Filmfest Hamburg Diary: Tag 5 und 6: Walter Benjamin und die Schauspieler

James White von Josh Mond

Es gibt hier ein Kino, das heißt Passage – ich muss an Walter Benjamin denken.

Das kaum von Wolken getrübte spätsommerliche Wetter in Hamburg weicht unangenehmen, grauen Herbstwetter. Womöglich liegt das an meiner Ankunft, vielleicht weint der Himmel aber auch, weil Patrick im Begriff ist abzureisen. Im Land der Fischköpfe feiern wir bei einer wohlschmeckenden Folienkartoffel (Kumpir) Abschied. Patrick kehrt zurück nach Wien, mich zieht es nach Berlin (redaktionelle Expansion also). Bevor es soweit ist, führe ich aber das Filmfest-Tagebuch fort. Ein Kollektivtagebuch – würde das Walter Benjamin gefallen?

Dheepan von Jacques Audiard

Dheepan von Jacques Audiard

Eine skurrile Querverbindung erlaubt es mir, es Patrick gleichzutun und mit meinem Tagebucheintrag gleich zwei Tage zu erfassen. Die Verbindungsglieder, um die es sich dabei handelt, sind klassische Festivalerfahrungen; Zufallsbegegnungen, die man macht, wenn man aus einer unüberschaubaren Fülle an Filmen, eine relativ willkürliche Auswahl trifft. Zwei Tage hintereinander war es jeweils ein bestimmter Schauspieler, der eine Rahmung anbot. Am ersten Tag war es Marc Zinga, der Hauptdarsteller von Qu’Allah bénisse la France. Den Film habe ich eigentlich nur gesehen, da ich gerade nichts Besseres zu tun hatte, und keine Lust hatte die Location zu wechseln. Zwei Filme standen zur Auswahl, und ich entschied mich gegen Songs My Brother Taught Me, ohne das wirklich begründen zu können, zumal die Prämissen alles andere als optimal waren: Qu’Allah bénisse la France ist ein Biopic über den französischen Rapper Abd al Malik, der damit sein Filmregiedebüt ablegte. Doch der Film präsentierte sich ganz anders als ich befürchtet hatte. Qu’Allah bénisse la France ist eine unaufgeregte Charakter- und Milieustudie in stimmigem Schwarz-Weiß. Die Bilder sind fabelhaft, das Schwarz-Weiß wirkt nie wie ein billiges Gimmick, sondern als wäre schon beim Dreh auf eine geeignete Farbpalette geachtet worden. So wirkt der Film visuell sehr organisch und stimmig. Darüber hinaus vermeidet Abd al Malik Schemata, die man aus anderen (Musiker-) Biopics kennt; große Höhenflüge und große Tiefschläge bleiben glaubhaft und werden relativ nüchtern aufgearbeitet. Vielleicht liegt das daran, dass Abd al Maliks Leben dann doch nicht so aufregend ist, wie das der grimmigen US-Gangsterrapper, oder er es ganz einfach nicht nötig hat aufzubauschen, was in den Vororten Straßburgs passiert. Die Lebenswelt im banlieu Neuhof scheint nicht so weit entfernt zu sein, von der eigenen Lebenserfahrung, wie die groß inszenierten Bandenkriege in vergleichbaren amerikanischen Produktionen. Marc Zinga brilliert in Qu’Allah bénisse la France in der Rolle des Abd al Malik und trägt seines dazu bei, dass der Film mich persönlich sehr positiv überraschte. Später am selben Tag sollte mir Zinga noch einmal unterkommen. In einer kleinen Nebenrolle im diesjährigen Cannes-Gewinner Dheepan, spielt er Youssouf, den Kontaktmann des Protagonisten, der diesem seinen neuen Job als Hausmeister erklärt. Auch in Dheepan sieht man das Leben in den französischen banlieus. Doch endet der Film in einer blutigen Abrechnung in Rambo-Manier und verliert dadurch jeden Funken an Glaubwürdigkeit, die er in der ersten Stunde so sorgfältig aufgebaut hat. Bis dahin zeigt der Film auf sehr eindringliche Art, mit welchen Problemen Einwanderer, in diesem Fall Kriegsflüchtlinge, konfrontiert sind. Leider verliert der Film im letzten Drittel seine Balance, die Ambivalenz von unbewältigtem Kriegstrauma, Hoffnung, Hoffnungslosigkeit und Schock wird in einer Ballerorgie in den Wind geschossen.

Qu'Allah bénisse la France! von Abd al Malik

Qu’Allah bénisse la France! von Abd al Malik

Den nächsten Tag „prägte“ Ron Livingston of Office Space-Fame, der in den beinahe zwanzig Jahren seit seinem Durchbruch sein Äußeres kaum verändert hat (dennoch musste ich auf die Endcredits warten, um sein Gesicht einem Namen zuzuordnen). In James White spielt Livingston Ben, einen Freund des kürzlich verstorbenen Vaters des Protagonisten. Dieser Protagonist ist einer dieser hoffnungslosen Loser, die sich im amerikanischen Independentkino Sundance’scher Prägung im Moment großer Beliebtheit erfreuen. Sein Gesicht dürfte man dennoch nicht so schnell vergessen. Der Grund dafür ist eine zweifelhafte formale Entscheidung der Filmemacher, den Film quasi komplett mit Handkamera in Nah- und Halbnahaufnahmen zu drehen. Der wild herumhüpfende, schlechtrasierte Kopf von James White hat sich mir ins Gehirn gebrannt. Hier zeigt sich allerdings, dass es nicht immer ratsam ist, eine Sache konsequent durchzuziehen. Üblicherweise bin ich ein großer Verfechter von Kompromisslosigkeit, aber gerade angesichts der Thematik – der Vater ist soeben gestorben, die Mutter leidet an Krebs – wäre etwas Distanz angebracht gewesen, um Raum zur Kontemplation zu geben. James White gibt einem praktischen keine Gelegenheit das Gezeigte zu verarbeiten und lässt einen schließlich genauso ratlos zurück wie den Protagonisten. Das mag wie ein kluger inszenatorischer Schachzug klingen, führt aber leider ins Nirgendwo.

In The End of the Tour ist Livingston in einer noch kleineren Rolle zu sehen. Hier spielt er den Vorgesetzten von Jesse Eisenbergs David Lipsky, der ihm ein Interview mit David Foster Wallace (Jason Segel) bewilligt. Zwei Minuten Screentime reichen mir allerdings für diese Überleitung, denn The End of the Tour ist auf jeden Fall eine Erwähnung wert. Zwei ungemein starke wie brüchige (bei Wallace ist das kein Widerspruch) Figuren werden da gegeneinander ausgespielt und finden in Eisenberg und Segel zwei ideale Darsteller. Beeindruckend die Chemie zwischen den beiden, die Intensität, wenn der bullige Wallace bedrohlich den schmächtigen Lipsky überschattet; einnehmend, wenn die beiden sich in überhöht künstlichem Intellektuellensprech in ein Dialogstakkato steigern. Diese thespische Sprache ist der größte Vorzug von The End of the Tour, der wie James White ein Film über das Ende und unzählige Anfänge ist. Für mich ist das Ende noch fern. Das Filmfest ist noch nicht vorbei.

No Place Like Cannes

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Ich habe die Zukunft gesehen, und die Zukunft heißt Cannes. Was ist Cannes? Ein Filmfestival? Eine Party? Ein Marktplatz? Ein Zirkus? Alles auf einmal, versteht sich. Eine hundertköpfige Hydra, die jeden Besucher von allen Seiten bedrängt und in unzählige Richtungen zerrt, eine Verdichtung und Potenzierung dessen, was man für gewöhnlich „Festivalerfahrung“ nennt. Im Folgenden will ich versuchen, rückblickend ein paar meiner jungfräulichen Eindrücke festzuhalten, in der verfehlten Hoffnung, die Widersprüche dieses hypertrophen Massenevents aufzulösen. Geäußerte Kritik schließt den Autor nicht aus, denn so viel ist sicher: Wer nach Cannes fährt, ist unweigerlich ein Teil von Cannes, ein Öltropfen im Fegefeuer der Eitelkeiten.

Cannes ist das Gegenteil von Reflexion. Im Festivalradius, der im Grunde das gesamte Stadtzentrum einschließt, gibt es keine richtigen Rückzugsorte. Will man innere Einkehr halten, darf man seine Unterkunft eigentlich nicht verlassen – ansonsten wird man mitgerissen von den Reizfluten und Menschenströmen und kommt erst wieder zur Ruhe, wenn der Tag sich seinem Ende zuneigt und der nächste bereits wartet. Die Bevölkerung des mittelgroßen Kurortes wächst während der Filmfestspiele drastisch an. Straßen, Gassen, Restaurants und Lokale platzen aus allen Nähten, Raum fehlt physisch und psychisch. Die Croisette verwandelt sich zu Stoßzeiten in einen kilometerlangen Passantenschlauch, der nur schleppend pumpt, Prunk-Karossen drücken sich wie Eisbrecher durch den massigen Pulk. Aufmerksamkeit ist ein hart umkämpftes Gut, man ist zum Antennenschicksal verdammt: Werbebanner, Filmplakate, Videowände, Geschäftsauslagen, Partyzelte, Artisten, Akrobaten und Straßenmusiker buhlen unisono um die Gunst von Auge und Ohr. Wer hier kein Star ist, will einer sein.

Schafft man es, zu diesen Bedrängnissen auf Abstand zu gehen, was ohnehin nur im übertragenen Sinne möglich ist, wird man sich (als Neuling jedenfalls) immer noch schwer tun, einen klaren Gedanken zu fassen – einen Gedanken also, der sich buchstäblich setzen kann und nicht Gefahr läuft, von einem anderen ausgebootet und weitergepeitscht zu werden. Dafür sorgen der Druck und die Geschwindigkeit von Plansoll und Meinungsstrudel. Eines merkt man sehr schnell: So gut wie niemand ist hier, um einfach nur Filme zu schauen. Alle haben zu tun, müssen wo sein, etwas schreiben, jemanden treffen, irgendwas sehen, später, bald, jetzt. In dieser Atmosphäre könnte nur Tsai Ming-liangs buddhistischer „Walker“ inneren Frieden finden. Die Journalisten-Schreibdomäne im Palais des Festivals versinnbildlicht den Dauerstress: Sie erinnert mit ihrer Zeitzonen-Uhrenwand, dem Wasserspender und der Schlange vor dem Kaffeeausschank an einen heillos überfüllten news room, wo alle in sich hinein und gegeneinander arbeiten.

Darüber hinaus hat nicht jeder das Glück, einigermaßen frei über seine „Freizeit“ verfügen zu können. Das mehrfarbige Badge-System parzelliert die Akkreditiertenmasse gleich einem Kastenwesen. Wie Ignatiy Vishnevetsky treffend in einem seiner Cannes-Beiträge für den AV-Club bemerkt, konstituiert diese Aufteilung für jeden einzelnen Rang ein gesondertes Verhältnis zur Zeit. Wem ein weißes Kärtchen um den Hals baumelt, der hat freie Fahrt, die Rosaroten können es noch relativ gemütlich angehen, Inhaber blauer und gelber Ausweise haben kaum temporalen Spielraum; wenn sie einen Film sehen wollen, müssen sie sich zwei, bestenfalls drei Stunden vorher anstellen, und selbst dann ist der Einlass nicht garantiert. Damit ist die Tagesplanung weitestgehend abgehakt, will man noch essen, schlafen und arbeiten. So sind die Menschen, die sich begegnen, oft immer noch auf verschiedenen Ebenen unterwegs.

Unter Hochdruck kommt es schneller zu Reaktionen. Cannes ist fraglos ein guter Ort, um Menschen kennenzulernen und Kontakte zu knüpfen. Für viele Festivalbesucher stellt dies ein ausdrückliches Reiseziel dar. Niemand hier hat einen Heimvorteil, jeder ist bis zu einem gewissen Grad fish out of water, keiner will durchgehend alleine bleiben. In den endlosen Schlangen, vor denen in den Nebensektionen nicht einmal die wenigen Götter in Weiß gefeit sind, kommt es unweigerlich zu Gesprächen. Vielleicht kennt man einander über fünf Ecken, vielleicht ist man sich am Vortag in einer Bar begegnet, aber eigentlich gibt es keine Voraussetzungen für Konversation. Das Mitteilungsbedürfnis ist oft stärker als die Scham, soziale und berufliche Hierarchien sind von Sonne und Schweiß aufgeweicht, werden durchlässiger.

Diese Festivalkommunikation ist ein seltsames Spiel. Sieht man vom Rapport mit Freunden und Bekannten ab, dessen Grundkoordinaten abgesteckt sind und der daher verknappten, reibungslosen und informativen Meinungsaustausch ermöglicht (informativ in der Hinsicht, dass jede Meinungsäußerung an ein beiderseitig bekanntes Weltbild gekoppelt ist und daher fürs Erste keiner näheren Ausführung bedarf, um sich ein provisorisches Bild von einem beurteilten Objekt zu machen), hängen die Aussagen Fremder für Fremde, so sie einsilbige Blitzurteile bleiben, wie ungreifbare Rauchschwaden in der Luft. Cannes besteht jedoch aus den bereits genannten Gründen (Zeitmangel, Reflexionshemmung) fast ausnahmslos aus Blitzurteilen. Sagt einem X, den man gerade erst kennengelernt hat und über dessen Geschmack und Haltung man so gut wie nichts weiß, dass ein bestimmter Film gut war, ohne sein Urteil näher zu erläutern, ist der Informationsgehalt dieser Äußerung gleich Null. Für Erläuterungen bleibt indes nur selten Zeit. Assoziiert man X mit einem spezifischen Medium, besteht der Mehrwert seiner Aussage darin, dass man später zu jemand anders sagen kann: „X vom Medium Y hat Film Z für gut befunden.“

Der Konsens nimmt sich, was er kriegen kann. Cannes ist ein hochkarätiges Premierenfestival. Die hier gezeigten Filme liegen schon vor ihrer Uraufführung hoch im Dis-Kurs, entweder kraft des Leumunds ihrer Urheber oder aus anderen Gründen, und sei es auch bloß der Umstand, dass sie in Cannes gezeigt werden. Es sind Filme, die man prägnant umschreiben kann als „der Film von X“, „der Film mit X“ oder „der Film über X“. Die cinephile Welt giert nach Meinungen zu diesen Filmen. Entsprechend hoch ist der Druck auf die anwesenden Journalisten, Spontanmeinungen zu generieren. Das faszinierende an Cannes ist, dass hier jeder (zumindest für kurze Zeit) auf sich allein gestellt ist mit seiner Urteilsbildung – eigentlich eine kleine Utopie. Keine Rezensionsaggregatoren, die einem vorkauen, welcher Bewertungstrend sich abzeichnet, keine Vorabkritiken, die einem Positionierungsoptionen offerieren – nur der Film, der Zuschauer und sein persönliches Stimmungsbarometer. Das Resultat ist ein chaotisches Gewirr aus mehr oder weniger ausgegorenen Einschätzungen, unter denen sich aufrichtige Impulsreaktionen ebenso finden wie reflexartige Rückgriffe auf Erfahrungswerte und Gemeinplätze oder verzweifelte Versuche, den werdenden Konsens zu antizipieren. Nur langsam kristallisiert sich das heraus, was sich nach dem Festival als Usus einpendeln wird. Auch dafür sind sie da, die Festival-Dailies der Branchenblätter, die Kritikerspiegel, die wilden Twittergüsse: Um den Anwesenden die Meinungsbildung zu erleichtern und die Angst zu mildern, nicht zu wissen, was man sehen, was man sagen soll.

Schön ist, wenn man die seltene Gelegenheit hat, diesen eigentümlichen Schwebezustand zu nutzen, um ohne Absicherung in Debatten die Qualitäten eines Films auszuloten, sich auf ein Gegenüber einzulassen, seine Beobachtungen mit den eigenen abzugleichen, gemeinsam angewandte Filmkritik zu betreiben, Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen, auf die der andere ebenso neugierig ist wie man selbst, wohl wissend, dass zum gegebenen Zeitpunkt niemand sattelfest ist und die Deutungshoheit für sich beanspruchen kann. Selbst wenn sich dieser Forschergeist auf scheinbare Oberflächlichkeiten stürzt, ist er ansteckend, etwa wenn enthusiastische Zuschauer versuchen, den arabesken Plot von Hou Hsiao-Hsiens Assassin mit Hilfe von handgezeichneten Diagrammen und Stammbäumen zu enträtseln.

Die größte Herausforderung, die Cannes an einen Besucher stellt, der gewohnt ist, ein Mindestmaß an Übersicht zu haben, ist die nahezu unerträgliche Gleichzeitigkeit, die völlig unverhohlene Absurdität eines reibungslosen Nebeneinanders von konträren Perspektiven, Lebensentwürfen, Haltungen, Weltbildern, Kunstvorstellungen, Idealen und Werten, die in diesem schillernden Schmelztiegel vor sich hin blubbern, ohne zu schmelzen (auch in Bezug auf Selbstdarstellung, Tempo und Aufmerksamkeitsökonomie mutet der ganze Irrsinn an, als hätte sich Facebook in eine Stadt verwandelt). Angesichts all dieser Aporien wirkt jede Diskussion darüber, wer warum in welcher Schiene läuft oder nicht läuft, wer warum welchen Preis gewonnen oder nicht gewonnen hat bzw. gewinnen hätte sollen, binnen kürzester Zeit müßig – die Blickwinkel und Bedeutsamkeitskriterien der verschiedenen Individuen, Interessensgruppen und Entscheidungsträger schließen sich zumeist aus, die Gräben zwischen den Fronten sind zu tief, es geht um Grundsatzfragen, und auch für diese fehlen Reflexions- und Begegnungsräume, es sei denn, man schafft sie sich selbst, was nicht gerade einfach ist. Palme d’Or für Dheepan? Für manche ein wichtiges Statement. Für andere… Forget it, Jake – It’s Cannes. Im Théâtre Croisette leuchtet vor den Quinzaine-Screenings ein projiziertes Banner, das zur Befreiung des in Russland inhaftierten ukrainischen Regisseurs Oleg Sentsov aufruft. Indes prangt auf nahezu allen Markt-Programmen Werbung für russische Blockbuster in spe, Animationsfilme, Kriegs- und Actionspektakel, die Investoren erheischen, eine nationale Kinoindustrie, die sich zum großen Feldzug ins Publikumsbewusstsein rüstet und hier eine dankbare Vermarktungsplattform gefunden hat. Aber das gehört eben zum „wirtschaftlichen“ Teil von Cannes und nicht zum „politischen“, ebenso wie die ausufernde Dekadenz einem anderen Universum entspringt als die „ethischen Smokings“ von Thierry Frémaux oder das Prestige-Prädikat des Programms. Wo liegt der Brennpunkt dieser Energiefelder? Sie scheinen einander gegenseitig zu bedingen, erst im Verbund machen sie diesen Ort zu einem Magneten für die Mächte des Weltkinos, die dann in den Hinterzimmern des Festivals (was gar nicht verschwörerisch klingen soll; in den Vorzimmern ist schlichtweg kein Platz mehr) Produktionen in die Wege leiten, die irgendwann im Wettbewerb laufen werden. Cannes reproduziert sich selbst.

Und doch wird man das Gefühl nicht los, das dieser ganze spektakuläre, strukturlose Trubel mit seinem blendenden Similiglanz, dieses pompöse Pandämonium aus aufgedonnerten Stars und Starlets, Schaulustigen auf Klappleitern, überforderten Cinephilen, gehetzten Presseagenten, Journalisten auf Interview- und Kontroversenjagd, trinkseligen Jurysitzungen, Cocktail-Empfängen und Strandfeten, Hupkonzerten und Menschenschlangen, schlaflosen Nächten und verkaterten Morgenstunden, surrealen Q&As und Konferenzen – dass dieser ganze Schall, Rauch und Wahn dem Kino doch etwas bringt, weil irgendwo mittendrin eine Handvoll formal radikaler Filme eine ungeahnte Öffentlichkeit erfahren, eine Öffentlichkeit, die ihnen sonst niemals zuteilwerden würde, Filme von Miguel Gomes, Šarūnas Bartas oder Apichatpong Weerasethakul, in den Nebensektionen zwar, aber dennoch in Cannes, und somit auf dem Wellenkamm von Cannes mitreitend, Richtung anderer Festivalufer, mit ihrem schwellenden Ruf bereits überschäumend in die Erwartungsbecken der globalen Kinokultur, ein Hype, und wie jeder Hype etwas aufgesetzt, aber nicht unbedingt falsch, nicht unbedingt schlecht bei schwierigen, sperrigen Filmen, nach denen ohne Hype kein Hahn krähen würde, Filme, über die ich hier nicht schreibe, weil ich sie erst von Cannes trennen muss, um sie wirklich zu sehen.

 

Der langsame Niedergang der Gebrüder Dardenne

Eine große Angst beschlich mich bezüglich des aktuellen Films der Gebrüder Dardenne, Deux jours, une nuit. Eine Angst so groß, dass ich bis Dezember wartete, um den Film, der bereits im Mai in Cannes Premiere feierte, zu sehen. Ich war mir eigentlich gar nicht so sicher woher meine Angst kam, denn die meisten Kritiken fielen doch eher positiv aus und eigentlich hatte ich ein großes Vertrauen in die beiden Filmemacher, die um die Jahrtausendwende mit Rosetta und Le fils mindestens zwei Meilensteine des sozialrealistischen Kinos ablieferten und auch sonst nicht wirklich in der Lage sind, einen schlechten Film zu machen. Gewissermaßen die atheistischen Erben des Kern-Neorealismus mit inspirierenden Fühlern in alles, was man im modernen Kino mit Naturalismus – ob gerechtfertigt oder nicht –verbindet, sind Jean-Pierre und Luc mittlerweile in ihren 60ern angekommen und in der Massenwahrnehmung schon lange vom Arthouse-Establishment verschluckt worden. Dennoch konnte man natürlich schon von Weitem erkennen, dass sich gerade im Bezug zu den radikalen, dokumentarischen Anfängen des Brüderpaars einiges verändert hat. Bereits ihr vorletzter Film Le Gamin au vélo ging einen Weg, der eine leichte, aber dennoch entscheidende Justierung des Kinokurses Dardenne bedeutete.

Zwei Tage eine Nacht

Nicht nur die Zusammenarbeit mit professionellen Darstellern, ja Stars sondern auch die Glattheit der Bilder, die Farben und die deutlich bewussteren Bewegungen der Kamera und der Dramaturgie, drohen die impulsive Energie eines Filmemachens zu verschlucken, das am Rand der Gesellschaft geboren wurde und immer etwas falsch wirkt, wenn es dort nicht bleibt. Deux jours, une nuit setzt diesen fragwürdigen und doch logischen Weg unbeirrt fort. Eigentlich haben die Dardennes nie ein Geheimnis aus ihren Arbeitsmethoden gemacht (siehe dazu ihr herausragendes Buch Au dos de nos images 1991-2005) und die scheinbare Spontanität und Direktheit war immer Ergebnis einer offen kommunizierten Konstruktion und Manipulation (und tausendfachen Proben). Ihr Herz schlug immer für die Fiktion, die Narration. Deux jours, une nuit fügt sich natürlich auch problemlos in das humanistische Gesamtwerk der Belgier ein. Nicht nur begegnen wir mit Fabrizio Rongione einem dieser Dardenne-Gesichter (er spielte den jungen Waffelverkäufer in Rosetta), die eine ganz eigene Kinowahrnehmung ermöglichen sondern auch die Motive und bis zu einem gewissen Grad der Stil fügen sich wundervoll in ein konsequentes Filmemachen im Schatten und Licht des Neorealismus ein. Insbesondere die Erforschung von Raum mit an Rossellini erinnernden Schwenks aus totalen Perspektiven, die den Hintergrund einer industriellen Welt mit Atomkraftwerken und grauen Gebäuden betont und dabei gleichzeitig im Vordergrund den ameisengleichen Kampf für eine Menschlichkeit inmitten des abgestorbenen Überlebenskampfes einfängt samt einer bewusst übertriebenen Liebe zu bunten Farben, die das Grau brechen sollen wie eine Blume in einem Plattenbau und dem ständigen Bauen und Erneuern der Figuren, erfüllt ihren Zweck und reicht über die eng geführte Geschichte hinaus. Der Einsatz von Farbe scheint mir hier deutlich durchdachter als noch in Le Gamin au vélo. Immer wieder wählen die Dardennes (und das ist durchaus eine gelungene Neuerung) Zweier-Einstellungen. Dabei gehen sie meist realistisch vor, aber manchmal positionieren sie die Figuren in fast abstrakter Manier vor Mauern, wie eingemauert. Die Kamera bewegt sich nicht mehr ganz so nah an den Figuren wie in früheren Filmen sondern gibt ihnen etwas mehr Raum. Auch ihr Atmen, ihr Zittern ist reduziert, ein paar Mal steht und schwenkt sie von einem Stativ aus. An sich wäre nichts gegen diese etwas leichter dechiffrierbaren Methoden einzuwenden, jedoch schaffen es die Dardennes nicht annähernd ihre Impulsivität und durchaus durchdringende Körperlichkeit mit den Bildern zu vereinen, denn fast jede Szene, egal wie lange sie steht, wie virtuos sie mit Bewegung operiert, wirkt gestellt. Man scheint nicht mehr den Bewegungen der Figuren zu folgen sondern nun folgen die Figuren der Kamera wie im nächstbesten Industriefilm. Und da liegt bei genauerer Betrachtung ein ganz schön bitterer Hund begraben…

Rosetta Dardenne

Rosetta

Da ist zum Beispiel eines der tragischen, fabeldurchkreuzenden Lieblingsmotive der Dardennes: Der verhinderte Selbstmord. Er steht für eine unlesbare Ausweglosigkeit und unsere Unmöglichkeit wirklich in die Köpfe der Protagonisten zu sehen. In diesem Fall betrifft das die um ihren Job kämpfende Sandra. In einem erstaunlich vereinfachten, fast metaphorischen Plot muss sie mindesten 9 ihrer 16 Mitarbeiter davon überzeugen, dass diese bei einer Abstimmung dafür stimmen, dass sie ihren Job behält, obwohl ihnen dann eine Prämie von 1000 Euro entgeht. Falls sie nicht die Mehrheit der Mitarbeiter bekommt, verliert die von einer Depression geheilte Sandra ihre Arbeit. Die selbst mit dem Leben kämpfenden Arbeiter stehen vor dem unfairen Konflikt zwischen finanzieller Existenz und Nächstenliebe. Wie bereits in Rosetta geht es also um den nackten Überlebenskampf in einer erbarmungslosen ökonomisch-existentiellen Wüste, die durchaus viel mit aktuellen gesellschaftlichen Situationen zu tun hat und dadurch auch von politischer Bedeutung ist. Es ist ein Test für die menschliche Moral und eine dramaturgische Spielwiese, in der die Dardennes es wieder schaffen etwas über Menschlichkeit zu erzählen, indem sie Unmenschlichkeit psychologisch, philosophisch und sinnlich erfahrbar machen. Sandra sagt des Öfteren, dass sie kein Mitleid wolle und dass sie auch keine Stimme aus Mitleid gebrauchen könne. Allerdings wird die subjektive, aufs eigene Überleben ausgerichtete Denkweise nicht durch einen distanzierten, beobachtenden Filter betrachtet wie beispielsweise in Rosetta sondern durch einen auf Identifikation und Wärme ausgerichteten Humanismus-Flash, der einen Niedergang im Kino der Dardennes weiterführt, den ich nicht verstehen kann und will. Die Frage nach Subjektivität und Menschlichkeit war deshalb von solcher Kraft, weil sie scheinbar aus dem Bild und seiner Realität selbst entsprungen ist. Heute entspringt sie aus einer (durchschnittlichen) filmischen Idee. Deshalb folgen die Figuren auch der Kamera und nicht die Kamera den Figuren. Der Film vermag auf keiner Ebene seinem stilistischen Naturalismus gerecht werden. Schlimmer noch verliert sich jedwede Kohärenz in den Wechseln realistischer Szenen mit emotional und ja, nach dem von der Protagonistin verdammten Mitleid haschenden Szenen. Es ist eben fatal, wenn man einer Szene in einem Dardenne-Film anmerkt, dass sie gestellt ist. Im normalen Fall stehe ich dem Kritiker-Argument der Unglaubwürdigkeit äußerst kritisch gegenüber. Es hat sich zu einer Standarderwartung und Floskel des bürgerlichen Kinos entwickelt, dass man Filme auf ihre Glaubwürdigkeit hin untersucht und manchmal werden große Werke, die bewusst auf Künstlichkeit oder Fiktionalität achten, dadurch völlig falsch wahrgenommen. Bei einem Film jedoch der mit einer Handkamera und totalen Schwenks operierend fast jede Begegnung mit einer etwas gestellten Suche samt Komparserie und kurzen Gesprächen einleitet, passt etwas nicht zusammen, wenn ich bemerke wie diese Szene gedreht wurde. Denn wenn ein Weg so penetrant gefilmt wird, dann muss er mir vorkommen wie ein Weg, nicht wie eine Szene. Mir ist durchaus bewusst, dass man Realismus, Naturalismus, Glaubwürdigkeit und Dokumentation nicht einfach so zusammen in einen Topf werfen kann. Es geht mir hier lediglich darum, dass Deux jours, une nuit seinem ganzen Aufwand einer sozialrealistischen Wahrnehmung der Welt nicht annähernd gerecht wird. Es ist ein falscher Film und meine Angst war trotz der positiven Aspekte des Films berechtigt. Der Hauptgrund dafür ist neben den formalen Unstimmigkeiten die unerklärbare Häufigkeit von peinlichen, falschen oder kitschigen Momenten. Mein Eindruck war, dass es den Filmemachern darum ging mit einer unerwarteten Plötzlichkeit den Stress, die Überforderung und die Emotionalität dieser Arbeiterwelt einzufangen. So lassen sie Männer in Tränen ausbrechen, Männer und Frauen wütend ausrasten und die Angst in den roten Augen im Waschsalon greifbar werden. An sich ist nichts gegen dieses Vorgehen einzuwenden, aber ein wenig mehr Verständnis für das Zusammenspiel einer solchen Szene nach der anderen kann man von derart erfahrenen Filmemachern durchaus erwarten. Es gibt keine Banalitäten hier und die sowohl für die Dardennes als auch für den Neorealismus so essentielle tote Zeit wirkt außer in der ersten Einstellung zwanghaft in das Geschehen hineingeschnitten, sie wirkt – und das könnte mit der Entscheidung mit einem Star, Marion Cotillard in der Hauptrolle zu arbeiten, zusammenhängen – wie ein Schauspielmoment. Jetzt lassen wir die Kamera auf dir ruhen, spiele uns was vor. Natürlich ist Cotillard in der Lage diese schwierigen Augenblicke mit einer Körperlichkeit und einem Leben zu füllen, die über die inszenatorischen Albernheiten hinwegtäuschen, aber manchmal ist auch sie verloren im Widerspruch zwischen intellektueller Konstruktion und lebensnaher Direktheit. Eine extreme Metaphorik trifft so auf eine inszenierte Körperlichkeit und die beiden halten nicht zusammen sondern stehen sich im Weg, was zum Teil daran liegen dürfte, dass Deux jours, une nuit unbedingt nachvollziehbar sein möchte und eine beruhigende, ja ideologische Charakterzeichnung bietet, die es so verklärt noch nie gegeben hat bei den Dardennes…denn wo ist meine Verunsicherung in einer Nahaufnahme? Wo ist der Kriegszustand von Figuren im täglichen Überlebenskampf? Wo ist diese Unmöglichkeit zu Verstehen, die mich tagelang wachgehalten hat nach L’enfant? Wo ist das respektvolle Verhältnis zwischen Realität und Bild? Ein weiteres Beispiel für einen solchen falschen Moment findet sich als Sandra im Auto aus einem Traum hochschreckt. Die Körperhaltung und der Schrei von Cotillard, genau wie ihr angestrengtes Lächeln, das über tiefe Grübchen in ihren Wangen aus einer leicht profiligen Naheinstellung vermittelt wird, sind impulsiv und auf Realismus bedacht, jedoch erzählt sie dann tatsächlich von einem Albtraum mit psychologischer Tragweite. Hatte man in früheren Dardenne Filmen das Innenleben der Figuren aus deren körperlichen Oberflächen und den Räumen außenherum schließen müssen, so liefern die Filmemacher in Deux jours, une nuit billige Anhaltspunkte und Interpretationsfelder. Noch schlimmer ist eine Szene, in der Sandra und ihr Mann ein Eis essen und sie plötzlich äußert, dass sie gerne mit dem Vogel dort auf dem Ast tauschen wollen würde. Kurz dachte ich, dass sich der Film an dieser Stelle endgültig in die schreckliche zweite Hälfte von Pascal Ferrans Bird People verwandeln würde.

Der Sohn Dardenne

Le fils

Es ist einfach so, dass man jeder Szene nicht nur anmerkt, dass sie geschrieben wurde sondern sogar anmerkt warum sie geschrieben wurde. In den letzten zehn Minuten des Films verraten die Dardennes sich dann endgültig, indem sie den Humanismus und die fiktionale Hoffnung über ihren vorgetäuschten Realismus werfen wie einen feuchten Putzlappen über eine dreckige Stelle kurz bevor der Liebhaber zu Besuch kommt. Wenn es auch nur ein wenig zur Aufgabe der Filmkunst gehört durch eine subversive, die bequeme Wahrnehmung durchschneidende Haltung auf Missstände (seien sie filmisch, politisch, sozial…) aufmerksam zu machen und an das Menschliche zu erinnern, dann macht Deux jours, une nuit alles falsch, was Le fils richtig macht. Damit führen die Gebrüder Dardenne einen Niedergang fort, der noch nicht ganz abgeschlossen ist, da noch zu viele gute Aspekte in ihrem Film überleben, der aber mehr und mehr beginnt, ein Kino zu regieren, dessen Höhepunkt vor 15 Jahren nun endgültig vorbei ist. Vielleicht wäre es an der Zeit für die Dardennes sich ähnlich wie ihr Kollege Bruno Dumont (mit seinem P’tit Quinquin), der 1999 zusammen mit den Dardennes eine Art naturalistische Revolution ins moderne Kino brachte, neu zu erfinden. Auch Rossellini machte das als er nicht mehr an seine Bilder glaubte. Ein sozialrealistischer Film sollte wie ein letzter Schrei durch die Kinos schrillen, ein Weckruf, ein wütendes Plädoyer, eine nackte Hoffnungslosigkeit so wie Rosetta. Deux jours, une nuit ist nichts davon.