Filmfest Hamburg Diary: Tag 7: The Song of Saul

The Song of the Sea von Tomm Moore

„Hamburg ist nicht nur eine Stadt, Hamburg ist eine Einstellung.“ – Some random guy

Der Deutsche ist als pünktlicher Mensch bekannt (man möchte sagen „verschrien“). Das ist prinzipiell eine durchaus löbliche Eigenschaft, doch treibt sie hier recht seltsame Blüten. Zwar schätze ich es, wenn nicht Verspätungen meine sorgfältig getakteten Pläne über den Haufen werfe, doch einen Film gar mehr als fünf Minuten vor angekündigtem Beginn anlaufen zu lassen, schießt dann doch etwas über das Ziel hinaus. So waren gerade die ersten Sekunden aus Saul fia zu sehen, als ich pünktlich um 16:55 zur 17-Uhr-Vorstellung in den abgedunkelten Kinosaal trat. Nicht nur, dass das für mich persönlich sehr ärgerlich war, die Anzahl der Zuspätkommenden (die es immer gibt) erhöhte sich dadurch beträchtlich (genau genommen, kamen sie, wie ich auch, gar nicht zu spät) und die ersten fünfzehn Minuten im Saal waren dementsprechend unruhig.

Son of Saul von László Nemes

Saul fia von László Nemes

Saul fia wurde seit seinem Erscheinen, wahrscheinlich zu Recht, von einigen Seiten für seine marktschreierische Ästhetik und seine Behandlung der heiklen Holocaust-Thematik kritisiert. Saul fia ist auf keinen Fall ein Meisterwerk, Filmemacher wie Alain Resnais oder Claude Lanzmann haben sich des Themas auf eine Art und Weise angenommen, die László Nemes nicht erreicht. Sollte man angesichts dieser gewichtigen Vorarbeit damit aufhören, den Holocaust filmisch zu verarbeiten? An manchen Stellen wirkt der Film ohne Zweifel wie „ein Konzeptfilm, der nicht an seinem Konzept interessiert ist, sondern am Effekt dieses Konzepts“, wie Patrick es formuliert hat. Was Nemes unternimmt ist gewagt und seine Motive sind alles andere als klar, doch ungeachtet dessen ist Saul fia eine spannende Gratwanderung zwischen Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, die nicht immer gelingt, aber es trotz aller Zweifel vermag, drängende Fragen aufzuwerfen. Der Film ist ein Schmelztiegel aus moralischen Fragen über Religion, Familie, Gewalt und Krieg; alle diese Fragen werden an der Figur des Saul Ausländer durchexerziert, der als Platzhalter und Identifikationsobjekt fungiert. In der restlichen Inszenierung mag sich Nemes um Realismus bemühen, Saul Ausländer ist der aufgesetzte Katalysator, den man entweder akzeptiert, oder auch nicht. Er erlaubt es Nemes, sich relativ frei durch das KZ-Setting zu bewegen und dennoch einen Fokuspunkt zu behalten. Die Leichenberge zeigt er nur verschwommen, und vertraut dabei auf ein kulturelles Gedächtnis, das mit diesen Bildern gesättigt ist, POVs setzt er dann ein, wenn Saul aus seiner Rolle als Platzhalter fällt und als Mensch auftritt: wenn er seinen toten Sohn entdeckt, wenn er den jungen im Wald anlächelt. Klar hat das auch mit einer gesteigerten emotionalen Bezugnahme zu tun, aber Saul fia geht weit darüber hinaus, den Holocaust nur emotional greifbar zu machen (ergriffen wird man davon relativ schnell – das schaffte sogar Roberto Benigni), sondern unternimmt den Versuch ihn intellektuell fassbar zu machen. Das schafft er zugegebenermaßen nur stellenweise, aber er versucht es auf eine mutige und andere Art und Weise, weshalb ich dem Film im Gegensatz zu Patrick einiges abgewinnen konnte.

The Song of the Sea von Tomm Moore

The Song of the Sea von Tomm Moore

Die Verteidigung von Saul fia liegt mir weniger am Herzen, als über den wunderbaren Song of the Sea zu schreiben. Der Film stammt aus der Feder des Iren Tomm Moore, der, wie schon in seinem letzten Film The Secret of Kells, seine Qualitäten als Geschichtenerzähler beweist. Wie die meisten großen Animationsfilmer, vermag es Moore sich gleichzeitig an ein kindliches und erwachsenes Publikum zu richten. Souverän bereitet er die komplexe keltische Sagenwelt auf. Das kommt nicht nur den Kindern zugute, sondern auch jenen Zusehern, die nicht mit dieser Kultur vertraut sind. Moore kommt dabei zugute, dass sich phantastische und tragische Elemente in diesen Mythen von vornherein die Waage halten. Diese Elemente strukturiert Moore um die Figur des Ben. Er ist der Sohn des Leuchtturmwärters Conor und seit dem Verschwinden seiner Mutter vor sechs Jahren etwas verloren. Seinen Vater hat dieser Verlust denkbar schwer getroffen und er verhält sich seither abwesend und zeigt mehr Zuneigung für seine Tochter Saiorse, die der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Als die beiden Geschwister just zu Halloween zu ihrer Großmutter ziehen und Ben seinen geliebten Hund Cú zurücklassen muss, zerfällt seine heile, wenn auch brüchige Welt endgültig zu einem Scherbenhaufen. Er will nach Hause zurückkehren, sieht sich aber schon bald mit weit größeren Problemen konfrontiert, denn es stellt sich heraus, dass seine Schwester (wie auch seine Mutter), eine Selkie ist, der es obliegt eine böse Eulenhexe zu stoppen, die magischen Kreaturen ihre Gefühle entzieht und sie zu Stein verwandelt. Ben ist durch die Geschichten seiner Mutter gut mit den Protagonisten der Sagenwelt vertraut, spätestens zu diesem Zeitpunkt, wird Saiorse zum eigentlichen Zentrum der Handlung. Der Film nimmt hier eine düstere Wendung, die anfängliche kindliche Unzufriedenheit mit der Großmutter und die Angst vor dem Verlassen des Zuhauses wird durch weit größere Gefahren relativiert. Die schroffe Szenerie der irischen Küste freilich, sorgte schon von Beginn an für eine bedrohliche Atmosphäre. Viel obliegt in einem Film dieser Art dem Zeichenstil. Moore löst dabei die wilde und ungebändigte Landschaft in vorwiegend runden, weichen Formen auf. Der Kontrast zwischen Bedrohung und Geborgenheit, sowie dem Fremden und der Familie dient als Leitmotiv, dass sich inhaltlich wie formal durch den Film zieht. The Song of the Sea ist zugleich bedrückender Gruselfilm, wie herzerwärmendes Familiendrama. Ein Film, der nicht auf Schock- und Spektakelwert abzielt, um Kinder (und Erwachsene) zu unterhalten, sondern eine Gefühlswelt schafft, mit der sie sich identifizieren können und die sie auf positive Art und Weise mit unangenehmen Fragen konfrontiert.

Filmfest Hamburg Diary: Tag 3 und 4: Männliche Vibrationen

Ich schreibe diese Zeilen sehr früh am Morgen. Draußen ist es noch dunkel. Ich kann nur einige fallende Blätter beleuchtet von einer Laterne sehen. Der Grund für mein frühes Erwachen ist keine innere Beunruhigung, sondern ein ständiges Vibrieren meiner Decke. Es klingt als würde jemand mit einem Klavier auf einem Skateboard im Zimmer über mir Kunstsprünge machen. Am bittersten dabei ist, dass das billige Kronleuchterimitat an meiner Decke noch eine Minute nach der Vibration zittert und dabei ein blechernes Geräusch von sich gibt. Ich erinnere mich an das vergangene Jahr, als am letzten Tag plötzlich ein riesiger Feuchtigkeitsfleck an meiner Decke erschien und diese plötzlich aussah wie in einem Film von Tarkowski oder Tsai Ming-liang.

Der Grund für den Lärm könnte aber auch ein Kampf im Stockwerk über mir sein. Nach den drei Filmen, die ich mir am Vortag angesehen habe, würde mich das kaum überraschen. Es waren alles drei Filme über das Versagen eines Männlichkeitsbildes, die in gewaltvollen Schwanzvergleichen endeten. Los ging es mit dem superb beobachteten Un etaj mai jos von Radu Muntean. Dort geht es um einen Mann, der einen großen Verdacht hat, wer die junge Frau ein Stockwerk tiefer ermordet hat, aber der Polizei nichts sagt. Es beginnt ein Psychoduell zwischen ihm und dem jüngeren Mann, den er verdächtigt. Dabei gelingt es Muntean zusammen mit seinen Autoren Alexandru Baciu und Răzvan Rădulescu ein Gefühl für diesen Mann, gespielt von einem unfassbaren Teodor Corban zu entwickeln, dass in einer selten so gesehenen männlichen Unsicherheit beständig gegen sich selbst arbeitet. Vieles im Film wirkt wie die Light-Version eines Cristi Puiu Films, aber vieles dafür wirkt auch sehr richtig. Natürlich wird irgendwann gekämpft, etwas unbeholfen, aber extrem körperlich.

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Deutlich extremer ging es in Schneider VS Bax von Alex van Warmerdam zur Sache. Es ist ein vogelwilder Film, der lange nicht so erfrischend unzugänglich ist wie van Warmerdams Borgman, aber mit dem selben tiefschwarzen Humor angereichert oder besser: durchschossen wird. Der Name des Films ist hier Programm. In abartigen Paralellmontagen (nicht die Montagen sind abartig, sondern was darin passiert) führt der Film den Schriftsteller und Auftragsmörder Bax in ein Duell mit dem Familienvater und Auftragsmörder Schneider. Bax wird von van Warmerdam selbst gespielt und nimmt ausufernd Drogen. „Ufer“ ist auch ein gutes Sprichwort, denn dieses Duell zwischen Männern, das eigentlich auch ein Duell zwischen Männern und Frauen ist, spielt durchgehend an einem Ufer. Im Seehaus von Bax (dieser Name!), im Schilf, im Sumpf. Ich glaube, wenn Schneider und Bax aufeinandergetroffen wären, dann hätte die Vibration an meiner Decke nicht ausgereicht.

Ufer ist auch ein gutes Stichwort für den nächsten Männerfilm: Chevalier von Athina Rachel Tsangari. Dort befindet sich eine Gruppe von Männern auf einem Boot und aus einer Langeweile heraus beginnt ein Spiel: Die Männer wollen sich gegenseitig beurteilen, wer von ihnen der Best in allem ist. Ja, hier haben wir einen leicht ironischen, aber nie überspitzten Blick auf den Mann an sich in all seinen Ausprägungen (mit Errektion und ohne und verschiedene Zwischenstadien). Aber am Ufer schwebt immer etwas Politisches mit, Athen am Horizont und es ist schon auffällig wie verspielt all diese Männer sind in Südeuropa. Dabei denke ich zum Beispiel an eine ganz ähnliche Episode in Arabian Nights von Miguel Gomes oder Yorgos Lanthimos, dessen The Lobster ich am folgenden Tag sehen durfte. Darin liegt natürlich ein gewisser Wahnsinn und eine gewisse Realität. Zum einen weil diese Spiele etwas über die Politik aussagen und zum anderen, weil sie meilenweit davon entfernt scheinen. Jedoch verliert sich Tsangari immer wieder in verschiedenen Szenen, die nicht nur das Ufer aus dem Blick verlieren sondern auch die Figuren selbst. Das Kämpfen wird dann trotz diverser Zwischenfälle zu einer Art Legende, in den Raum des Fiktionalen gelegt, denn was hier wirklich passiert, ist nichts. Habe ich mir das Vibrieren also nur eingebildet? Ich frage mich manchmal, ob ich auf Festivals andere Träume habe. Man schläft weniger, wird ständig mit Eindrücken bombardiert, immerzu in dunklen Räumen beschallt von Echos aus anderen Welten. Aber ich erinnere mich eigentlich kaum an meine Träume auf Festivals, nur an die Filme.

Filmfest Hamburg 2015: The Assassin von Hou Hsiao-Hsien

Vor einiger Zeit durfte ich einen Programmtext zu einer Hou Hsiao-Hsien Retrospektive schreiben. Das Lektorat hat mir dabei meinen letzten Satz gestrichen, mit der Begründung, dass dieser zu poetisch sei und man lieber Klarheit wolle. Wenn man sich die Filme von Hou ansieht und insbesondere The Assassin, der ihm dieses Jahr in Cannes den Preis für die Beste Regie einbrachte, dann kann man mir schlicht nicht erzählen, dass es menschlich ist, nicht in lyrische Formulierungen zu fallen. Die Erfahrungen, die man mit Hou macht, sind jenseits nüchterner Beschreibungen. Dennoch werde ich mich zusammenreißen.

Acht Jahre sind vergangen seit Hous letztem Langfilm, Le voyage du ballon rouge. „Vergangen“ ist auch ein gutes Stichwort für das Kino des Taiwanesen…

Es ist schwer, wenn man nicht schwärmen darf. Wie soll ich mich halten? Ich gebe nach zwei Zeilen auf.

The Assassin

Gegen Ende des Films stehen zwei Frauen auf dem Gipfel eines bewaldeten Berges. Nebel dringt aus der Schlucht zum Himmel, man fühlt sich erinnert an das titelgebende und im Vergleich irgendwie billig wirkende Wolkenphänomen bei Hous Freund Olivier Assayas in dessen Clouds of Sils Maria. In seinen bisherigen Arbeiten konnte man durchaus davon sprechen, dass Hou das Vergehen von Zeit wie den Wind filmt, ein Wind, in dem sich Erinnerungen und die Gegenwart umschlingen zu einer bloßen Präsenz. In The Assassin nimmt Hou das wörtlich. Es ist – und ich verweise da gerne auf diesen Text von Serge Daney – der vielleicht dritte Film nach The Wind von Victor Sjöström und Trop tôt/Trop tard von Jean-Marie Straub & Danièle Huillet, der den Wind filmt. Wir sehen den Wind in den Blättern der Bäume, den Gewändern, den seidenbehangenden Räumen, in die Vorhänge wie von anmutiger Geisterhand zitternd geschoben werden, Seide, die vor Bildern weht, die unseren Blick selbst zum Wind macht und schließlich die Kamera, die Kamera des größten Kameramanns unserer Zeit, Mark Lee Ping Bin, die wieder hypnotisch und in einer derart scharfen Klarheit, dass man glaubt, zum ersten Mal zu sehen, zwischen den Figuren schwenkt, nicht wirklich auf der Suche, sondern bereits mittendrin. In 35mm und im alten Academy Ratio, das mehr Platz für den Wind außerhalb des Bildes lässt, filmt dieser auch die beiden Frauen auf dem Gipfel, der kein wirklicher Gipfel ist, sondern eine Zwischenebene. Muss man wissen, wer diese Frauen sind? Vielleicht später, zunächst muss man die bloße Erhabenheit und Dynamik dieses Bildes erfassen, das wie fast jede Einstellung des Films zu viel ist, zu viel für meine Augen. Die eine Frau steht schon von Beginn an dort, sie steht auf einem Felsen, es ist eine Unmöglichkeit, dass sie dort steht und wer die übermenschlichen Bewegungen des übersinnlichen wuxia-Genres hier und da vermisst, hat nicht hingesehen. Sie ist die Meisterin. Nennen wir es so. Ganz in weiß gehüllt, wie eine Erscheinung, thront sie über einem Abgrund, den wir nur durch die aufziehenden Wolken erahnen können, Wolken, die gelenkt scheinen. Hinter dem Felsen erscheint die Protagonistin, ein schweigender Schatten, der wie ein Licht in schwarz durch die Bilder schwebt und deren inneres Leben Hou in jedes einzelne Bild zu legen scheint: Die titelgebende Nie Yinniang gespielt von Hous Muse Qi Shu.

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Wie habe ich das gemeint, mit dem inneren Leben und dessen Verhältnis zur Bildsprache Hous? Pier Paolo Pasolini, ein Mann, der Hou sehr beeinflusst hat, hat einmal einen Text geschrieben über die freie indirekte Rede im Film. Dabei geht es – sehr vereinfacht – um die Möglichkeiten eines Filmemachers, durch den Stil etwas über das Innenleben von Figuren auszudrücken. So hängt etwa die Wahl des Objektivs in Il deserto rosso von Michelangelo Antonioni am nervösen Seelenleben der Protagonistin. Und wie zeigt sich das jetzt in The Assassin, ein Film, der meiner Meinung nach beständig von einem solchen inneren Konflikt erzählt? Nicht alleine in der Schönheit der Bilder, sondern auch in diesem harrenden Schwebezustand, diesem zögernden Warten und der Antizipation der Gewalt, die Hou viel mehr interessiert als die tatsächlichen Kampfszenen, die er fast im Stil eines Robert Bressons nur in ihrer Essenz zeigt. Nie Yinniang hängt ebenfalls in dieser Antizipation, sie ist zerrissen zwischen ihrer Aufgabe, ihrer Emotion und ihrem eigenen Urteilsvermögen. Der Film beginnt in drei Vignetten in den Farben schwarz und weiß (wie Godard einst über Bresson geschrieben hat) und erzählt vom Töten und Nicht-Töten-Können der Protagonistin. Zunächst wandelt sie tänzerisch in einem Wald mit nackten Bäumen, um einen Mann mit tödlicher Eleganz zur Strecke zu bringen. Der Martial Arts Aspekt ist hier eher eine Drohung, ein Versprechen, als ein ästhetisches Vergnügen. Wie seine Hauptfigur, so will auch der Film diese Kämpfe umgehen, sie minimalisieren… Nie Yinniang will auch nur das Nötige tun, sie ist wie der Wind, wie der Film. In der zweiten Vignette kann sie einen König nicht töten, weil dieser gerade mit seinem Kind spielt. Sie lässt ihn am Leben. Es ist als würde plötzlich die Schönheit der Welt zwischen ihr und der Gewalt stehen. Diese Dinge sind Hou offensichtlich wichtiger als wuxia Verweise, die in diesem China des 9. Jahrhunderts inspiriert von der chuangi Literatur eher einen Rahmen bilden. Hou geht es in diesem Genre um zwei Dinge: Die Moral und die Frage wie sich die Geschichte in eine Gegenwärtigkeit übersetzen lässt.

Nie Yinniang, das schwarze Licht (solche Formulierungen könnte man streichen, aber wer, der den Film kennt, würde nicht sagen, dass man die Protagonistin so beschreiben muss?), die sich oben auf dem Berg unter die Meisterin auf dem Felsen stellt, wird für ihr Versagen bestraft. Sie soll ihren Cousin Tian Ji’an töten, dem sie einst versprochen war. Von diesem Augenblick an folgen wir ihr und mit ihr dem Leben des Cousins mit seiner Familie und seinen politischen Entscheidungen, wir können uns nicht wirklich nähern, weil wir tödlich sind. Es ist eine derartige Konzentration in den Bildern, in denen das Beiläufige und Zwingende zu einer absoluten Notwendigkeit verschmelzen. Es ist eine Notwendigkeit, die jedes Bild mit Leben füllt und es dennoch über dasselbige hebt. Dabei entsteht das Bild einer Zeit vor unseren Augen. Zeit wird erfahrbar, weil wir den Wind spüren, weil wir die Töne hören (Hou drehte zwar in mandarin, aber angeblich in einer völlig befremdlichen Syntax, die selbst für jene, die diese Sprache beherrschen, nicht verständlich ist, aber genau darum geht es auch nicht, es geht darum diesen Rhythmus zu hören und in ihm zu verschwinden während man sich gleichzeitig einer unendlichen Distanz bewusst sein muss) und weil wir die Materialität der Orte, Kleider und Menschen fühlen. Hou hat wie in City of Sadness, The Puppetmaster oder Flowers of Shanghai eine Möglichkeit gefunden, dass die Re-Präsentation einer Zeit gleich einem Wind durch unsere Augen weht. Es ist zugleich Erinnerung, Präsenz und alles dazwischen. Es geht nicht um die Informationen der Geschichte, sondern um das Leben in und wegen der Geschichte. Immer wieder sehen wir das einfache Leben, Kinder, die spielen, ein Gespräch, Arbeit. In diesen Bildern treffen sich die Moral und die Vergegenwärtigung. Die Moral ist der Zweifel, ob man im Angesicht dieses Lebens töten kann und die Vergegenwärtigung ist die akkurate Beiläufigkeit einer Distanz, die wie ein schüchterner Beobachter nicht eingreifen will in diese Welt, sondern sie schlicht sehen und hören will.

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Zum Sehen und Hören gibt es einiges zu sagen. Wir sind zurück am nebeligen Abgrund. Immer wieder tauchen diese Aufnahmen auf, in denen Hou Landschaften wie Körper zelebriert. Etwas lebt in ihnen und sie sind ein Spiegel der Zeit, des Innenlebens einer Geschichte und einer Figur, der Zeit und Geschichte dieser Figur. In ihnen liegt die ganze Präsenz dieser Vergänglichkeit, die ihr Ebenbild einzig in den melancholischen Augen der Figuren findet. Nein, es gibt nichts konkreteres in diesem Film, weil es konkreter gar nicht geht. Dabei wird The Assassin keineswegs von derselben Dekadenz heimngesucht wie Flowers of Shanghai. Vielmehr ist es eine Abkehr, ein Untertauchen in diesen massiven Bildern von Perfektion. Man kann sagen, dass Hou, der im Vergleich zum anderen großen Vertreter des Neuen Taiwanesischen Kinos, Edward Yang, immer als ein Filmemacher der Natur und Ländlichkeit galt, hier zum ersten Mal tatsächlich mit der Landschaft atmet statt sie im Stil seiner frühen Arbeiten, als pastoralen Hintergrund einer Erinnerung zu verwenden. In dieser Ländlichkeit erfährt The Assassin die Meisterschaft eines Filmemachers, der es geschafft hat eine eigene Sprache nicht nur zu finden, sondern zu meistern. Das ist aber auch gefährlich. Die Perfektion der Bildsprache ist derart hoch, dass dem Film trotz seiner fragmentarischen Ezählweise, in der wichtige Ereignisse zum Teil im Off geschehen oder nur ganz kurz an einem vorbeihuschen wie die Schleier im Wind, manchmal an Kantigkeit fehlt. Statt der jugendlichen Desorientierung, die sich auf die Bildsprache von Goodbye South Goodbye oder Millenium Mambo übertrug, gibt es hier eine überzeugte Zerbrechlichkeit. Alles ist perfekt. Wie könnte man das kritisieren? Man kann nicht. In dieser Hinsicht erinnert mich der Film an ¡Vivan las Antipodas! von Victor Kossakovsky. Ein Film, über den der Filmemacher sagte, dass es nicht (mehr) um Realismus ginge, sondern um etwas Größeres. Hou scheint hier auch an etwas Größerem interessiert zu sein als bisher.

Außer der Natur gibt es Räume, die verwinkelt sind mit Farben, die Fieber haben. Immer wieder filmt Mark Lee Ping Bin durch Seidentücher und erzielt hypnotische Effekte mit Kerzen vor seinen Linsen…es brennt in unseren Augen, der Schleier der Zeit, der Hauch der Unsicherheit. In einer der unfassbarsten Sequenzen, die ich je im Kino gesehen habe, unterhält sich der Cousin mit seiner Konkubine während die Kamera hinter den Vorhängen ganz zart bewegt lauert. Wir wissen lange nicht, ob es ein Point-of-View-Shot der Auftragsmörderin ist oder nicht. Es ist ein Spiel mit Blicken und der Distanz, die sich mal vor uns schiebt und dann wieder verschwindet. Hier liegt die Sehnsucht nach einem anderem Leben und der Horror der drohenden Gewalt derart greifbar vor uns, dass wir nicht anders können, als sie gemeinsam in ihrer Gleichzeitigkeit oder gar gelöst von Zeit oder gar mit der Zeit verwoben zu begreifen, obwohl wir das niemals könnten. Wir spüren diese Welt und die Unsicherheit einer Figur, die wir erst später als eine Silhouette, als fremden Eindringling in ihrem eigenen eigentlichen Leben erkennen. Sie erscheint wie der Nebel aus der Schlucht. Man blinzelt und sie ist da, man blinzelt und sie ist weg. Sie wäre wohl am liebsten ganz da oder ganz weg.

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Der Ton ist das leise Flüstern aus der Schlucht, aus der dieser Nebel dringt. Jedes Geräusch ist klar und voller Kraft und Zerbrechlichkeit. Manche Sachen hören wir nicht, weil wir sie nur sehen können, andere Sachen sehen wir nicht, weil wir sie nur hören können. Es ist eine Abstraktion, die etwas entstehen lässt, was man vielleicht mit „Gefühl für die Umgebung“ umschreiben könnte. Für die Musik war wieder Lim Giong zuständig. Vor allem ein beständiges Trommeln ist beeindruckend. Zweimal hören wir es ganz klar und laut bevor ein Schnitt in einen Innenraum es in ein Trommeln aus der Distanz transformiert. Abstände werden uns bewusst, zeitlich und räumlich. Auf einer Zither spielt eine Frau in einer Mischung aus Aggresivität, hinbgabe und vollkommener Zärtlichkeit ein Lied. Dazu singt sie von einem Vogel, der nicht singen konnte bis er seine eigene Reflektion sah und dann so lange vom Leid sang bis er starb. Im Film sehen wir so manche Reflektion. Einmal in einem See, dann in den Lichtern von Kerzen und schließlich in diesem Leben, dass Nie Yinniang nicht haben konnte, jene Frau, die nicht töten konnte, weil sie sich selbst nie gesehen hat oder weil sie sich immerzu gesehen hat und deshalb so lange töten musste, bis sie den Gesang des Lebens hörte. Ein anderes Mal sehen wir einen Tanz, der mit uns tanzt und/oder mit Farben.

Nie Yinniang gesteht ihrer Meisterin am Abgrund stehend, dass sie den Cousin und seine Familie nicht töten konnte. Sie liefert ein politisches Argument (kein emotionales). Sie wird als schwach bezeichnet. Inzwischen verdeckt der Nebel den gesamten Bildhintergrund. Ist das Magie? Dann verschwindet sie im Wald. Ein harter Schnitt, von denen es ein paar in The Assassin gibt, wirft uns mitten in einen Kampf zwischen ihr und ihrer Meisterin. Doch Nie Yinniang kehrt sich ab, sie erstickt diesen Kampf erneut. Sie hat kaum etwas gesagt, wir haben sie kaum gesehen, sie ist nur ein Schatten und genau deshalb das Licht dieses Films, der vielleicht letztlich auf einer Suche nach einer zeitlosen Moral und deren Gegenwärtigkeit erfolgreich ist, in dem er sich von der Welt abkehrt und in eine unfassbare Reinheit taucht, die wiederum vom Wind wie ein flimmernder Schimmer am Leben gehalten wird, sei es durch die Vergangenheit oder Gegenwart. Irgendwie habe ich nur ein Bild des Films beschrieben. Und weil das vielleicht zu poetisch klingt, ende ich mit einem Zitat des Filmemachers: „Hollywood-style films are popular all around the world nowadays, and they need a strict story structure. If the story is not told that way, not continuous enough, the audience will have difficulty following along. But that’s only one of the many ways of telling a story: there are hugely different ways of filmmaking in world cinema. Only because of the huge impact of Hollywood, young people want to imitate that style. Actually, almost all filmmakers want to imitate the style of Hollywood. But I don’t see it that way. A good film is when you continue your imagination [of it] after seeing it.”

Filmfest Hamburg Diary: Tag 3: Diary

Was ich gestern sehen konnte: Das beste Kino des Festivals/Poeten mit rosa Regenschirmen, die ich nicht sehen konnte

Gestern zog es mich zur Mittagsstunde in Yoman von David Perlov. Der Filmemacher gilt neben Jonas Mekas als einer der Pioniere des sogenannten Tagebuchfilms. Er filmte sein Leben von 1973 und 1983 in sechs, ab einem gewissen Zeitpunkt von Channel 4 produzierten, Filmen. Das Filmfest Hamburg entschied sich dafür den Film in Anwesenheit von Perlovs Tochter Yael, die als Cutterin an der Entstehung des Films beteiligt war, alle Teile, die jeweils eine knappe Stunde lang sind, am Stück zu zeigen. Ich konnte mich also auf einen Tag mit Perlov einstellen. Doch zunächst musste ich das Kino finden, denn der Film lief im B-Movie, einem Kino, das in den letzten beiden Jahren nicht Teil des Filmfests war.

Und ich war begeistert, als ich es gefunden hatte. Dort hat man das Gefühl, dass man etwas finden kann. Ich finde das unglaublich wichtig. In den meisten Kinos hat man das Gefühl, dass einem etwas präsentiert wird, in diesem Kino hat man das Gefühl, dass etwas dort lebt, was darauf wartet, entdeckt zu werden. Ich habe ein paar Bilder mit dem Handy gemacht:

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Die Decke ist niedrig wie in einem Auto, die Wand wellt sich wie in einem Film von Tsai Ming-liang und das Licht wird vom Staub der Zeit umrahmt und zu einem Echo der Dunkelheit, sobald die Leinwand ihren ersten Hauch atmet. Der Boden ist sehr abschüssig, was ich schnell bemerkte, als ich eine vor mir auf demselbigen platzierte Flasche unter lautem Grollen in den Abgrund der Reihen vor mir beförderte.

Der Film selbst stürzte mich dann in eine derart tiefe Bewunderung, dass mir eigentlich wie gestern Worte fehlen. Was ist das für ein Phänomen mit den fehlenden Worten? Eine Schreibkrise? Wohl eher eine Sinnkrise. Ich beginne hier in Hamburg meine eigene Wahrnehmung von Dingen zu hinterfragen. Der Umgang mit Zeit, Bildern und Menschen fühlt sich falsch an. Ein Film wie Yoman macht mich ziemlich deutlich darauf aufmerksam. Was mich so stört, ist unter anderem dieses Tempo, mit dem Filme an mir vorbeiziehen. Dieser ungesunde Drang nach „mehr sehen“, der sich wie ein Fieber auf einem solchen Festival bemerkbar macht. Ich mag die Filme sehr gerne, aber nicht mein Herangehen an sie. Vielleicht sollte ich aber besser über die Filme schreiben, als über mein Leiden mit ihnen.

Zumal Yoman ein Film ist, der mir Alternativen offenbart. Es ist eine grandiose Studie des Lebens, des alltäglichen, eines Familienlebens. Es ist ein Film so voller Liebe und subtiler Verzweiflung, es ist ein Film voller Leben (das klingt wie eine Wiederholung, ist es aber nicht). Zugleich ist es ein Film über das Kino, die Wahrnehmung. Wenn man diese Dinge kombiniert, dann ist man am Herz: Das Leben und Kino/Kino und das Leben. Erstaunlicherweise gelingt es Perlov diesen Käfig, den er durch sein Fenster betrachtet, in eine unglaubliche Freiheit zu verwandeln. Eine Freiheit, die sich nichts diktieren lässt und dennoch lebt. Er zeigt, dass das Kino nicht nur ein Besuch in der Dunkelheit ist, sondern eine Wahrnehmung des Lebens…die Fähigkeit hinzusehen und zuzuhören..einmal sagt er, dass ihn nie Geschichten interessieren, sondern nur kurze Augenblicke, Gesten, Blicke. Ich kenne dieses Gefühl.

Nach dem Film geht es mir ein wenig wie gestern. Ich verliere meine Lust auf das Festival, meine Lust auf einen Kinobesuch. Ich fahre mit dem Fahrrad zurück zum Hotel, die Abende sind kalt in Hamburg. Im Park sehe ich einen Mann mit grauer Winterjacke und Schal. Er geht verwirrt und doch zielstrebig in verschiedene Richtung. Sein Blick ist immer leicht nach oben gerichtet, als könnte er so über die Hecken sehen. Ich beobachte ihn und vermute, dass er jemanden sucht. Ein Kind vielleicht. Ich bemerke, dass er an seinem linken Arm einen schwarzen Armreif trägt. Erst jetzt blicke ich in sein Gesicht. Er hat spitze, dicke Backen und glasige Augen, die eine außerweltliche Distanz ausstrahlen, er wirkt wie ein Mann, der Geschichten erzählen kann, aber selbst nur überleben will. Sein Schal ist schlampig um seinen Hals gebunden. Er rückt ihn immer wieder mit hektischen Gesten zurecht, wenn er die Kälte spürt. Ich fahre weiter.

Filmfest Hamburg Diary: Tag 2: Schönheit

Was ich heute gesehen habe: Folien, an denen Wasser ablief, die als Filter vor die Kamera gehalten wurden/Seidentücher, die als Filter vor die Kamera gehalten wurden/eine Möglichkeit, den Tod zu sehen

Gestern stand nach dem großartigen Samuray-S von Raúl Perrone und dem argentinischen Landschaftsporno To the Center of the Earth endlich der heißersehnte The Assassin von Hou Hsiao-Hsien auf dem Programm. Ich werde dazu in den kommenden Tagen eine längere Besprechung erarbeiten.

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Ich habe Angst vor dieser Besprechung, denn was kann man sagen, wenn einen Bilder tatsächlich sprachlos machen? Man reist an, um einen Film zu sehen, vielleicht ist man mit einem Notizbuch bewaffnet (ich tendenziell eher nicht, weil ich an ein Verhältnis von Film und Erinnerung glaube), man weiß meist schon ein paar Dinge über die Filme, da es sich bei einem Festival wie Hamburg ja größtenteils nicht um Weltpremieren handelt (bei Samurays-S, der völlig unverständlich von Locarno abgelehnt wurde, jedoch schon). Im Fall von Hou Hsiao-hsien kennt man das Gesamtwerk und geht mit einer gewissen Erwartungshaltung, die in meinem Fall weniger mit Freude als mit einem Begehren zusammenhängt. Das Kino war rappelvoll, fast unerträglich warm. Es geht mit einigen Minuten Verzögerung los. Und dann kann ich mich nicht mehr daran erinnern, geatmet zu haben. Ich bin niemand, der völlig in einem Film versinkt, das war auch dieses Mal nicht der Fall. (Es war auch schwer, denn die Frau neben mir öffnete im 5-Minuten-Takt ihre bis zum Anschlag mit Kohlensäure gefüllte Flasche unter einem penetranten Zischen, das in der Lautstärke nur von ihren Schlucken und einer anderen Frau mit der tödlichen Kombination aus klackerndem Armreif und Fächer überboten wurde.) Aber ich konnte die Schönheit von jedem dieser Bilder nicht in meinen Kopf zu einer Ordnung bringen, ich war überfordert vor lauter Anmut. Nun ist es so, dass auch Samuray-S schon diese Augenblicke hatte, aber bei Perrone ging es weniger um Perfektion als Intimität und einer Angst vor Zerfall, was nicht bedeutet, dass der Film in seinem Aufeinandertreffen aus Stummfilmästhetik und digitalen Technologien von einem anderen Planeten einzig emotional wahrnehmbar wäre. Bei Hou war jedes Bild von einer solchen Kraft, dass ich nicht mehr wusste auf welcher Seite der Leinwand ich war. Wenn es gestern bei The Treasure ein wenig um Illusionen und Fiktionen ging, dann habe ich heute vergessen, wie man das Kino kritisiert, ich habe gelernt, wieder an die Magie zu glauben.

Nun habe ich aber in mir diesen Drang, das in Worte zu fassen. Ich finde das ehrlichgesagt ziemlich untragbar und oft bin ich mir bewusst, dass meine Worte weder den Filmen noch meiner Wahrnehmung wirklich genügen können. Ich erwische mich in Diskussionen nach Filmen in einer großen Unzufriedenheit. Manchmal würde ich lieber alleine durch die Nacht spazieren, sodass der Film wie ein Echo in der Dunkelheit meine Schritte überschwemmt. Aber etwas in mir sprudelt, wie das Getränk meiner Sitznachbarin, ein naiver, vielleicht idealistischer Gedanke von einem Kampf fürs Kino, den ich paradoxerweise nur auf zwei Arten führen kann: Mit Film und mit Worten. Vielleicht ist es auch nur die Hoffnung, etwas zu verstehen, zu berühren. Denn, wenn man mit dieser Schönheit konfrontiert wird, dann ja auch gleichzeitig mit der Tatsache, dass man sie nicht berühren kann, weil sie einen selbst berührt. Wenn man also etwas sieht wie The Assassin, dann muss man darüber schreiben und es ist gleichzeitig eine Katastrophe, dass man darüber schreiben muss. Ich werde es dennoch tun.

Filmfest Hamburg Diary: Wie man ein Pferd mit den Händen befriedigt

Was ich heute gesehen habe:Wie man ein Pferd mit den Händen befriedigt/Wie das Surface einer digitalen Wünschelrute aussieht/Wie man ein Konzentrationslager in ein arrogantes Sensorium verwandelt

Bei meiner Ankunft in Hamburg lichtete sich der Nebel und ich musste endgültig feststellen, womit ich schon gerechnet hatte: Ich bin in Deutschland. Was das bedeutet, zeigte sich bei der Ausgabe der Tickets. Dort sagte man mir mit betont freundlichem, freundlich antrainierten, freundlich durchgehenden Ton, dass man, wenn man einmal Tickets für einen Tag reserviert habe, keine Möglichkeiten mehr habe, diese Reservierungen zu ändern oder gar neue zu machen. Von weiter hinten ertönte eine Stimme aus dem gewohnt heimeligen, an ein Gewächshaus (Filme sollen wachsen? Wir wachsen an und mit Filmen?) erinnerndes Festivalzelt: „Man muss eben planen.“, ich sage nichts, da ich Deutscher bin und genau geplant habe, aber der Mann neben mir hackt nochmal nach. Er fragt: „Aber warum geht das nicht?“, die Antwort: „Weil Sie dann schon ein Loch für diesen Tag auf ihrer Karte haben.“.

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Wenn man von Löchern spricht, dann ist auch Corneliu Porumboiu nicht fern, dessen Comoara mein zweiter Film auf dem Festival war. Porumboiu wird wieder etwas narrativer. Es geht – wie so oft, aber meist unbemerkt bei ihm – um eine Vaterfigur. Es geht um die Kraft der Illusion (die Liebe als Illusion, das Lieben von Illusionen und die daraus folgende Desillusionierung, very clever, aber das ist Porumboiu, come on. In seiner letzten Einstellung dreht er alles und man könnte alleine darüber Stunden diskutieren) und natürlich die Absurdität an sich. Porumboiu geht hier weitaus weniger formale Wagnisse ein wie in seinen beiden vorherigen Filmen Când se lasă seara peste București sau metabolism und Al doilea joc, aber sein Wagnis ist narrativer Natur, weil er sich im Bereich der Märchen aufhält, der Fiktionen…

Puh, das bringt mich irgendwie zum ersten Film des Filmfests Hamburg für mich: Saul fia von László Nemes. Ein polarisierender Film, ausgezeichnet von einer blinden Jury in Cannes mit dem Grand Prix derselbigen. Darin folgt man in einer aufgesetzten, extremen Nähe Saul Ausländer, einem jüdischen Mitglied eines Sonderkommandos in einem Konzentrationslager. Man ist immer in Bewegung und bekommt kaum Luft.  Es geht Nemes scheinbar darum, ein solches Lager fühlbar zu machen. Oft erleben wir die Massentötungen in einem unbequemen Off, wir hören beständig den Terror des Lagers, der sich solange als Realismus ausgibt, bis wir erfahren, dass er Effekt war, als er verschwindet, um andere Emotionen zu ermöglichen. Nein! Ich erinnere mich an Carl Theodor Dreyer, der gesagt hat, dass man verstehen muss, dass ein guter Filmemacher hört, was es in der Welt gibt, nicht was er gerade braucht. Und auch im Bild unterlaufen dem selbstsicheren Nemes einige Unsicherheiten in diesem arroganten Poserfilm. Das Problem ist, dass Unsicherheiten bei einer solchen Thematik schnell zum ethischen Verbrechen werden. Wiederholt verharrt die Kamera in möglichst spektakulären Einstellungen, bei denen Leichen im Bildhintergrund durchs Bild gefahren werden und das Off jetzt gar nicht mehr so Off ist, sondern nur so tut…und noch offensichtlicher sind die plötzlichen Point-of-Views, die Nemes hier einbaut, Gegenschüsse auf das Elend. Der erste Blick ist dabei natürlich bewusst gesetzt, er geht auf den Sohn, Sauls Sohn, ein Titel mit mehr Bedeutungsbenen als es visuelle Einfälle in diesem Film gibt, der für seine visuelle Innovation gelobt wird. Es ist ein Konzeptfilm, der nicht an seinem Konzept interessiert ist, sondern am Effekt dieses Konzepts. Narrativ geht es dabei um eine Würde, die größer ist als das Überleben und die sich in einem untragbaren Lächeln am Ende des Films offenbart. Es ist ein untragbares Lächeln, weil es eine Verklärung ist. Genau wie vieles andere im Film sich nach fünf Minuten der visuellen Überrumpellung in ein erschreckendes Nichts auflöst. Es ist ein ganz ähnlicher Film wie der Kurzfilm With a little Patience von Nemes. Hier ist ein Filmemacher, der einer coolen Idee bis zur Schmerzgrenze folgt, statt sich um seinen Film zu kümmern. Was bleibt ist ein Film, in dem fast gar nichts passiert, kein Ton, kein Bild, kein Blick spielt eine Rolle. Alles schreit mich an, alles fordert mich auf, über die Idee nachzudenken, nichts fordert mich auf hinzusehen.

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Weiteres:

  • Im Programmheft geblättert…amüsiert: Fred Wisemans In Jackson Heights wird uns von fritz-kola präsentiert und natürlich – wie fast alle Filme – nur thematisch beschrieben. Danke fritz-kola dafür.
  • Beim Frühstück begegne ich Koreanern, die in kompletten HSV-Trainingsanzügen auftreten. Ich versuche ihnen zu kommunizieren, dass sie nach London fahren müssen. Sie verstehen mich nicht.
  • Man sagt mir, dass ich am besten in jede der drei Vorstellungen von Hou Hsiao-hsiens The Assassin gehe. Heute ist die erste.
  • Am Vorabend gab es auch noch Boi Neon von Gabriel Mascaro, der mir letztes Jahr mit August Winds sehr gut gefallen hat. Auch er ist in diesem Film etwas narrativer unterwegs und lange Zeit macht sein Film richtig Freude. Besonders sein Gefühl für Farben, Framing und Bewegungen ist auf einem hohen Niveau. Allerdings forciert er ein Genderissue anhand unterschiedlicher Personen derart deutlich, dass es selbst die Jury in Cannes gesehen hätte, wäre er dort gelaufen. Was wir bekommen ist ein Film, zu dem eigentlich nur der Titel The Lusty Men passen würde…Rodeo und Sex, Tiere und Menschen, Mann und Frau, alles verwischt hier zu einem surrealistischen Sog, der aus einer dokumentarischen Beobachtung entsteht. Mascaro ist nach dem Film auch da und erzählt so einiges über seinen – auch seiner Meinung nach gelungenen, einzigartigen – Film. Heute war mit Sicherheit nicht der Tag, der an sich zweifelnden Filmemacher…jedenfalls musste er auch Hand an einem Pferd anlagen, damit es der Schauspieler auch tut. Fragwürdig jedoch dann sein Schwenk in selbiger Szene, der den Orgasmus des Pferdes ins Off verlegt. Darüber muss man aber nicht wirklich diskutieren…