Filmfest Hamburg 2015: The Assassin von Hou Hsiao-Hsien

Vor einiger Zeit durfte ich einen Programmtext zu einer Hou Hsiao-Hsien Retrospektive schreiben. Das Lektorat hat mir dabei meinen letzten Satz gestrichen, mit der Begründung, dass dieser zu poetisch sei und man lieber Klarheit wolle. Wenn man sich die Filme von Hou ansieht und insbesondere The Assassin, der ihm dieses Jahr in Cannes den Preis für die Beste Regie einbrachte, dann kann man mir schlicht nicht erzählen, dass es menschlich ist, nicht in lyrische Formulierungen zu fallen. Die Erfahrungen, die man mit Hou macht, sind jenseits nüchterner Beschreibungen. Dennoch werde ich mich zusammenreißen.

Acht Jahre sind vergangen seit Hous letztem Langfilm, Le voyage du ballon rouge. „Vergangen“ ist auch ein gutes Stichwort für das Kino des Taiwanesen…

Es ist schwer, wenn man nicht schwärmen darf. Wie soll ich mich halten? Ich gebe nach zwei Zeilen auf.

The Assassin

Gegen Ende des Films stehen zwei Frauen auf dem Gipfel eines bewaldeten Berges. Nebel dringt aus der Schlucht zum Himmel, man fühlt sich erinnert an das titelgebende und im Vergleich irgendwie billig wirkende Wolkenphänomen bei Hous Freund Olivier Assayas in dessen Clouds of Sils Maria. In seinen bisherigen Arbeiten konnte man durchaus davon sprechen, dass Hou das Vergehen von Zeit wie den Wind filmt, ein Wind, in dem sich Erinnerungen und die Gegenwart umschlingen zu einer bloßen Präsenz. In The Assassin nimmt Hou das wörtlich. Es ist – und ich verweise da gerne auf diesen Text von Serge Daney – der vielleicht dritte Film nach The Wind von Victor Sjöström und Trop tôt/Trop tard von Jean-Marie Straub & Danièle Huillet, der den Wind filmt. Wir sehen den Wind in den Blättern der Bäume, den Gewändern, den seidenbehangenden Räumen, in die Vorhänge wie von anmutiger Geisterhand zitternd geschoben werden, Seide, die vor Bildern weht, die unseren Blick selbst zum Wind macht und schließlich die Kamera, die Kamera des größten Kameramanns unserer Zeit, Mark Lee Ping Bin, die wieder hypnotisch und in einer derart scharfen Klarheit, dass man glaubt, zum ersten Mal zu sehen, zwischen den Figuren schwenkt, nicht wirklich auf der Suche, sondern bereits mittendrin. In 35mm und im alten Academy Ratio, das mehr Platz für den Wind außerhalb des Bildes lässt, filmt dieser auch die beiden Frauen auf dem Gipfel, der kein wirklicher Gipfel ist, sondern eine Zwischenebene. Muss man wissen, wer diese Frauen sind? Vielleicht später, zunächst muss man die bloße Erhabenheit und Dynamik dieses Bildes erfassen, das wie fast jede Einstellung des Films zu viel ist, zu viel für meine Augen. Die eine Frau steht schon von Beginn an dort, sie steht auf einem Felsen, es ist eine Unmöglichkeit, dass sie dort steht und wer die übermenschlichen Bewegungen des übersinnlichen wuxia-Genres hier und da vermisst, hat nicht hingesehen. Sie ist die Meisterin. Nennen wir es so. Ganz in weiß gehüllt, wie eine Erscheinung, thront sie über einem Abgrund, den wir nur durch die aufziehenden Wolken erahnen können, Wolken, die gelenkt scheinen. Hinter dem Felsen erscheint die Protagonistin, ein schweigender Schatten, der wie ein Licht in schwarz durch die Bilder schwebt und deren inneres Leben Hou in jedes einzelne Bild zu legen scheint: Die titelgebende Nie Yinniang gespielt von Hous Muse Qi Shu.

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Wie habe ich das gemeint, mit dem inneren Leben und dessen Verhältnis zur Bildsprache Hous? Pier Paolo Pasolini, ein Mann, der Hou sehr beeinflusst hat, hat einmal einen Text geschrieben über die freie indirekte Rede im Film. Dabei geht es – sehr vereinfacht – um die Möglichkeiten eines Filmemachers, durch den Stil etwas über das Innenleben von Figuren auszudrücken. So hängt etwa die Wahl des Objektivs in Il deserto rosso von Michelangelo Antonioni am nervösen Seelenleben der Protagonistin. Und wie zeigt sich das jetzt in The Assassin, ein Film, der meiner Meinung nach beständig von einem solchen inneren Konflikt erzählt? Nicht alleine in der Schönheit der Bilder, sondern auch in diesem harrenden Schwebezustand, diesem zögernden Warten und der Antizipation der Gewalt, die Hou viel mehr interessiert als die tatsächlichen Kampfszenen, die er fast im Stil eines Robert Bressons nur in ihrer Essenz zeigt. Nie Yinniang hängt ebenfalls in dieser Antizipation, sie ist zerrissen zwischen ihrer Aufgabe, ihrer Emotion und ihrem eigenen Urteilsvermögen. Der Film beginnt in drei Vignetten in den Farben schwarz und weiß (wie Godard einst über Bresson geschrieben hat) und erzählt vom Töten und Nicht-Töten-Können der Protagonistin. Zunächst wandelt sie tänzerisch in einem Wald mit nackten Bäumen, um einen Mann mit tödlicher Eleganz zur Strecke zu bringen. Der Martial Arts Aspekt ist hier eher eine Drohung, ein Versprechen, als ein ästhetisches Vergnügen. Wie seine Hauptfigur, so will auch der Film diese Kämpfe umgehen, sie minimalisieren… Nie Yinniang will auch nur das Nötige tun, sie ist wie der Wind, wie der Film. In der zweiten Vignette kann sie einen König nicht töten, weil dieser gerade mit seinem Kind spielt. Sie lässt ihn am Leben. Es ist als würde plötzlich die Schönheit der Welt zwischen ihr und der Gewalt stehen. Diese Dinge sind Hou offensichtlich wichtiger als wuxia Verweise, die in diesem China des 9. Jahrhunderts inspiriert von der chuangi Literatur eher einen Rahmen bilden. Hou geht es in diesem Genre um zwei Dinge: Die Moral und die Frage wie sich die Geschichte in eine Gegenwärtigkeit übersetzen lässt.

Nie Yinniang, das schwarze Licht (solche Formulierungen könnte man streichen, aber wer, der den Film kennt, würde nicht sagen, dass man die Protagonistin so beschreiben muss?), die sich oben auf dem Berg unter die Meisterin auf dem Felsen stellt, wird für ihr Versagen bestraft. Sie soll ihren Cousin Tian Ji’an töten, dem sie einst versprochen war. Von diesem Augenblick an folgen wir ihr und mit ihr dem Leben des Cousins mit seiner Familie und seinen politischen Entscheidungen, wir können uns nicht wirklich nähern, weil wir tödlich sind. Es ist eine derartige Konzentration in den Bildern, in denen das Beiläufige und Zwingende zu einer absoluten Notwendigkeit verschmelzen. Es ist eine Notwendigkeit, die jedes Bild mit Leben füllt und es dennoch über dasselbige hebt. Dabei entsteht das Bild einer Zeit vor unseren Augen. Zeit wird erfahrbar, weil wir den Wind spüren, weil wir die Töne hören (Hou drehte zwar in mandarin, aber angeblich in einer völlig befremdlichen Syntax, die selbst für jene, die diese Sprache beherrschen, nicht verständlich ist, aber genau darum geht es auch nicht, es geht darum diesen Rhythmus zu hören und in ihm zu verschwinden während man sich gleichzeitig einer unendlichen Distanz bewusst sein muss) und weil wir die Materialität der Orte, Kleider und Menschen fühlen. Hou hat wie in City of Sadness, The Puppetmaster oder Flowers of Shanghai eine Möglichkeit gefunden, dass die Re-Präsentation einer Zeit gleich einem Wind durch unsere Augen weht. Es ist zugleich Erinnerung, Präsenz und alles dazwischen. Es geht nicht um die Informationen der Geschichte, sondern um das Leben in und wegen der Geschichte. Immer wieder sehen wir das einfache Leben, Kinder, die spielen, ein Gespräch, Arbeit. In diesen Bildern treffen sich die Moral und die Vergegenwärtigung. Die Moral ist der Zweifel, ob man im Angesicht dieses Lebens töten kann und die Vergegenwärtigung ist die akkurate Beiläufigkeit einer Distanz, die wie ein schüchterner Beobachter nicht eingreifen will in diese Welt, sondern sie schlicht sehen und hören will.

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Zum Sehen und Hören gibt es einiges zu sagen. Wir sind zurück am nebeligen Abgrund. Immer wieder tauchen diese Aufnahmen auf, in denen Hou Landschaften wie Körper zelebriert. Etwas lebt in ihnen und sie sind ein Spiegel der Zeit, des Innenlebens einer Geschichte und einer Figur, der Zeit und Geschichte dieser Figur. In ihnen liegt die ganze Präsenz dieser Vergänglichkeit, die ihr Ebenbild einzig in den melancholischen Augen der Figuren findet. Nein, es gibt nichts konkreteres in diesem Film, weil es konkreter gar nicht geht. Dabei wird The Assassin keineswegs von derselben Dekadenz heimngesucht wie Flowers of Shanghai. Vielmehr ist es eine Abkehr, ein Untertauchen in diesen massiven Bildern von Perfektion. Man kann sagen, dass Hou, der im Vergleich zum anderen großen Vertreter des Neuen Taiwanesischen Kinos, Edward Yang, immer als ein Filmemacher der Natur und Ländlichkeit galt, hier zum ersten Mal tatsächlich mit der Landschaft atmet statt sie im Stil seiner frühen Arbeiten, als pastoralen Hintergrund einer Erinnerung zu verwenden. In dieser Ländlichkeit erfährt The Assassin die Meisterschaft eines Filmemachers, der es geschafft hat eine eigene Sprache nicht nur zu finden, sondern zu meistern. Das ist aber auch gefährlich. Die Perfektion der Bildsprache ist derart hoch, dass dem Film trotz seiner fragmentarischen Ezählweise, in der wichtige Ereignisse zum Teil im Off geschehen oder nur ganz kurz an einem vorbeihuschen wie die Schleier im Wind, manchmal an Kantigkeit fehlt. Statt der jugendlichen Desorientierung, die sich auf die Bildsprache von Goodbye South Goodbye oder Millenium Mambo übertrug, gibt es hier eine überzeugte Zerbrechlichkeit. Alles ist perfekt. Wie könnte man das kritisieren? Man kann nicht. In dieser Hinsicht erinnert mich der Film an ¡Vivan las Antipodas! von Victor Kossakovsky. Ein Film, über den der Filmemacher sagte, dass es nicht (mehr) um Realismus ginge, sondern um etwas Größeres. Hou scheint hier auch an etwas Größerem interessiert zu sein als bisher.

Außer der Natur gibt es Räume, die verwinkelt sind mit Farben, die Fieber haben. Immer wieder filmt Mark Lee Ping Bin durch Seidentücher und erzielt hypnotische Effekte mit Kerzen vor seinen Linsen…es brennt in unseren Augen, der Schleier der Zeit, der Hauch der Unsicherheit. In einer der unfassbarsten Sequenzen, die ich je im Kino gesehen habe, unterhält sich der Cousin mit seiner Konkubine während die Kamera hinter den Vorhängen ganz zart bewegt lauert. Wir wissen lange nicht, ob es ein Point-of-View-Shot der Auftragsmörderin ist oder nicht. Es ist ein Spiel mit Blicken und der Distanz, die sich mal vor uns schiebt und dann wieder verschwindet. Hier liegt die Sehnsucht nach einem anderem Leben und der Horror der drohenden Gewalt derart greifbar vor uns, dass wir nicht anders können, als sie gemeinsam in ihrer Gleichzeitigkeit oder gar gelöst von Zeit oder gar mit der Zeit verwoben zu begreifen, obwohl wir das niemals könnten. Wir spüren diese Welt und die Unsicherheit einer Figur, die wir erst später als eine Silhouette, als fremden Eindringling in ihrem eigenen eigentlichen Leben erkennen. Sie erscheint wie der Nebel aus der Schlucht. Man blinzelt und sie ist da, man blinzelt und sie ist weg. Sie wäre wohl am liebsten ganz da oder ganz weg.

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Der Ton ist das leise Flüstern aus der Schlucht, aus der dieser Nebel dringt. Jedes Geräusch ist klar und voller Kraft und Zerbrechlichkeit. Manche Sachen hören wir nicht, weil wir sie nur sehen können, andere Sachen sehen wir nicht, weil wir sie nur hören können. Es ist eine Abstraktion, die etwas entstehen lässt, was man vielleicht mit „Gefühl für die Umgebung“ umschreiben könnte. Für die Musik war wieder Lim Giong zuständig. Vor allem ein beständiges Trommeln ist beeindruckend. Zweimal hören wir es ganz klar und laut bevor ein Schnitt in einen Innenraum es in ein Trommeln aus der Distanz transformiert. Abstände werden uns bewusst, zeitlich und räumlich. Auf einer Zither spielt eine Frau in einer Mischung aus Aggresivität, hinbgabe und vollkommener Zärtlichkeit ein Lied. Dazu singt sie von einem Vogel, der nicht singen konnte bis er seine eigene Reflektion sah und dann so lange vom Leid sang bis er starb. Im Film sehen wir so manche Reflektion. Einmal in einem See, dann in den Lichtern von Kerzen und schließlich in diesem Leben, dass Nie Yinniang nicht haben konnte, jene Frau, die nicht töten konnte, weil sie sich selbst nie gesehen hat oder weil sie sich immerzu gesehen hat und deshalb so lange töten musste, bis sie den Gesang des Lebens hörte. Ein anderes Mal sehen wir einen Tanz, der mit uns tanzt und/oder mit Farben.

Nie Yinniang gesteht ihrer Meisterin am Abgrund stehend, dass sie den Cousin und seine Familie nicht töten konnte. Sie liefert ein politisches Argument (kein emotionales). Sie wird als schwach bezeichnet. Inzwischen verdeckt der Nebel den gesamten Bildhintergrund. Ist das Magie? Dann verschwindet sie im Wald. Ein harter Schnitt, von denen es ein paar in The Assassin gibt, wirft uns mitten in einen Kampf zwischen ihr und ihrer Meisterin. Doch Nie Yinniang kehrt sich ab, sie erstickt diesen Kampf erneut. Sie hat kaum etwas gesagt, wir haben sie kaum gesehen, sie ist nur ein Schatten und genau deshalb das Licht dieses Films, der vielleicht letztlich auf einer Suche nach einer zeitlosen Moral und deren Gegenwärtigkeit erfolgreich ist, in dem er sich von der Welt abkehrt und in eine unfassbare Reinheit taucht, die wiederum vom Wind wie ein flimmernder Schimmer am Leben gehalten wird, sei es durch die Vergangenheit oder Gegenwart. Irgendwie habe ich nur ein Bild des Films beschrieben. Und weil das vielleicht zu poetisch klingt, ende ich mit einem Zitat des Filmemachers: „Hollywood-style films are popular all around the world nowadays, and they need a strict story structure. If the story is not told that way, not continuous enough, the audience will have difficulty following along. But that’s only one of the many ways of telling a story: there are hugely different ways of filmmaking in world cinema. Only because of the huge impact of Hollywood, young people want to imitate that style. Actually, almost all filmmakers want to imitate the style of Hollywood. But I don’t see it that way. A good film is when you continue your imagination [of it] after seeing it.”

Film Lektüre: Hou Hsiao-Hsien edited by Richard I. Suchenski

Das von Richard I. Suchenski herausgegebene Buch über das Werk von Hou Hsiao-Hsien sollte als Musterexemplar für sämtliche Publikationen über Filmemacher dienen. Derart vielschichtig und doch detailverliebt haben sich bislang ganz wenige Bücher einem einzelnen Filmemacher genähert, wenn dieser nicht selbst als Autor aufgetreten ist. Neben dem Buch No Man an Island: The Cinema of Hou Hsiao-hsien von James Udden ist das in der Reihe der Synema-Publikationen des Österreichischen Filmmuseums erschienene Buch das einzige umfassende, englischsprachige Zeugnis eines der wohl wichtigsten asiatischen Filmemacher aller Zeiten. Es ist deshalb ein derart gutes Buch, weil es sich aus drei Komponenten zusammensetzt, die in sich schon alle einen außergewöhnlichen Einblick in das Schaffen des großen Meisters geben, dessen The Assassin hoffentlich 2015 das Licht der Welt erblicken wird.

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Da wäre zum einen die Versammlung individueller Essays von großen Autoren und Hou-Kennern. Fast jeder Text ist für sich eine kleine Entdeckungsreise. Das beginnt schon bei einem sehr detaillierten und faszinierenden Einleitungstext in Form einer formalistischen Analyse der Filme von Hou durch Richard Suchenski selbst. Statt einer gefälligen Einleitung finden sich hier schon eine Tiefe und eine Auseinandersetzung mit den Filmen, die auch für sich alleine stehen könnte. Auch Jean-Michel Frodons Text Unexpected but Fertile Convergence ist ein kleiner Schatz. Frodon liefert einen Gesamtüberblick über die bisherige Karriere von Hou aus unterschiedlichen Perspektiven. Er schreibt: „Hou’s cinema, more deeply and with a stronger power of seduction than that of any other Chinese filmmaker, responds to another conception of the world, in the largest sense possible.” Die Tatsache, dass Hou hier als Chinese bezeichnet wird, wird nicht nur in diesem Text auch thematisiert, befragt und relativiert. Peggy Chiao, Ni Zhen und Jean Ma kümmern sich in ihren Texten sehr viel um die Frage nach der Identität und der Geschichte Taiwans. Eindeutiges Highlight unter den einzelnen Essays ist jedoch der Text von Hasumi Shigehiko über Flowers of Shanghai. Der Autor nähert sich dem Film über dessen Lampen: Who Can Put Out the Flame?, heißt der Text, der eine Tragödie von Öllampen und Flammen erzählt und dabei sowohl die offensichtliche Handlung als auch die nur scheinbar unsichtbaren Spuren im Kino von Hou offenbart. Denn wenn wir bei unserer intensiven Auseinandersetzung mit den Filmen des Regisseurs im vergangenen Sommer eines bemerkt haben, dann dass wir unser eigenes Sehen neu justieren müssen, um der flüchtigen Notwendigkeit von Hou zu folgen. Statt Drama zu betonen, schleicht es sich an und genau in diesem Rhythmus fungieren auch die Betrachtungen von Shigehiko. „These flames – which, thanks to the exceptional handling of light, lead into and out of each scene as concrete cinematic subjects that slowly drift into and out of view – separate Flowers of Shanghai not only from Hou’s other work, but also from the celebrated film historical examples of works that have taken Shanghai as a cinematic subject.” Der Autor stellt Vergleiche zu Filmen wie Shanghai Express, The Shanghai Gesture oder auch Rio Grande an. Er skizziert Inhalt und Form des Films im Verhältnis zu den Produktionsbedingungen und dem Gesamtwerk von Hou.

Und spätestens hier kommt dann auch die zweite Komponente ins Spiel, die das Buch derart lesenswert macht. Denn weiter hinten wird mit dem großartigen Kameramann Mark Lee über das Licht im Film gesprochen. Lee beschreibt, wie der Look zu Stande kam. Das Spannende daran ist, dass er dies natürlich aus Sicht eines Kameramanns macht. Er beschreibt, wie Hou immer noch mehr Lichter entfernt hat, wie er ihn mit kleinen weißen Lügen hinterging und wie das Licht schießlich mit kleinen Verstärkungen für die zärtlichen Öllampen als „glamorous realism“ durchging. Immer wieder sprechen die Texte und Interviews im Buch miteinander. Dabei gibt es außer dem Licht und der Frage nach Identität ein Hauptthema, das sich von einem Text in den anderen bewegt und wohl mehr als alles andere die Bedeutung von Hou für das asiatische Kino unterstreicht: Die Totale und ihre Dauer.

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Damit ist natürlich die penetrante Verwendung totaler Einstellungen im Kino von Hou gemeint. Diese und seine Verweigerung in nähere Einstellungen zu schneiden, wird in vielen unterschiedlichen Texten aus differenzierten Perspektiven betrachtet. Die Frage nach der Totalen und ihrer Verweildauer ist von einer hohen Brisanz und zeigt nicht zuletzt wie aktuell Hou als Filmemacher zwischen all diesen slow und contemplative Filemmachern des 21. Jahrhunderts noch immer ist. Mehr als einmal habe ich mir beim Lesen die Frage gestellt, warum immer wieder von einem Einfluss auf asiatische Filmemacher gesprochen wird, wenn doch auf der ganzen Welt derartige Methoden sichtbar sind. Da gibt es einmal Kent Jones, der sich dem Phänomen mit einem Blick auf die Zeit nähert. Eigentlich ist es kein Blick auf die Zeit in den Filmen von Hou sondern ein Blick auf die Zeiten der Räume bei Hou. Jones argumentiert, dass Hou nicht im Stil eines Olivier Assayas (der neben Jia Zhang-ke und Koreeda Hirokazu einer der von Hou beeinflussten Regisseure ist, die selbst zu Wort kommen im Buch) ein proustianischer Filmemacher sei, sondern in der Kollision aus der fließenden Gegenwart und der erinnerten Vergangenheit mit seinen Filmen arbeiten würde. Das bekannte Bild des nachdenklichen Tony Leung inmitten des Treibens des Bordells in Flowers of Shanghai sei dafür ein Beispiel. Sein Sentiment ist in der Vergangenheit, aber seine Umwelt verweist auf die Gegenwärtigkeit.

Die lange Einstellung wird in all ihren Facetten diskutiert. So wird ein wenig mit dem Vergleich von Hou und Ozu aufgeräumt, beschrieben wie Hou seinen Stil entwickelt hat. Ein wenig zu viel Fokus wird meiner Meinung nach immer wieder auf A Time to Live, A Time to Die gelegt, denn dort gibt es sicherlich noch sehr viele Ransprünge und Nahaufnahmen trotz der immensen Länge totaler Einstellungen. Vielmehr Sinn macht es da schon mit James Udden mitzugehen, der sich für Dust in the Wind als definitiven Hou Film einsetzt. Er beschreibt wie Hou in narrativen Schritten denkt, wo man es vielleicht (auch aufgrund seiner Einstellungsgröße) gar nicht erwartet, aber immer sieht, selbst wenn man es kaum bewusst wahrnimmt. Die Frage nach der Inszenierung von Kleinigkeiten, die dem Zuseher subtil und mit Hilfe einer ganz bewussten Choreografie natürlichster Bewegungen vorgeführt wird, wird mit dem Buch noch einmal deutlicher. Man will sich sofort wieder in die Filme stürzen, da man feststellen muss, dass Hou eine völlig eigene Sprache spricht, die man erst mit einem geschulten Augen wirklich begreifen kann. Manches davon erkennt man instinktiv beim Sehen, aber ein Hinweis hier und dort kann einem die Augen für die Bilder und Töne von Hou öffnen. Und Texte wie jener von Udden, der ein Schüler von David Bordwell war und gewissermaßen noch ist, sind eine Schule für die Augen. Mit diesem Fokus auf Bewegungen im Bild wird auch eine wichtige Distinktion getroffen. Und zwar eine, die wir hier bei Jugend ohne Film ebenfalls diskutiert haben. Es ist jene zwischen Hou Hsiao-Hsien und Tsai Ming-Liang beziehungsweise anderen Modernisten, zu denen man auch Chantal Akerman oder Béla Tarr zählen könnte. Die Frage nach Langsamkeit ist bei Hou immer eine, die in der Spannung zwischen Statik der Kamera und Bewegung vor der Kamera entsteht. Dabei bleibt er ein klassischer Geschichtenerzähler, der weder in das Obskure driftet wie Tsai noch in eine Bewegungstrance wie Tarr. Hou hat eine ganz eigene Form dieser langen Totalen entwickelt, die zum einen unverkennbar ist und zum anderen einen Fokus auf eine tatsächliche Inszenierung von Bewegung legt wie es sie wohl selten sonst im Kino gibt. Schaut man sich derzeit den Gewinner des Goldenen Löwen En duva satt på en gren och funderade på tillvaron von Roy Andersson in den Kinos an, kann man sehen wie lange Totalen völlig anders funktionieren. Bei Hou sind sie eine eigene Kraft statt ein auf sich selbst verweisendes Instrument. Sie sind eine Haltung zur Welt, die möglichst unberührt bleiben soll während sie bei Andersson gerade durch seine Langsamkeit und Distanz berührt wird.

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Alles – und das führt uns zur dritten Komponente – ist einem Streben nach Realismus untergeordnet und einer experimentellen Neugier, die sich immer wieder neu erfinden will. Denn im letzten Abschnitt des Buchs finden sich wie bereits beschrieben eine Menge Interviews mit Kollaborateuren von Hou, die Richard Suchenski selbst geführt hat und die für sich schon einen ziemlich umfassenden Einblick in Methoden und Prozesse von Hou geben. Vor allem die beiden Gespräche mit seinen Kameramännern Mark Lee und Chen Huai-En bieten einen inspirierenden und ungewöhnlichen Einblick in die Arbeitsweise eines sturen Mannes, zu dessen Prinzipien gehört, dass jeder Film eine Antwort auf den vorherigen sein soll. Vor allem die Berichte von den Dreharbeiten zu Goodbye South, Goodbye und Flowers of Shanghai sind fantastisch. Es wird sehr deutlich, dass Jean-Luc Godard Recht hatte, als er sagte, dass der Autor immer mehrere Menschen sind. Im Interview mit Tu Duu-chih wird auch klar, welche Bedeutung technische Entwicklungen für die Entwicklung des Kinos von Hou und in Taiwan allgemein hatten. Die gesellschaftlichen und politischen Hintergründe werden in diesem Buch in jeder Zeile mit einer Ästhetik und Weltsicht in Verbindung gebracht und daher wird die Lektüre dem Schaffen von Hou auch tatsächlich gerecht. Zuletzt findet sich noch Produktionsmaterial zu Three Times im Buch sowie eine umfassende Bibliographie und biographische Daten. Ich habe einen ganzen Monat mit dem Buch verbracht und werde es sicher immer wieder zur Hand nehmen, obwohl oder gerade weil es kein einfaches Nachschlagewerk ist. Eher ist diese Publikation ein Werk über das Filmemachen an sich, da sie sämtliche Aspekte des Berufs inkludiert und anhand eines großen Regisseurs durchexerziert.

Taiwan-Threesome: Hou und Tsai im Dialog

Wer Jugend ohne Film in den vergangenen zwei Monaten verfolgt hat, der hat so einiges über das taiwanesische Kino gelesen. Zuerst haben wir uns in den feuchten Zimmern von Tsai Ming-Liang verloren und dann haben wir mit Hou Hsiao-Hsien durch Türen geblickt. In der Folge hatten wir irgendwie das Gefühl, dass viele Fragen offen geblieben sind, viele Gefühle drohten in den sommerlichen Gewittern zu verschwinden ohne jemals offengelegt zu werden. Man sieht eine Menge an Filmen und trägt sie mit sich. Vielleicht reicht dieser Zustand, vielleicht ist es genau das, um das es geht. Aber die Vergänglichkeit der Filme war und ist für unsere Kinowahrnehmung keine Lösung. Für uns lebt das Kino weiter. Und wir wollen das ausdrücken. Unbeholfen, emotional und leidenschaftlich. Daher habe ich mich zusammen mit meinen Kollegen Rainer Kienböck und Andrey Arnold einen knappen Monat lang per Mail über das Schaffen dieser beiden Künstler unterhalten. Dabei haben wir nochmal versucht unsere individuellen Eindrücke widerzugeben, haben Vergleiche angestellt und Unterschiede in unserer Wahrnehmung diskutiert. Auch mussten wir feststellen wie schwer ein Dialog über das Kino sein kann und wie sehr man ihn gerade deshalb suchen muss.

The Wayward Cloud

The Boys from Fengkuei

Patrick: Ich wollte euch fragen, ob ihr mehr mit Tsai Ming-Liang oder Hou Hsiao-Hsien anfangen konntet? Oder würdet ihr da keine wertende Trennung vornehmen?

Andrey: Es fällt mir schwer, hier eine klare Distinktion zu treffen. Wenn die Frage lautet, welcher Filmemacher mir emotional „näher“ ist, eher zu mir „spricht“, müsste ich wohl Tsai den Vorzug geben, schlicht weil seine Sensibilität, die Gefühlslagen seiner Filme mir universeller und zeitgemäßer scheinen als jene Hous. Aber das hat Gründe, die nicht unbedingt mit ihrer jeweiligen künstlerischen Qualität zusammenhängt: Tsai und sein Werk sind jünger und in einen historischen Kontext eingebunden, der sich in meinen Augen leichter verallgemeinern lässt als jener der Erinnerungsfilme Hous. Die Einsamkeit des Großstadtmenschen ist ein Topos, bei dem für unsere soziale Schicht und Generation weltweit wenig Erklärungsbedarf besteht; das Schicksal von Hakka-Chinesen im Taiwan der 60er hingegen… Aber Tsais Oeuvre ist auch homogener als das Hous (zumindest an der Oberfläche), und im Grunde hatte ich nach der Retro das Gefühl, von einem Boot gestiegen zu sein, dass mich eine Zeit lang einen einzigen filmischen Fluss entlanggeführt hat, der nun in meiner Abwesenheit weiterläuft (wollte man böse sein, könnte man sticheln, sein Schaffenszyklus mit Lee Kang-sheng sei das wahre „Bohyood“-Projekt). Hou zieht im Vergleich trotzt der ganz spezifischen Zeitlichkeit und des eigentümlichen Blicks seiner Kamera stilistisch und motivisch verschiedenste Register im Laufe seiner Karriere, und es wäre verfehlt, Filme wie „A Summer at Grandpa’s“ und „Millenium Mambo“ in einen Topf zu werfen, nur um sich ein geschlossenes auteuristisches Urteil bilden zu können. Und es muss gesagt sein, dass die Arbeit und der periodische, mitunter auch kommerzielle Erfolg Hous in gewisser Hinsicht radikaleren taiwanesischen Künstlern wie Tsai zweifelsohne den Weg geebnet hat.

Rainer: Schwierige Frage: Tsai ist ein großer Brocken und voll am Puls der Zeit – selbst seine etwas älteren Filme. Es scheint mir, dass er sich mit ganzer Kraft gegen die Beschleunigung der (urbanen) Welt stemmt, indem er versucht dem Blick des Zusehers „Atempausen“ zu gewähren – bei Tsai findet der Film tatsächlich im Kopf des Zusehers statt (wenn ich diese alte Weisheit hier aufwärmen darf). Wie Andrey schon gesagt hat, ist Tsais gesamtes Oeuvre auch weitaus kohärenter, Hous Gesamtwerk kann man hingegen in verschiedene Schaffensperioden einteilen. Mit seinen früheren Filmen komme ich persönlich weniger klar – zur Frage nach dem warum werden wir vermutlich noch kommen, da möchte ich nicht vorgreifen – „Flowers of Shanghai“ habe ich in die Riege meiner Lieblingsfilme aufgenommen. Hou ist groß, facettenreich und weniger fassbar, oszillierend, während man Tsai finde ich, relativ gut sezieren kann. In anderen Worten: Rationale Analysen stoßen bei Hou an ihre Grenzen, da macht in meinen Augen ein persönlicher, emotionaler Zugang mehr Sinn – Tsai kann man „denken“. Zusammenfassend möchte ich sagen, dass ich Tsai für einen der wichtigsten Regisseure des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts halte. Das heißt, ich würde ihn als Beispiel für die Weiterentwicklung der Filmkunst in dieser Zeit anführen. Hou ist ganz einfach groß und somit schwer zuordenbar. Über die Vergleichbarkeit der beiden habe ich mir noch nicht allzu viel Gedanken gemacht. Ihre Sicht auf Taiwan erscheint auf den ersten Blick total unterschiedlich, ihre Erzählweisen ebenfalls, andererseits ist wohl nicht zu leugnen, dass Tsai der ersten Welle der Taiwanese New Wave (und damit Hou) einiges zu verdanken hat – zumindest neue Produktionskontexte.

Dust in the Wind2

Goodbye Dragon Inn

Patrick: Ich finde es sehr spannend, dass Andrey von der Möglichkeit der Verallgemeinerung spricht. Geht es in Hous Filmen nicht sehr viel, um das Nebeneinander von Leben und Sterben, Freude und Leid? Und gibt es etwas Allgemeineres? Für mich findet sich der offensichtlichste Unterschied zwischen den beiden Filmemachern in ihrem Umgang mit Zeit. Tsai scheint mir die Zeiterfahrung zu intensivieren, er betont kurze Perioden, die er dann dehnt und uns sozusagen in die Zeit eintauchen lässt, während Hou oft große zeitliche Abläufe aus einer Distanz abhandelt. Tsai springt in die Welt, während Hou oft außen bleibt. Deshalb kann ich nicht verstehen, inwiefern man Tsai denken kann. Mehr oberflächlichen Inhalt gibt es sicherlich bei Hou. Er versteckt diesen Inhalt mit seiner Form, aber am Ende des Tages setzt er sich mit melodramatischen Geschichten vor dem Hintergrund nationaler Geschehnisse auseinander. Das ist für mich einfacher zu denken als Tsai, der von-wie Andrey sagt-allgemeinen Dingen, wie dem Gefühl einer Begierde, Einsamkeit und Langeweile erzählt. Also Dinge, die man zumeist nicht denkt sondern fühlt. Deshalb tue ich mir auch mit dem Begriff der Verallgemeinerung bei Tsai etwas schwer, weil es mir doch ein sehr individuelles, persönliches Gefühl zu sein scheint. Natürlich füllen wir diese Filme mit uns selbst auf, aber ich glaube kaum, dass wir dieselben Erfahrungen mit den Filmen von Tsai hatten. Der Hou von „Flowers of Shanghai“ oder „Millenium Mambo“ scheint mir übrigens deutlich näher an Tsai zu sein als Tsai am frühen Hou.

Rainer: Es wundert mich nicht, dass du mir widersprichst. „Denken“ ist für dich ein Unwort, ich meine es aber nicht im negativen Sinne. Würdest du mir aber nicht zustimmen, dass man einen Tsai-Film formal relativ einfach auseinandernehmen kann? Gerade wie Tsai mit Zeit umgeht und welche Symboliken und Themen er immer wieder verwendet (Vater, Wasser, Zeit,…) und anspricht, lässt sich doch schön Stück für Stück aufarbeiten. Filmen wie „Flowers of Shanghai“ oder „Millenium Mambo“ komme ich hingegen weitaus näher, wenn ich sie als Gesamteindruck und Gesamtgefühl deute. Ich erinnere mich noch, als Andrey nach „The Wayward Cloud“, das Bild der Ameise angesprochen hat, die für Einsamkeit steht. So eine Art von Symbolismus wäre mir bei Hou nicht aufgefallen. Natürlich kann man Hou inhaltlich rational analysieren – ich würde sein Gesamtwerk sogar als eine Art taiwanesische Nationalchronik sehen – aber formal tu ich mir schwer.

Patrick: Ich habe das gar nicht als Widerspruch gemeint. Ich finde man muss aufpassen, dass man nicht Form mit Motivik verwechselt. Mit Form meinte ich tatsächlich die filmische Darstellung und nicht das, was er zeigt. Genau in dieser eindeutigen Art ein Bild zu lesen, also hier ist etwas und das hat das oder das zu bedeuten, liegt für mich ein Problem und ich bin mir ganz sicher, dass man sich Tsai so nicht nähern kann. Das liegt zum einen an kulturellen Unterschieden, zum anderen an der Ambivalenz von Bildern generell. Formell tue ich mir tatsächlich bei Hou leichter. Diese Distanzierung in der Bildsprache, die Rahmungen und das Spiel mit seiner tranceartigen Kamera, das es ab „Goodbye South Goodbye“ immer wieder gibt. Dagegen ist Tsai-wie das ja angesprochen wurde-irgendwie mit der Arbeit an einem einzigen Film beschäftigt (zumindest ab einem gewissen Zeitpunkt seines Schaffens). Das macht die Form bei beiden sehr spannend wie ich finde. Aber bei Tsai kann ich nicht so leicht sagen, warum er welche Entscheidung getroffen hat. Es wirkt irgendwie intuitiver, ja weniger gedacht, sondern mit mehr Bauchgefühl. Das ist aber weder besser noch schlechter für mich.

Andrey: Die Differenz zwischen Denken und Fühlen, die hier nicht zum ersten Mal aufgeworfen wurde – ihr seid in dieser Angelegenheit ja fast wie Spion & Spion – entsperrt natürlich eine philosophische Pandorabüchse, die auszuräumen unseren Rahmen (und meine Befähigung) weit übersteigen würde. Nur so viel sei gesagt: Wissen wir nicht spätestens seit Nietzsche, dass jedes „Denken“ auch immer ein „Fühlen“ ist und jedes „Fühlen“ immer ein „Denken“? Dass die sogenannte Ratio nichts anderes ist als ein Prozess, der unser Fühlen strukturiert und es so erst erträglich und fassbar macht? Jedenfalls glaube ich, dass Rainer mit seiner „Tsai-denken“-Formulierung weniger die emotionale Komplexität von Tsais Kino kleinreden wollte als darauf hinweisen, dass es sich aufgrund seiner vergleichsweise homogenen Motivik (und „Motivik“ ist zweifelsohne von „Form“ zu trennen, obwohl es Überschneidungen gibt) leichter zusammenfassen und nach auteuristisch/symbolischen Kriterien analysieren ließe als das Hous; eine Analytik, deren Ergiebigkeit tatsächlich enden wollend ist. Man kann sich Tsai (und anderen) so zwar durchaus nähern – und warum sollte es ein Gebot geben, dies nicht zu tun, solange das Bewusstsein um Ambivalenz gewahrt bleibt? – allzu weit wird man damit aber nicht kommen, ohne sich wieder von den Filmen selbst zu entfernen. Natürlich sind die Wassermelonen bei Tsai nicht einfach nur Symbole für Sexualität. Das können sie zwar sein und sind es auch in einem bestimmten Referenzrahmen (den „The Wayward Cloud“ etwa narrativ konsolidiert), aber sie sind weit mehr als das; Wassermelonen z.B., mit ihren spezifischen materiellen und sinnlichen Qualitäten, die Tsai bewusst in Szene setzt und an die wieder andere gedachte/gefühlte Assoziationsketten geknüpft werden. Zur Frage nach der Verallgemeinerung: Mir ist klar, dass die besten Filme – ach je, das böse Wert-Wort! – der narrativen Domäne nie nur eine konkrete Geschichte von konkreten Menschen erzählen, die in ihrer repräsentativen Funktion gefangen sind, sondern immer auch etwas Allgemeines mitschwingen lassen. Das ist auch bei Hou der Fall, nicht zu knapp. Aber es bleibt dennoch Erzählkino, mit Psychologie, Kontext und allem Drum und Dran, und gerade dieses Drum und Dran ist dann bei Filmen wie „City of Sadness“ oder seiner Coming-of-Age-Trilogie einigermaßen spezifisch. Muss es auch sein, fungiert(e) es doch besonders bei Ersterem auch als nationales Dokument und historisch-politisches Statement. Tsai hat das weniger, da er Plot und Charakterzeichnung mitunter komplett über Bord wirft, um Kino einfach Kino sein zu lassen, und das ist neben seinem Umgang mit Zeit – wie Patrick treffend vermerkt hat – der wesentliche Unterschied zu Hou. Denn diesen lässt das Bedürfnis, zu erzählen und Figuren zu entwerfen selbst in seinem „loseren“ Spätwerk nie ganz los. Wobei mir Patricks Engführung von „Millennium Mambo“ bzw. „Flowers of Shanghai“ mit Tsais Schaffen spannend erscheint. Wie ist das – über das Motivische hinaus – zu verstehen?

Visage

Millenium Mambo

Patrick: Ich habe mich wohl wirklich missverständlich ausgedrückt. Ich habe keine prinzipiellen Aversionen gegen Denken im Kino oder sonst was. Ein äußerst absurder Vorwurf an eine Person, die über Film schreibt. Ganz im Gegenteil. Ich glaube, dass man Kino denken muss und Kino unglaublich lebt vom Denken sowie das Denken vom Kino. Ich will nicht ewig darauf herumreiten, aber was ich eigentlich sagen wollte und was ihr beide sehr anders gedeutet habt, ist dass ich Hou anscheinend im Gegensatz zu euch beiden viel eher nach diesen Mustern durchsuchen kann. Da sind für mich ganz klassische Autorenmerkmale zu finden wie die Behandlung von Kindheit/Jugend/Familie, Vergangenheit, Züge (insbesondere Phantom Rides), naive von Emotionen übermannte Männer, diegetische Chronisten wie Tagebücher/Voice-Over Narrationen/Fotos, immer wieder ähnliche Schnittfolgen und Raumauflösungen. Dagegen scheint mir Tsai viel weniger leicht durchdringbar. Natürlich, auf den ersten Blick sind da auch solche Dinge: Die angesprochenen Wassermelonen, Tiere, Musicalnummern (schräger Humor allgemein), Uhren, selbstverständlich Wasser in allen Facetten und die Thematisierung von Zeit/Kino. Aber diese werden so virtuos durcheinander geworfen und so unterschiedlich konnotiert in den einzelnen Filmen, dass es mir schwer fällt über Tsais Filme diese relativ festen autorenbezogenen Aussagen zu tätigen. Vielmehr-und das hat Andrey wunderbar formuliert-fahre ich mit ihm auf einem Boot, da kommen immer wieder Dinge vorbei, ich will sie berühren. Bei Hou habe ich das Gefühl, dass ich mich sehr wohl hinsetzen kann und mir Gedanken zu den Motiven machen kann. Tsai scheint sich sehr bewusst zu sein, dass das passiert und arbeitet ein wenig dagegen meiner Ansicht nach. Und noch auf einer allgemeineren Ebene: Tsai hat einen Umgang mit dem Sinnlichen, den Andrey ja angesprochen hat, der sich für mich derart stark jenseits aller Motivik und von mir aus Symbolik vollzieht, dass es mir gar noch schwerer fällt seine Filme nicht als einzigen Fluss wahrzunehmen. Und wenn ich in einen Fluss springe, dann ist das jedes Mal ein anderer Fluss. Bei Hou ist es da konkreter, weil er durch seine distanzierte Betrachtung schon die Denkrichtung vorgibt. Aber auch mit ihm konnte ich mich wie in einem Fluss fühlen. Und das bringt mich zu Andreys Frage bezüglich der Nähe von „Flowers of Shanghai“, „Millenium Mambo“ und womöglich noch „Three Times“ bzw. „Daughter of the Nile“ bzw. „Goodbye, South Goodbye“ zum Schaffen von Tsai. Ich würde sagen, dass es mit dem Licht beginnt. Das Licht wird in diesen Filmen ganz ähnlich wie bei Tsai nicht mehr nur zur Darstellung einer naturalistischen oder stimmungsvollen Welt gesetzt, sondern es beginnt ein Innenleben anzuzeigen. Außerdem sind die Filme hermetischer, sie scheinen mir nicht mehr so narrativ nach vorne zu gehen, sondern eher im Moment zu verweilen, ganz genauso wie ich es bei Tsai empfinde. Das Framing beziehungsweise die Kamerabewegungen scheinen dort einen tentativen Touch zu bekommen, wogegen sie in den anderen Hou Filmen mehr auf Simplizität und Notwendigkeit aus sind. Sie scheinen mehr im Bewusstsein zu entstehen, dass sie Kunst sind. Auf narrativer Ebene ist es ja auch so, dass Hou lange Zeit als Country-Boy galt und Tsai als City-Boy. Das dreht sich in den genannten Filmen natürlich auch ein wenig. Würdet ihr dem zustimmen?

Rainer: Nun kommen wir der Sache schon näher, wobei ich denke, dass wir hier anstehen. So wie Andrey das zusammengefasst hat, sehe ich es auch in Bezug auf Motivik und Symbolik. Auch wenn Tsai intuitiver ist (da würd ich mich deiner Beobachtung anschließen) und seine Motive bunt zusammenwürfelt, wie du sagst, erscheint mir eine Analyse eines Tsai-Films weitaus fruchtvoller, als die eines Hou-Films, gerade weil ich sein Oeuvre als Chronik deute, und innerhalb dieser Chronik wiederum Chronisten auftreten. Das macht Hou für mich undurchdringlicher, dass man das große Ganze eigentlich immer mitdenken muss. Das Konzept ist elliptisch wenn du so willst, sobald du glaubst ihn irgendwo gepackt zu haben, öffnet sich eine neue Dimension, wenn man einen Blick zurück aufs große Ganze wagt. Aber wie gesagt, ich denke an dieser Stelle kommen wir nicht wirklich weiter, da wir die Filmemacher anscheinend alle sehr unterschiedlich wahrnehmen. Bei Andreys Frage bezüglich der Nähe von „Flowers of Shanghai“, et al bin ich näher bei dir Patrick. Hous Frühwerk ähnelt Tsais Schaffen wenig. Selbst die inhaltlichen, autobiographischen Aspekte werden auf so unterschiedliche Art und Weise inszeniert, dass es für mich wenig Sinn macht, hier Parallelen zu ziehen – die wären nur aufgesetzt. Später, in den 90ern wird Hou spielerischer, leichtfüßiger. Er verzichtet zunehmend auf den neorealistischen Gestus, der sein Frühwerk geprägt hat und macht seine Filme visuell effektvoller, seine Kamera wird beweglicher, Licht setzt er als Stilmittel ein, anstatt sich einem naturalistischen Filmbild zu unterwerfen, seine Filmen werden ab diesem Zeitpunkt stimmungsvoller und weniger grau. Tsai erzeugt Stimmung zwar auf ganz andere Weise, aber, wie du bereits erwähnt hast, beim Licht treffen sie sich. Licht spricht in Tsais Filmen, selbst, oder vor allem, in seinen düstereren Filmen. Auch habe ich das Gefühl, dass sich Hou ab diesem Zeitpunkt auch seinen Figuren nähert – zwar nicht so extrem wie Tsai, der über zwanzig Jahre jede Falte an Lees Körper erforscht, aber doch findet man erstmals Charaktere, die zur Identifikation einladen und nicht mehr unscheinbare Protagonisten inmitten gesichtsloser Familienangehöriger. Nur deshalb wirkt „Three Times“ an manchen Stellen leicht kitschig, nur deshalb wird auf einmal ein Schauspieler wie Tony Leung zum Dreh- und Angelpunkt eines Films wie „Flowers of Shanghai“. Ja, das neue Interesse an Charakteren, anstatt an Ereignissen, die mehr oder weniger anonymen Charakteren wiederfahren, haben meiner Meinung nach eine Annäherung Hous an Tsai gebracht. Das wahrscheinlich sogar stärker als auf formaler Ebene. Alles in allem tue ich mir aber sehr schwer, hier eine Synthese zu ziehen. Die beiden Filmemacher sind so verschieden, nicht nur was das jeweilige filmische Endresultat angeht, sondern auch ihre Konzepte und ihre Herangehensweisen. Der Impetus des Filmemachens ist ein anderer – das soll nicht heißen, dass es keine Filmemacher gibt, deren Filme ähnlich sind, obwohl sie unterschiedliche Backgrounds haben, aber in diesem Fall sehe ich ganz einfach wenige Überschneidungen: der Cowboy und der Intellektuelle, Nationalchronik und Charakterstudie.

A City of Sadness

Stray Dogs

 

Andrey: Ich glaube, wir sind uns im Wesentlichen alle einig, dass das Werk dieser beiden Filmemacher grundverschieden ist und vornehmlich aufgrund ihrer Nationalität, ihrer (kaum vergleichbaren) „Langsamkeit“ und dem cinephilen Willen zur Welle gegenübergestellt wird. Ich kann Patricks Argumentation in Bezug auf die von ihm genannten Filme Hous und ihrer subtilen Annäherung an the Art of Tsai nachvollziehen, nur scheint mir die Ferne zu groß, um sie mit so kleinen Schritten zu überbrücken. Es stimmt, dass die narrative Vorwärtsbewegung gleichmütiger in ihrem Fließen wird und den Zwischenstellen und unerheblichen Momenten mehr Gewicht verleiht; es stimmt auch, dass sich die Kameraführung und Lichtsetzung verändern, wobei letzteres der sukzessiven Verlagerung des Blicks vom Tag in die Nacht, vom Land in die Stadt, aus den lichtdurchfluteten Zimmern und pastoralen Vorhöfen in die hermetischen Boudoirs eines Bordells und die beengenden Klausen und Clubs Taipehs geschuldet ist („Café Lumiere“ sieht ja, nomen est omen, fast wieder ein wenig aus wie seine älteren Filme). Aber sie sind allesamt einer Diegese verhaftet, in dem Sinne, dass sie von Menschen, Orten, Psychen und Zeiträumen zeugen – man darf hier auch den Drehbuchbeitrag T’ien-wen Chus nicht vergessen – die sich aus dieser heraus benennen und Großteils auch erklären lassen, wenn man denn will, gleichwohl sich vermehrt Elemente einschleichen, die die Kontiguität der Dinge zerrütten (der eigenwillige Tanz des roten Ballons, die seltsame Übertragung zwischen den Zeitebenen in „Good Men, Good Women“ und „Three Times“, der Voice-Over und die Riesen ins verschneite Japan in „Millennium Mambo“, die Art, wie in „Café Lumiere“ die Züge gefilmt werden). In Tsais enigmatischen Geisterwelten sind die Grenzen indes immer schon unwiederbringlich verwischt, zwischen Traum und Wirklichkeit, Geste und Verkörperung, Figur und Darsteller, Dokument und Phantasma, Ding und Symbol, Zeit und Ewigkeit, umso mehr, wenn man sie im Kontext des Gesamtwerks betrachtet. Man kann ab „The River“ eigentlich jeden Film als Beispiel bringen, vielleicht auch schon die davor. Wer „sind“ diese Leute? Wovon „handeln“ diese Filme? Wann „spielen“ sie? Man könnte versuchen, diese Fragen zu beantworten, und würde doch unweigerlich viel zu kurz greifen. Allerspätestens seit dem Walker-Zyklus ist klar, dass dies bei aller Gegenständlichkeit kein Erzählkino mehr ist (was bei Gott nicht heißen soll, es „erzähle“ nichts mehr).

Patrick: Gibt es einen Moment oder auch mehrere bei Tsai Ming-Liang, an den ihr euch besonders erinnert, der euch besonders bewegt hat, ein Bild, ein Gefühl, ein Ton?

Rainer: Spontan würd ich sagen: Der Typ in „What Time Is It There?“, der die Uhr stiehlt und sich dann aufs Klo flüchtet, wo er halbnackt auf Lee Kang-sheng wartet. Etwas profunder: Die letzte lange Einstellung in „Stray Dogs“ – ein großer kontemplativer Kinomoment.

Andrey: Die vorletzte Einstellung aus Stray Dogs – meine erste Tsai-Begegnung – werde ich niemals vergessen. Jetzt könnte man einwenden: „Was Wunder, wenn er sie eine Viertelstunde hält…“ Wie dem auch sei: So ist es. Sonst, spontan? Ich wüsste nicht, wo anfangen. Schon nach kurzer Überlegung merke ich, dass sich beachtlich viele Bilder, Szenen, Eindrücke stark ins Gedächtnis geprägt haben, so dass sich eine Aufzählung schnell überschlagen würde. Vielleicht wäre es einfacher, jene Gedächtnisfilme zu benennen, die mir derzeit die größten Lücken aufzuweisen scheinen: Vive L’Amour, The River, I Don’t Want To Sleep Alone, in absteigender Reihenfolge. Gibt es ein Muster? Vielleicht, weil es seine „unspektakulärsten“ Arbeiten sind? Patrick würde mir wohl widersprechen. Wenn ich mir eine Kinoerfahrung als Ganzes aussuchen müsste, wäre es wohl „Goodbye, Dragon Inn“: Wegen der unheimlich schönen und ganz schön unheimlichen Doppelung im nahezu leeren Künstlerhauskinosaal, wegen des mürrischen Herren ein paar Reihen hinter mir, der den ganzen Film über seine Missgunst in sich hinein murmelte und doch nahtlos in der Atmosphäre aufging, wegen King Hu via Tsai und wegen Lee Kang-sheng im schummrigen Götzenlicht.

The River

Cafe Lumiere

Patrick: Bei mir ist es die finale Sexszene in „The River“ und vor allem auch die Sekunden danach, der Schmetterlingsmoment in „I don’t want to sleep alone“ und selbstredend die Begegnung von Jean-Pierre Léaud und Lee Kang-sheng in „Visage“. Nach der Zeit mit Tsai hatte ich das Gefühl, Einsamkeit stärker wahrzunehmen. Momente, in denen man seine Zeit mit Warten oder Herum-Strolchen verbringt, wurden plötzlich intensiver, ja schöner. Die Frage welche Filme einem weniger im Gedächtnis bleiben, kann ich kaum beantworten, da ich manche der Filme zum zweiten Mal gesehen habe und diese dann weitaus stärker hängengeblieben sind beim zweiten Sehen. Ich frage mich gerade, ob es eigentlich gut oder schlecht ist, wenn man sich an wenig erinnern kann, zumindest wenn man sich an wenig konkretes erinnern kann. Ich habe diesen Effekt bei „City Lights“ von Chaplin. Das ist mein absoluter Lieblingsfilm von Chaplin und trotzdem vergesse ich jedes Mal (außer jetzt, da ich ihn vor 3 Tagen zum zigsten Mal gesehen habe) die Boxszene. Und daher liege ich jedes Mal wieder auf dem Boden vor Lachen, der Film schockt mich jedes Mal wieder mit seinen verschiedenen konkreten Ereignissen, weil in meiner Wahrnehmung nur bestimmte Gefühle festgehalten werden. Und da geht es mir bei Tsai eigentlich fast bei jedem Film gleich. Ich sehe Haut und Augen, ich sehe Lee Kang-sheng mit Sehnsucht, ich spüre Sehnsucht. Ich finde es auch spannend, dass ich all die Bilder, von denen ihr so erzählt habt sehr deutlich vor mir sehe. Das müsste man mal in einem halben Jahr wiederholen. Bei Hou sehe ich ähnlich viele Bilder, aber ich kann sie nicht so leicht einzelnen Filmen zuordnen. Rainer hatte das ja schon ein bisschen geschildert. Ich glaube sogar, dass wir das schon ein bisschen begründet haben, oder geht es euch da anders?

Rainer: Ich weiß nicht, einerseits sind Tsais Filme homogener, wie wir ja schon besprochen haben, und das müsste konsequenterweise bedeuten, dass man seine Filme schwerer zuordnen kann. Wie du richtig festgestellt hast, ist aber das Gegenteil der Fall. Erst letzte Woche habe ich mich zwar dabei ertappt eine Stelle aus „Three Times“ „Millenium Mambo“ zuzuschreiben, aber die Verwechslung ist mir bald aufgefallen. Kommt es nicht auch ein bisschen darauf an, in welcher Verfassung man die Filme gesehen hat, bzw. welchen Gesamteindruck sie auf einen gemacht haben? Einen eher mittelmäßigen Film (und die gab’s zumindest bei Hou) vergisst man in der Regel schneller als einen, der tiefen Eindruck hinterlässt. „Dust in the Wind“ und „The Time to Live and the Time to Die“ sind zum Beispiel zwei Filme, die sich gerne in meinem Kopf vermengen, obwohl sie eigentlich sehr unterschiedlich sind. Das liegt einerseits daran, dass es schon länger her ist, seit ich sie gesehen habe und andererseits an dem Umstand, dass ich irrsinnig Mühe hatte den Filmen meine Aufmerksamkeit zu schenken, da sie mich überhaupt nicht anzusprechen wussten. Bei Tsai ist mir das bis dato noch nicht passiert. Kurz, ich bin überfragt. Noch mal kurz zurück zu Andrey. Die vorletzte Einstellung aus „Stray Dogs“ ist legitim erinnerungswürdig…Was mich mehr schockt, ist, dass du „The River“ unspektakulär nennst! Da brauchst es gar keinen Patrick dazu, um dir zu widersprechen. „The River“ war, ganz im Gegenteil, für mich sein mächtigster Film (von denen, die ich gesehen habe). Die Fülle an familiärer und sexueller Spannung (die Grenzen verschwimmen), die unerträglichen Nackenschmerzen von Lee Kang-sheng und der Regen. Es wundert mich, dass du das so anders wahrnimmst.

Andrey: „Ich weiß nicht, einerseits sind Tsais Filme homogener, wie wir ja schon besprochen haben, und das müsste konsequenterweise bedeuten, dass man seine Filme schwerer zuordnen kann. Wie du [Patrick] richtig festgestellt hast, ist aber das Gegenteil der Fall.“ Das stimmt. Ich bin mir nicht sicher, woran das liegt. Vielleicht muss ich meinen Homogenitäts-Begriff nochmal überdenken. Bei Tsai ist die Motivik homogen und die formalen Grundparameter. Die Bilder, die er daraus formt, sind aber meistens äußerst markant, und dass ist auch das, was ich mit „spektakulär“ meine, ein Wort, das ich nicht umsonst in Anführungszeichen gesetzt habe. Ich verstehe darunter in diesem Kontext eine visuelle Prägnanz, die sich durch Überraschung oder Ungewöhnlichkeit kennzeichnet. Gute Beispiele dafür wären: Der Schlüssel, der aus dem Asphalt entfernt einen Quell freilegt. Der Fuß, der einsam durch das Loch in der Decke lugt. Der Melonen-Sex in „The Wayward Cloud“. Die abrupten Musical-Einlagen aus „The Wayward Cloud“ und „The Hole“. Patricks Schmetterlingsmoment. Die Uhrenumstellungen in „What Time Is It There?“. Meine Szene aus „Stray Dogs“, Kraft ihrer Länge und Nähe. Die Tränen am Ende von „Vive L’Amour“. Gewissermaßen auch der Schluss von „The River“ mit seinem „Twist“ (wobei ich ihn natürlich nicht darauf reduzieren möchte). „Visage“ in seiner Gesamtheit. In diesem Sinne, und in keinem anderen, erscheinen mir die drei von mir genannten Filme en gros weniger spektakulär (wenngleich sie wie gerade erwähnt keineswegs frei von Spektakel sind) – Regen kommt in fast allen Filmen Tsais vor und repräsentierte Nackenschmerzen sind visuell schlichtweg nicht sonderlich prägnant, auch wenn sie es emotional durchaus sein können. So weckten deine Zeilen in mir sogleich die Erinnerung an das emotionale Gewicht dieser Aspekte, aber kaum klar konturierte Bilder (doch: Lees Zusammenbruch im Krankenhaus). Hous Historienfilme bedienen diese Art visueller Prägnanz in geringerem Maße. Auch in meinem Kopf vermengen sie sich (tatsächlich ein bisschen wie bei Ozu; ein müder Vergleich). Familien in hellen Durchgangsräumen. Menschen beim gemeinschaftlichen Mahl. Halbdistanzierte Totalen. Grün. Nicht dass sie kein „Spektakel“ zu bieten hätten. Bei „City of Sadness“ fallen mir spontan zwei spektakuläre Szenen ein: Jene, in der die weibliche Zentralfigur des Films im Abseits einer Mittagsgesellschaft unvermittelt ein stummes Gespräch mit Tony Leung initiiert, und die verhängnisvolle Messerstecherei, die auf der Männertoilette ihren Ausgang nimmt (nicht nur, weil sie in der Assayas-Doku wiederholt wird). Den Rest des Films habe ich, wie ich gestehen muss, fast vollständig vergessen, wobei die Sichtung bei mir auch etwas länger zurückliegt als die Retro. Ich freue mich darauf, ihn wiederzusehen. Es wird im Historien-Hou zudem einfach wesentlich mehr gesprochen als in Tsais Filmen, auch weil es um konkrete Geschichte und konkrete Figuren geht (diese Filme, vor allem „City of Sadness“, wurden zwar natürlich auch, aber nicht vornehmlich für uns gemacht, sondern für die Menschen Taiwans). Für mich heißt das zwangsläufig, und da können die Filme selbst klarerweise gar nix dafür: Mehr lesen, mehr Kopfarbeit, mehr kontextuelles Vorwissen erforderlich. Tsais Werk ist für mich in dieser Hinsicht wohl oder übel entspannender. Dabei muss man ja nicht lesen, man kann auch einfach nur hinsehen, spricht wenig dagegen, aber ich kann’s mir nicht verkneifen, ich will auch wissen, was mir da erzählt werden soll, was leider manchmal zur Folge hat, dass beide Wahrnehmungsebenen darunter leiden. Später nimmt die visuelle Prägnanz bei Hou zu, während der chronikalische Charakter zurücktritt. Aber dafür eignet diesen jüngeren Filmen oftmals eine gewisse Verschwommenheit, die Kamera tastet eher Texturen ab, als dass sie Konturen zeichnet. Eine weitere Frage, die sich mir stellt, ist die, inwieweit die Besetzung eines Kinosaals auf meine Rezeption Einfluss hat. Mit Tsai waren wir – eigentlich leider – zumeist nahezu alleine. Man könnte die Atmosphäre im Künstlerhauskino durchaus „intim“ nennen. Hou war hingegen immer gut besucht. Das macht für mich als Zuschauer einen Unterschied, aber ich kann noch nicht genau festmachen, worin er besteht.Ob das alles jetzt gut oder schlecht ist, da bin ich überfragt. Ich hab mir die Boxszene aus „City Lights“ – die mir auch entfallen war – jedenfalls gleich auf Youtube angesehen und trotz miserabler Bildqualität herzhaft gelacht.

The Puppetmaster2

Walker von Tsai Ming-liang

Patrick: Ich glaube, was zum Thema „spektakulär“ noch dazu kommt, ist der Begriff der Notwendigkeit und erneute auch jener der Zeit. Bei Hou geht es doch viel darum eine gewisse Alltäglichkeit einzufangen, das Treiben-wenn man so will-von Zeit, während Tsai eben jeden Moment betont, selbst aus alltäglichen Momenten eine intensivierte Erfahrung rausholt. Daher treiben auch die Filme von Hou mehr vor sich hin als jene von Tsai, die einen packen und mitreißen. Das hängt zum einen mit der visuellen Prägnanz zusammen, die beschrieben wurde, aber eben auch damit, dass die Notwendigkeit einer Einstellung bei Hou ihre Gleichgültigkeit ist und bei Tsai ihr Gefühl. Damit meine ich, dass es bei Hou genau um diese Verschwommenheit geht und bei Tsai um eine emotionale Mitte. Das zeigt sich zum Beispiel auch im Sound-Design. Da dringt bei Hou immer die ganze Welt in die Bilder während ich bei Tsai das Gefühl habe, dass man oft den Herzschlag hören kann und andere solche isolierten Geräusche. Ich denke an das Ende von „Vive L’amour“, wenn man fast nur die klackernde Schritte der Frau hören kann in der Stadt. Natürlich gibt es in beiden Fällen Ausnahmen immer wieder. Daher kann ich auch nicht teilen, dass „The River“ weniger „spektakulär“ sein soll. Der Film ist für mich wie ein Fiebertraum, ein unheimlich intensives Erlebnis. Die Filmdrehszene am Anfang nach der Rolltreppenbegegnung, die Sexszene im Hotel, der Sturz vom Scooter, die beschriebenen Nackenschmerzen, die nächtliche Begegnung mit der Mutter, der Vater im Dark Room, später mit Vater und Sohn im Darkroom, Lee auf dem Balkon, das Verschwinden der Frau aus dem Film. Viel spektakulärer geht es nicht. Und visuelle Prägnanz bedeutet eben nicht nur außergewöhnliche Bilder zu haben, sondern vornehmlich mal Bilder, die sich ins Gedächtnis brennen. Finde es etwas irritierend, dass man Tsai auf besonders aufregende, ungewöhnliche Szenen reduzieren will. Dazu ist er doch viel zu sehr ein Beobachter der Zeit. Wenn ich daran denke wie oft Menschen laufen, wie oft Menschen warten, wie oft Menschen essen. In diesem Vakuum des Alltags zeigen sich dann die Gefühle beziehungsweise ihr Verdrängen. Also ich bin ein großer Freund davon, Kino in Momenten zu fassen. Aber man darf nicht den Lauf der Zeit vergessen, wenn man schon in einem Boot sitzt auf einem Fluss. Ich glaube übrigens auch, dass man sowas wie Prägnanz nicht annähernd objektiv bestimmen kann. Manchmal habe ich Angst, dass sich diese emotionale Prägnanz durch das darüber Nachdenken, Einordnen und beim Schreiben solcher Texte sogar verläuft. Ich will damit nicht sagen, dass alles subjektiv ist, weil ich finde, dass es schon Wahrheiten gibt, die eben von den Filmen selbst ausgehen und nicht von den Betrachtern, aber wenn es um Prägnanz geht, dann wird es womöglich schwierig. Vielleicht sollten wir sowieso langsam zu einem Ende kommen. Daher noch die Frage: Habt ihr Hous Filme als körperlich wahrgenommen? Ich frage das, weil es bei mir ganz komisch war. Er zeigt ja kaum körperliche Szenen. Es gibt wenige Naheinstellungen, es gibt ganz wenig sexuelle Szenen, Blut, Schweiß, Tränen was weiß ich. Alles ist immer in diesem Filter. Trotzdem fängt er dann irgendwann an Konturen zu betrachten wie Andrey das richtig formuliert hat, er wird irgendwie enger und da habe ich zum Beispiel in „Three Times“ eine unheimliche Körperlichkeit gespürt, die sich mehr zwischen Kamera und Figuren offenbarte als zwischen den Figuren selbst.

Rainer: Diese Frage lässt sich meines Erachtens recht klar mit Nein beantworten. Hous körperliche Distanziertheit führte soweit, dass ich schließlich bei „Three Times“ geradezu schockiert war, als zum ersten Mal so etwas wie eine Sexszene in einem seiner Filme „gezeigt“ wurde (oder sagen wir lieber angedeutet). Ich weiß nicht ob es Prüderie ist, oder ob Hou ganz einfach kein Interesse an Körpern und Sex hat, aber das fehlt mir in seinen Filmen tatsächlich ein wenig – vor allem in den späteren die doch stärker emotional aufgeladen sind näher an den Charakteren erzählen (wie „Three Times“ oder auch „Millenium Mambo“). Was du am Ende geschrieben hast, kann ich nicht ganz nachvollziehen. Gerade die Charaktere im ersten und letzten Segment von „Three Times“ sind sich doch nahe (auch im Sinne von körperlich nahe) – ganz anders als z.B. die Pärchen in „Goodbye South, Goodbye“ – da war für mich Körperlichkeit zwischen den Charakteren in einem Hou-Film am stärksten fühlbar, während Körperlichkeit zwischen Kamera und Figuren für mich z.B. ein prägendes Merkmal für „Flowers of Shanghai“ gewesen ist, wo die Kamera quasi als Liebhaber der Charaktere agiert, ihren kleinsten Bewegungen folgt, sie nie aus den Augen lässt, nur um schließlich langsam die Augen zu schließen (Schwarzblende). Dass was du angesprochen hast, sehe ich also eher in „Flowers of Shanghai“, wo sich die Charaktere nicht wirklich nahe kommen und nahe kommen können (hat wohl auch mit der Zeit zu tun, in der der Film spielt), die Kamera aber die emotionale Verbindung aufrecht erhalten, oder vielleicht sogar entstehen lässt. Wenn wir nun schon so weit sind, würde ich sogar die Behauptung aufstellen, dass Körperlichkeit, das entscheidende Kriterium ist, dass Hou von Tsai unterscheidet. Tsais Filme sind außerordentlich körperlich, Hous kaum.

Rebels of the Neon God2

Flowers of Shanghai

Patrick: Die erste Geschichte von „Three Times“ ist für mich etwas Unglaubliches. Da geht es genau um diese Frage des Berührens und Nicht-Berührens. Eine halbe Stunde lang sehen wir die beiden, Mann und Frau man muss nicht mehr wissen, kaum im selben Frame. Es ist ein Tanz, der die beiden trennt. Immer wieder. Geschichte trennt sie, Schüchternheit, Umstände. Und nach dieser halben Stunde berühren sich ihre Hände. Dieser ganze Aufbau läuft auf diesen Moment zu. Und für mich entsteht dieser Aufbau vor allem durch die Kamerabewegung. Das ist ganz ganz großes Kino. Die Körperlichkeit kommt einfach aus dem Schock der Berührung am Ende. Man wird sich der Körperlichkeit da erst bewusst. Bei „Flowers of Shanghai“ hast du natürlich auch völlig Recht. Aber Körperlichkeit haben sowohl Tsai als auch Hou. Nur eben einmal durch ihr Auslassen und einmal durch ihr Betonen.

Andrey: Wiederum bin ich mir nicht sicher, was unter „Körperlichkeit“ zu verstehen ist. Ist es die eindringliche Darstellung von menschlichen Körpern als natürliche Organismen, die sich über eine sinnliche und sichtbare Körper-Sprache (darunter auch Blut, Schweiß, Tränen) als solche zu erkennen geben? Ist es die Kamera, die sich als Körper gebiert, agiert und reagiert, die tastet, wandelt, zuckt, liebkost? Oder ist es der Körper des Zuschauers, um den es geht, darum, was die Kinoerfahrung mit meinem Körper macht, wie sie ihn ansteckt und mit ihm spielt? All das ist wohl auf die eine oder andere Art körperlich, ich denke bei der Frage aber gemeinhin an Letzteres, und so gesehen hat mich Tsai wesentlich stärker erfasst als Hou, alleine schon aufgrund der intensiven Wahrnehmung meiner eigenen Leiblichkeit, der Masse im Kinosessel, die mir die meisten seiner Filme in ihrer berauschenden Trägheit beschert haben. Ich denke da etwa an die Walker-Reihe, bei der meine Beine irgendwann jeden Schritt des Mönchs im Kopf mitgingen, oder an „Goodbye, Dragon Inn“, der so kraftvoll spürbar macht, was es heißt, im Kino zu sitzen. Und obwohl ich das, was Patrick über die erste Episode aus „Three Times“ gesagt hat, nur unterschreiben kann – wobei ich zugeben muss, dass der besagte „Schock der Berührung“, retrospektiv nachgerade unausweichlich und eben tatsächlich „ganz großes Kino“, mich beim Sehen verfehlt hat, da ich mich in meiner Hoffart doch allzusehr auf die ungewohnte Kitschigkeit dieser zarten Geste eingeschossen hatte – verschaffte mir diese Szene doch eher das Verständnis einer Vorstellung von Körperlichkeit, vom Abstand und der Spannung zwischen zwei Körperorbits, als dass es meinen eigenen Körper wirklich angegriffen hätte. Vielleicht könnte man folgende Unterscheidung treffen: Tsai als Körperfilmer, Hou als Berührungsfilmer. Aber auch das wäre näher auszuführen.

Hou Hsiao-Hsien Retro: Three Times

Wenn irgendwer in der Kinozeit zwischen Ingmar Bergman und Leos Carax vergessen hat wie man eine Frau filmen muss, damit sie gleichzeitig als eine individuelle Kraft erscheint, die unkontrollierbar, dämonisch und eigenwillig agiert und als tender-touch Begierde, durch die Augen eines sehnsuchtsvollen, mit Kamerablicken verschlingenden Regisseurs, dann bringt einem „Three Times“ von Hou Hsiao-Hsien mit seinem zärtlichen Rhythmus der Melancholie in einen Zustand des traurigen Verliebens, der genau wie Bergman und Carax die Poesie in den kleinen Regungen der Zuneigung sucht und sie genauso hart entblößt und zu Boden gehen lässt. Die Frau ist in diesem Fall Qi Shu, ein taiwanesischer Superstar mit Wurzeln im erotischen Film/Fotografie. Hou Hsiao-Hsien hatte die über seine beleuchteten Böden schwebende Frau schon in seinem „Millenium Mambo“ besetzt und in „Three Times“ spielt sie gleich drei verschiedene Rollen, immer als Objekt der Begierde oder Sehnsucht, immer mit Chen Chang als ihr Pendant. Doch ihr wahrer Partner scheint die Kamera zu sein. Eine Frau, die in ihrer Filmographie unter anderen als May, June, Mango, Shadow, Bitter, Cat, Messenger of Hell, Grace und Angel geführt wird, wird in „Three Times“ auch genauso behandelt. Die Berührungen der Kamera gleichen immer wieder einem ersten Kuss oder gar nur jenem Moment, wenn man den Atem einer Liebe zum ersten Mal auf seiner Haut spürt. Sie bewegt sich am Rand des Bildes, immer wieder ist es ein Schwenk, der ihre roten Lippen, ihre Haare oder ihre Schultern streift.

Three Times

Three Times

Der Film erzählt drei Liebesgeschichten mit denselben Schauspielern auf drei Zeitebenen: 1966, 1911 und 2005. Am Anfang steht wie schon in „A City of Sadness“ das Licht, eine Aufblende, es hängt an der Decke. 1911 wird dieses Licht in Form einer Kerze wiederkehren, 2005 eine Neonröhre, blaue Töne in der Dunkelheit. 1966 (der Teil trägt den Titel: „A Time for Love“) wird viel Billard gespielt, die Pool-Boys und Pool-Girls, eine unfassbare Szene gleich zu Beginn: Nach den schwelgerischen Schwenks über die farbigen Kugeln und die Lippen der Frau sieht man einen jungen Mann auf dem Fahrrad, immer wieder gibt es im Film die Einstellung des Billardtisches mit der Frau vor einer leicht geöffneten Tür. Dort fährt nun das Fahrrad unbemerkt vorbei. Nach kurzer Zeit kommt es zurück. Der junge Mann gibt der Frau einen Brief. Die Kamera schwenkt langsam von ihren zittrigen Händen hinauf zu ihrem Gesicht, in der Hoffnung einen Ausdruck zu finden (der Mann ist bereits weg). Als man den Ausdruck fast sieht, packt sie den Brief hastig zur Seite. Immer wieder wird die totale Einstellung mit der Tür im Hintergrund eingesetzt werden, sie wird zu einem Sehnsuchtsbild wie fast alles in „Three Times“. „Rain and Tears“ gibt den Rhythmus vor, es ist das Lied 1966, schon ein wenig viel Konzept, denn jede Zeit hat ihr Licht, ihr Lied, ihre Farben und doch bleibt alles gleich. Auch die Einstellungen kehren wieder, weil die Gesichter und Momente sich wiederholen. „Three Times“ ist „Cloud Atlas“ für Menschen mit Geschmack? Zwischendurch gibt es Bootsfahrten. Der Mann ist beim Militär und schreibt Briefe. Als er zurückkommt, um sie zu sehen, ist sie weg. Er beginnt, sie zu suchen. Wieder wird über die Billardtische geschwenkt, eine Elegie oder die Kunst mit der Kamera zu lieben. Der Opiumrausch aus „Flowers of Shanghai“ mit seinen wippenden Schwenks hallt hier nach. Nur findet der Blick in „Three Times“ Halt bei Qi Shu, während er in „Flowers of Shanghai“ mehr und mehr betont, dass er in den Mauern der Bordelle gefangen ist. Als sie sich finden, zeigt Hou Hsiao-Hsien, warum banale Sentimentalität und sentimentale Banalität zusammengehören. Der Mann kommt von hinten in das Nebenzimmer (die Frau arbeitet wieder am Pooltisch). Sie bemerkt ihn zunächst nicht, ist in einem Spiel, flirtet sogar. Dann sieht sie ihn. Sie lacht. Sie kann nichts sagen. Ein anderer Mann übernimmt das Spiel. Das Spiel geht im Vordergrund weiter, die Männer verdecken zum Teil den Blick auf die wiedervereinten, berührungslosen Liebenden. Sie lachen. Irgendwann trinken sie, er sitzt, sie lacht, sie schauen. Wir schauen. Ein Fest des Blicks. Dann rauchen sie. Später werden sie zusammen essen und wieder hängt eine Lampe im Bild.

Three Times

Three Times

Warum Hou Hsiao-Hsien dann auf einen Stummfilm-Pseudo-Minimalismus Effekt in seiner zweiten Episode „A Time for Freedom“ wechselt, ist mir ein großes Rätsel. Natürlich spielen Worte und die Art und Weise wie diese ausgetauscht werden in den drei Filmen eine große Bedeutung (Briefe 1966, Zwischentitel 1911 und SMS 2005), aber wenn inmitten der exakt beobachtenden Liebeslyrik, den kleinen Gesten und Blicken, die Hou Hsiao-Hsien gewohnt präzise beobachtet, Zwischentitel platzen, dann wirkt das wie ein gewollter Verfremdungseffekt, der Bewegungen und Blickstruktur des Films schadet. Die zweite Episode spielt in einem Flower House. Es geht um die „Er liebt mich-Er liebt mich nicht.“-Beziehung einer Kurtisane zu einem Geschäftsmann, der allzu sehr ein Mann/Opfer seiner Zeit ist und dabei womöglich seine Gefühle übersieht. Durch die aufgesetzte Stummfilmstruktur wird man schnell von der klimpernden Begleitungsmusik eingelullt. Zudem springt der Regisseur in dieser Episode so sehr durch die Zeit, dass man sich am Ende fragt, ob es wirklich noch 1911 ist. Seine Blenden kommen hier nicht wie in „Flowers of Shanghai“ (an den der Film ja schon alleine wegen seines Settings erinnert) aus dem Druck einer Notwendigkeit, sondern wirken eher wie ein hektisch zugezogener Vorhang im Theater, der verschleiern soll, dass etwas schiefgeht. Sie macht Musik, dann „The Wuchang Uprising“, harter Schnitt. Hou Hsiao-Hsien thematisiert wie immer die Geschichte seines Landes. Sie liegt in den Motivationen der männlichen Figur, in der Kommunikation, in Ereignissen am Rande des Geschehens, an den Transportmitteln, in der Musik. Damit einher geht ein großer Gestus, den der Regisseur mit einer gewissen Gleichgültigkeit aufwiegt. Am Ende steht ein Verlassen, keine Vereinigung.

Three Times

Three Times

Schließlich springen wir auf ein Phantom Ride Scooter-Bild nach Taipeh 2005, „A Time for Youth“. Mit dem Sprung in die Gegenwart findet Hou Hsiao-Hsien auch wieder einen Rhythmus, der den Blick und den Moment zur Hauptsache des Kinos macht. Mann und Frau stehen an einer Unterführung am Straßenrand, sie weint. Später sind sie in seiner Wohnung, blaues Licht durchdringt hier alles, er fragt sie, ob alles in Ordnung sei. Im abschließenden Teil seines Films bewundert Hou Hsiao-Hsien Körperlichkeit. Ein in seinem Kino seltener, langer Kuss, eine erotische Spannung, die durch den Film weht. Plötzlich spielen Augen eine Rolle, Füße und die Sehnsucht wird von den Bildern an der Wand auf den Nacken der Frau projiziert. Besonders beeindruckend kommt dieses körperliche Verlangen bei einem Konzert zum Vorschein, bei dem der Mann Fotos von der singenden Frau macht. Ansonsten handelt es sich um eine klassische Dreiecksgeschichte. Die Frau hat eine Beziehung mit einer anderen Frau und betrügt sie mit dem Mann. Als man sich dem Paar hingegeben hat, ist man plötzlich alleine mit der betrogenen Frau, sie wacht in der Nacht auf, ihre Freundin ist nicht da. Ein Zusammenleben ist nicht mehr relevant, die Beziehung ist zu einem Driften über die Straßen, durch die Clubs geworden. Manchmal wirken die allgemein gültigen Botschaften, die man in die einzelnen Episoden in Bezug zu ihrer Zeit machen kann, etwas arg bemüht, aber man kann auch nur der Kamera folgen, sich mit ihr verlieren, mit der Frau verlieren. Am Ende steht diesmal beides. Ein Verlassen und ein Finden. So wie die Kamera ständig verlässt und findet. Am Ende bleibt sie und damit unser Blick zurück, ein Phantom Ride, der in zähfließenden Verkehr gerät, während die Protagonisten auf der rechten Spur in der urbanen Wüste verschwinden.

Hou Hsiao-Hsien Retro: Flowers of Shanghai

In elegischen Schwenks um Tische und Gespräche, eingehüllt in verführerisches Gelb mit goldenen und roten Lichtern entfaltet sich irgendwo zwischen einem Michael Snow Film und einem Christopher Doyle Showreel, aber sicherlich in unvergleichbarer Manier dieses Portrait romantisierter Abhängigkeiten. In vier sogenannten „Flower Houses“ in Shanghai Ende des 19.Jahrhunderts (die Zeit ist hier eine Sache des Dekors, die Welt bleibt außerhalb der Flower Houses) erzählt Hou Hsiao-Hsien vom Leben und den Pflichten der Edelprostituierten und deren Kunden und beobachtet die Männer beim Trinken, Opium-Rauchen (viel) und Diskutieren.“Flowers of Shanghai“ ist ein filmischer Öllampen-Reigen als Rauschzustand.

In seinem einleitenden Monolog am ersten Tag der Retrospektive hatte Alexander Horwath diesen Film explizit hervorgehoben und schon bei der ersten Aufblende, die eine Art in Film gegossenes Gemälde freilegt, wird klar warum. Schönheit und formelle Perfektion sind hier nicht nur Themen des Films, sondern spiegeln sich auch in seiner Form. Schon bald findet man sich selbst in einem Opium-Rausch. Dafür sorgen die immerzu schwebenden Bilder, die Trennung dieser mit Schwarzblenden und ein tranceartiger Score, der aus einem Béla Tarr Film stammen könnte. Hou Hsiao-Hsien wird die inneren Welten, dieser Bordelle, die eine Romantik versprechen, um sich daran zu klammern nicht verlassen. Einmal passiert etwas draußen, eine Razzia, aber die Kamera verharrt auf dem entkräfteten Gesicht von Wang (Tony Leung Chiu-wai), der zwischen Opiumsucht und der Zerrissenheit zwischen Crimson (Michiko Hada) und Jasmin (Vicky Wei) schwankt und jederzeit droht zu zerbrechen. „Flowers of Shanghai“ ist sicherlich kein Film, dessen Inhalt man verstehen, kennen oder mitbekommen muss, um die Seele des Films zu spüren. Es ist als würde einen die Kamera mit in eine entfernte Welt nehmen, die mit ihrem oberflächlichen Prunk durch die ständigen, langsamen Wechsel der Kameraperspektive ungeahnte Tiefen bekommt. Dabei agiert die Kamera fast als Tänzer, als eigenständige Kraft, die entweder den inneren Zustand, den hypnotisierten Drive der Frauen und Männer in den Bordellen wiedergibt oder aber den autonomen Blick eines Regisseurs. Die Alltäglichkeit und Beiläufigkeit in der sich viele der Tischszenen abspielen, die Konsistenz der Dialoge und die tote Zeit sprechend dafür, dass Hou Hsiao-Hsien hier als beobachtender Gast tätig ist. Allerdings sind die Bilder so gefüllt mit Gesichtern, Emotionen, Kostümen, Gegenständen und Licht, dass man sich nur schwerlich als Beobachter fühlt, sondern zumeist mitten in der Plastizität der Szene erwacht und sich wieder darin verliert als würde man seit Stunden auf einer Schaukelbank sitzen und gestreichelt werden oder, um eine Erzählung aus dem Film aufzunehmen, als würden einem die Augen von seiner Geliebten geleckt werden. Die Perfektion in der hier der Rhythmus von Kamerabewegung und Schnitt der inneren Bewegung der Szenen folgt, ist unantastbar. Nuancierte Variationen in der Geschwindigkeit, ein plötzliches Zwischenbild, alles hat seinen festen Platz, nichts wirkt überflüssig und nichts fehlt.

Flowers of Shanghai

Ähnlich wie „In the mood for love“ von Wong Kar-Wai ist „Flowers of Shanghai“ auch ein Film, der sich im Off abspielt. Hou Hsiao-Hsien interessiert sich hauptsächlich für die vertraglichen Verpflichtungen und Abhängigkeiten, das Geld wenn man so will. Er erstickt (außer einmal als Wang die Inneneinrichtung zerlegt und einem Selbstmord-/Mordversuch von Jade) die emotionalen Regungen seiner Figuren, die sich fortlaufend zwischen den Zeilen und in den Augen seiner Starschauspielerinnen abspielen. Besonders Michelle Reis als Emerald vermag ihre Psychologie in einen Ausdruck zu verlangen, der mehr sagt als tausend Szenen. Das Off ist neben der Abwesenheit von Europäern in den Flower Houses der Plot an sich, der so erzählt wird, dass er sich scheinbar am Rande oder jenseits des Bildes vollzieht. Bei Hou Hsiao-Hsien warten weder Kamera noch Welt auf die Narration, sie wird einfach irgendwo geschehen, man kann sie manchmal an den Körpern ablesen, manchmal an den Wörtern, zumeist aber nicht im Moment des Geschehens, sondern irgendwann später, als könne man gar nicht verstehen, als würde alles in dieser Welt hinter einem Schleier der äußeren Darstellungen und Zwänge verborgen liegen. Im gelben Rotlicht entsteht aber noch ein anderes Off und zwar jenes, dass sich kontinuierlich entwickelt, ein Off, dass in jeder Sekunde neu definiert wird durch die Bewegung der Kamera. „Flowers of Shanghai“ penetriert in diesem Sinne die Lust am Sehen und stimuliert sie dadurch. Das langsame um Gesichter Herumfahren, das etwa David Fincher in all seinen Filmen praktiziert, gehört zum Aufregendsten, was ich im Kino kenne. Die Frage danach, was sich im Gesicht äußert, wie das Gesicht aussieht, was dort passiert, ist die Frage, die man sonst nur in der Liebe oder in einem Angstverhältnis stellt. „Flowers of Shanghai“ ist genau zwischen dieser Liebe und Angst.

Flowers of Shanghai2

Hou Hsiao-Hsien zeigt Menschen, die sich in dieser Umgebung völlig unterschiedlich benehmen, die entweder mit dem Dekors verschmelzen oder aus ihm flüchten wollen. Seine Kamera und unser Blick verlieren sich mit Sicherheit im Rausch, man merkt fast wie sich die Leinwand erwärmt, der Opiumrauch aus den Lautsprechern dringt und man leise liebend stirbt. Irgendwann gibt es wieder eine Blende und ein bewegtes Gemälde entsteht vor unseren Augen, das letzte Abendmahl im Bordell. Die Programmierung des Films hinter „A Summer at Grandpa’s“ im Österreichischen Filmmuseum ist ein kleiner Geniestreich für sich, weil sich in der Härte, in der diese Filme aufeinanderprallen gewissermaßen der Verlust einer filmischen Unschuld zwischen Strenge und Freiheit, Formalismus und Leben, Humor und Resignation aufgemacht hat, der die beiden Extrempole von Hou Hsiao-Hsien zeigt und sie dennoch verbindet, sei es in den Rahmungen oder in der Ausnahmesituation, in der sich seine Figuren an Zwischenorten bewegen, um anders zu leben als sonst, egal ob im Sommer beim Großvater oder in einem Bordell. Am zweiten Tag der Retrospektive ist eine solche Programmierung eine Initialzündung in das Schaffen von Hou Hsiao-Hsien.