleichzeitigen Desinteresse daran; der Erfahrung, die in den Vordergrund rückt. Das ist eigentlich fehlende Konsequenz. Bei Rodrigues vermischen sich mythologische und persönliche Dinge, aber sein Kino ist gleichzeitig sehr im Realismus verankert. Es ist ein Kino, das sich bereits beim Blicken in der Welt befindet nicht erst durch das Blicken. Das ist deutlich schlüssiger zumal seine filmische Grammatik deutlich mehr im Kino verhaftet zu sein scheint, als die bisweilen an Werbeästhetiken erinnernde Vorgehensweise von Suwichakornpong oder die sehr, sehr losgelöste und metaphorisch angehauchte Form von Giraudie. Bei Rodrigues wird das Kino ein Erfahrungsraum. Man verhilft sich in der Beschreibung mit Adjektiven wie „schön“, „faszinierend“ oder „interessant“. Hier stellt sich dann schon die Frage, ob man mehr von diesem Kino will oder letztlich zu wenig.

Zeitbilder: Inimi cicatrizate von Radu Jude

Radu Judes Filmschaffen oszilliert seit jeher zwischen den Polen der ständigen Bewegung und der totalen Bewegungslosigkeit. Dieses Paradox treibt er in seinem wunderbaren Inimi cicatrizate auf die Spitze, weil sein Protagonist Emanuel gleichzeitig ans Bett gefesselt ist und in seiner sexuellen Blüte steht. Mit 20 Jahren an der Potts Krankheit (Tuberkulose) erkrankt, wird Emanuel in ein Sanatorium gebracht und erlebt dort eine dekadente Romantik und erbarmungslose Zeitlichkeit vor dem Zweiten Weltkrieg am Schwarzen Meer.

Irgendwo zwischen Thomas Mann und rumänischer Absurdität entfaltet sich ein eigentlich sehr klassischer Film über die Zeit des jungen Mannes in der Heilanstalt. Wir folgen Emanuel dabei eher auf seiner emotionalen, denn auf seiner tatsächlichen Reise durch die Krankheitsstadien. Das „Eigentlich“ bezieht sich auf die vielen Schichten, die mit diesem narrativen Ansatz in Verbindung stehen und der Art und Weise (lange tableauxartige Einstellungen in einem an Lisandro Alonsos Jauja erinnerndem Academy-Ratio-Format) in der Jude das filmt. Der Filmemacher bringt hier zwei Dinge ins jüngere rumänische Kino, die man dort durchaus vermissen konnte: Sexualität und Licht. Letzteres ist in seiner Behutsamkeit und Vielschichtigkeit wirklich bemerkenswert in Verbindung mit dem 35mm-Material, das hoffentlich jenseits von Hamburg auch so projiziert wird.

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Bild vom Set

Dabei arbeitet der Filmemacher deutlich zärtlicher und weniger vulgär (was nicht heißt, dass er die Krankheiten nicht auch organisch filmen würde) als in seinen bisherigen Filmen. Die Rauheit eines Aferim! oder O umbra de nor lässt nun eine deutlichere Distanz zu, die etwas zwischen den Bildern kommunizieren kann und eine größere Konzentration auf die Stille, ein offenes Fenster im Regen oder die Schönheit eines sterbenden Körpers mit Blumen für seine Geliebte ermöglicht. Das liegt vor allem an der Bildgestaltung von Marius Panduru und der Sprache von Max Blecher, dem rumänischen Surrealisten auf dessen Werken und Leben dieser Film basiert. Zwischen den Bildern werden ähnlich Fassbinders Effi Briest Textzitate eingeblendet, die gleichermaßen einen inneren Monolog ermöglichen, als auch das Gesehene abstrahieren, bisweilen hinterfragen. Denn was wir sehen ist entweder Leid oder Lust, meist das Warten auf beides. Was wir lesen, ist die Poesie dieses Leids, das kommende Ende, das man natürlich auch auf die Situation der Welt und Rumäniens vor dem Faschismus in diesen Jahren legen kann. Das Hinterfragen kommt dann, wenn ein Bild der Zügellosigkeit von einem Text der Einsamkeit abgelöst wird. Man fragt sich, ob man richtig hinsieht und zusammen mit dem abgerundeten Rahmen des Bildes, der manchmal theatralischen Art des Spiels (zum Beispiel in einer entscheidenden Szene am Meer zwischen Emanuel und seiner Liebe Solange) und der präzisen Kadrierung merkt man schnell, dass diese Welt auseinander fällt. Es ist eine Welt, die auf Bildern und Fiktionen beruht, die sich nicht halten werden können. Das gilt für den Heilungsprozess, der auf Lügen basiert, vielleicht gar nicht möglich ist, zumindest nicht kontrollierbar und das gilt für die medizinischen und politischen Ansichten in dieser Anstalt.

Zitate spielen allgemein eine große Rolle, denn Emanuel erweist sich als Lexikon von Werbe- und Gedichtzitaten, die er nur so um sich wirft. Verspielt, verletzlich, naiv und furchtlos, liegt er die größte Zeit des Films einbandagiert in einem Gips, der ihn nicht daran hindert auf verschiedene Frauen zu klettern. Es geht allen so in diesem Sanatorium, es ist eine große Verzweiflung, Herzen, die wirklich vernarbt sind (wer denkt beim Titel nicht auch ein wenig an Philippe Garrel), sexuelle Dekadenz. Besonders angetan hat es dem jungen Mann eine ehemalige Patientin, die Solange heißt oder sich Solange nennt. Insbesondere in den Szenen mit ihr, die Jude in seinen gewohnt virtuosen, statischen Plansequenzen filmt, wird einem schmerzvoll klar wie brutal es ist, wenn man sich nicht bewegen kann. Diese langen Einstellungen sind schlicht unglaublich. Judes Mise-en-scène erinnert an Hou Hsiao-hsien oder Mauritz Stiller. Eine derartige Choreographie an Bewegungen, Sichtwechseln und Spiegeln, Rahmungen im Bild hat man selten gesehen. Am besten zeigt sich Bewegungslosigkeit immer mit Bewegung und so lässt der Filmemacher allerhand gesündere Patienten um Emanuel tanzen, rennen, er wird herumgeschoben und hinzu kommt dieses beständige Drängen des Herzens, das ausbrechen will aus dem Gips. Dadurch entstehen sowohl komische als auch tragische Szenen, meist beides zugleich.

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Neben den sprachlichen Verweisen auf Blecher, gibt es auch eine Rahmung, die an den Schriftsteller erinnert. Im wunderschönen Vorspann sehen wir Bilder und Dokumente des tatsächlichen Aufenthalts von Blecher im Sanatorium und am Ende besuchen wir sein Grab. Dadurch macht Jude die Zeitlichkeit des Ganzen noch präsenter und er tritt auch in einen Dialog mit der Geschichte und ihrer Fiktion zugleich. In mancher Hinsicht erinnert der Film an La Mort du Louis XIV von Albert Serra. Zwei Filme aus diesem Jahr, die über Krankheiten von einer vergänglichen Welt erzählen, die irgendwann war und doch auch jetzt ist. Beide Filme erzählen von einer Starre, einer Ohnmacht der Bewegung, die immer auch absurd ist. Wenn es einmal das Bewegungsbild und das Zeitbild gegeben hat, dann gibt es dieses Jahr im Kino das Krankheitsbild. Es ist ein Zeitbild, das gerne ein Bewegungsbild wäre.

Am 14. November zeigen wir im Filmhaus am Spittelberg Inimi cicatrizate und O umbra de nor von Radu Jude.

Filmfest Hamburg Tag 2: Make-Down

Das Kino ist Teil der Make-Up-Industrie wie Jean-Luc Godard in seinen Histoire(s) du cinéma des Öfteren wiederholt. Die großen Stars, die Verwandlung, das Aufgemachte, Aufgeklebte, Gelogene. Das Kino ist ein Teil der Maskenindustrie. Der äußerst kleine rote Teppich in Hamburg erzählt wenig davon. Meist rennen dort Kinder über den Teppich und stellen sich vor (make up) Stars zu sein. Dann gibt es Kristen Stewart hier. Laut dem Film Comment befinden wir uns ja Im Zeitalter der Kristen Stewart. Sie ist seit einiger Zeit nicht mehr Kristen Stewart, sie ist jetzt Kristen Stewart. Diese Dinge sind möglich in der Maskenindustrie. Olivier Assayas, der ihr in Personal Shopper drei Dinge als Geschenk bringt, weiß darum:

Das erste Geschenk: Eine wirkliche Kinoszene. Ein unordentlicher Film in jeder Hinsicht, das ist irgendwie schön. Auch ein Horrorfilm, warum nicht? Inmitten schwächerer, irgendwie müder Momente ein Bild, das bleibt. Kristen Stewart kleidet sich in fremde, verbotene, teure Kleider im Dressing Room ihrer Arbeitgeberin und dazu hören wir Marlene Dietrich singen. Die Kamera von Assayas löst sich dann in ein Fahrt des Begehrens wie man sie von ihm früher kannte. Es ist bezeichnend, dass Stewart diese Szene in einem Moment bekommt, in dem sie sich verändert. In dem sie sich anders aussehen lässt, eine Make-Up-Szene.Wie Marlene Dietrich und das beständige Licht, das ihr Von Sternberg wie Make-Up in die Augen strahlte, reflektierte wie Diamanten.

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Das zweite Geschenk: Einen Selbstfindungstrip, der nicht nur darauf zielt, dass man spirituell mit anderen Welten (auch digitalen Welten) kommuniziert, sondern – man ahnt es – dass man sich selbst auch neu erfindet, auflöst, zusammensetzt, in einer ständigen Bewegung und Fluktuation, der unruhige Körper von Stewart, die unruhige Kamera von Assayas, Transit, Hektik, ein Tanz, der beständig vorgibt, etwas zu sein, was er nicht ist. Am Ende dann der Satz, den man in anderen Filmen mit Stewart erwartet hätte: Is it me or is it you? Ja, wer soll denn das noch wissen mit diesen Stars und Assayas-Frauen? Make-Up your mind.

Das dritte Geschenk: Hier liegt dann das Geheimnis dieser Make-Up-Industrie, denn diese  Stewart, die also das Mädchen von nebenan sein will (immer wieder), diese lässige, irgendwie desinteressierte Aufgesetztheit, der man die teuren Kleider genauso wenig abnimmt wie die langen T-Shirts, diese Stewart, die also nicht Kristen Stewart sein will, ist trotzdem Kristen Stewart. gemacht und hergerichtet und sie darf eine schiere Unzahl lässiger, irgendwie desinteressierte Pullis und Hemden tragen mit einem Gesicht, das irgendwie lässig geschminkt wird, einer Frisur, die perfekt lässig hingerichtet wird. Welch ein Geschenk, der Superstar als Personal Shopper, als Assistentin wie schon in Clouds of Sils Maria. Ist ja irgendwie doch wie wir alle, liest (größtenteils Textnachrichten) und langweilt sich, verzweifelt ein bisschen und spielt eine Rolle. Das ist dann wirklich Kino und Assayas weiß darum und hat in Kristen Stewart, die nicht Kristen Stewart sein will die perfekte Muse gefunden.

Noch anschaulicher gibt es ähnliches in Certain Women von Kelly Reichardt. Dort ist das Make-Up auch ein Make-Down, denn die markanten Augenringe von Stewart werden um ein vielfaches verstärkt. Man schminkt sie nicht für den Glamour, sondern für das Gegenteil. Make-Up, Make-Down.

Filmfest Hamburg: Certain Women von Kelly Reichardt

Kelly Reichardt ist nach ihrem sehr mittelmäßigen Night Moves zurück in ihrem Land der sanften Verzweiflung. Getaucht in Saul-Leiter-Licht erzählt Certain Women von drei Frauen, die daran scheitern Verbindungen aufzubauen, Dinge zu verändern. Eigentlich ist der auf Geschichten von Maile Meloy basierende Film wütend, ja verzweifelt, aber die Landschaft Montanas und die Art und Weise wie diese von Christopher Blauvelts sinnlicher 16mm-Kamera weich, dekadriert und körnig gezeichnet wird, schieben sich in diesen Aufschrei und verwandeln ihn in eine schwer beschreibbare emotionale Dichte, die eigentlich nur in den letzten Szenen des Films aufgesetzt wirkt.

Von der Unmöglichkeit des Erreichens anderer Menschen erzählt Reichardt mit unheimlicher Präzision in ihrer Bildgestaltung von der ersten Sekunde an, als wir ein in der Mitte getrenntes Bild sehen: Im linken Zimmer kleidet sich die Anwältin Laura (gespielt von Laura Dern) nachdem sie sie mit einem Mann (James Le Gros) geschlafen hat. Dieser kleidet sich im rechten Zimmer. Dazwischen eine Wand. Später fährt sie ihm mit ihrem Fuß zärtlich über den Rücken, aber Reichardt erlaubt sich nicht mehr, die beiden Figuren in einem Bild zu zeigen. Nur der Fuß ragt hinein. In allen drei Geschichten des Films – eine Anwältin, deren Klient in völliger Verzweiflung zum Verbrecher wird, eine Frau (Michelle Williams, wie immer bei Reichardt mehr ein dokumentarisches denn ein fiktionales Gesicht), die sich für ihre Familie um ein Haus in der Wildnis bemüht und dazu Steine von einem älteren Einsiedler kaufen will und eine Rancharbeiterin (Lily Gladstone), die letztlich aus Einsamkeit in eine Abendschule geht und sich dort in die unerfahrene Lehrerin (Kristen Stewart) verliebt – geht es um Frauen mit einem Ziel. Reichardt stellt an mehreren Stellen bewusst die Frage, ob sie diese Ziele verfehlen, weil sie Frauen sind. Durch die drei Geschichten hindurch zieht sich eine Linie hin zum Wilden Westen, ein Verlassen der Zivilisation. Laura Dern ist noch in der Stadt verortet, Michelle Williams plant ein Leben entfernt davon und Lily Gladstone lebt das bereits.

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Certain Women ist wie auch Meek‘s Cutoff, Old Joy oder Wendy & Lucy ein Film der Anonymität, der Auflösungen in den Landschaften, der Verlorenheit, des Suchens. Es sind Filme über die Schwierigkeit, einen Ort zu finden. Derart schön fotografiert war bislang im Werk der Amerikanerin nur Meek‘s Cutoff, Reichardt arbeitet hier mit Gefühlen, die sich immer wieder im Dialog zwischen Landschaft und Figur entwickeln. Das erinnert tatsächlich an Western, die wir dann in der Stadt hinter Glas als Show präsentiert bekommen. Ein Film der Distanz nicht nur zwischen den Menschen, sondern auch zwischen ihnen und der Welt, in der sie leben, leben wollen.

Beeindruckender als dieser politische Gestus ist aber die Beobachtungsgabe und Präsenz des Films. In vielen Szenen ist das Licht der Star, die Kamera verliert sich förmlich in Bewegungen und Lichtspielen/Schattenspielen. Zum Beispiel als die Rancharbeiterin der Lehrerin lange nachsieht und sich grelles, weißes Licht in ihren Augen spiegelt. Ein Sehnsuchtsbild, das einem deshalb nahe geht, weil es sich im Licht manifestiert. Das Licht gibt den Figuren auch eine Würde, die in dieser Verzweiflung eine Kraft findet. Das Licht lügt ihnen aber auch eine Sinnlichkeit und amerikanische Tiefe vor, die es letztlich nicht so einfach gibt. Dabei schildert der Film sehr lange Zeit, die nur sehr lose und doch entscheidend verknüpften Geschichten in alltäglichen Beobachtungen, die einem sehr unaufgeregt die Ambivalenz dieser Figuren und ihrer Verzweiflung näher bringen. Es ist kein einseitiges Bild des Leidens. Reichardt lässt sich auch immer wieder die so wichtige Zeit für die Arbeit selbst. Handgriffe, Fahrten, die Art und Weise wie Papier gehalten wird. Auch sehen wir die Figuren oft beim Essen. All das ist derart feinfühlig beobachtet, dass man die sanfte Verzweiflung in den Körpern und Landschaften entblößt und versteckt zugleich vorfindet. Es ist ein wenig verständlich, denn immerhin umgeht Reichardt so ein klischeehaftes Schlussbild, aber es tut dennoch weh, dass in den letzten zehn Minuten eine Art Appendix aufgerollt wird. Dann sehen wir noch mal alle drei Frauen, bisweilen versöhnlich, bisweilen in der gleichen Einsamkeit und bekommen so das Gefühl einer unbedingten und süßlichen Fiktionalität, wo es doch die fast unzusammenhängende Beobachtung war, die den Reiz und die Poesie des Films ausmachten. Vielleicht ist dieses Ende aber einfach nur eine verzweifelte Liebeserklärung von Reichardt, die neben dem Projektor steht mit dem Licht des Films in ihren Augen. Davon wird man manchmal geblendet.

Filmfest Hamburg: Tag 1 – Schweifende Blicke

Was mich womöglich erstaunen könnte im Kino: Wenn jemand einen Rahmen macht, um den Fokus auf etwas zu legen, was keinen Fokus hat.

Wir kennen das von Filmen im modernen Kino, die statische Einstellungen (womöglich sogar verbunden mit Rahmungen) stehen lassen, um Dinge darüber, darunter, dahinter oder sonstwo außerhalb dieses Rahmens passieren zu lassen. Das gibt es als formale Experimente oder als eine Art Realismus. So gesehen zum Beispiel in ersten Film, dem ich dieses Jahr in Hamburg begegnete, El viento sabe que vuelvo a casa von dem chilenischen Filmemacher José Luis Torres Leiva. Eine manchmal zu nahe, an Abbas Kiarostamis Through the Olive Trees erinnernde Suche nach einem Film (einer Story, Schauspielern) auf einer Insel. Zu nahe, weil die Bewohner uns erschreckend vertraut präsentiert werden. Manchmal steht in diesem Film die Kamera und rührt sich nicht, zum Beispiel beim Bad eines Pferdes im Meer (dieses Jahr treffe ich auf sehr viele badende Pferde im Kino). Das Pferd läuft ins Bild, verlässt es fast, dreht noch mal um, hängt dann ein wenig am linken Rahmen und verlässt schließlich den Rahmen. Eigentlich sollte uns diese Technik zeigen – und das tut sie bisweilen auch in diesem Film – dass unser Blick auf die Welt immer nur aus einer bestimmten Perspektive geworfen wird. Das ist allerdings dann irrelevant, wenn ich das Gefühl habe, dass diese Welt jenseits dieses Rahmens gar nicht weitergeht. Dann ist der Rahmen nicht die Grenze eines Blicks, sondern einer Handlung. In der Szene mit dem Pferd lässt sich Leiva diesbezüglich nichts vormachen, aber in anderen Bildern, zum Beispiel in Castingszenen mit Jugendlichen, glaube ich nicht an die Welt, die er mir nicht zeigt. Das ist insbesondere deshalb problematisch, weil es ganz ähnlich zu Ulrich Seidls Symmetrieeinstellungen keinen Schutzraum für die Protagonisten gibt, die Menschen vor der Kamera. Sie werden letztlich in einen Rahmen gestellt, diesem Blick ausgeliefert. Dann erzählt der Rahmen von einer zu großen Bestimmtheit, Dominanz.

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Ganz anders gestaltet sich das in Batalla en el cielo, dem schwierigen Lieblingskind von Carlos Reygadas. Der Film läuft im Rahmen, der von Reygadas selbst kuratierten Schau zum mexikanischen Kino und er wurde auf 35mm projiziert. Ich konnte nicht widerstehen, ihn wieder zu sehen. Nach einer schrecklichen Wikipedia-Einführung im tollen B-Movie-Kino öffnete sich ein Rahmen, der den Fokus auf etwas legt, was keinen Fokus hat. Batalla en el cielo ist ein virtuoses Werk über sexuelle Frustration und den schweifenden Blick, der zum einen im Travis-Bickle-Modus auf ein im Gestank schwimmendes Land blickt und zum anderen sich in animalischer Triebhaftigkeit und gleichzeitiger Gleichgültigkeit zu verlieren droht. Bei Reygadas steht der Rahmen nicht in Verbindung mit der subjektiven Wahrnehmung des Mannes hinter der Kamera, sondern die Kamera (auch der Ton) identifiziert sich mit der subjektiven Wahrnehmung des Protagonisten Marcos. Unschärfen, Schwenks, Tiefenschärfe, schweifende Blicke, es wird beständig von einer Welt erzählt, die jenseits der Szene weitergeht. Reygadas zelebriert diese Dynamisierungen des filmischen Raumes geradezu. Zum Beispiel an einer Tankstelle, als Marcos auf einige singende Christen blickt, während sein Auto unter extrem lauter klassischer Musik vollgetankt und durchgecheckt wird. Die Kamera schwenk von hier nach da und der Ton tut es ihr gleich. Zuerst folgen wir den Blicken von Marcos, aber schon bald ist Marcos auch Teil des Blicks. Es ist eine wunderbare Verirrung des Kinos, wenn scheinbare Point-of-View-Einstellungen sich in neutrale Bilder verwandeln. Filme bekommen dann etwas fließendes, traumartiges und können von einer Abwesenheit erzählen, die nicht nur von den Rahmungen und Schnitten ausgeht, sondern letztlich von den Körpern, die sich in und außerhalb des Rahmens bewegen. Reygadas braucht also keinen Point-of-View für die subjektive Wahrnehmung seiner Figur. Die Kamera ist autonom, sie liefert so etwas wie Seelenbilder, die schweben, weil sie innerlich sind und eine Welt zeigen, die äußerlich stattfindet. Marcos hat keinen Fokus, es entgleitet ihm. Das Gleiche gilt hier für den Rahmen des Bildes.

Nun könnte man meinen, dass ein solches Vorgehen letztlich an der Beweglichkeit der Kamera liegt (in Batalla en el cielo schwebt diese letztlich immer wieder im Stil der vorletzten Einstellung in Michelangelo Antonionis Professione: reporter). Dass das aber auch statisch geht, zeigt nicht zuletzt wiederum Antonioni zum Beispiel in La notte. Ein Film auch über den Schock der Gleichgültigkeit dessen, was gleichzeitig passiert, denn immer wenn etwas gleichzeitig passiert, gibt es einen Fokus, der den der Protagonisten und auch den auf die Protagonisten verschwinden lässt. Sie verschwinden in dieser Welt. Reygadas zeigt dies eindrucksvoll in der Sexzene von Marcos mit der jungen Tochter seines Chefs, als die Kamera ähnlich wie in Brian de Palmas Scarface aus dem Fenster fliegt. Aber statt eine narrative Wendung durch diese Bewegung herbeizuführen, zeigt sie uns letztlich nur die Welt, die es gleichzeitig gibt: Arbeiter, ein tropfender Hahn, spielende Kinder, die Wand, der Himmel. Die schmerzvolle Irrelevanz der sexuellen Erlösung. Aber ganz so objektiv ist diese Einstellung nicht, denn sie erzählt auch von einem Loch in Marcos. Dem Loch, dass zwar alles mit größter Präsenz betrachtet, aber eben auf die Empathie eines gerahmten, bestimmten Gesichts so lange verzichtet bis dieses tot in seinen Armen liegt beziehungsweise in einem provokanten letzten Bild im Stil von Vincent Gallos The Brown Bunny während eines post-mortem-Blowjobs sagt: Ich liebe dich.

Approved by Lanzmann: Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures von Claude Lanzmann

Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures von Claude Lanzmann

Außer dem unlängst erwähnten Saul fia, war in Hamburg noch ein weiterer Film über den Holocaust zu sehen. In A Nazi Legacy: What Our Fathers Did werden Horst von Wächter und Niklas Frank, Söhne ranghoher NS-Beamter, mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Während Frank seinen Vater für seine Taten als Generalgouverneur von Polen verurteilt, weigert sich Wächter seinen Vater, den er als liebendes Familienoberhaupt in Erinnerung hat, als Monster abzustempeln. Wenig raffiniert spielt der Film die beiden gegeneinander aus und über die zunächst ambivalenten Beziehungen zwischen Vater und Sohn wird schon bald geurteilt. Mit Fortdauer des Films wird Wächter immer mehr antagonisiert; schließlich wird das komplizierte Geflecht aus Emotionen, Gedächtnis und moralischer Verantwortung schlicht in Gut (Niklas Frank) und Böse (Horst von Wächter) eingeteilt. Den Wendepunkt in der Inszenierung stellt der Besuch eines Veteranentreffens einer SS-Hilfseinheit in der Ukraine nahe Lemberg, dem ehemaligen Arbeitsplatz von Vater Wächter, dar. Dort wird der Sohn des ehemaligen Gouverneurs von Galizien von den Veteranen und den Sympathisanten herzlich willkommen geheißen. Unter ihnen sind jene, mit NS-Insignien geschmückten, ukrainischen Ultranationalisten die während der Maidan-Proteste in den Fokus der Weltöffentlichkeit getreten sind. Der Film verzichtet jedoch zugunsten einer eindeutigeren Dramaturgie, weitestgehend darauf diesen Bezug herzustellen, beziehungsweise die Rolle der ukrainischen Nationalisten im Zweiten Weltkrieg und in der Sowjetunion überhaupt, näher anzusprechen. Eine nicht zu verachtende Anzahl anti-russisch eingestellter Ukrainer hatte sich in den Kriegsjahren in den Dienst Hitlers gestellt, mit der Aussicht mit einer freien und unabhängigen Ukraine belohnt zu werden. Diese Männer verrichteten Hilfsarbeiten für die SS, ukrainische Wachmänner versahen zum Beispiel im polnischen Vernichtungslager Sobibor Dienst. Auch an jenem 14. Oktober 1943, als dort ein Aufstand der Gefangenen glückte, dem Claude Lanzmann ein filmisches Denkmal setzte.

Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures von Claude Lanzmann

Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures beruht, wie der Großteil von Lanzmann Filmschaffen, auf seinen Recherchen zu Shoah. Im Zuge der Arbeiten für sein monumentales Epos interviewte er 1979 in Haifa Yehuda Lerner, einen der wenigen Überlebenden des Aufstands von Sobibor. Obgleich das Lager selbst im Film vorkommt, lässt Lanzmann keines der Opfer zu Wort kommen; die rund zehn Stunden Material mit Lerner behält er jahrelang in Evidenz, bis 2001 Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures erscheint. Der gebürtige Warschauer Lerner war nach acht Ausbruchsversuchen aus verschiedenen Arbeitslagern, im Minsker Ghetto in eine Gruppe jüdisch-sowjetischer Kriegsgefangener geraten. Mit dieser Gruppe wurde er ins Vernichtungslager Sobibor transportiert, wo er sich als einer von 60 der über tausend Männer zum Arbeitsdienst meldete und so dem Tod entging. In für Lanzmann typischen, langen Interviewpassagen, die nur durch die Übersetzungen der Dolmetscherin unterbrochen werden, erzählt Lerner von den Vorbereitungen und der Durchführung des Aufstands. Im Vergleich zu Shoah hat sich das strenge formale Gerüst in Sobibor, 14 octobre 1943, 16 heures mittlerweile ein wenig verändert. Allein deshalb, weil Lanzmann auf ein Interview zurückgreift, dass zum Zeitpunkt der Produktion schon über zwanzig Jahre alt ist. Diese Aufnahmen von 1979 konfrontiert er mit aktuellen Bildern aus Warschau und Sobibor. Der Film endet mit einer Liste der Transporte aus den verschiedenen Teilen des Reiches, die Lanzmann selbst vorliest. Trotz allem bleibt der Franzose in formaler Hinsicht ein radikaler Purist. Er arbeitet ohne Archivaufnahmen, ohne gesprochene Kommentare, lehnt Rekonstruktionen ab, denn was damals geschah, könne man ohnehin nicht durch solche Mittel fassbar machen. Stattdessen lässt er Zeitzeugen zu Wort kommen; oral history nennt das der Fachmann. Die Wirkung von Lanzmanns Filmen liegt einerseits an seiner meisterhaften Interviewtechnik, einem stetigen Nachbohren und Nachhaken, das jedoch nie aufdringlich oder aggressiv wird, und kluger Montageentscheidungen, die zahllose Stunden Rohmaterials in eine geglättete, kohärente und stringente Form bringt. Lanzmanns Filme sind massive Zeugnisse unvorstellbarer Ereignisse und zweifellos meisterhafte Werke der Kunstgattung Film, doch der Mythos, der sich mittlerweile um die Person Lanzmann rankt ist problematisch. Wenn junge Regisseure wie László Nemes bei Lanzmann vorstellig werden, um sich Absolution erteilen zu lassen und das Urteil des alten Meisters dann als Adelsprädikat – approved by Lanzmann – mit sich herumtragen, dann hat das einen faden Beigeschmack. Lanzmann hat sich seine Position als (filmischer) Doyen in Holocaustfragen, durch seine jahrelange mühevolle Recherche und die akribische Arbeit am Material erworben, doch seine zweifelhafte Rolle als Moralapostel rechtfertigt sie nicht. Kürzlich war Marcel Ophüls mit seinem Film The Memory of Justice in Wien zu Besuch. Ophüls hat wie Lanzmann lange Jahre seines Lebens mit der filmischen Aufarbeitung des Holocausts verbracht, doch im Gegensatz zu Lanzmann, hat ihn diese Arbeit nicht gleichermaßen verhärten lassen. Ophüls, so mein Eindruck, hat nie verlernt neue Wege zu gehen und neue Perspektiven zuzulassen, bei Lanzmann fehlt mir dieses Gefühl.